Juon: Legende [Trio Nr.5], d-moll, op.83

Paul Juon

* 23. Februar 1872
† 21. August 1940

Legende [Trio Nr.5], d-moll, op.83

Komponiert:Berlin, 1929
Widmung:Eugène Couvreu (1862-1945)
Uraufführung:Berlin, Akademie der Künste, 6. November 1929
Georg Schumann (1866-1952), Klavier
Willy Hess (1859-1939), Violine
Georg Wille (1869-1958), Violoncello
Erstausgabe:Birnbach, Berlin, 1930

Die selben Qualitäten, die uns in der 1918 konzipierten Tondichtung Litaniae begegneten, zeichnen auch die im Jahr der Neufassung dieses Werkes (1929) komponierte und Eugène Couvreu gewidmete Legende aus. Das zwischen beiden Entwürfen liegende Jahrzehnt hat aber das Idiom des Komponisten noch um einen deutlichen Grad komplizierter werden lassen. Unter den Klaviertrios Juons ist dieses Werk sicher das schwierigste und anspruchsvollste, wenn man auch mit einigem Recht die vorangehende Litaniae als das „geglücktere“ bezeichnen könnte. Aber das liegt wohl an der Natur der Sache selbst: Wir sind hier aus der zeitlosen Welt des Traumes in die gebrochene und verfremdete Zeitlichkeit der Legende eingetreten. Die Szenen der Erzählung erinnern wirklich ein wenig an die Phantastik mittelalterlicher Hagiographie, aber durchaus nicht im Stile des Jacobus de Voragine, sondern etwa so, wie sie Vittore Carpaccio vom gesicherten Boden der Renaissance aus wiederbelebte. Naive Ritterlichkeit, Glaubenseinfalt, märchenhafter Spuk – alle diese Elemente sind hier vereint, doch gewissermaßen nicht aus erster Hand, sondern nacherlebt aus der Distanz eines komplizierten und widersprüchlichen modernen Geistes. Unwillkürlich fühlt man sich an einen Ausspruch Thomas Manns erinnert, der ja in seinem Roman „Der Erwählte“ zwei Jahrzehnte später ein durchaus vergleichbares Experiment unternommen hat und das kreative Dilemma seiner Generation in die Worte faßte: „Stilistisch gibt es für mich eigentlich nur noch die Parodie.“ Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Es ist hier nicht von „Parodie“ im landläufigen Sinn als einer Verzerrung ins Komische die Rede, sondern von „Parodie“ in der ursprünglichen antiken Bedeutung des Wortes (die Thomas Mann genau so geläufig war wie jedem Kenner der Renaissancemusik), nämlich als die Kunst, zu etwas schon Bestehendem einen „Gegengesang“ zu erfinden. Es liegt auf der Hand, daß Ausdrucksformen dieser Art, deren Reiz in der Fülle der durch sie geweckten Erinnerungen liegt, charakteristisch für Zeiten der Überreife und des Umbruchs sind. Indem Juon für sein letztes großes Kammermusikwerk diese vielschichtige und komplexe Form wählt, faßt er noch einmal die Summe seines musikalischen Erbes in beeindruckender und berührender Weise zusammen.

© by Claus-Christian Schuster

Juon: Litaniae. Tondichtung [Trio Nr.4], cis-moll, op.70

Paul Juon

* 23. Februar 1872
† 21. August 1940

Litaniae. Tondichtung [Trio Nr.4], cis-moll, op.70

Komponiert:Berlin, 1918, Neufassung 1929
Widmung:Fräulein Ida Schwarz-Schlumberger
Uraufführung:1. (verschollene) Fassung: Berlin, Saal der Sing-Akademie, 31. Mai 1919
Georg Schumann (1866-1952), Klavier
Willy Hess (1859-1939), Violine
Hugo Dechert (1860-1923), Violoncello
2. Fassung: Dresden, Festsaal der Harmonie, 18. November 1929
Anny von Lange, Klavier
Gottfried Hofmann-Stirl, Violine
Arthur Zenker, Violoncello
Erstausgabe:F. E. C. Leuckart, Leipzig, 1929

Paul Juon wurde als Sohn eines nach Rußland ausgewanderten schweizerischen Versicherungsbeamten in Moskau geboren. Die Familie des Vaters stammt aus Masein in Graubünden und hat eine ganze Reihe von Musikern und Malern hervorgebracht; Pauls jüngerer Bruder Konstantin (1875-1958) war einer der populärsten Maler Rußlands im 20. Jahrhundert. Mit siebzehn Jahren wurde Paul Juon Schüler des Moskauer Konservatoriums, wo er zunächst bei Jan Hrimaly (1844-1915) Geige studierte ( – der gebürtige Tscheche war der Hauptrepräsentant der Moskauer Geigenschule der Jahrhundertwende und als solcher der angesehenste Konkurrent des in St. Petersburg wirkenden Leopold Auer – ). Etwas später begann Juon bei Anton Arenskij und Sergej Taneev sein Kompositionsstudium, das er schließlich als Schüler Woldemar Bargiels (des Halbbruders von Clara Schumann) an der Berliner Musikhochschule abschloß. In dieser ersten Berliner Zeit (1894/95) wurde Juon mit dem begehrten Mendelssohn-Preis ausgezeichnet. Nach einem kurzen Zwischenspiel als Violin- und Theorielehrer am Konservatorium in Baku (Aserbeidschan) kehrte er 1897 wieder nach Berlin zurück, das bis kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung seine Heimat bleiben sollte. Von 1901 bis 1903 war er Franz-Liszt-Stipendiat der Stadt Berlin. Joseph Joachim holte ihn 1905 als Lehrer an die Berliner Musikhochschule; 1911 wurde er dort Professor für Komposition, eine Stellung, die er erst 1934 aufgab. In den Jahren der Weimarer Republik gehörte er zu den angesehensten Kompositionslehrern Deutschlands. Zu seinen Schülern zählen Philipp Jarnach, Heinrich Kaminski, Pantscho Wladigeroff, Stephan Wolpe u. v. a. 1919 wurde er Mitglied der Berliner Akademie der Künste, 1929 erhielt er für sein Gesamtwerk den Beethoven-Preis.

   Schon seit 1925 hatte er die Sommermonate meist in der Heimat seiner zweiten Frau, Marie Hegner-Günthert, in Vevey am Genfer See, verbracht (Juons erste Frau, Ekaterina Schachalova, war 1911 gestorben). Die politische Entwicklung in Deutschland bewog ihn 1934 dazu, endgültig nach Vevey zu übersiedeln, wo er 1940 starb.

 Im ersten Drittel unseres Jahrhunderts ist Juons Name sehr häufig auf den Konzertprogrammen zu finden. Eine zählebige Sorte von Musikkritikern, die selten ein falsches Schlagwort verfehlen, brachte für ihn das Etikett vom „russischen Brahms“ auf, und zu einer Zeit, als das für viele noch einer Beschimpfung gleichkam, verstiegen sich etliche von ihnen bei der Besprechung seiner Werke zu Vergleichen mit Stravinskij. Aber weder diese marktschreierischen Fehlgriffe der Kritiker noch auch die unbestreitbaren Qualitäten der Juonschen Musik konnten das Überleben seines Werkes sichern: Juon gehört heute sicher zu den unbekanntesten unter den relevanten Komponisten seiner Zeit. Über sein Werk fällt wie über sein Leben der Schatten der Unbehaustheit: kein Schweizer, kein Russe, kein Deutscher; kein Romantiker, kein Neutöner, kein Folklorist – aber doch ein klein wenig von all dem, und jenseits davon noch eine auf gewinnende Weise aufrichtige und menschlich beeindruckende Persönlichkeit. Ein geistreicher Kommentator hat Juon unlängst humorvoll „das missing link zwischen Tschaikovskij und Stravinskij“ genannt. Obwohl Charakterisierungen dieser Art durchaus geeignet sind, das Interesse der „Musikpaläontologie“ an Juon zu wecken, haben sich ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod seine Spuren fast völlig verwischt – außer kurzen Werkbesprechungen und knappen enzyklopädischen Verweisen gibt es keinerlei Literatur über sein Leben und Werk. Daß das Altenberg Trio vor kurzem erstmals Juons sämtliche Klaviertrios auf zwei CDs vorgelegt hat, ist aber trotzdem mehr als ein Akt musealer Pietät: Wir meinen, daß Juons Musik einige ganz eigene Zwischentöne bewahrt, die für das Erscheinungsbild seiner Epoche nicht überflüssig sind.

Das Erlebnis des Infernos des Weltkrieges und des Zusammenbruches der „alten Welt“ teilt auch das Werk Juons deutlich in ein „Vorher“ und „Nachher“ – auch wenn die Spannung zwischen diesen beiden Hälften seines Schaffens bei weitem nicht so groß ist wie etwa bei dem nur wenig jüngeren Frank Bridge. Die nach dem Krieg geschriebenen letzten beiden großen Triokompositionen des Meisters, Litaniae, op. 70, und Legende, op. 83 ( – die Suite op.89 darf man von diesem Standpunkt aus ohne weiteres als ein außerhalb dieser Entwicklungslinie stehendes abschließendes Satyrspiel betrachten – ), tragen tiefe Spuren dieser Erfahrung. Juon hat für diese beiden Werke deshalb auch eine Gestalt gewählt, die sich deutlich von der seiner bisherigen Triokompositionen unterscheidet. Er fand sie in einem seit der Jahrhundertwende zunehmend in Gebrauch gekommenen formalen Konzept, in dem die traditionellen Teile einer viersätzigen symphonischen Form in einen einzigen Satz zusammengefaßt werden, dessen Architektur durch weiträumige thematische und motivische Querverbindungen zusammengehalten wird. Daß diese Form den Weg von der symphonischen in die Kammermusik gefunden hat, ist nicht zuletzt auf das propagandistische Wirken des englischen Mäzens Walter Willson Cobbett (1847-1937) zurückzuführen. Die von ihm initiierten Kompositionswettbewerbe veranlaßten nämlich die Entstehung einer ganzen Reihe von „Phantasie-Quartetten“ und „Phantasie-Trios“, die diesem Gestaltungsschema folgen. Juon hat diese vorhandene Form in seinen beiden großen Kammermusikdichtungen mit einem beeindruckend persönlichen Inhalt erfüllt. Sie stellen ohne Zweifel den Höhepunkt seines kammermusikalischen Schaffens dar.

