Reger: Trio für Klavier, Violine und Violoncello, e-moll, op.102

Max Reger

* 19. März 1873
† 11. Mai 1916

Trio für Klavier, Violine und Violoncello, e-moll, op.102

Komponiert:Leipzig (Felixstraße 4), Dezember 1907 – 5. März 1908
Widmung:Dr. Reinhold Anschütz
Uraufführung:Leipzig, Kleiner Gewandhaussaal, 21. März 1908
Max Reger, Klavier
Edgar Wollgandt (1881-1949), Violine
Julius Klengel (1859-1933), Violoncello
Erstausgabe:Lauterbach & Kuhn, Leipzig, 1908

Max Reger ist, jenseits der Beachtung, die ihm in allen Sammlungen musikalischer Anekdoten gewiß bleibt, kein Thema: Schon 1973 scheiterte eine geplante „diskographische Würdigung“ anläßlich seines hundertsten Geburtstages daran, daß sich für die meisten Werke keine kompetenten Interpreten fanden. Bis heute bleibt Regers Präsenz in unseren Konzertsälen dürftig. Während das den gleichen Zeitraum umspannende Gesamtwerk Alexander Skrjabins einen festen Platz in unserer Vorstellung von der Entstehung der Musiksprache des Zwanzigsten Jahrhunderts hat, gilt Reger vielen heutigen Hörern nur mehr als eine anachronistische Kuriosität. Regers Zeitgenossen waren, wenigstens was die Wahrnehmung seiner Bedeutung und seines kompositorischen Ranges anlangt, gerechter als die Nachwelt – ein eher seltener Fall in der Musikgeschichte.

Zur Zeit der Komposition schieden sich an Regers „Spätwerk“ ( – man sollte sich vergegenwärtigen, daß die Werke, die man unter diesem Begriff subsumieren könnte, etwa ab Regers dreißigstem Lebensjahr entstanden sind – ) die Geister: Es war zwar unbestritten, daß hier eine neue Sprache im Entstehen war – die Frage war, ob man sie auch erlernen wollte. Für die einen war Reger ein unerschrockener Neuerer und kühner Entdecker, für die anderen ein die Tradition schändender Wirrkopf. Je nach Standpunkt galten seine Werke dann als mutig und verwegen oder als abstrus und gesucht. Kein Wunder, daß Reger-Uraufführungen sich meist als skandalträchtig erwiesen. Der mit charakteristischer Derbheit geführte Kampf des Komponisten gegen seine gehässigen Kritiker gehört in das schon eingangs erwähnte Reich der Anekdote, in dem der monomanische Meister, der sich nie ein Blatt vor den Mund (manchmal aber demonstrativ anderswohin) nahm, eine gesicherte Position besetzt hält. Doch es waren nicht nur mißgünstige Neider, die an Regers kompositorischer Entwicklung Anstoß nahmen. Sogar sein einstiger Lehrer Hugo Riemann entrüstet sich (in der siebenten Auflage seines einflußreichen „Musiklexikons“, 1909) über Regers „modulatorische Willkürlichkeiten“ und empfindet das „absichtliche Verneinen der schlichten Natürlichkeit“ schlicht als „abstoßend“ – eine Kritik aus dem Munde des verehrten Mentors, die Reger tief verletzte. Andererseits aber machte die musikalische Avantgarde der Jahrhundertwende, vor allem die österreichische und die russische, Reger zu einem ihrer Heroen. Der St. Petersburger Verein für moderne Musik lud den Komponisten im Dezember 1906 zu einem Regerfest ein, das im Bewußtsein der dortigen jungen Komponistengeneration tiefe Eindrücke hinterließ; und auch in Schönbergs „Verein für musikalische Privataufführungen“ sollten Regers Werke später zum festen Repertoire gehören. Ferruccio Busoni nannte Reger (1905) gar den „größten lebenden Komponisten“.

Die heutige Vernachlässigung Regers hat wohl mit der Entwicklung eines noch weit „radikaleren“ neuen musikalischen Idioms durch seine Bewunderer zu tun. Vor dieser neuen Sprache konnte die Regers plötzlich als „spätromantisch“ und „anachronistisch“ erscheinen. Während die Verfechter der Moderne sich dem jeweils Neuesten zuwandten, zog die Mehrzahl der „konservativen“ Hörer und Interpreten bei Johannes Brahms eine imaginäre Demarkationslinie und ließ Max Reger neben diesem „Schmied“ höchstens noch als „Schmiedl“ gelten. Während man in diesem Lager die frei assoziative Harmonik des Meisters als willkürlich und unnatürlich kritisierte, stieß man sich in jenem an den als stereotyp empfundenen Regerschen Formschemata. Vielleicht ist jetzt, am Ausgang dieses kontroversenreichen Jahrhunderts, doch endlich die Zeit gekommen, dieses beeindruckende Werk unbeeinflußt von ästhetischen und ideologischen Grabenkämpfen neu zu entdecken und zu würdigen.

Die Komposition von Regers einzigem vollendeten Klaviertrio (von einem Jugendwerk dieser Gattung, der 1890/91 in Sondershausen und Wiesbaden geschriebenen Fantaisie caractéristique, ist nur ein Satz erhalten geblieben) fällt in jene Periode, in der sich das Genie des Meisters auf allen Gebieten – als Komponist, Interpret, Lehrer und Organisator – am beeindruckendsten entfaltete. Wenige Tage nach seinem vierunddreißigsten Geburtstag war Max Reger am 23. März 1907 mit seiner Frau von München, wo er seit 1901 trotz heftigster Anfeindungen durch die „Neudeutsche Schule“ (Ludwig Thuille, Max von Schillings u.a.) ausgeharrt hatte, nach Leipzig, seiner neuen Wirkungsstätte, aufgebrochen. Dorthin hatte man ihn auf Betreiben seiner Leipziger Freunde Karl Straube, dem Leiter, und Reinhold Anschütz, dem Vorsitzenden des Leipziger Bach-Vereins, als Universitätsmusikdirektor und Kompositionslehrer berufen – auch das, wie sich bald herausstellen sollte, für den unersättlichen Arbeitshunger Regers noch immer kein erschöpfendes Wirkungsfeld. Da er die Wintermonate 1906/07 nahezu ununterbrochen auf Konzertreisen zugebracht hatte und nur wenig zum Komponieren gekommen war, hatte sich eine Reihe von größeren Entwürfen und Plänen angesammelt, die er sofort nach seiner Ankunft in Leipzig in Arbeit nehmen wollte; es handelte sich dabei um die Hiller-Variationen (op.100), das Violinkonzert (op.101) und unser Klaviertrio (op.102). Reger war im Zenit seiner Kraft und seines Ruhmes, und allein die Ankündigung der neuen Werke löste ein wahres Wettrennen um die Ehre der Uraufführung aus – unter den „Prätendenten“ auf das Violinkonzert waren Carl Flesch, Arnold Rosé und Henri Marteau, welch letzterem das Werk schließlich gewidmet wurde. Ähnlich lagen die Dinge bei den Hiller-Variationen, so daß sich Reger, wieder einmal, in arger Bedrängnis fand, die Werke zu den vorgesehenen Aufführungsterminen fertigzustellen. All das verzögerte die Arbeit am Trio, die er dann schließlich im Dezember 1907, parallel zur Schlußphase der Komposition des Violinkonzertes, in Angriff nahm.