Litaniae entstand (laut Juons eigenhändigem Werkverzeichnis) 1918 und wurde im darauffolgenden Jahr in Berlin uraufgeführt; 1929 unterzog der Komponist das Werk einer wahrscheinlich weitgehenden Revision – da die ursprüngliche Fassung, wie übrigens der Großteil von Juons handschriftlichem Nachlaß, als verschollen gelten muß, läßt sich Ausmaß und Art dieser Umarbeitung nicht mehr rekonstruieren. Für die zweite Uraufführung von Litaniae in ihrer neuen Gestalt hat der Komponist folgende kurze Einführung geschrieben:

„Vor vielen Jahren trat ich einmal in die Frauenkirche in München. Es waren nur wenige Leute drin. Vor einem Seitenaltar sah ich einen Mann knien – und blieb wie gebannt stehen; in seinem Antlitz spiegelte sich ein so unendlicher Schmerz wieder! Die angsterfüllten Augen waren starr nach oben gerichtet, die bebenden Lippen murmelten leidenschaftliche Gebete. Er sah und hörte nichts von dem, was um ihn war. Immer wieder reckte er die gefalteten Hände empor, immer wieder wälzte er sich im Staube. Wieviel Schmerz, wieviel Bitternis muß diese arme Menschenseele erfahren haben! Schon stundenlang mochte er so auf den Knien gelegen haben, mit heißen Worten seinen Gott um Gnade anflehend, als er plötzlich ermattet den Kopf senkte, die Augen schloß und wehmütig lächelte. War ein lichterer Moment seines Lebens in seiner Erinnerung aufgetaucht? Durchzuckte ein Hoffnungsstrahl sein Herz? – Da hob der Gottesdienst an. Die Stimmen der Priester sprachen psalmodierend ihre Gebete, kühl und leidenschaftslos. Der Mann aber hörte es nicht und sah es nicht. Von neuem packte ihn der Schmerz. Mit neuer Inbrunst schrie seine zermarterte Seele ihre Gebete gen Himmel… Vielleicht ist das die Geschichte meines Stückes, vielleicht ist es auch eine andere…“

Der Schlußsatz dieses Textes macht das Dilemma deutlich, in dem sich fast alle Komponisten befinden, wenn sie sich gezwungen fühlen, die Programme ihrer Werke offenzulegen. Der verständliche Wunsch, vom Zuhörer „richtig“ verstanden zu werden, kollidiert mit der berechtigten Sorge, das „Benennen“ könnte die Wahrnehmung einengen, und die Musik fände sich zuletzt als eine Dinestmagd wieder, deren Leistung am Buchstaben des Programms gemessen wird. Alle einschränkenden Warnungen, die – spätestens seit Beethovens vielzitiertem „Mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey“ – solche musikalischen Programme traditionsgemäß begleiten, zielen deshalb auf die Wahrung der Autonomie des musikalischen Ausdrucks und Empfindens. Denn obwohl das von Juon angebotene Programm die Szenen („Sätze“) seines Werkes in einen (fast zu) plausiblen dramaturgischen Zusammenhang bringt, zeigt die Gegenüberstellung von anekdotischer Interpretation und unmittelbarer musikalischer Erfahrung, wie sehr diese jener überlegen ist.

Wohl an keiner anderen Stelle seines Werkes hat Juon eine gleichzeitig so dichte und so frei-assoziative Sprache gefunden. Das Konstruktionsprinzip – alle Themen sind aus knapp einer Handvoll archetypischer Kleinmotive gewonnen und auf komplizierte Weise miteinander verknüpft – ist so sehr vom stream of consciousness der heraufbeschworenen Bilder überflutet, daß es sich der hörenden Erfahrung nirgendwo aufdrängt, sondern nur wie die Logik des Traumes aus den Fernen des Unterbewußten wirkt. Und wie im Traum erscheint hier alles möglich, gleichzeitig und versöhnbar: In der synoptischen musikalischen Sprache dieses Werkes scheint der Abstand zwischen Perotinus Magnus und Gustav Mahler kaum größer zu sein als der zwischen Rachmaninov und Respighi. Der sich hierin manifestierende Eklektizismus Juons ist keine Schwäche, sondern eine seinem künstlerischen Naturell ideal entsprechende Ausdrucksweise.

© by Claus-Christian Schuster

Juon: Trio [Nr.3] G-Dur op.60

Paul Juon

* 23. Februar 1872
† 21. August 1940

Trio [Nr.3] G-Dur op.60

Komponiert:Berlin, 1914/15
Widmung:Herrn & Frau Julius H. Block
Erstausgabe:Zimmermann, Leipzig, 1915

Die suggestive Kraft der in der Trio-Caprice op.39 beschworenen Bilder wirkt sogar noch in dem sieben Jahre später (1915) erschienenen und dem Ehepaar J. H. Block gewidmeten dritten Klaviertrio nach: Im zweiten Satze, der sicher zu den reifsten und tiefsten Momenten des Juonschen Oeuvres zählt, erscheint ein nahezu wörtliches Zitat des Anfangs von op.39. Ansonsten ist dieses Werk aber eher dem ersten Klaviertrio verwandt, dessen Grundzüge wir hier – reifer, voller und reicher – wiederfinden.

Das eröffnende Moderato assai (G-Dur) ist wie der analoge Satz von op.17 ein „regelmäßiger“ Sonatenhauptsatz, und wie dort gewinnt Juon ein Gutteil der koloristischen Wirkung aus einem ungewöhnlichen tonalen Verhältnis zwischen Haupt- und Seitensatz, der hier in fis-moll steht. Die Durchführung ist diesmal weit knapper, weniger „gelehrt“ und wesentlich klangsinnlicher. In der Reprise werden die Tonartenbeziehungen dann „zurechtgebogen“, und zwar, ganz „à la Reger“, durch eine geschickt plazierte Halbtonrückung, die den Seitensatz jetzt in g-moll münden läßt.

Daß aber das ursprüngliche fis-moll keine willkürliche Laune war, erhellt aus dem folgenden Andante cantabile (h-moll), einem dreiteiligen Liedsatz, in dem der Dominantton Fis Ausgangs- und unverrückbarer Mittelpunkt des Geschehens ist (besonders deutlich etwa am Beginn der Reprise und bei der abschließenden Offenlegung des oben erwähnten „Gösta Berling“-Zitates, dem eine sphinxhafte Beschwörungsformel vorangeht). Die Harmonik des Satzes ist sehr unkonventionell und persönlich, ohne je gesucht oder diffus zu wirken. Die naive und gefällige Sprache des Mittelsatzes von op.17 liegt weit hinter uns: Von keinem anderen Punkt des Werkes aus läßt sich die von Juon in diesen eineinhalb Jahrzehnten zurückgelegte Wegstrecke besser überblicken.

Zweifellos am nächsten zur folkloristischen Welt von Juons Trioerstling kommen wir mit dem Finalrondo (Risoluto, ma non troppo allegro, g-moll/G-Dur). Auch hier geben die modalen Eigenwilligkeiten des ostslawischen Volksliedes den Hintergrund ab, vor dem sich ein launiges Spiel von ansteckendem Übermut entspinnt. An die Stelle der volksliedhaften Treuherzigkeit ist hier aber das Raffinement selbstironischen Esprits getreten, dem es auch nicht fernliegt, etwa im Scheinfugato der Mittelepisode mit aller Schalkhaftigkeit Brahms zu zitieren (das Incipit des Scherzos aus dem B-Dur-Streichsextett op.18). So endet das Werk schließlich mit jener doppelbödig mutwilligen Ausgelassenheit, die sich vielleicht nicht besser ausdrücken läßt als mit einem unüberhörbaren Anklang an das altbekannte wienerische „O du lieber Augustin“ – ein makabrer Kontrapunkt zu dem Inferno, in das Europa zur Zeit der Entstehung des Werkes schon geschlittert war.

© by Claus-Christian Schuster

Juon: Trio-Caprice nach Selma Lagerlöfs „Gösta Berling“, h-moll, op.39 [Trio No.2]

Paul Juon

* 23. Februar 1872
† 21. August 1940

Trio-Caprice nach Selma Lagerlöfs „Gösta Berling“, h-moll, op.39 [Trio No.2]

Komponiert:Berlin, 1907/08
Widmung:Russisches Trio (Russkoe Trio)
Uraufführung:München, ADMV, 5. Juni 1908
Russisches Trio (Russkoe Trio)
Vera Maurina (1876-1969), Klavier
Iosif Issakovic (Joseph) Press (1871-1938), Violine
Moisej Issakovic (Michael) Press (1881-1924), Violoncello
Erstausgabe:Schlesinger, Berlin, 1908

Juons zweites Klaviertrio erschien im Jahre 1908 mit einer Widmung an jenes Ensemble, das sich über die ganze Zeit seines Bestehens am nachhaltigsten und erfolgreichsten für das Werk des Komponisten eingesetzt hat und das auch dieses Opus uraufführte: das Russische Trio. Juons Studienkollege Josef Press (1881-1924), der als einer der besten Repräsentanten der Moskauer Geigenschule galt, hatte dieses Ensemble 1906 zusammen mit seiner Frau Vera Maurina (Klavier) und seinem Bruder Michael Press (Violoncello) gegründet. In den Vorkriegsjahren residierte das Trio in Berlin und gehörte zu Juons engerem Freundeskreis. Auch Selma Lagerlöf (1858-1940), die sich schon mit ihrem Erstlingswerk „Gösta Berlings Saga“ (1891) Weltruhm erworben hatte, hatte Juon in Berlin kennengelernt. Seine Bewunderung für die Eigenart der großen Dichterin drückte er in zwei großangelegten Kammermusikkompositionen aus: der Rhapsodie op.37 für Klavierquartett (1907) und unserer im darauffolgenden Jahr beendeten Trio-Caprice.

Zum Verhältnis zwischen literarischer Vorlage und ihrer musikalischen Ausdeutung bemerkte der Komponist anläßlich der Uraufführung des Werkes: „Dieses Werk ist durch Selma Lagerlöfs »Gösta Berling« angeregt worden, doch soll es keine Programmusik im üblichen Sinne sein, denn es will weder bestimmte Vorgänge oder Situationen noch gewisse Personen musikalisch charakterisieren. Vielmehr hat der eigenartige Stil des Lagerlöfschen Buches – das Launenhafte, Kapriziöse, das Rhapsodische und Episodische desselben, also gewissermaßen die Stimmung des Buches im ganzen – die Komposition der Trio-Caprice beeinflußt.“

Der erste Satz (Moderato non troppo, h-moll) entwickelt auf rhapsodische Weise zwei Grundgedanken, die nur mehr sehr bedingt als „Haupt-“ und „Seitenthema“ eines Sonatensatzes gedeutet werden können. In allen Teilen der Großform ABABA wird das Material assoziativ verarbeitet und verknüpft, wobei der dritte Abschnitt am deutlichsten durchführungsartige Züge aufweist, während die Eckteile einander spiegelbildlich entsprechen und als Exposition und (invertierte) Reprise fungieren.

Auch in den als unzertrennliche Einheit konzipierten Mittelsätzen (Andante, G-Dur, und Scherzo. Vivace, d-moll) ist die formale Dramaturgie des traditionellen viersätzigen Zyklus erkennbar, aber auf sehr persönliche und charakteristische Weise umgedeutet und neugestaltet: Im Andante wird ein weiträumiges, zwischen Dur und Moll irisierendes Thema nicht etwa „variiert“, sondern von seinem harmonischen Fundament abgelöst, auf dem sich dann ein völlig andersgeartetes Nachfolgethema breitmacht. Am Spiel zwischen diesen beiden „Verkleidungen“ desselben Gerüstes läßt sich die für die Musik des Jugendstils so typische Spannung zwischen archaisch-volksliedmäßigen und urban-salonhaften Elementen wieder besonders gut nachvollziehen. Juon nützt die sich aus der Verschiedenartigkeit dieser Elemente ergebenden Möglichkeiten mit sicherer Hand aus und versteht es auch, im nachfolgenden Scherzo einen saltarelloartigen Hauptteil mit einem marschmäßigen Trio (in das er noch Zitate der vorangehenden beiden Sätze einflicht) so mühelos zu verbinden, daß sich aus all diesen heterogenen Schichten doch noch eine zwingende Einheit ergibt. Das am Schluß des Scherzos wiederholte Incipit des Andante ist daher nicht eine leitmotivische Pflichtübung, sondern folgerichtiger Ausdruck organischer Kohärenz.

In analoger Weise mündet das eigenwillige Finale (Risoluto, h-moll), in dem der schwedische Landpastor Gösta Berling uns etliche Male in akzentfreiem (und recht ungebärdigem) Russisch anzuspechen scheint, in eine hymnische Beschwörung der beiden Leitthemen des ersten Satzes, bevor die Schlußwendung des Andante-Themas, die jetzt alle fragende Nachdenklichkeit abgeworfen hat, dem Satz ein grimmiges Ende bereitet. Angesichts der Fülle dieser Rückgriffe und Querverbindungen ist es besonders bemerkenswert, daß Juon es verstand, diesem Satz eine lapidare zweiteilige Form zu geben, deren dramaturgisch begründete Unregelmäßigkeiten dadurch kompensiert werden, daß der Beginn des zweiten Teiles mit mathematischer Präzision in die Satzmitte fällt – ein weiterer Beleg dafür, daß rhapsodische Impulsivität und formales Kalkül einander nicht ausschließen müssen.

© by Claus-Christian Schuster

Juon: Trio [Nr.1] a-moll op.17

Paul Juon

* 23. Februar 1872
† 21. August 1940

Trio [Nr.1] a-moll op.17

Komponiert:Berlin, um 1900
Uraufführung:? Krefeld, Königsburg, 10. Juni 1902
(38. Tonkünstlerfest des ADMV)
Otto Neitzel (1852-1920), Klavier
Carl Halir (1859-1909), Violine
Hugo Dechert (1860-1923), Violoncello
Erstausgabe:Schlesinger, Berlin, 1901

Das erste von insgesamt sechs Klaviertrios Paul Juons wurde 1901 in Berlin vollendet; es bildet in gewissem Sinne den Höhepunkt und Abschluß der „russischen“ Periode Juons. Vor allem in den Ecksätzen herrscht der Ton des ostslawischen Volksliedes mit all seinen Charakteristika (Quarten- und Quintenmotivik, modale Harmonik usw.) völlig unangefochten.

Der erste Satz (Allegro, a-moll) spielt mit zwei kontrastierenden Varianten ein und des selben Themas in verschiedener rhythmischer Gestalt. Das Seitenthema und die daraus entwickelte Codetta versucht erst gar nicht, sich dem Übergewicht dieses Hauptthemas entgegenzustellen: es besteht aus kleinräumigen, tänzerischen Motiven, die auf elegante Weise kontrapunktisch verflochten werden. Dieses etwas ungewöhnliche dramaturgische Verhältnis zwischen Haupt- und Seitenthema wird noch durch die unerwartete Tonart der Seitenthemengruppe (G-Dur) akzentuiert; freilich ist auch das „a-moll“ des Hauptthemas viel eher ein slawischer Volksliedmodus, sodaß das Tonartverhältnis sich ganz ungekünstelt aus dem thematischen Material ergibt. Von diesen Besonderheiten abgesehen entwickelt sich der Satz ganz streng nach den Regeln der Sonatenhauptsatzform.

Das Adagio non troppo (C-Dur) kombiniert ein modal gefärbtes Liedthema mit recht verblüffenden Gegenstimmen und schließlich mit einem hochromantisch chromatisierten Nebengedanken, der in fast theatralische Deklamation mündet. Diese mitunter irritierende Ambivalenz der musikalischen Sprache, in der Schlichtheit und Pathos so eng ineinander verwoben sind, ist ganz typisch für die Epoche und gehört zu jenen Stilmerkmalen, die die Übertragung des Begriffes „Jugendstil“ auf die Musik als gerechtfertigt erscheinen lassen.

Ein Rondo (Allegro, a-moll/A-Dur) bildet den Abschluß des in seinen Dimensionen und Formen bewußt knapp gehaltenen Werkes. Auch in diesem tänzerischen Kehraus herrscht wieder ein unbekümmert folkloristischer Ton; das Ritornell ist (bei völliger Änderung des Grundcharakters) in Modus und Duktus aus dem Hauptthema des ersten Satzes entwickelt. Von den beiden Episoden ist die erste ganz „à la Borodin“ erfunden, während die zweite auf eine walzerselige Apotheose hin angelegt ist, die in der Coda durch widerspenstige Ritornell-Zitate nicht gestört, sondern nur noch gesteigert wird.

© by Claus-Christian Schuster

Ives: Trio (1904/11)

Charles Ives

* 20. Oktober 1874
† 19. Mai 1954

Trio (1904/11)

Komponiert:New Haven, CT, 28. Juni 1904
Uraufführung:24. Mai 1948 Berea, Ohio
Baldwin-Wallace College Faculty Trio
George Poinar, Klavier
Esther Pierce, Violine
John Wolaver, Violoncello
Erstausgabe:Peer-Southern, New York, 1955

Dieses Werk, das fast ein halbes Jahrhundert auf seine „Entdeckung“ warten mußte, heute aber zu den außergewöhnlichsten Erscheinungen der Kammermusik unseres Jahrhunderts gezählt wird, ist eine durch und durch erstaunliche und verblüffende Schöpfung. Wohl selten zuvor hat ein junger Komponist Formenkanon und Gestaltungskonventionen einer ganzen Gattung mit so radikaler Nichtachtung gestraft und seinen eigenen Weg mit ähnlicher, an Tollkühnheit grenzender Sorglosigkeit verfolgt wie Ives in seinem einzigen erhaltenen Klaviertrio.

Dieser Mut hat bei Ives Methode: kaum eines seiner zahlreichen Werke, das nicht Neuland betritt, geheiligte Regeln verletzt und Tabus bricht. Der revolutionäre Impetus seiner Musik ist noch lange nicht verraucht, und das mag einer der Gründe dafür sein, daß man seine Werke nicht so oft gespielt wie seinen Namen zitiert hört. Vier Symphonien, zwei Orchestersuiten, vier Violinsonaten, drei Klaviersonaten, zwei Streichquartette und mehr als einhundertfünfzig Lieder bilden nur das Kernstück eines riesigen Oeuvres, dessen Entstehung uns ein Rätsel bleiben muß. Denn dieses nahezu unüberschaubare Lebenswerk entstand im wesentlichen im Laufe von nur etwas mehr als zwanzig Jahren ausschließlich in der karg bemessenen Freizeit, die Ives neben Aufbau und Leitung eines erfolgreichen Unternehmens (einer Lebensversicherung) blieb.

Warum ein musikalischer Kopf von solcher Eigenart und Unabhängigkeit die Musik nicht zu seinem Beruf machte, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Wahrscheinlich aber gab gerade seine Unabhängigkeit und sein unbändigerer Freiheitsdrang den Ausschlag für diese Entscheidung: Am Beispiel seines Vaters, George Edward Ives (1845-1894), auf dessen überragende Bedeutung für seine Entwicklung er nie müde wurde hinzuweisen, konnte der junge Ives in seiner Kindheit hautnah erleben, unter welchen Beschränkungen das Leben eines Musikers in einer sich stürmisch entwickelnden, jungen Industrienation, die den Künsten insgesamt bestenfalls dekorative Bedeutung beimaß, ablaufen mußte. George Ives war gegen die Traditionen der Familie, die fast ausschließlich aus geschickten Geschäftsleuten und brillanten Juristen bestand, Musiker geworden und wirkte in Danbury als Regens Chori, Kapellmeister, Organist und Musiklehrer. Trotz dieser vielfältigen Tätigkeit mußte er gegen Ende seines Lebens einen Posten in der von seinem Vater mitgegründeten örtlichen Bank annehmen, um seine Familie ernähren zu können. Charles, das jüngste von vier Kindern der Familie, muß das Schicksal des geliebten und bewunderten Vaters als ein schreiendes Unrecht empfunden haben. Als er selbst schließlich zu spätem und unerwartetem Ruhm als Komponist gelangte, war er rührend darauf bedacht, seinen Vater daran teilhaben zu lassen. Und in der Tat muß George Ives ein außergewöhnlicher Mensch gewesen sein: seinen Kindern versuchte er mithilfe eines selbstgebastelten Instrumentes, die Vierteltonmusik vertraut zu machen – daß das Singen von Vierteltonmelodien zuletzt nur mehr als Züchtigungsmittel eingesetzt wurde, zeigt, mit welch unvorhersehbaren Schwierigkeiten die akustische Bewußtseinserweiterung manchmal zu kämpfen hat. Unermüdlich war er bemüht, die Klänge, die ihn im Alltag umgaben – Kleinstadtlärm, Glockengeläute, Donner und Regen – in Musik zu übersetzen, wobei er zu ganz unerhörten Harmonien und Klängen vordrang, ohne allerdings je das Gebiet wirklicher Komposition zu betreten. Man hätte ihn einen Sammler und Erforscher von Klangphänomenen nennen können. Viel beredet und bestaunt wurden die Experimente, die er mit seinem Blasorchester anstellte (bewußte Einbeziehung von Raum und Entfernung, simultanes Spiel verschiedener Stücke etc.). Es ist dem jungen Charles nicht zu verdenken, daß er Horatio W. Parker, den in München bei Josef Rheinberger ausgebildeten Kompositionslehrer der Yale University, (auch wenn er ihm damit unrecht tat) im Vergleich zu seinem Vater für einen phantasielosen Reaktionär hielt und sich umso entschlossener von der von Parker verkörperten „akademischen“ Tradition nach deutschen Mustern abwandte.

Mit dieser brüsken Abkehr vollzog Ives einen Schritt, den Emerson schon zwei Generationen zuvor fast im Tone einer Kriegserklärung gefordert hatte:

„Our day of dependence, our long apprenticeship to the learning of other lands, draws to a close. We have listened too long to the courtly muses of Europe. […] We will walk on our own feet; we will work with our own hands; we will speak our own minds.“


(Ralph Waldo Emerson, The American Scholar, 1837)

Die (sich auch in seinen Kompositionen manifestierende) Verehrung, die Ives dem Dreigestirn der großen Neuengländer Emerson, Thoreau und Hawthorne entgegenbrachte, beruht vor allem darauf, daß er sich mit ihnen in diesem Punkte eines Sinnes wußte. Daß die Erfüllung der von Emerson erhobenen Forderung angesichts der zahllosen Verflechtungen und Bindungen, die die Neue Welt an die alte ketteten, nicht eben leicht war, hatte auch die zwischen Emerson und Ives liegende Generation erfahren müssen: Henry James machte diesen Konflikt zum Hauptthema seines Werkes. Doch die rasante wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der USA einerseits und die sich abzeichnenden revolutionären Umwälzungen in der europäischen Kulturlandschaft andererseits gaben diesem alten Konflikt für die Generation von Charles Ives eine ganz neue Brisanz. Die großen Amerikaner der Generation von 1870 (übrigens alle Neuengländer wie Ives) müssen ihn jeder für sich austragen – Isolation im eigenen Land oder Europäisierung heißt die Wahl, vor die sich viele von ihnen gestellt sehen. Ives wählt den Weg der totalen Isolation: selbst gute Bekannte haben oft keine Ahnung davon, daß der erfolgreiche Geschäftsmann Charles Ives auch komponiert. Der von Ives unter seinen Zeitgenossen am meisten verehrte Musiker, Carl Ruggles (1876-1971), ändert als junger Mann seinen Vornamen Charles aus purer Germanophilie; der Weg zu seiner eigenen Sprache ist so schwierig, daß seine Oeuvre am Ende eines fünfundneunzigjährigen Lebens gerade zehn Kompositionen umfaßt. Die Biographie des großen Lyrikers Wallace Stevens (1879-1955) liest sich wie eine Replik der Ivesschen – auch er flüchtet sich in die Mimikry seines Juristenberufes und wird Präsident einer Versicherungsgesellschaft. Robert Frost (1875-1963) führt nach Lehrjahren in England das zurückgezogene Leben eines neuenglischen Farmers. Nur der Maler Lyonel Feininger (1871-1956) wählt den Weg zurück in die Heimat seiner Eltern und wäre ohne den Terror des Dritten Reiches wohl nie mehr nach Amerika gekommen.