Regers Konzertverpflichtungen sorgen auch bei diesem Werk dafür, daß er wieder in gehörige Zeitnot gerät. Eine triumphale Aufführung der Hiller-Variationen in Hamburg, nach der ihm die Firma Steinway einen Konzertflügel schenkt, zieht am 11. Februar eine feierliche „Flügelweihe“ in Regers Leipziger Wohnung nach sich; zu diesem Zeitpunkt hat Reger gerade den ersten Satz des Trios beendet. Wenige Tage später muß sich seine schwerkranke Frau Elsa in Spitalsbehandlung begeben. Die drei noch fehlenden Sätze des Trios entstehen während der folgenden drei Wochen, meist in fieberhafter Nachtarbeit, in der verwaisten Wohnung; eine Wiener Gesangsstudentin, die mit dem Meister eng befreundete Martha Ruben, führt in dieser Zeit den Haushalt.

Der erste Satz (Allegro moderato) zählt sicher zu den komplexesten und eindrucksvollsten Architekturen des Meisters. Der Satz bezieht seine Energie aus der schroffen Gegenüberstellung eines elegischen Achttakters im Pianissimo und dem unvermittelt hereinbrechenden Aufruhr eines gerafften Fortissimo-Motivs. Trotz größter Klarheit der formalen Grundgestalt stellt dieser Satz wegen seiner vielfältigen motivischen Verästelungen und vor allem seiner komplizierten, immer funktional fundierten Harmonik, größte Anforderungen an Zuhörer und Interpreten. Genugtuung über das Vollbrachte und das für Reger so typische „tierische“ Vergnügen an der Arbeit klingt durch, wenn er schreibt:

„…Trio, erster Satz, ist fix und fertig; ich arbeite schon feste am zweiten Satz, einem ganz verrückten »Marcia« im ppp, ein sehr ulkiges Ding; aber der »Augustin« kommt diesmal nicht darin vor!“

(an Adolf Wach, 16. Februar 1908)

Mit dem grotesk-burlesken Ton dieses Scherzos (Allegretto, c-moll) kontrastiert der „empfindsame“ Kanon der Streichinstrumente im Mittelteil (Andante, E-Dur) – die Beschreibung dieser Stelle als „kurze, aparte Cantilene“ durch einen Berliner Kritiker reißt Reger zu der Tirade hin:

„…Da hat also dieses Urrindvieh nicht mal gemerkt, daß es ein höchst simpler Kanon im Einklang zwischen Cello und Violine ist! Herrgott, ist das ein Schaf!“

(an Karl Straube, 11.Oktober 1908)

Der dritte Satz (Largo, As-Dur) ist in mancher Hinsicht das Herzstück des Werkes: ein modal harmonisiertes Choralthema von unnahbarer Ruhe wird in mehreren Wellen von verhaltenen bis ungestümen Klagen bestürmt, die jedoch alle unerhört an der ewigen Ferne dieses Chorals verebben – ein Stück, dessen hoffnungslose Skepsis bei aller Verschiedenheit der Mittel sehr an den späten Brahms erinnert.

Im vierten Satz (Allegro con moto), mit dessen Vollendung Reger am 5. März 1908 (nur etwas mehr als zwei Wochen vor der Uraufführung) die Komposition des Trios beendete, lösen sich alle Widersprüche und Zweifel der vorangegangenen Sätze in befreiend launiger und übermütiger Weise; daß Übermut bei Reger nicht ohne das obligate Fugato denkbar ist, versteht sich von selbst: es ist hier unerhört kurz (23 Takte) und gibt sich alle erdenkliche und vergebliche Mühe, ernst zu wirken. Der Sieg gehört, ganz unbestritten, dem derben, bajuwarischen Humor des „Akkordarbeiters“ Max Reger.

© by Claus-Christian Schuster

Ravel: Trio en la (1914)

Maurice Ravel

* 07. März 1875
† 28. Dezember 1937

Trio en la (1914)

Komponiert:Saint-Jean-de-Luz, 3. April – 29. August 1914
Widmung:André Gédalge (1856-1926)
Uraufführung:Paris, Salle Gaveau, 28. Jänner 1915 (SMI)
Alfredo Casella (1883-1947), Klavier
Gabriel Willaume, Violine
Louis Feuillard (1872-1941), Violoncello
Erstausgabe:Durand, Paris, 1915

Spätestens seit 1908 – der Zeit der Rapsodie espagnole und der Oper L’heure espagnole – trug sich Ravel mit dem Plan der Komposition eines Klaviertrios; in einem Brief an Cipa Godebski (26. März 1908) taucht dieses Projekt neben dem Plan einer Oper nach Gerhart Hauptmanns Drama Die versunkene Glocke (1897) und eines Oratoriums nach den Fioretti des Franz von Assisi das erste Mal auf. Während das Thema der Fioretti später nicht mehr erscheint (De Falla meinte, daß Teile der ursprünglich dafür vorgesehenen Entwürfe später in Ma mère l’Oye aufgegangen seien), beschäftigt das Trio und der Hauptmann-Stoff Ravel von da an eigentlich ständig. Erst nach dem Abschluß der Arbeit am Trio, nach Kriegsausbruch, bricht Ravel die Arbeit an der Versunkenen Glocke unter dem Druck der politischen Ereignisse ab. (Ein anderes Werk, das zur gleichen Zeit seiner patriotischen Selbstzensur zum Opfer fiel und das Wien!… heißen sollte, wurde etwas später zu La Valse.)

Von Anfang an war Ravel sich der besonderen klanglichen Schwierigkeiten bei der Komposition eines Klaviertrios bewußt, und er äußerte gesprächsweise auch immer wieder, daß seiner Meinung nach nur Saint-Saëns dieses Problem zufriedenstellend gelöst habe. Seinem Freund und Schüler Maurice Delage hatte Ravel von seinem Plan erzählt, und als der ihn nach längerer Zeit fragte, was denn daraus geworden sei, gab Ravel zur Antwort:

„Mein Trio ist fertig; es fehlen mir nur noch die Themen…“

Wie immer man diese Äußerung deuten mag (an der Hindemith wohl seine helle Freude gehabt hätte): die Konzeption des Werkes muß jedenfalls schon ziemlich weit gediehen gewesen sein, als Ravel im Februar 1914 nach Saint-Jean-de-Luz aufbrach. Es war ungewöhnlich früh für eine Reise ans Meer, aber Ravel schien zu ahnen, daß die Zeit drängte. Zwei Werke waren es vor allem, für deren Komposition er den stürmischen Vorfrühling seiner baskischen Heimat verwenden wollte: das Trio und ein schon im Vorjahr ebenfalls in Saint-Jean-de-Luz begonnenes Klavierkonzert, dessen Entwurf noch älter als der des Trios war, und das den baskischen Titel Zaspiak-bat tragen sollte: „Die Sieben sind Eins“ – gemeint sind die sieben traditionellen Provinzen des Baskenlandes Euskadi. (Es ist nicht unwahrscheinlich, daß es neben den materialimmanenten Schwierigkeiten auch dieser separatistische Unterton des Vorwurfs war, der die Fortführung der Arbeit in den Kriegsjahren verunmöglichte.)