Schon wenige Wochen nach Abschluß seiner Studien an der Yale University (1894-1898) beginnt Ives seine Arbeit für die Mutual Life Insurance Company in New York. Zusammen mit einer Gruppe von Studienkameraden bezieht er „Poverty Flat“, die traditionelle New Yorker Unterkunft der Yale-Absolventen. Von seinen musikalischen Ambitionen und Fähigkeiten erfährt die New Yorker Öffentlichkeit nur am Rande: von 1900 bis 1903 wirkt er als Organist an der Central Presbyterian Church (57th Street).

Ende Juni 1904 kommt Ives zum Klassentreffen der Yale-Absolventen nach New Haven. Er sieht das altvertraute Treiben auf dem Campus, hört und singt die alten Lieder, Erinnerungen werden wach… Auf einem Blatt notiert er den Titel eines neuen Werkes:


Trio Yalensia et Americana (Fancy Names) Real name: Yankee jaws at Mr. Yale’s School for nice bad boys!!
Er beginnt die Komposition noch in New Haven mit dem Mittelsatz, dem Fence Medley, dem im darauffolgenden Herbst und Winter der erste Satz und wahrscheinlich eine erste Fassung des Finales folgen. Erst 1911 (Ives hat in der Zwischenzeit geheiratet und bewohnt jetzt in den Sommermonaten eine Villa in Hartsdale im Norden von New York) revidiert er das Werk und gibt ihm seine definitive Gestalt, in der es dann noch fast vier Jahrzehnte auf seine erste Aufführung wartete.

Der erste Satz (Moderato) führt uns zu einer Gruppe älterer Studenten, die auf der Umzäunung des Campus sitzen – „sitting on the Yale fence“ war ein Vorrecht, das den Freshmen verwehrt war. Ein alter Philosophieprofessor (nach der Meinung von Ives‘ Freund Edwards Park muß der Komponist an George T. Ladd gedacht haben) spricht sie an und führt mit ihnen ein kurzes und ernstes Gespräch. Diese Situation, die für eine musikalische Darstellung nicht eben prädestiniert erscheint, nimmt Ives zum Anlaß für ein originelles Experiment. Der musikalische Diskurs verläuft in vier unabhängigen Ebenen, zwischen denen weitverzweigte, aber relativ entfernte Beziehungen bestehen. Diese vier Schichten erklingen zuerst in zwei aufeinanderfolgenden Paaren: Klavierdiskant/Violoncello und Violine/Klavierbaß. Erst dann werden die vier Stränge zu einer Einheit verwoben, wobei nur ganz am Schluß zur Stärkung der Wirkung des Orgelpunktes auf C, der sich wider alles Erwarten am Ende doch noch in einen reinen C-Dur-Akkord fügt, drei Takte verdoppelt werden. Die Linearität dieses Vorganges kennt keine Kompromisse. Das Resultat sind komplizierteste rhythmische, harmonische und motivische Überlagerungen, die dem Gehör eine nicht leicht zu bewältigende, aber fesselnde und lohnende Aufgabe stellen – eine durchaus adäquate musikalische Beschreibung einer philosophischen Fragestellung.

Der zweite Satz (TSIAJ. Presto – Allegro moderato) trägt in der Skizze den Untertitel Medley on the Campus Fence – der Schauplatz ist also derselbe wie im ersten Satz. Der introvertierten und fast spekulativen Schau des Eröffnungssatzes steht aber hier ein Blick auf die überbordende Vitalität des Studentenlebens gegenüber. Die kryptisch erscheinende Abkürzung „TSIAJ“ bedeutet nichts anderes als „This Scherzo Is A Joke“. Obwohl die Essenz dieses „Spasses“ sich wohl nicht jedem Zuhörer gleich beim ersten Mal erschließt, wird man zugeben müssen, daß schon allein die Unbekümmertheit und Verwegenheit der Anlage geeignet ist, Vergnügen zu bereiten. Zum Thema des musikalischen Spasses bemerkt Ives bei anderer Gelegenheit in seiner ruppig-lakonischen Art:

„…It may not be a good joke, (but) the joke of it is: if it isn’t a joke, it isn’t anything.“


(Ives, Memos, m34v)

Nicht weniger als dreiundzwanzig Zitate bilden das Rohmaterial dieses Satzes; vier davon konnten bis jetzt noch nicht identifiziert werden, und es ist durchaus möglich, daß Ives, erfinderisch und schelmisch wie er war, einige weitere so gut versteckt hat, daß wir sie bis jetzt noch nicht gefunden haben. Um den nicht nur musikalischen Humor dieses Pasticcios würdigen zu können, ist es vielleicht hilfreich, die zitierten Melodien (in der Reihenfolge ihres jeweils ersten Erscheinens) aufzulisten:

I (Takt 16-42 Vl.) : A band of brothers in DKE / We march along tonight (DKE-Song)
II (Takt 43-47 Vl. & 107-111 Vlc.): Henry Clay Work – Marching Through Georgia
III (Takt 47-63 Vl.): Few Days (Psi-U-Song)
IV (Takt 64-67 Vl.): (Portrait eines hinkenden Mannes)
V (Takt 68-83 Klav., rechte Hand): Stephen Collins Foster – My Old Kentucky Home („The sun shines bright…“, 1853)
VI (Takt 68-83 Vlc.): That Old Cabin Home Upon The Hill (Verszeile: Far away in the South)
VII (Takt 84-85 & 200-201 Klav.): Joseph Philbrick Webster – In the sweet by and by („There’s a land that is fairer than day…“)
VIII (Takt 88-91 Vlc.): David W. Reeves – Second Regiment Connecticut National Guard March (Quickstep)
IX (Takt 89-92 Vl.): Sailor’s Hornpipe
X (Takt 93-106 Vl.): unidentifiziert
XI (Takt 93-107 & 114-120 Klav., rechte Hand; 107-114 Vl.): unidentifiziert
XII (Takt 107-114 Vlc.): unidentifiziert
XIII (Takt 118-119 & 149-153 Vl.): Pig-Town Fling
XIV (Takt 119-120 Vlc.): The Campbells Are Coming
XV (Takt 120-124c Vl.): Thomas Haynes Bayly – Long, long ago… [Lang, lang ist’s her („Sag‘ mir das Wort, das so gern ich gehört…“), Gedicht von Robert Burns]
XVI (Takt 124c-129 Vl. & Vlc., kanonisch): How Dry I Am (Parodie auf die Revival-Hymne „O Happy Day“)
XVII (Takt 130 Vl. & Vlc., bitonal): Ta-ra-ra-boom-de-ay
XVIII (Takt 145-147 Vl.): Daniel D. Emmet – Dixie Land (1859)
XIX (Takt 163-168 Klav., rechte Hand): unidentifiziert
XX (Takt 169-175 Klav., linke Hand): Hold The Fort
XXI (Takt 173 Vlc.): Reuben and Rachel
XXII (Takt 178-187 Klav.): unidentifiziert (Wolf’s Head Song)
XXIII (Takt 188 Klav.): Lowell Mason (?) – Cleansing Fountain („There is a fountain filled with blood…“, Wolf’s Head Song)


Es ist der Nachmittag eines Festes, und auf dem Campus tummeln sich Horden ausgelassener Studenten. Ihre Lieder und Spiele sind nicht alle von der vornehmsten Art. Ives hat den rauhen und burschikosen Umgangston in entwaffnend „realistischer“ Weise Musik werden lassen: auch musikalisch herrscht hier das Recht des Stärkeren. Eine Melodie verdrängt die andere, Rhythmen und Tonarten verwirren sich zu chaotisch anmutenden Gebilden, dröhnendes Schlagzeug, schmetterndes Blech und frenetisches Gefiedel wollen einander übertrumpfen. Aber obwohl der erste Höreindruck vielleicht Willkür und Zufälligkeit suggeriert, herrscht in diesem Tohuwabohu eine recht genau kalkulierte Ordnung. Denn wenn auch die verwendete Collagetechnik die Verwendung eines traditionellen Formschemas unmöglich macht, so gelingt es Ives doch, erkennbare Gliederungselemente einzuführen, ohne der Musik ihre elementare Unmittelbarkeit und ihren bissigen Humor zu rauben. Dem Pasticciocharakter des Satzes entsprechend konnten diese strukturierenden Elemente natürlich nicht vorwiegend thematischer Art sein; Ives verwendet daher andere gliedernde Parameter, wie Tempo, Dynamik und Textur. Sparsam eingesetzte thematische Querbezüge geben der so gewonnenen Gestalt nur noch zusätzliches Relief.

Die Großgliederung wird durch markante Tempowechsel erzielt: Anfang und Ende des Satzes werden von zwei kurzen Prestoabschnitten gebildet (der abschließende klingt in etwa wie eine von George Grosz gezeichnete Karikatur des Trios aus dem Scherzo der VII. Symphonie von Beethoven). Der dazwischen liegende Hauptteil des Satzes (Allegro moderato) wird an zwei Stellen von einem kurzen Adagio-Passus (Zitat VII) unterbrochen, der das zweite Mal (unmittelbar vor dem Schluß-Presto) in eine Klavierkadenz mündet. Das hier in einer Aura bedeutungstiefer Hintergründigkeit zitierte Lied, Websters „In the sweet by and by“, ist kurioserweise Gegenstand einer Begebenheit, die Ives etliche Jahre nach der Komposition des Trios tief beeindruckte: Als sich in New York die Kunde von der Versenkung der Lusitania (7. Mai 1915) verbreitete, wurde Ives Zeuge, wie die Passagiere eines U-Bahn-Zuges als Ausdruck ihrer Betroffenheit spontan dieses Lied anstimmten – nicht laut und demonstrativ, sondern still und nachdenklich, genauso, wie es auch inmitten des lärmenden Übermutes unseres Satzes erscheint. (Ives hat dieses spätere Erlebnis dann im letzten Satz seiner Zweiten Orchestersuite musikalisch nacherzählt.)

In den beiden durch das Webster-Zitat voneinander getrennten Hauptteilen des Satzes verzichtet Ives im wesentlichen auf dynamische und agogische Gliederung. Die Binnenstruktur dieser Teile ergibt sich in erster Linie durch die Art des Umganges mit den gewählten Zitaten. In beiden Teilen werden nämlich vollständig zitierte Melodien (im ersten Teil: Zitate I, V/VI; im zweiten Teil: Zitate XXII und XXIII) kaleidoskopartigen Abschnitten mit einer Vielzahl ineinander greifender Melodiefragmente gegenübergestellt. Während Ives für die vollständigen Zitate großflächige, rhythmisch stabile und klangmalerische Begleittexturen verwendet, greift er in den „fragmentierten“ Passagen, der Instabilität und Flüchtigkeit des thematischen Materials entsprechend, zu polyrhythmischen und polytonalen Formulierungen. Es sind vor allem diese Momente mit ihrer Überfülle an widersprüchlichen Klangreizen und Irritationen, die dem Satz auch hundert Jahre nach seinem Entstehen seine provokante Brisanz und unbekümmerte Frische bewahrt haben.

Doch auch die Zitate selbst folgen einer – wenn auch alles anderen als klaren und strengen – inneren Dramaturgie. Die Umrahmung des Pasticcios bilden ausgesprochenen Yale-Lieder: Das erste (I) ist die „inoffizielle Hymne“ der sophomore society DKE (einer Art Geheimverbindung von siebzehn durch Wahl bestimmten Studenten des zweiten Studienjahres); die letzten beiden (XXII, XXIII) sind Erkennungslieder der senior society „Wolf’s Head“, deren Mitglied Ives war. (Die Zugehörigkeit zu einer der drei senior societies erscheint vielen Yale-Studenten erstrebenswerter als ein noch so brillanter Studienerfolg; die Wahl in diese Verbindungen, in die nur je fünfzehn Studenten des vierten Studienjahres aufgenommen werden, gilt als besondere Auszeichnung.) Zitat VIII, mit dem der zweite Hauptteil eröffnet wird, war die traditionelle „Schlachthymne“ Yales bei sportlichen Wettbewerben. Fosters berühmtes „Old Kentucky Home“ (Zitat V) bildet schließlich das Herzstück des Medleys: Das ihm gleichsam dienend unterlegte „Old Cabin Home“ (Zitat VI) unterstreicht seine besondere Bedeutung ebenso wie die fast sakral anmutende Wiederaufnahme seiner Schlußwendung in den beiden Adagio-Momenten. Diese auszeichnende Behandlung von Fosters wohl berühmtestem Lied kommt nicht von ungefähr: Der Autodidakt Stephen Collins Foster (1826-1864) war für Ives eine wichtige Identifikationsfigur, in der sich Möglichkeiten und Aufgaben einer eigenen amerikanischen Musikkultur kristallisierten. In seinen Schriften nennt Ives ihn an mehreren Stellen in einem Atemzug mit Bach und Schubert – eine Wertschätzung, die vielleicht auch gleich das entrüstet-mißbilligende Kopfschütteln der von Ives mit unermüdlicher Inbrunst verachteten „nice ladies“ mit einkalkuliert.

Während der zweite Satz, der ja den Ausgangspunkt des ganzen Werkes darstellt, (mit Grabbe zu reden) ganz Scherz, Satire und Ironie zu sein scheint, kommt im Schlußsatz (Moderato con moto) wieder die tiefere Bedeutung zu ihrem Recht. Die Erinnerung an einen Sonntagsgottesdienst in Dwight Hall gab Ives den Anstoß zur Komposition dieses Satzes. Folgerichtig bilden zwei Zitate geistlicher Musik die Angelpunkte des Stückes.

Eines davon ist ein Selbstzitat: 1896 hatte Ives für den Yale Glee Club eine großangelegte geistliche Kantate unter dem Titel The All-Enduring geschrieben. Der Chor, der anspruchslosere Werke des jungen Komponisten (wie etwa The Bells of Yale) schon in sein Repertoire aufgenommen hatte, zeigte aber kein Interesse an einer Aufführung. Wie so oft bei Ives gelangten daraufhin einzelne Teile dieses Werkes nach mehreren Metamorphosen in andere Kompositionen, und so findet sich an zentraler Stelle des Schlußsatzes unseres Trios ein 35 Takte langer Passus der Solostimme von The All-Enduring als Kanon zwischen Geige und Violoncello wieder. (Reminiszenzenjäger dürfen sich hier an einer grotesken und hintergründigen Vorausahnung erfreuen: der Komponist der ehemaligen sowjetischen Nationalhymne hätte jedenfalls Mühe gehabt, die unüberhörbare Nähe seines Themas zu dem religiösen Werk eines amerikanischen Kapitalisten zu rechtfertigen… – aber auch diese Notwendigkeit gehört ja, Gott sie Dank, inzwischen der Vergangenheit an.)

Das zweite Zitat des Satzes ist ein Klassiker der amerikanischen Kirchenmusik: Rock of ages, cleft for me von Thomas Hastings auf die Verse von Augustus M. Toplady (1830). Dieses Zitat bildet den vieldeutigen Abschluß des Werkes; der von Ives dazu erfundene Kontrapunkt ist in variierter Gestalt schon an mehreren Stellen der vorangehenden Sätze erschienen und stellt also ein werkübergreifendes Leitmotiv dar, das erst am Schluß seine wahre Funktion offenbart. Schon daraus kann man ersehen, daß diesem Rock of ages besondere Bedeutung zukommt – es ist übrigens das einzige Zitat des ganzen Werkes, das Ives selbst expressis verbis als solches gekennzeichnet hat. Der auf diese Weise geehrte Komponist, Thomas Hastings (1784-1872), stammte ebenso wie Ives aus Connecticut, und auch er verbrachte den größten Teil seines Lebens in New York – im Gegensatz zu seinem gleichzeitig kühneren und unentschlosseneren Landsmann allerdings als professioneller Musiker.

Das Gewicht der beiden Zitate wird durch ihre Stellung im formalen Ablauf des Satzes betont: The All-Enduring definiert genau die Mitte dieser komplizierten Architektur, während Rock of ages durch die suggestive und wiederholte Vorwegnahme des dazugehörigen Kontrapunktes sich als ihr vieldeutiger Fluchtpunkt (in der perspektivischen und der metaphysischen Bedeutung des Wortes) zu erkennen gibt. Hinter dem Reichtum des verwendeten thematischen Materials und seinen vielfachen Verschränkungen kann man die zugrundeliegende „Urform“ ABCAB kaum noch erkennen; sie ist aber an der genau kalkulierten Proportionierung der Eckteile A und B (je 45 Takte) nachweisbar. Diese Teile sind in sich reich gegliedert: A umfaßt eine Quinten-Fanfare als Eröffnungsmotiv und ein inniges Gebet, das in der Mitte von B, umrahmt von einem (den folkloristisch-heiteren Charakter des Scherzos in gezähmter Form wiederaufnehmenden) bitonalen Kanon, wiederkehrt. Am Ende von B steht jeweils der Rock of ages-Kontrapunkt, dem zuletzt dann das eigentliche Zitat folgt. Der Mittelteil (The All-Enduring) stellt mit seiner fast opernhaften Rhetorik eine unerwartete Verbindung zu Wagner und Strauss her – es ist, trotz aller verfremdenden Elemente, der einzige Passus des Werkes, den man „spätromantisch“ nennen könnte. Gerade solche Momente lassen das Innovative an Ives‘ „eigener“ Tonsprache noch kostbarer und noch zwingender erscheinen.

Ein deutscher Geiger, dem Ives im August 1914 seine Musik zeigte, hielt sich nach einer Weile die Ohren zu und rief verzweifelt aus: „Wenn man unverdauliches Zeug in den Magen bekommen hat, so kann man es wieder loswerden – aber ich bekomme diese schrecklichen Klänge nicht mehr aus meinen Ohren!“ An Reaktionen dieser Art mußte Ives sich im Laufe seines Lebens gewöhnen. Er wollte mit seiner Musik die erschlafften Muskeln einer betulich schöngeistigen Zuhörerschaft zu neuer Tätigkeit anregen, die Ohrenmuskeln, die Kopfmuskeln, die Herzmuskeln und die Seelenmuskeln. Diese Art geistiger Gymnastik ist auch nach einem Jahrhundert der Experimente noch nicht überflüssig. Ives selbst ist jedenfalls auf diese Weise jung geblieben. Sein Mut und Witz, seine Naivität und Neugier sind für offene und unvoreingenommene Ohren noch immer frisch und ansteckend. „This may not be a nice way to write music, but it’s one way! – and who knows the only real nice way?“

© by Claus-Christian Schuster

Hummel: Trio Nr.4, G-Dur, op.65

Johann Nepomuk Hummel

* 14. November 1778
† 17. Oktober 1837

Trio Nr.4, G-Dur, op.65

Komponiert:Wien, 1814
Erstausgabe:Artaria, Wien, 1816

Johann Nepomuk Hummel entstammt einer fränkischen Familie, die in Niederösterreich ansässig geworden war. Sein Vater war Musiker und wirkte in verschiedenen Stellungen an Theatern in Wien und Preßburg. 1785 kam die Familie nach Wien, wo Mozart auf den Knaben aufmerksam wurde und ihn zwei Jahre lang unterrichtete; zeitweise soll Hummel auch in Mozarts Haushalt gewohnt haben. Mit 9 Jahren debütierte er erfolgreich in Dresden und trat kurz darauf in Begleitung seines Vaters – ganz nach bewährtem Mozartschen Muster – eine ausgedehnte Konzertreise an, die ihn durch Böhmen, Norddeutschland, Dänemark und Schottland nach London führte, wo Haydn sich seiner annahm. Die Wirren der Französischen Revolution verhinderten die geplante Weiterreise nach Frankreich und Spanien. 1793 kehrte er nach Wien zurück, wo er – wie Beethoven – bei Albrechtsberger, Salieri und Haydn studierte. Auf dessen Empfehlung hin konnte er schließlich 1804 die Leitung der Fürst Esterhazyschen Kapelle in Eisenstadt übernehmen; aus dieser Stelle wurde er 1811 wegen allzu häufiger Vernachlässigung seines Dienstes entlassen. Nach Wien zurückgekehrt wirkte er hier als Musiklehrer und heiratete 1813 die Sängerin Elisabeth Röckel, der Schwester von Beethovens Freund (und erstem Florestan) Joseph August Röckel. Im Jahre 1816 folgte er schließlich einer Berufung nach Stuttgart, das er schon nach zwei für ihn recht unerquicklichen Jahren wieder verließ, um in Weimar die Stelle eines Großherzoglichen Kapellmeisters zu übernehmen, die er dann bis zu seinem Tode bekleiden sollte.

Als Pianist und Dirigent war Hummel ebenso wie als Komponist eine der repräsentativsten Persönlichkeiten des Vormärz. Zusammen mit Ignaz Moscheles gilt er als der letzte bedeutende Vertreter der von Mozart ausgehenden Wiener Schule des Klavierspiels. Seine Konzertreisen führten ihn regelmäßig in alle europäischen Musikzentren zwischen St. Petersburg und London. Den größeren Teil des XIX. Jahrhunderts hindurch gehörten seine Werke zum zentralen Bestandteil des Klavier- und Kammermusikrepertoires, wie sich auch an den häufigen Neuausgaben seiner Werke in diesem Zeitraum ablesen läßt. Die insgesamt 8 Klaviertrios (unser Werk wäre genau genommen, d.h. unter Einbeziehung der Sonate op.2 Nr.1, eigentlich Nr.5) waren vor allem in den bürgerlichen Musiksalons beliebt.

Das Trio in G-Dur op.65 ist eines der letzten in Wien geschriebenen Werke Hummels. Es ist unter seinen Trios auch das letzte, das unbeirrt und nicht ohne persönlichen Charme am Idiom der Klaviertrios Haydns und Mozarts festhält. Wenn man sich vor Augen hält, daß Beethoven zur gleichen Zeit letzte Hand an sein op.97 legte, wird das Auseinanderklaffen von Zeitstil und Geniestil besonders deutlich. Man könnte sagen, Hummels Trio sei ein Vierteljahrhundert zu spät geschrieben worden. Doch wird man der Eigenart dieses hübschen Werkes nicht wirklich gerecht, wenn man es nur unter dieser Perspektive sehen wollte. „So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen… Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / Geprägte Form die lebend sich entwickelt.“ schreibt Goethe („Urworte. Orphisch“, Oktober 1817), zu dem Hummel wenige Jahre später in engere Beziehungen treten sollte. Auf die „Epigonen“ und „Kleinmeister“ der nachklassischen Zeit angwendet, wäre es ungerecht und oberflächlich, nicht auch in den Schranken ihres Soseins die Kraft einer persönlichen Entwicklung zu erkennen und anzuerkennen, wo immer und wie immer sie sich manifestiert.