Doch zuallererst stand das Trio auf dem Programm; am 21. März schreibt Ravel an Hélène Casella mit unüberhörbar trotziger Schaffensfreude:

„Ich arbeite am Trio – trotz Kälte, Unwetter, Sturm, Regen und Hagel…“

Das Haus, das Ravel wie schon im Vorjahr bewohnte, trug den baskischen Namen Ongi etorri (in Ravels Schreibung „Ongi Ethori“, baskisch für „Willkommen!“). Saint-Jean-de-Luz liegt, nur durch eine kleine Meeresbucht getrennt, Ravels Geburtsort Ciboure direkt gegenüber, am Südrand der nördlichsten Baskenprovinz Lapurdi. So entspringt das baskische Kolorit des Trios also keiner ephemeren Laune, sondern ist Zeugnis einer tiefen und innigen Verbundenheit mit seiner Heimatlandschaft und dem Erbe seiner über alles geliebten Mutter, die das Kind mit baskischen Liedern in den Schlaf gesungen hatte und die auch in diesem stürmischen Jahr 1914 seine einzige und treue Gefährtin war.

Für Zaspiak-bat hatte Ravel authentische baskische Volkslieder verwenden wollen – aber eben an der wildgewachsenen Ursprünglichkeit diese Materials, das sich der Verpflanzung in das ihm wesensfremde Milieu der Kunstmusik widersetzt, scheiterte er schließlich. Jahre später sagte er zu Pater José Antonio de Donostia (1886-1956), dem Doyen der baskischen Folkloristik:

„Man darf diese Volkslieder nicht so behandeln, sie eignen sich nicht für Bearbeitungen.“

Umso mehr von seiner Liebe zur unverwechselbaren und einzigartigen Sprache dieses Volkes floß dafür aber jetzt in das Trio. Dennoch stockte die Arbeit an der Niederschrift immer wieder – war es zuerst das unwirtliche Wetter gewesen, das Ravel irritiert hatte, so stöhnte er etwas später über die unerträgliche Hitze. Wieder klagt er der Frau seines Freundes Alfredo Casella (18. Juli):

„Trotz des schönen Wetters rührt sich das Trio jetzt schon drei Wochen lang nicht vom Fleck und ekelt mich an. Aber heute habe ich entdeckt, daß es eigentlich gar nicht so widerlich ist… Alfredo hat völlig recht, nur für Klavier zu schreiben: das geht dreimal so schnell.“

Zwischendurch mußte Ravel nach Paris; dann gab es Ärger mit der Londoner Premiere von Daphnis et Chloé, für die Diaghilev eigenmächtig die Chöre gestrichen hatte, so daß Ravel sich gezwungen sah, öffentlich zu protestieren. Dieser Konflikt führte in weiterer Folge zum Ende der Zusammenarbeit mit Diaghilev, der sich später weigerte, La Valse aufzuführen.

All diesen widrigen Umständen zum Trotz konnte Ravel am 7. August 1914, gerade vier Tage nach der deutschen Kriegserklärung an Frankreich, das Finale des Trios beenden. Es nimmt nicht wunder, daß etliche Interpreten in den Triller- und Akkordkaskaden dieses Schlußsatzes das Sturmgeläute der Kirchenglocken bei der Mobilmachung hören wollen – auch die Fanfarenstöße der Klavierstimme, die Ravel nie durchdringend genug waren, gewinnen so betrachtet einen kriegerischen Nebensinn. Und wenn es auch zweifelhaft erscheinen mag, daß in einem Werk, das Ravel so viele Jahre mit sich herumgetragen hat, ein zufälliger Eindruck so tiefe Spuren hinterlassen hätte, so ist die in Ravel durch die sich überstürzenden Ereignisse dieser Tage ausgelöste Erschütterung doch ganz unbestreitbar:

„…Seit vorgestern dieses Sturmläuten, diese weinenden Frauen und vor allem die schreckliche Begeisterung der jungen Leute und aller Freunde, die abreisen mußten und von denen ich keine Nachricht habe. Ich kann nicht mehr. Der Alpdruck in jeder Minute ist zu gräßlich. Ich glaube, daß ich verrückt werde, oder daß ich der Besessenheit erliegen muß. Sie meinen, daß ich nicht mehr arbeite? Ich habe niemals so gearbeitet, mit einer verrückteren, heldenhafteren Sucht…“

(an Cipa Godebski, 3. August 1914)

Noch während der letzten Überarbeitung des Manuskripts, die ihn bis 29. August beschäftigt, unternimmt Ravel die für seine Einberufung nötigen Schritte – mit sehr gemischten Gefühlen, vor allem aus Sorge über das Schicksal seiner Mutter. Die Schlußworte seines Briefes an Cipa Godebski aus diesen Tagen (20. August) muten auf dem Hintergrund der nationalistisch aufgeheizten Zeitstimmung fast wohltuend moderat an:

„Und jetzt, wenn Sie wollen: Es lebe Frankreich! Aber vor allem: Nieder mit Deutschland und Österreich… oder zumindest mit denjenigen, die diese beiden Nationen im Augenblick repräsentieren. Und von ganzem Herzen: Es lebe die Internationale und der Friede!… Und, warum eigentlich nicht: Es lebe Polen!“

Unmittelbar nach Vollendung des Trios hatte sich Ravel bei der Stellungskommission in Bayonne gemeldet, war aber als wehrdienstuntauglich zurückgestellt worden.

Am 3.September 1914 wird der Komponist Albéric Magnard bei dem Versuch, marodierende deutsche Soldaten am Betreten seines Gartens in Baron (Oise) zu hindern, erschossen; sein Haus geht mit einem Großteil seiner ungedruckten Werke in Flammen auf. Mit der, auch in den oben zitierten Zeilen mitschwingenden, subtilen Mischung aus bitterem Ernst und elegantem Sarkasmus schreibt Ravel dazu:

„Muß ich denn wirklich, um zu handeln, das Eintreffen zweier Ulanen in dem nicht existierenden Garten, der mein Villenprojekt in Saint-Jean-de-Luz umgibt, abwarten? Jedenfalls, ein Trio habe ich gemacht, wie der arme Magnard: das ist immerhin ein Anfang.“

(an Roland-Manuel, 26. September 1914)

Die Uraufführung des Werkes gestaltete sich angesichts des völligen Zusammenbruchs des Pariser Konzertlebens in den ersten Kriegsmonaten recht schwierig. Erst eine Atempause, die nach den ersten französischen Erfolgen in der Marneschlacht um die Jahreswende 1914/15 eintrat, gab die Möglichkeit, das Werk im Rahmen eines Benefizkonzertes der Société Musicale Indépendante (SMI) uraufzuführen. Der Pianist der Uraufführung, Alfredo Casella, schreibt darüber in seiner Autobiographie:
„Man mußte das Konzert um 19 Uhr ansetzen, weil um 22 Uhr der öffentliche Verkehr eingestellt wurde. Ich führte das Trio mit zwei mittelmäßigen Partnern auf, die mir – obwohl wir ungefähr zwanzig Proben absolviert hatten – am Abend dennoch manchen bösen Streich spielten. Trotzdem hatte das Werk einen ausgezeichneten Erfolg, und auch die Einnahmen des Konzertes (des ersten Kammermusikabends in Paris seit Ausbruch des Krieges) waren beachtlich. Ravel war mir sehr dankbar und wollte, daß ich an seiner Stelle die Partitur korrigiere…“

(Aufgrund dieses Zeugnisses können wir auch die in der Ravel-Literatur verschiedentlich herumgeisternde Angabe, Georges Enescu habe den Violinpart bei der Uraufführung des Trios gespielt, als Mystifikation oder schlichte Verwechslung beiseite tun.)

In der gesamten Architektur dieses Werkes herrscht herrliche Klarheit: „C’est du Saint-Saëns!“ soll Ravel mit einer Mischung aus Stolz und Bescheidenheit gesagt haben; ganz wesentlich zum Eindruck dieser Klarheit trägt die leicht durchhörbare Gliederung des Ablaufs durch großräumige Orgelpunkte in allen vier Sätzen bei.

Der erste Satz (Modéré) ist der längste und gewichtigste des Werkes; in ihm kristallisiert sich die Inspiration durch baskisches Liedgut in Melodik und Rhythmik am deutlichsten. Den ganzen Satz (in Sonatenform) durchpulst ein zauberhaft-schwebender Rhythmus (im 3+2+3-Achteltakt). Wenn auch Roland-Manuel das Urbild dieses Satzes, der für Ravel selbst ganz von baskischer Farbe war, in einem kastilianischen Bailo a lo llano, der Urform des Fandango, entdeckt hat: dieser Rhythmus ist ganz ohne Zweifel ein Kind des baskischen Zortziko.

Im zweiten Satz (Pantoum. Assez vif) bezieht sich Ravel auf eine in der klassischen malaiischen Dichtkunst verwendete Strophenform, bei der der jeweils 2. und 4. Vers des ersten Vierzeilers als 1. und 3. Vers des darauffolgenden wiederkehren; Victor Hugo und Charles Baudelaire haben den Begriff und die Form in die französische Literatur eingeführt – und auch Saint-Saëns hat sie in seiner Lyrik gepflegt. Ravel adaptiert dieses kunstvoll-kleinräumige Verfahren für seine musikalischen Zwecke, in dem er drei deutlich kontrastierende Themen – ein diabolisch-sarkastisches (a-moll, staccato), ein verführerisch-drängendes (Fis-Dur, kurzatmiges legato) und ein schlicht-liedhaftes (F-Dur, weitgespanntes legato) – in alle möglichen Beziehungen zueinander setzt, wobei sich atemberaubende rhythmische Pikanterien ergeben. Die Präzision, mit der hier Tonarten, Artikulationsschemata und melodische Archetypen zur Charakterisierung der einzelnen Schichten des Geschehens verwendet werden, läßt einen unwillkürlich an das berühmte Stravinskij-Wort über Ravel denken: „Un orloger suisse !“ Trotzdem wird man, wenn man sich vom Titel des Satzes zu literarischen Assoziationen verführen läßt, wohl eher an die unbekümmerte Assoziationskunst von Verlaines berühmtem Pantoum negligé denken, der für die zu den Vorläufern der Dadaisten zählenden Zutistes geschrieben wurde:

Trois petits pâtés, ma chemise brûle.
Monsieur le curé n’aime pas les os.
Ma cousine est blonde, elle a nom Ursule.
Que n’émigrons-nous vers les Palaiseaux!


Die Passacaille (Très large) ist die Sphinx des Trios: bei aller Klarheit des streng symmetrischen Ablaufs, bei aller lapidaren Monumentalität ist hier doch ein Punkt mystischer Konzentration erreicht, der sich nicht nur, wie Musik ganz allgemein, der „Erklärung“, sondern auch schon der unverbindlichen Beschreibung entzieht. Die Identität des Themenkopfes mit dem des vorangegangenen Pantoum unterstreicht den radikalen Stimmungswechsel zwischen beiden Sätzen noch zusätzlich: der Tempo- und Registerwechsel hat den übermütigen Sarkasmus des Pantoum zu einer hieratischen Beschwörungsformel erstarren lassen.

Der direkt anschließende vierte Satz (Final. Animé) nimmt wieder den baskischen Ton des Kopfsatzes auf, mit dem er auch die äußere Form (Sonatenform) und das auffällige Übergewicht des Hauptthemas gegenüber dem Seitenthema gemeinsam hat. Die Zahl Fünf steht gleich dreimal im Zentrum dieses Satzes: das allgegenwärtige fünftaktige Hauptthema steht im Fünfvierteltakt (wieder mit einem Zortziko-Rhythmus) und bezieht sein Tonmaterial aus zwei ineinander verschachtelten Fünftonreihen: daß ein solcher Exzeß an Kunstfertigkeit schließlich nicht etwa Kunsthandwerk, sondern lebensvolle, große Kunst ist, bleibt auch noch nach Jahren der dienenden Bekanntschaft mit diesem Meisterwerk eine Quelle bewundernden Staunens.

Ravel gelingt das Kunststück, das ganze Werk hindurch die Nähe zu seinen baskischen Quellen hörbar sein zu lassen, ohne je zur Adaption oder Imitation von konkret vorgegebenen Gestalten greifen zu müssen. Der Ton, der hier die Musik macht, ist eine ganz persönliche Verinnerlichung der wesensbildenden Stilmittel baskischer Folklore. Die Durchdringung und Verschmelzung von subtil Persönlichem und urwüchsig Allgemeinem ist es wohl, die dieses Werk zu dem „klassischen“ Klaviertrio des XX. Jahrhunderts schlechthin gemacht hat.

© by Claus-Christian Schuster

Rachmaninov: Trio élégiaque [Nr.2], d-moll, op.9

Sergej Vasil´evic Rachmaninov

* 01. April 1873
† 28. März 1943

Trio élégiaque [Nr.2], d-moll, op.9

Komponiert:Moskau, 25. Oktober – 15. Dezember 1893
Widmung:„A la mémoire d‘ un grand artiste“ (Petr Iljic Cajkovskij)
Uraufführung:Urfassung: Moskau, Blagorodnoe Sobranie, 31. Jänner 1894
Sergej Vasil´evic Rachmaninov, Klavier
Ulij Eduardovic Konús (Jules Conus, 1869-1942), Violine
Anatolij Andreevic Brandukov (1856-1930), Violoncello
2. Fassung: Moskau, 12. Februar 1907
Aleksandr Borisovic Gol´denvejzer (1875-1961), Klavier
Karl Karlovic Grigorovic (1868-1921), Violine
Anatolij Andreevic Brandukov, Violoncello
Erstausgabe:Gutheil, Moskau, 1897

Nur in seinem ersten Schaffensjahrzehnt hat Rachmaninov Kammermusik geschrieben – das letzte Werk dieser Gattung ist seine Cellosonate op.19, die er mit 28 Jahren komponierte. Nach einem allerersten kammermusikalischen Versuch, einem Streichquartett, hatte Rachmaninov in nur vier Tagen im Jänner 1892 ein einsätziges „Elegisches Trio“ in g-moll geschrieben. Die folgenden anderthalb Jahre brachten ihm nicht zuletzt dank der Anteilnahme und Freundschaft Tschaikovskijs die volle Entfaltung seines kompositorischen Könnens und einen ersten Triumph: im April 1893 wurde seine Oper „Aleko“ am Bolschoi-Theater uraufgeführt; wenige Tage später, gerade an Tschaikovskijs Geburtstag, erhielt er zum Abschluß seines Kompositionsstudiums am Moskauer Konservatorium als Jahrgangsbester zusammen mit Aleksandr Skrjabin die Große Goldmedaille.