Der recht knappe Kopfsatz (Allegro con spirito, G-Dur) verarbeitet eine Vielzahl von Ideen auf sehr prägnante und gekonnte Weise; besonders originell ist die Durchführung, die eigentlich nichts weiter als eine sehr komisch inszenierte Rückführung zur Reprise darstellt, charakteristisch und auffällig auch das formale und emotionale Übergewicht des Seitensatzes – auch in diesem durch und durch klassizistischen Idiom ein unverkennbar frühromantischer Zug.

Das Andante grazioso (C-Dur) ist zwar sehr schlicht, aber von etwas ungewöhnlicher Form: es ist eine durch vollständige Eliminierung der Durchführung auf die Bedürfnisse eines lyrischen Intermezzos zurechtgestutzte Sonatenhauptsatzform, deren zwei Themen folgerichtig auch in keiner dialektischen Spannung zueinander stehen. Man hat den Eindruck, einen Doppelvariationensatz zu hören, der nur aus dem Thema und einer einzigen Variation besteht – ein charmantes und ganz persönliches Postscriptum zur Welt des klassischen Andante.

Den Abschluß bildet ein ebenso brillantes wie rasantes Rondo. Vivace assai e scherzando (G-Dur). Es ist in jener lockeren Mischform zwischen Rondo und Sonatensatz geschrieben, die dem Zwang zur allzu häufigen Wiederholung des Ritornells geschickt ausweicht; die drei Themen sind farbig und sicher charakterisiert, an einer Stelle klingt ganz deutlich die so beliebte Janitscharenmusik durch, und auch sonst ist alles getan, um Spieler und Hörer bei guter Laune zu halten

© by Claus-Christian Schuster

Haydn: Sonate F-Dur, op. 45 Nr. 1/Hob. XV:6 (1784)

Joseph Haydn

* 31. März 1732
† 31. Mai 1809

Sonate F-Dur, op. 45 Nr. 1/Hob. XV:6 (1784)

Komponiert:Eszterháza, 1784
Widmung:Mária Anna Viczay de Hédérvar et Loos (Nagylózs), geborene Grassalkovics de Gyarak (1760-1815)
Uraufführung:nicht dokumentiert
Erstausgabe:Artaria, Wien, April 1786

Als die Wiener Zeitung am 26. April 1786 endlich das Erscheinen von drei neuen Haydnschen Klaviertrios anzeigen konnte, hatte dieses Opus, das die endgültige Rückkehr Haydns auf dieses von ihm so lange vernachlässigte Gebiet besiegelt, schon einiges über sich ergehen lassen müssen. Der Komposition der drei Werke waren über mehrere Jahre hinweg immer erneuerte Anfragen und Ersuchen vorausgegangen, die den Meister auf das in seinen Jugendjahren so liebevoll und originell bedachte Terrain zurücklocken sollten. Ein wenig unwillig hatte Haydn im Herbst 1784 dann endlich eine Dreiergruppe von Trios für den besonders beharrlichen Londoner Verleger William Forster sen. (1739-1808) „fertig gemacht“, genauer gesagt: er hatte sein zu diesem Zweck komponiertes G-Dur-Trio (Hob. XV:5) zusammen mit zwei Werken seines begabten Schülers Ignaz Pleyel (1757-1831) am 25. Oktober 1784 aus Eszterháza an Forster nach London geschickt. Die Weiterungen, die dieser (in jener Zeit allerdings fast alltägliche) „Etiquettenschwindel“ nach sich zog, einschließlich des sich daran anschließenden Gerichtsprozesses, der Haydn noch bei seinem zweiten Londoner Aufenthalt 1794 beschäftigen sollte, sind in der Haydn-Literatur besonders breit und akribisch beschrieben worden, und wir können uns daher weitere Erörterungen dieser ein wenig peinlichen Angelegenheit ersparen.
Man könnte freilich den Eindruck gewinnen, die Verwendung fremden Eigentums zur Befriedigung der immer dringender werdenden Nachfrage nach den modischen Klaviertrios drücke vor allem Haydns Desinteresse an der Sache aus. Wenn es wahrscheinlich auch einen Zeitpunkt gegeben hat, für den das wirklich zutrifft, so folgt doch aus Haydns Verhalten in den folgenden Monaten, daß die eher unfreiwillige Widerbegegnung mit seiner kammermusikalischen „Jugendliebe“ in ihm – vielleicht sogar für ihn selbst recht überraschend – ein neues Feuer entfacht hatte. Denn im Zuge der Vorarbeiten zu seiner großangelegten (und bei seinem Tod unvollendet gebliebenen) Haydn-Biographie konnte Carl Ferdinand Pohl am 16. April 1868 im Esterházyschen Archiv ein mit 1784 datiertes fragmentarisches Autograph eines zusätzlichen, nicht an Forster gesandten (und wahrscheinlich nach dem 25. Oktober 1784 komponierten) Klaviertrios, eben unseres F-Dur-Trios Hob. XV:6 einsehen – diese auf acht Partiturseiteneiten die ersten 100 Takte des Kopfsatzes unseres Werkes umfassende kostbare Quelle ist seither spurlos verschwunden.
Das Autograph des zweiten für Artaria komponierten Trios der neuen Serie, Hob. XV:7, D-Dur, ist eines der ganz wenigen Klaviertrios, deren Autograph vollständig erhalten ist – es befindet sich in Londoner Privatbesitz und ist (wie das ebenfalls komplett eigenschriftlich überlieferte A-Dur Trio aus der zweiten Forster-Gruppe) mit 1785 datiert. Die beiden anderen Werke, mit denen Haydn unser F-Dur-Werk zu einer Triade für den Wiener Verleger Artaria vervollständigte (dem D-Dur-Trio folgte als Abschluß der Serie ein Trio in B-Dur, Hob. XV:8, von dessen Autograph sich keine Spur erhalten hat), waren also allem Anschein nach noch deutlich vor der nächsten, am 28. Oktober 1785 an William Forster übersandten Werkgruppe fertig. (Diese sollte dann die zwei Originalwerke Hob. XV:9, A-Dur, und Hob. XV:10, Es-Dur, beinhalten, zwischen die Haydn die Bearbeitung eines wesentlich früher entstandenen Werkes für Cembalo, Baryton und zwei Geigen, Hob. XV:2, F-Dur, stellte.)
Haydn muß die Stichvorlagen zu der Werkserie Hob. XV:6-8 spätestens im Frühherbst an Artaria übergeben haben. Im Unterschied zu den beiden für London bestimmten Opera hatte Haydn diesmal – und auch das spricht dafür, daß man hier den Beginn einer neuen Etappe in Haydns Trioschaffen sehen darf – eine Widmungsträgerin bestimmt: Die drei neuen Trios waren der 25jährigen Enkelin von Fürst Nikolaus Esterházy, Mária Anna Grassalkovics, zugedacht, die schon 1776 am Vorabend ihres 16. Geburtstages in Eisenstadt an Graf Mihály Viczay de Hédervár et Loos verheiratet worden war.
Daß Haydn dieser Widmung besondere Bedeutung beimaß, läßt sich zwischen den Zeilen des folgenden Briefes an seinen Wiener Verleger Francesco Artaria (1744-1808) lesen, mit dem er am 26. November 1785 aus Eszterháza die Fertigstellung des Stiches urgiert:

Liebster Freund!
Bitte sehr höfflich, mich mit Montagigen fürstlichen Husaren zu berichten, ob meine Sonaten schon gestochen, und wan Sie dieselbe der gräfin Witzey übergeben werden; die ursach, warum ich es gerne wissen möcht, ist, weil ich noch vor unserer abreiß, welche längstens in 14 tagen geschehen wird, der gräfin auf Ihr. Gut eine Visit machen möchte; ich wartete immer auf den Ersten abdruck deren Sonaten um sie zu Cor[ri]giren, weil ein fehler ist, der verbessert werden mus.

Haydns Formulierung „ich wartete immer“ läßt darauf schließen, daß die „Sonaten“, eben unsere drei neuen Klaviertrios, sich schon geraume Zeit im Besitz Artarias befunden haben müssen. Was der „fürstliche Husar“ zwei Tage später zu berichten hatte, wissen wir nicht, aber immerhin hatte Haydns Schreiben zur Folge, daß der Komponist zwei Wochen später, am 8. Dezember 1785, endlich den Korrekturabzug in Empfang nehmen konnte. Das Entsetzen, das ihn beim Anblick dieser Probefahnen erfaßte, verschlug ihm zunächst die Rede, aber am 10. Dezember machte er, nachdem er sich einen ersten Überblick über das Ausmaß der Katastrophe verschafft hatte, seinem Ärger Luft:

Mon tres cher Amj!

Ich erhielte vorgestern die Clavier Sonaten mit gröster Verwunderung des schlechten stiches wegen, und denen so vielen ärgerlichen fehlern, welche in allen stimen besonders in der Clavier stim ansehen muste, ich ware anfangs So toll, daß ich Ihnen das geld zurück senden, und die Partitur deren Sonaten augenblicklich nach berlin den Herrn Hummel zusenden wollte, weil ich mir wegen denen hier, und da, unlesbahren, übel, aus-, und eingetheilten Stellen wenig Ehre, und Sie hiedurch wenig Nutzen verschaffen werden. Jeder, der Sie kaufft, wird bey Abspiellung über den Stecher fluchen, und zu spielen aufhören. […] ich wollte lieber aus mein. eigenen Sack noch 2 blatten gezahlt haben, als solche Verwürrung ansehen. Jeder Meister hat zu studiren, bis er diese Stelle auseinander setzt, was wird erst der Dilettante machen. […] Versetzte Notten, ausgelassene Notten giebt es gewaltig Viel; […] ich hab gestern den ganzen und heut den halben tag mit Cor[ri]giren zugebracht, und da hab ich es nur obenhin überschaut.
bester Freund, machen Sie demnach, daß alles verbessert wird, sonst haben wür beede wenig Ehre – übrigens hoffe ich Sie selbst bald zu sehen, und bin mit aller Hochachtung/Dero
ganz gehorsamer diener
Joseph Haydn mppria

Ob Haydn den geplanten Besuch bei der jungen Widmungsträgerin der Trios auf ihrem Gut in Nagylózs – etwa 14 km südwestlich von Eszterháza – trotz der höchst unbefriedigenden äußeren Form seines Geschenks wirklich gemacht hat oder nicht, ist nicht überliefert. Hingegen läßt sich aus den Quellen schließen, daß Francesco Artaria sich schließlich keinen anderen Ausweg aus der verfahrenene Situation wußte, als seinen Mainzer Konkurrenten Bernhard Schott (1748-1809) um Hilfe zu bitten, denn dieser berichtet in einem Schreiben an Johann Georg Batton (1740-1828), den Canonicus und Bibliothekar des Frankfurter Bartholomäusstiftes, vom 3. Jänner 1786 ganz nebenbei:

„Artaria hat mich gebeten die verdorbenen Klaviertrios für die Gräfin Witzay zu reparieren. Ich werde sie also schleunigst stechen.“

Die kollegiale Hilfe wurde freilich nicht an die große Glocke gehängt – denn außer diesem recht versteckten Indiz, das nur dem unbestechlichen Kriminalistenblick des leidenschaftlichen Haydnforschers Anthony van Hoboken nicht entgehen konnte, finden sich keine weiteren Belege dafür, daß (wie anzunehmen ist) das Ende April endlich dem Publikum vorgelegte Druckwerk in Mainz und nicht in Wien gestochen wurde; eine, wie man es auch wendet, blamable Schlappe für das Wiener Verlagshaus, das übrigens selbst von einem in Mainz gegründeten Unternehmen (Giovanni Artaria & Co., 1765) abstammt.
Immerhin scheint das Ergebnis der Rettungsaktion so erfreulich gewesen zu sein, daß Friedrich Rellstab (1759-1813), der Vater des später von Schubert im „Schwanengesang“ verewigten Dichters und Gründer der ersten Berliner Musikalienhandlung, bei der Ankündigung des Erscheinens der neuen Trioreihe in den „Königlich privilegierten Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen“ (vulgo der „Spenerschen Zeitung“) am 3. Juni 1786 unwidersprochen „vom Wiener prächtigen Originalstich“ schreiben konnte – und somit war Wiens Ehre als Musikstadt wieder einmal gerettet.

Die Sonaten selbst haben aber freilich zum Ruhm Wiens noch weit mehr beigetragen als der nicht ganz lupenreine „prächtige Originalstich“; und daß die drei Trios im Konzertleben nicht öfter zu hören sind, mag zwar mit der Fülle der im folgenden Jahrzehnten entstandenen jüngeren Schwesterwerke zu erklären sein, bedauerlich bleibt es allemal.

© by Claus-Christian Schuster

Haydn: Trio G-Dur Hob.XV:32

Joseph Haydn

* 31. März 1732
† 31. Mai 1809

Trio G-Dur Hob.XV:32

Komponiert:London, 1791/92 (?)
Widmung:(Marianne von Genzinger / Maria Anna Tost, geb. Jerlischek (?))
Uraufführung:nicht dokumentiert
Erstausgabe:Preston, London, 1794

Lange Zeit hindurch war dieses Werk nur in seiner (ursprünglichen?) Fassung als Sonate für Violine und Klavier bekannt. Manches spricht dafür, daß es sich wirklich um Haydns einziges Originalwerk dieses Genres handeln könnte – die auffällige Übereinstimmung des Beginns mit dem Thema des zweites Satzes aus W. A. Mozarts G-Dur-Sonate KV 301, die ja ebenfalls eine zweisätzige Violinsonate ist, könnte so besehen auch bewußtes Zitat sein. Mit ziemlicher Sicherheit kann man annehmen, daß diese „Sonate“ Haydns einzige Klavierkomposition aus der Zeit seines ersten Londoner Aufenthaltes (Jänner 1791 – Juni 1792) ist. Für ein „unkommerzielles“ Vergnügen, wie es das Schreiben eines so unspektakulären Stückes Kammermusik war, hatte der Meister damals allerdings wirklich wenig Zeit:

„…wenn Euer gnaden seheten, wie ich hier in London Seccirt werde in allen denen privat Musicken beyzuwohnen, wobey ich sehr viel zeit verliehre, und die menge deren arbeithen so man mir aufbürdet, würden Sie gnädige Frau mit mir und über mich das gröste Mitleyd haben, ich schriebe zeit lebens nie in Einen Jahr so viel als im gegenwärtig verflossenen, bin aber auch fast ganz Erschöpft, und mir wird es wohl thun nach meiner nach haußkunft ein wenig ausrasten zu können…“


(an Marianne von Genzinger, 17. Jänner 1792)

Daß Haydn schließlich doch noch Zeit fand, zwischen seine offiziellen Verpflichtungen die Komposition dieser Sonate einzuschieben, hat wahrscheinlich mit einem Vorfall zu tun, dessen Hintergründe nicht restlos geklärt sind: Anscheinend hatte Haydns Wiener Adlatus und Kopist Johann Elßler die Abwesenheit des Meisters dazu mißbraucht, eine Klaviersonate (wahrscheinlich Hob.XVI:49), die Haydn Frau von Genzinger und/oder deren Freundin Maria Anna („Nanette“) Jerlischek zugedacht hatte, zu eigenem Gewinn an den Wiener Verleger Artaria zu verkaufen, der das Werk natürlich ohne die vom Komponisten intendierte Widmung druckte. Haydn ist empört:

„…ich Erschracke nicht wenig, als ich die unangenehme nachricht von der Sonate lesen muste, bey gott! Ich wolte lieber 25 Ducaten verlohren haben, als diesen diebstahl zu erfahren, und diss kann niemand anderer gethan haben, als mein eigener Copist. Allein, ich hofe zu Gott diesen verlust zu ersetzen…“


(an Marianne von Genzinger, falsch (?) datiert 2. März 1792)

Da unser Trio das einzige Klavierwerk dieser Zeit ist, liegt die Vermutung nahe, daß es sich hier um dieses versprochene „Ersatzstück“ handelt. Gedruckt wurde das Werk, und zwar wieder ohne Widmung, erst zwei Jahre später, während Haydns zweitem Londoner Aufenthalt. Die beiden Fassungen erschienen nahezu gleichzeitig, die Trioversion bei Haydns Londoner Verlag Preston und die Violinsonate in Wien bei Artaria. Es besteht zunächst kein triftiger Grund, an der Authentizität der Triofassung, d. h. konkret: der Cellostimme, zu zweifeln. Allerdings hat sich in einem in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrten Manuskriptband eine offenbar nur wenige Jahre später entstandene Alternativfassung des Werkes erhalten, deren Cellostimme recht einschneidende Änderungen gegenüber der gedruckten Version aufweist. Das mag zunächst von rein philologischem Interesse sein – schließlich haben die Cellostimmen der Haydnschen Klaviertrios den Ruf, nichts weiter als willenlose Sklaven des Klavierbasses zu sein. Der Vergleich dieser beiden Fassungen zeigt uns aber, daß die zeitgenössische Aufführungspraxis auch in von den meisten heutigen Hörern und Interpreten als untergeordnet und nebensächlich empfundene Details eine ganze Menge Phantasie investieren konnte. Wo wir oft Gefahr laufen, uns vom Buchstaben des Textes beengt zu fühlen, bevor wir noch seinen Sinn erfaßt haben, verstand man damals offenbar, die vom Komponisten gewährten Freiräume spielerisch zu erfüllen. Freilich weisen beide Fassungen – die gedruckte Londoner und die handschriftliche aus Berlin – in einigen charakteristischen Details (Stimmführung und -lage, Tonlängen etc.) Abweichungen von den Cellostimmen der anderen Klaviertrios auf. Ob man daraus nun schließen mag, daß keine der beiden Stimmen authentisch sei (wie das die Herausgeber der Haydn-Gesamtausgabe tun), oder ob man darin einfach ein Indiz für die Priorität der Duofassung sehen will – in jedem Fall ist es anregend, sich durch solche Fragen zu genauerem Hören verleiten zu lassen: im Detail steckt nicht nur der Teufel, sondern auch das Genie…

Unter den fünfzehn zwischen 1792 und 1796 entstandenen Haydnschen Klaviertrios gibt es nur zwei zweisätzige Werke. Das zweite Werk, das 1794/95 komponierte Trio in es-moll (Hob.XV:31) ist eine Pasticcio-Komposition, bei der Haydn den in anderem Zusammenhang niedergeschriebenen Es-Dur-Satz einer Violinsonate („Jakobs Traum“) als Finale verwendete. Festzuhalten ist also, daß in beiden Fällen durch die Entstehungsgeschichte ein enger Konnex zum Genre der Violinsonate gegeben ist. Unser G-Dur-Trio repräsentiert mit seinen beiden in der gleichen Tonart stehenden Sätzen einen Sonatentyp, den etwa auch Mozart seinen Kurfürstin-Sonaten („op.II“, KV 301-306) zugrundegelegt hat.

Ganz nahe an die Welt dieser Sonaten führt uns der erste Satz unseres Trios. Der Anfang dieses Andantes scheint, wie schon oben erwähnt, mit dem Beginn des zweiten Satzes, Allegro, aus der ersten dieser Violinsonaten (e-moll, KV 301, Mannheim 1778) identisch zu sein. Doch gerade an einer solchen Konstellation läßt sich sehr gut studieren, wie sehr die Physiognomie eines Kunstwerkes eben nicht durch das Was, sondern durch das Wie bestimmt wird. Haydn und Mozart gehen von der selben thematischen Keimzelle aus: Themenkopf (die ersten acht Noten), Metrum (bei Mozart Dreiachtel-, bei Haydn Sechsachteltakt) und rhythmische Struktur (in beiden Fällen durchgehende Achtelbewegung) entsprechen einander aufs Haar. Mehr noch: beide Meister machen diese Keimzelle zum Ausgangspunkt einer bis in Einzelheiten übereinstimmenden formalen Großanlage – sogar das harmonische Grundgerüst der beiden Sätze ist nahezu ident. So weitgehend ist die äußere Verwandtschaft, daß man gar nicht mehr erstaunt ist, bei näherer Untersuchung herauszufinden, daß auch die Dimensionen völlig übereinstimmen: den 158 Sechsachteltakten Haydns entsprechen bei Mozart (unter Berücksichtigung der obligaten Wiederholungen) 325 Dreiachteltakte. (Daß diese Fülle von Analogien auch das Resultat bewußter Paraphrasierung sein könnte, wurde ja schon eingangs in Erwägung gezogen.) Aber wer nach all dem Gesagten meint, Aussage und Charakter der zwei Stücke müßten bei so vielen materiellen Ähnlichkeiten nahe verwandt sein, irrt. Was bei Mozart ein französisch angehauchter, schwerelos-tändelnder Tanz mit flüchtigen melancholischen Schatten ist, wird bei Haydn zu einem eigenwillig-bedächtigen Stück Musik mit dramatischen Akzenten. Wenn man aus jeder Verästelung des weitverzweigten Themas nach und nach frische Variationen hervorsprießen sieht, fühlt man sich mitten in den erdigen Duft des ersten Frühlingsmorgens versetzt. Diese beseelte Erdenschwere gewinnt Haydn aus den mit unzähligen Sforzati belasteten „leichten“ Taktteilen, ein Kunstgriff, den er wenige Jahre später in der „Schöpfung“ bei der Schilderung des dritten Schöpfungstages („Nun beut die Flur das frische Grün dem Auge zur Ergötzung dar…“, Hob.XXI:2, Nr.9) in ganz analoger Weise (wenn auch viel sparsamer) einsetzen wird.