Im Oktober 1893 wurde „Aleko“ in Kiew aufgeführt, Rachmaninov selbst dirigierte die ersten beiden Aufführungen – es war sein Debut als Dirigent. Am Tag nach seiner Rückkehr nach Moskau erhielt er die Nachricht vom Tode Tschaikovskijs. Noch am selben Abend, am 25. Oktober (6. November) 1893, begann er die Niederschrift eines Klaviertrios, über das er, wie Tschaikovskij in seinem Opus 50, die Worte „A la mémoire d‘ un grand artiste“ setzte.

Fast zwei Monate lang galt Rachmaninov unter seinen Freunden als verschollen: keine Briefe, keine Besuche, keine Konzerte. In der Einsamkeit seiner ärmlichen Wohnung auf der Vozdvischenka und auf endlosen Irrwanderungen durch den tiefverschneiten Sokolniki-Park trug Rachmaninov seine Dankesschuld vor dem großen Freund ab. Am 15. Dezember 1893 vollendete er das Werk; zwei Tage später berichtet er seiner Freundin Natalija Skalon (der Cousine seiner späteren Frau):

„… Ich habe Ihnen lange nicht geschrieben, sehr lange… Nur aus einem einzigen Grunde: ich habe gearbeitet, intensiv, verbissen und beharrlich gearbeitet. Diese Arbeit war ein Werk auf den Tod eines großen Künstlers. Sie ist jetzt vollendet, so daß ich wieder mit Ihnen sprechen kann; denn während ich sie schrieb, gehörten alle meine Gedanken, Gefühle und Kräfte allein ihr. Ich habe mich, wie es in einem meiner Lieder heißt, unaufhörlich gequält und war krank an der Seele. Über jeder Phrase habe ich gezittert, manchmal absolut alles wieder verworfen und von neuem nachgedacht und nachgedacht. Diese Zeit ist nun vorüber, ich kann jetzt wieder ruhig sprechen. Ich habe niemandem geschrieben, nicht einmal der Familie Skalon, die ich doch aufrichtig liebe…“

In der ursprünglichen Fassung, die am 31. Jänner 1894 zusammen mit anderen neuen Werken Rachmaninovs uraufgeführt wurde, wird das Thema des Variationensatzes vom Pianisten auf einem Harmonium vorgetragen. 1907 überarbeitete Rachmaninov das Werk gründlich, wobei auch diese Extravaganz seiner Kritik zum Opfer fiel. In einer zweiten (geringfügigen) Revision, die Rachmaninov 1917 vornahm, erhielt das Werk dann seine endgültige Gestalt.

Wohl selten in der Musikgeschichte hat ein Komponist sich so bewußt, bedingungslos und radikal an einem konkreten Werk eines anderen Meisters orientiert und dabei doch so unangefochten und sicher seine Eigenart bewahrt und entfaltet, wie das Rachmaninov in seinem 2. Elegischen Trio in Anlehnung an Tschaikovskijs Klaviertrio getan hat. In Umkehrung des schönen Rilke-Wortes wäre man versucht zu sagen: „Er übersteigt, indem er gehorcht.“ Tatsächlich ist das Werk mit Anspielungen und Bezügen auf sein Vorbild geradezu übersät. Dabei liegen auf einer materiellen Ebene die thematischen, formalen und dramaturgischen Bezüge ganz offen zu Tage; bei näherem Zusehen eröffnet sich aber dahinter ein zusätzliches Beziehungsgeflecht, das symbolische Züge aufweist. Die Duplizität dieser Widerspiegelung läßt sich vielleicht am schönsten am Thema der Variationen aufzeigen: dieses Thema scheint ganz offensichtlich aus der analogen Stelle des Tschaikovskij-Trios entwickelt zu sein – die Verwandtschaft der beiden Themen läßt sich sozusagen Ton für Ton nachvollziehen. Doch gleichzeitig hat die Verwendung gerade dieses Themas noch einen ideell-„anekdotischen“ Nebensinn: es handelt sich dabei nämlich um das Hauptthema von Rachmaninovs Orchesterphantasie „Utjos“ („Der Fels“) op.7 vom Sommer 1893 – das letzte Werk Rachmaninovs, das er Tschaikovskij zeigen konnte. Dieser war davon so angetan gewesen, daß er es im Jänner 1894 in St.Petersburg zur Uraufführung bringen wollte. Von hier aus betrachtet sind die Variationen gerade über dieses Thema also auch eine elegische Meditation über die durch den Tod geraubten Stunden gemeinsamer Arbeit.

Der Ton des oben zitierten Briefes an Natalija Skalon läßt aber auch erahnen, welche Befreiung die Vollendung der Arbeit an diesem Trio für Rachmaninov bedeutet haben muß. Hier wurde offensichtlich nicht nur Trauerarbeit geleistet, sondern auch, in Erfüllung eines für die Musikgeschichte des XIX. Jahrhunderts so charakteristischen Topos, der Kampf mit dem Schatten des großen Vorgängers aufgenommen. Das Zwanghafte, das in diesem Ringen liegt, ist wohl imstande, mythische Erinnerungen zu wecken – vorausgesetzt, der Hörer ist bereit, beim Anhören dieser Trio-Dioskuren jene „aufgeklärte“ Präpotenz zu überwinden, unter welcher die Rezeption Tschaikovskijs und Rachmaninovs außerhalb Rußlands nur allzuoft leidet.

Der erste Satz (Moderato – Allegro moderato, d-moll) wiederholt zwar im wesentlichen die dramaturgische Anlage des Kopfsatzes von Tschaikovskijs Opus 50, ist aber noch um einiges dunkler und tragischer gefärbt. Hier wie dort sind fast alle Themen aus einer einzigen motivischen Keimzelle abgeleitet, die – in Übereinstimmung mit den musikalischen Archetypen der Klage und Trauer – auf ein fallendes Skalenfragment zurückzuführen ist (kleine Terz bei Rachmaninov, Quint/Sext bei Tschaikovskij). Ebenso wie bei Tschaikovskij wirkt dieses Leitmotiv bis in das Modulationsschema nach (Fortschreitung in kleinen Terzen hier, dort in Quinten). Die Totenglocken des Beginns gehören ebenso wie der Choral am Schluß der zweiten Themengruppe zum Grundbestand der russischen Musik – der estnische Musikwissenschaftler Elmar Arro (1899-1985) ist in einem leider noch immer ungedruckten Werk von diesen Topoi der russischen Musik ausgehend zu einer modellhaften „musikalischen Slawistik“ gelangt.

Über die Beziehung des Themas des zweiten Satzes (Quasi variazioni. Andante, F-Dur) zu Tschaikovskij war schon weiter oben die Rede. Der Verlauf der Variationen ist wesentlich „strenger“; als Variationsprinzip dient ein Abspaltungsprozeß, der mit der II. Variation einsetzt und in der IV. Variation seinen Höhepunkt erreicht. Die Umkehr des Vorganges führt uns mit der letzten (VIII.) Variation wieder in die Nähe der Ausgangsgestalt. Dieses „konstruktivistische“ Verfahren ist jedoch nicht mehr als ein formales Fundament, über dem sich die Charakterisierung der einzelnen Variationen völlig frei entfaltet. Wesentlich stärker als bie Tschaikovskij sind auch die motivischen Bezüge zum ersten Satz herausgearbeitet. An all diesen Details läßt sich das klare Bestreben Rachmaninovs ablesen, bei aller Anlehnung an das traditionsbrechende Vorbild sich doch wieder der „Normarchitektur“ eines Klaviertrios anzunähern – ähnliches gilt übrigens auch für Taneevs Klaviertrio op.22. In diesem Sinne erscheint die Abtrennung der „Schlußvariation und Coda“ ( – der letzte Satz ließe sich ohne weiteres unter diesem Aspekt betrachten – ) in einen selbständigen Finalsatz (Allegro risoluto – Moderato) ganz folgerichtig. Der eigentliche Schluß freilich ist bis ins Detail an Tschaikovskij orientiert: die riesenhafte Projektion des Kopfthemas im Streicherunisono über einer massigen Klavierbegleitung führt hier wie dort in eine resignative Geste des Erlöschens. Als neues Element tritt bei Rachmaninov allerdings eine kurz vor den Schluß gestellte, choralartige Phrase auf, die wie ein Segensspruch am offenen Grab wirkt. Auch in diesem Punkt ist Rachmaninov also nicht nur traditionalistischer als Tschaikovskij, sondern auch „realistischer“. Doch unabhängig von allen stilistischen Tendenzen und Moden ist das Denkmal, das Rachmaninov Tschaikovskij hier gesetzt hat, sicher eines der berührendsten Dokumente der Freundschaft zwischen zwei Großen der Musik.

© by Claus-Christian Schuster

Pirchner: Heimat? PWV 29a (1992)

Werner Pirchner

* 13. Februar 1940
† 10. August 2001

Heimat? PWV 29a (1992)

Komponiert:Thaur bei Innsbruck, Februar 1988/Juli 1992
Uraufführung:Obergurgl, 3. September 1992
Wiener Schubert-Trio
Claus-Christian Schuster, Klavier
Boris Kuschnir, Violine
Martin Hornstein, Violoncello
Erstausgabe:Manuskript

Die Stimme Tirols, die in der österreichischen Musikgeschichte der Vergangenheit eigentlich immer nur eine kaum wahrnehmbare Nebenstimme war, ist mit dem Werk zweier so grundverschiedener Komponisten wie Erich Urbanner und Werner Pirchner in den letzten Jahren unüberhörbar in den Vordergrund getreten. Während Urbanner nicht nur als Schaffender, sondern auch als hervorragender Pädagoge die Physiognomie der musikalischen Avantgarde Österreichs entscheidend mitprägt, hat Pirchner unserer Musik durch die unorthodoxe Verbindung der beiden nach wie vor meist hermetisch gegeneinander abgeschotteten Welten der Musik, die man salopp als E- und U-Musik zu bezeichnen gewohnt ist, neue Landschaften erschlossen. Es ist kein Zufall, daß Österreichs mediale Visitenkarte auf dem Gebiete der Musik, das Radioprogramm Ö1, ausgerechnet Werner Pirchners musikalische Unterschrift trägt: Kein anderer österreichischer Komponist der Gegenwart hat fernab von partikularistischem Provinzialismus der Eigenart seines Landes so originellen und unverwechselbaren Ausdruck gegeben. Seine musikalische Sprache hat, so eigenwillig sie auch ist und so sehr sie sich auch allen gängigen Etikettierungen verweigert, nichts mit jenen schrullig-verschrobenen Austriazismen zu tun, die allzuoft für das eigentliche Spezifikum österreichischen Selbstverständnisses gehalten werden. Werner Pirchner ist, wie sein ihn an Berühmtheit noch immer übertreffender prähistorischer Landsmann vom Similaun-Gletscher, ein Grenzgänger. Er hat für alle so unselig weit auseinanderklaffenden Idiome und Welten der Musik ein offenes und kritisches Ohr und hat sich, ohne jemals sein eigenes Ich zu verleugnen, vieles anverwandelt, was auf den ersten Blick unvereinbar erschien. Dennoch ist er durch die Stärke seiner Persönlichkeit der Gefahr des modisch-multikulturellen Ragouts der Postmoderne entgangen. Effekthascherei und Anbiederung, diese Hauptmotive der musikalischen Massenproduktion, liegen ihm ebenso fern wie das esoterische Kalkül des narzißtischen Elitarismus. Weil das alles so ist, verzeiht man ihm gerne die wenigen „oberflächlichen“ Schrullen, die er natürlich auch hat: wenn er in den Taktbezeichnungen konsequent die „Viertel“ nicht in arabischen Ziffern sondern mit weingefüllten Viertelgläsern notiert, so hat das zwar vielleicht ein wenig mit seinem Leben, aber kaum etwas mit der Aussage seiner Musik zu tun und ist also nicht mehr als ein amüsanter „Gag“; daß er aber anstelle der rituell-schematischen Spielanweisungen seinen Interpreten schlicht „Suche!“, „Finde!“, „Freu’Dich!“, „Zerstöre!“ und „Weine!“ zuruft ( – letzteres hat nur phonetisch mit dem Inhalt der obigen Viertelgläser zu tun), führt uns mitten in das Wesen seiner Musik, die mit spielerischer Phantasie immer an den ganzen Menschen appelliert.

„Heimat?“ wurde als Bühnenmusik für die Wiener Erstaufführung von Felix Mitterers „Kein schöner Land“ am Volkstheater im Februar 1988 für Violine und Klavier geschrieben und auf unsere Anregung hin im Juli 1992 zu einem Klaviertrio umgearbeitet. In Mitterers Drama wird, in freier Bearbeitung eines historischen Falles, die Geschichte eines Juden erzählt, der als Viehhändler in einem abgeschiedenen Bergdorf lebt und so perfekt assimiliert ist, daß auch sein Sohn nichts über seine Herkunft weiß. Die Demaskierung und Zerstörung dieser Idylle vor dem geschichtlichen Hintergrund der Jahre 1933-1945 kulminiert darin, daß der Sohn, ein fanatischer Nationalsozialist, in einem Vermichtungslager seinen Vater und anschließend sich selbst erschießt. Pirchner hat zu diesem aufwühlenden Bericht eine stille und unaufdringliche Musik ganz ohne Pathos geschrieben. Er braucht keine plakativen Anklage- und Schmerzensgebärden, sondern berührt durch die Schlichtheit, mit der er die hoffende Sehnsucht nach dem immer wieder zerstörten Glück anklingen läßt. Wenn am Ende des vierten Satzes die Musiker nacheinander zu spielen aufhören, so ist das kein billiger Gag und schon gar kein Haydn-Zitat, sondern macht unser mitleidendes Verstummen sinnfällig, das so viel durchdringender sein kann als der grellste Protestschrei. Doch die Unmittelbarkeit von Pirchners Musik läßt ihre Nacherzählung ganz besonders überflüssig erscheinen: Wer Ohren hat, der höre.