Das abschließende Allegro ist auf vielfältige und subtile Weise mit dem vorangehenden Satz verbunden und stellt so etwas wie die Ernte der im Andante gelegten Saat dar. Es ist ein breit ausgeführter Sonatensatz mit einer Fülle von thematischen Einfällen. Das Hauptthema ist dialogisierend angelegt; die „Satzzeichen“ (=Pausen) zwischen den einzelnen Repliken vermitteln den Eindruck eines allmählich in Gang kommenden Gesprächs. Und ganz so, als würde man einer geistreichen Konversation folgen, die nach und nach auf immer ungezwungenere und freiere Bahnen gerät, können wir im Folgenden miterleben, wie ein Gedanke nach dem anderen aufblitzt, zunächst nur als spielerische Möglichkeit, bis er schließlich seine endgültige, ausformulierte Gestalt annimmt. Eingebettet in den Seitensatz liegt ein kontrastierender, humoristisch kurzatmiger Einfall, dessen Italianità unüberhörbar ist – er würde sich in jeder Rossinischen Buffo-Arie hervorragend ausnehmen. (Man sollte nicht vergessen, daß Haydn – vor allem im schriftlichen Ausdruck – im Italienischen gewandter war als im Deutschen; die teilweise erhaltene Korrespondenz mit seiner langjährigen Geliebten, der Sängerin Luigia Polzelli (1760-1832), belegt das eindrucksvoll.) Gerade dieses „italienische“ Motiv wird dann zum eigentlichen Motor der Durchführung, die mit Ausnahme einer unscheinbaren Überleitungswendung aus dem Hauptthema und einer simplen Schlußfloskel sonst nichts von all dem thematischen Überfluß der Exposition wissen will. Diese eigenwillige Art der Entwicklung, bei der die Durchführung weder die „eigentlichen“ Themen verwertet noch auch eigenständiges neues Material bringt, stellt an die Gestaltungskraft des Komponisten sehr hohe Anforderungen; niemand ist diesen schwierigen Weg so oft gegangen wie Haydn. Es bereitet ein besonderes Vergnügen, zu sehen, wie diese Durchführung sich aus den kümmerlichen Brosamen der Exposition eine Kraftnahrung zusammenbraut, die ihr schließlich ganz unerwartete dramatische Energie verleiht. Vielleicht ist es diese Unabhängigkeit der Durchführung, die Haydn dazu bewog, diesmal auf eine kunstreiche Rückführung zur Reprise zu verzichten und die Nahtstelle zwischen den beiden Formteilen unbekümmert offenzulegen. Strenge Kommentatoren, die hier einen Stilbruch wittern, neigen freilich eher dazu, diese auffällige „Rücksichtslosigkeit“ mit dem Zeitdruck zu entschuldigen, unter dem wohl auch dieser Satz entstanden sein muß. Wenn Haydn aber am Ende der Reprise die artistische Glanzleistung der Durchführung in einer sie en miniature paraphrasierenden Coda noch einmal nachspielt, meint man doch, ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen, und ist nur zu geneigt, die Zufriedenheit des Meisters dankbar zu teilen.

© by Claus-Christian Schuster

Haydn: Trio es-moll Hob.XV:31 („Jakobs Traum“)

Joseph Haydn

* 31. März 1732
† 31. Mai 1809

Trio es-moll Hob.XV:31 („Jakobs Traum“)

Komponiert:London, 1794/95
Widmung:(Theresa Jansen)
Uraufführung:nicht dokumentiert
Erstausgabe:Artaria, Wien, 1803

In seinem ersten Londoner Notizbuch von 1791 erwähnt Haydn unter den hervorragenden Musikern der Stadt eine damals einundzwanzigjährige, aus Aachen stammende Pianistin: Theresa Jansen (1770-1843). Sie war Schülerin von Muzio Clementi und scheint Haydn mit ihrem Spiel so beeindruckt zu haben, daß er ihr den anspruchsvollsten Teil seines klavieristischen Spätwerkes widmete: die letzten drei Klaviersonaten (Hob.XVI:50-52) und die letzte Dreiergruppe von Klaviertrios (Hob:XV:27-29). Wahrscheinlich sind alle sechs Werke während Haydns zweitem Londoner Aufenthalt (4. Februar 1794 bis 15. August 1795) entstanden. Die Klaviersonaten sind noch Miss Jansen gewidmet, sind also jedenfalls vor ihrer Hochzeit mit dem Kunsthändler Gaetano Bartolozzi (16. Mai 1795) geschrieben, bei der Haydn Trauzeuge war. Aus eben dieser Zeit stammt auch unser es-moll-Trio, dessen Entstehung Gegenstand einer uns von dem Maler und Haydn-Biographen Albert Christoph Dies überlieferten Anekdote ist:

„…(Haydn) stand in London in genauer Bekanntschaft mit einem deutschen Musikliebhaber, der sich auf der Geige eine an Virtuosität gränzende Fertigkeit erworben, aber die üble Gewohnheit hatte, sich immer in den höchsten Tönen, in der Nähe des Steges zu versteigen. Haydn nahm sich vor, einen Versuch zu machen, ob es nicht möglich wäre, dem Dilettanten seine Gewohnheit zu verleiden und ihm Gefühl für ein solides Spiel beyzubringen.
Der Dilettant besuchte oft eine Demoiselle J(ansen,) die mit großer Fertigkeit das Pianoforte spielte, wozu er gewöhnlich akkompagnirte. Haydn schrieb ganz in der Stille eine Sonate für das Pianoforte mit Begleitung einer Violine, betitelte die Sonate Jakobs Traum und ließ sie versiegelt, ohne Nahmensunterschrift durch sichere Hände, der Demoiselle J(ansen) überliefern, die auch nicht weilte, die dem Anschein nach leichte Sonate, in Gesellschaft des Dilettanten zu probiren. Was Haydn vorher gesehen hatte, traf richtig ein; der Dilettant blieb immer in den höchsten Tönen, wo die Passagen überhäuft waren, stecken, und sobald Demoiselle J(ansen) dem Gedanken auf die Spur kam, daß der unbekannte Verfasser die Himmelsleiter, die Jakob im Traum sah, habe vorstellen wollen, und sie dann bemerkte, wie der Dilettant auf dieser Leiter bald schwerfällig, unsicher, stolpernd, bald taumelnd, hüpfend auf und abstieg: so schien ihr die Sache so kurzweilig, daß sie das Lachen nicht verbergen konnte, während der Dilettant auf den unbekannten Compositor schimpfte, und dreist behauptete: derselbe wisse nicht für die Violine zu setzen. Nach fünf oder sechs Monathen entdeckte es sich erst, daß die Sonate Haydn zum Author habe, der nun dafür von der Demoiselle J(ansen) ein Geschenk erhielt.“


(Albert Christoph Dies, Biographische Nachrichten von Joseph Haydn, Wien 1810)

Hält man sich die hier beschriebene Entstehungsgeschichte des Finalsatzes unseres Trios vor Augen, wird man wohl zunächst ein durch und durch humoristisches Werk zu finden erwarten. Doch der es-moll-Kopfsatz, den Haydn Anfang 1795 nachkomponierte, um aus „Jakobs Traum“ ein zweisätziges Trio zu machen, gehört zu seinen tiefsinnigsten und ernsthaftesten Schöpfungen. Als ob Haydn besorgt gewesen wäre, daß man die tiefere Bedeutung seines Werkes verkennen könnte, tilgte er im Autograph nicht nur den auf den Entstehungsanlaß bezüglichen Titel des Finales, sondern setzte auch die Worte „In Nomine Dei“ an den Anfang und „Laus Deo“ an das Ende des Werkes. Aber auch ohne diese Hinweise wird wohl keinem aufmerksamen Hörer verborgen bleiben, daß Haydn hier, freilich ohne alle gesuchte Grübelei und mit der ihm eigenen Natürlichkeit und Glaubenseinfalt, von letzten Dingen spricht.

Haydn war offenbar selbst von dem Werk, dem man seine Pasticcio-Abstammung nicht im mindesten ansah, so angetan, daß er der Versuchung nicht widerstehen mochte, es – 1803, im Jahre der Drucklegung der Trioversion – gleich noch einmal an den Mann, richtiger: an die Frau zu bringen. Als Fürst Nikolaus II Esterhazy ihn um ein Werk für Mme Moreau, die Gattin eines napoleonischen Marschalls, bat, schickte der Meister eine Fassung für Klavier und Violine nach Paris und gab sie als eigens und neu komponiertes Werk aus – ein manchen Moralisten vielleicht irritierender Zug im Wesen Haydns, der übrigens nicht vereinzelt dasteht (man denke etwa an die sattsam bekannte Pleyel-Affaire).

Wie seltsam auch immer die Begleitumstände der Komposition gewesen sein mögen: uns bleibt die Freude über ein höchst originelles und faszinierendes Klaviertrio. Mit der größten Selbstverständlichkeit gelingt es Haydn, die beiden Sätze in all ihrer Verschiedenheit in den Dienst eines einheitlichen und eindrucksvollen dramaturgischen Konzeptes zu stellen. Besonders bemerkenswert ist etwa, wie er eine sehr charakteristische und an zentraler Stelle plazierte, aber für den Verlauf des Es-Dur-Finales nicht weiter folgenreiche Modulation zum Ausgangspunkt der tonartlichen Anlage des nachkomponierten Kopfsatzes (Andante, es-moll) macht: Den dort berührten Tonarten es-moll und H-Dur (die übrigens auch in dem wohl in enger zeitlicher Nachbarschaft entstandenen Trio Hob.XV:29 zusammen mit Es-Dur eine Art Triumvirat bilden) werden hier eigenständige Bezirke von formtragender Bedeutung eingeräumt: Der formalen Anlage ABACA entspricht nämlich der Tonartenplan es-Es-es-H-es. Doch der Satz hat nicht nur mit einem extravaganten tonalen Bauplan aufzuwarten, er birgt – trotz der auf den ersten Blick „schulmäßigen“ Rondogestalt – auch formal einiges an Überraschungen. Die erste Episode (Es-Dur) beginnt mit einer Umkehrung des Rondothemas. Im Zusammenspiel mit dem liedartigen Bau beider Abschnitte (A und B) wird dadurch im Zuhörer die Erwartung geweckt, man stünde am Beginn einer Doppelvariationsreihe. Erst mit der unveränderten Wiederkehr des Ritornells erscheint diese Erwartung getäuscht. Doch nachdem uns Haydn mit der zweiten Episode (H-Dur), die auf neuem thematischen Material basiert, in der Sicherheit eines „normalen“ Rondoablaufs wiegt, greift das abschließende Ritornell doch noch den immanenten Variationsgedanken auf. Auch unter diesem Aspekt ist die Verwandtschaft unseres Satzes zum Kopfsatz von Hob.XV:29 auffällig.

Das folgende Allegro (Es-Dur), also der 1794, einige Monate vor dem Andante als „Jakobs Traum“ geschriebene Schlußsatz, ist zwar formal und harmonisch von weit schlichterem Zuschnitt, demonstriert aber Haydns unerschöpfliche Variationskunst in ebenso brillanter Weise. Die traditionelle dreiteilige Liedform, die dem Satz zugrunde liegt, ist durch assoziative und variierende Gestaltungselemente so aufgelockert, daß sie gleichsam nur noch wie von ferne durchzuschimmern scheint. Alle Aufmerksamkeit ist auf das geistvolle Passagenspiel gerichtet, in dem Klavier und Geige einander in immer neuen, mitunter halsbrecherischen Wendungen zu überbieten suchen. Genau in der Mitte des Mittelteils erklimmt dann die Geige mit gis3 die höchste Sprosse der Jakobsleiter und entrückt uns für einige kurze Augenblicke in jenes verklärte H-Dur, das ja, wie wir gesehen haben, auch schon die Zentralepisode des Andantes überstrahlt hat. In der Reprise überwuchern immer üppiger werdende Figurationen die ursprüngliche Gestalt des Hauptteils, bis eine fanfarenartige Coda das Werk festlich beschließt.

© by Claus-Christian Schuster