© by Claus-Christian Schuster

Pirchner: Wem gehört der Mensch…? PWV 31 (1988)

Werner Pirchner

* 13. Februar 1940
† 10. August 2001

Wem gehört der Mensch…? PWV 31 (1988)

Komponiert:Thaur bei Innsbruck, beendet am 2. September 1988
Widmung:Wiener Schubert Trio
Uraufführung:Wien, Musikverein, Brahms-Saal, 11. Oktober 1988
Wiener Schubert-Trio
Claus-Christian Schuster, Klavier
Boris Kuschnir, Violine
Martin Hornstein, Violoncello
Erstausgabe:Manuskript

Die Stimme Tirols, die in der österreichischen Musikgeschichte der Vergangenheit eigentlich immer nur eine kaum wahrnehmbare Nebenstimme war, ist mit dem Werk zweier so grundverschiedener Komponisten wie Erich Urbanner und Werner Pirchner in den letzten Jahren unüberhörbar in den Vordergrund getreten. Während Urbanner nicht nur als Schaffender, sondern auch als hervorragender Pädagoge die Physiognomie der musikalischen Avantgarde Österreichs entscheidend mitprägt, hat Pirchner unserer Musik durch die unorthodoxe Verbindung der beiden nach wie vor meist hermetisch gegeneinander abgeschotteten Welten der Musik, die man salopp als E- und U-Musik zu bezeichnen gewohnt ist, neue Landschaften erschlossen. Es ist kein Zufall, daß Österreichs mediale Visitenkarte auf dem Gebiete der Musik, das Radioprogramm Ö1, ausgerechnet Werner Pirchners musikalische Unterschrift trägt: Kein anderer österreichischer Komponist des zwanzigsten Jahrhunderts hat fernab von partikularistischem Provinzialismus der Eigenart seines (Bundes-)Landes so originellen und unverwechselbaren Ausdruck gegeben. Seine musikalische Sprache hat, so eigenwillig sie auch ist, und so sehr sie sich auch allen gängigen Etikettierungen verweigert, nichts mit jenen schrullig-verschrobenen Austriazismen zu tun, die allzuoft für das eigentliche Spezifikum österreichischen Selbstverständnisses gehalten werden. Werner Pirchner war, wie sein ihn an Berühmtheit noch immer übertreffender prähistorischer Landsmann vom Similaun-Gletscher, ein Grenzgänger. Er hatte für alle so unselig weit auseinanderklaffenden Idiome und Welten der Musik ein offenes und kritisches Ohr und hat sich, ohne jemals sein eigenes Ich zu verleugnen, vieles anverwandelt, was auf den ersten Blick unvereinbar erschien. Dennoch ist er durch die Stärke seiner Persönlichkeit der Gefahr des modisch-multikulturellen Ragouts der Postmoderne entgangen. Effekthascherei und Anbiederung, diese Hauptmotive der musikalischen Massenproduktion, lagen ihm ebenso fern wie das esoterische Kalkül des narzißtischen Elitarismus. Weil das alles so ist, verzeiht man ihm gerne die wenigen „oberflächlichen“ Schrullen, die er natürlich auch hatte: wenn er in den Taktbezeichnungen konsequent die „Viertel“ nicht in arabischen Ziffern sondern mit weingefüllten Viertelgläsern notierte, so hatte das zwar vielleicht ein wenig mit seinem Leben, aber kaum etwas mit der Aussage seiner Musik zu tun und ist also nicht mehr als ein amüsanter „Gag“; daß er aber anstelle der rituell-schematischen Spielanweisungen seinen Interpreten schlicht „Suche!“, „Finde!“, „Freu’Dich!“, „Zerstöre!“ und „Weine!“ zurruft ( – letzteres hat nur phonetisch mit dem Inhalt der obigen Viertelgläser zu tun), führt uns mitten in das Wesen seiner Musik, die mit spielerischer Phantasie immer an den ganzen Menschen appelliert.

„Wem gehört der Mensch…?“ enstand als Auftragswerk der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien für die Eröffnung der Konzertreihe des Wiener Schubert Trios (die seit dessen Auflösung 1993 vom Altenberg Trio fortgeführt wird). Über die „sechs bis fünf Sätze“ dieses außergewöhnlichen Werkes vermerkt der Komponist auf dem Autograph der Partitur:

„Ich könnte diesen sechs Sätzen Namen geben.
Wie zum Beispiel:
1. Der Mensch gehört dem Staat. Umgekehrt!
2. Zwentendorf – Wackersdorf. Ein Spaziergang nach Tschernobyl.
3. Die Pflicht zum Ungehorsam, oder
4. Die Regierung – unsere Angestellten
usf.
Die Sätze tragen Nummern.
Wie – vielleicht – wir.“


Wer nach Lektüre dieser Zeilen erwartet, mit plakativ agitatorischer Polit-Musik konfrontiert zu werden, wird sehr bald merken, daß hier durchaus kein Propagandist, sondern einfach ein denkender Musiker am Werk ist: mit Ungestüm und Wehmut, Zorn und Nachdenklichkeit wird hier ein Bild des verletzlichen und doch unantastbaren Menschen, seiner Bedrohung und seiner Sehnsucht gezeichnet.

Der erste Satz, dessen jugendlicher Impetus von einem ostinat synkopierten Rhythmus unterstützt wird, arbeitet zwar mit wiederkehrenden Themen, ist aber, wie übrigens das ganze Werk, nicht als eine in sich abgerundete, durch Entwicklung und Reprise strukturierte Form konzipiert. Folgerichtig hat der Satz auch keinen „Schluß“, sondern führt uns in die offene Weite: eine unschuldig-naive Melodie der Streicher wird von der unerbittlichen Motorik einer rücksichtslosen Klavierfiguration überrollt und verliert sich, nach deren plötzlichem Verstummen, in ungewisse Fernen. („Technisch“ wird dieser Eindruck dadurch erzielt, daß der über die weitesten Teile des Satzes herrschenden Tonika C-Dur ein sich aus chromatischen Verschleierungen erst im letzten Augenblick zu erkennen gebendes A-Dur entgegengestellt wird.)

Der zweite Satz beschreitet gewissermaßen den entgegengesetzten Weg: aus der zeitlosen Stille eines inneren Dialoges (der um das A-Dur des vorangehenden Satzendes kreist) werden wir, zunächst nur durch belebende Melismen, dann aber durch sich allmählich konturierende motorische Figuration, in den unaufhaltsamen Zeitfluß zurückgetrieben. Das brüske Ende des Satzes stellt der träumerischen Freiheit seines Anfangs eine drohende und unabweisliche Forderung gegenüber.

Wurde in diesem eröffnenden Diptychon der Weg zwischen Rhythmus (Zeit) und Melodie (Raum) in beiden Richtungen durchmessen, so bieten sich diese beiden Dimensionen des musikalischen Diskurses in den folgenden zwei Sätzen in ihrer reinsten Form dar. Das unendliche improvisatorische Melos des dritten und der „unfaßbare“ , frenetische Rhythmus des vierten stellen sozusagen die kristallinen Archetypen dieser musikalischen Daseinsformen dar und nehmen, auf das „klassische“ Modell eines mehrsätzigen Zyklus rückbezogen, die traditionellen Stellen von Adagio und Scherzo ein.

Das abschließende Satzpaar, das als untrennbare Einheit konzipiert ist (daher auch der zunächst burlesk anmutende Zusatz von den „sechs bis fünf Sätzen“), faßt den vitalen Antagonismus dieser beiden Grunddimensionen zusammen und versöhnt ihn zugleich: der chassidisch anmutende Klagegesang der Geige im fünften Satz, der sich über das (aus dem kraftstrotzenden Rhythmus des vierten Satzes derivierte) ersterbende SOS-Klopfzeichen rettungslos Verschütteter erhebt, führt uns allmählich in lichtere und friedlichere Regionen und mündet – Zuruf des Komponisten an den Interpreten: „Du bist frei!“ – in den unendlich zarten rhythmischen Strom des Schlußsatzes. Formender Zugriff und träumender Fluß sind hier in eins aufgegangen: keine ferne Jenseitshoffnung, sondern alltägliches Geschenk der Musik an jedes offene Ohr.

© by Claus-Christian Schuster

Pfitzner: Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell, F-Dur, op.8

Hans Pfitzner

* 05. Mai 1869
† 22. Mai 1949

Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell, F-Dur, op.8

Komponiert:Mainz und Frankfurt/Main, 1895-1896
Widmung:Alexander Friedrich Landgraf von Hessen
Uraufführung:Frankfurt/Main, 14. Dezember 1896
James Kwast (1852-1927), Klavier
Alfred Heß (1868-1927), Violine
Friedrich Heß (1863-?), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin 1898

Unmittelbar nachdem Pfitzner sein programmatisches Opus 1 der Öffentlichkeit seiner Heimatstadt präsentiert hatte, wandte er sich jenem Gebiete zu, um das sein ganzes künftiges Schaffen kreisen sollte: dem Musiktheater.
Im Jahr der Entstehung der Cellosonate war die aus Königsberg stammende Familie Grun, die viele Jahre in England gelebt hatte, nach Frankfurt gekommen: die vier Kinder, damals zwischen 14 und 24 Jahre alt, gehörten bald zu Pfitzners allerengstem Freundeskreis. Der älteste, James, wurde der Librettist der ersten beiden Pfitznerschen Opern (Der arme Heinrich und Die Rose vom Liebesgarten). Von 1891 und bis 1893 arbeitete der junge Komponist mit leidenschaftlicher Hingabe an seinem Opernerstling. In dieser Arbeit durchlebte und durchlitt er in bisher nicht gekannter Heftigkeit auch den schmerzlichen Zwiespalt zwischen seiner schöpferischen Berufung, der er bis in die völlige Vereinsamung treu zu bleiben bereit war, und einer ebenso elementaren wie unabweislichen Sehnsucht nach erfüllter Liebe:

Ich habe Todesangst, daß ich den letzten Akt überhaupt fertig kriege. Eng mit allem diesem zusammen hängt wohl Deine Bemerkung, daß meine Liebe bisher einen ungeheuren Mangel hatte; bitte schreibe mir, was Du damit meinst. Ich kann mir nur denken, daß Du die Künstlerliebe überhaupt meinst, diese ist allerdings unrein & braucht die Person nur als Mittel zum Zweck; aber das ist ja eine alte Geschichte[,] und wir haben sie x mal besprochen, und solange ich Künstler bin, muß ich bei dieser Sorte Liebe bleiben. […]…aber nur eins weiß ich: entweder ich komponiere, und das schließt Mimie eben so mit ein, – oder ich liebe Mimie rein – & das schließt das Komponieren aus.
(an Paul Nikolaus Cossmann, Sommer 1893)

Mimie – das ist die damals eben vierzehnjährige Tochter seines Klavierlehrers James Kwast, eine Enkelin Ferdinand Hillers, die 1899 unter abenteuerlichen Umständen schließlich Pfitzners Frau werden sollte und mit deren Tod (1926) – nach seinen eigenen Worten – sein „eigentliches Leben“ endete.

Mit der fertigen Oper macht sich der junge Meister auf eine qualvolle und demütigende Odyssee quer durch Deutschland: In München läßt sich Hermann Levi (assistiert von seinem Protegé Gerhard Schjelderup) gnädig herab, das Werk anzuhören, aber nur um es – sekundiert von Schjelderup – in Grund und Boden zu kritisieren. Immerhin empfiehlt er Pfitzner an seinen Freund Karl Muck in Berlin. Der erkennt zwar die außergewöhnliche Qualität des Armen Heinrich sofort, scheitert aber am Veto seines Intendanten, des Grafen von Hochberg. Bei Felix Mottl in Karlsruhe kommt es nicht einmal zu einem Vorspiel – und auch die Opernhäuser in Stuttgart, Dessau und Prag lehnen Pfitzners Schmerzenskind rundweg ab. Einziges greifbares Resultat all dieser Bemühungen ist das selbstlose Angebot des Kölner Heldentenors Bruno Heydrich, der erklärt, er werde sich für die Titelpartie unentgeltlich zur Verfügung stellen, sobald eine Bühne für die Aufführung gefunden sei.

Der Zustand, in den Pfitzner versinkt, ist beängstigend:

„…entsetzlich ist das Gefühl, wenn ich Noten sehe, die mich früher entzückten, oder einen Accord anschlage, und mich fragen muß: warum interessiert mich das? Oder vielmehr: wie kann das jemand interessieren? Die Musik ist jetzt für mich so interessant wie Maschinenbau. Das Componieren eine versunkene Welt; ich sitze vor einem Notenblatt, worauf ich den Anfang eines Satzes geschrieben habe, es ist unmöglich. […] Da mir die Bedingungen des Componierens genommen sind, ist mir auch der Wert des Lebens genommen. Es bleibt mir also nichts andres übrig, als:
1.) mich totzuschießen
2.) ein gewöhnlicher Mensch zu werden
3.) eine andere Welt zu werden.
Daß das dritte unmöglich ist, und die beiden andren eines schlimmer als das andre ist, wird Dir einleuchten…“
(an Paul Nikolaus Cossmann, 7. Juli 1894)

Als Pfitzners Studienkollege Bernhard Sekles im September 1894 als 3. Kapellmeister an das Mainzer Stadttheater engagiert wird, beschließt der verzweifelte Komponist, seinem Freund als „Korrepetitionsvolontär“ zu folgen. Die unbezahlte Stelle, die der eines (meist nur zur Leistung von subalternen Hilfsdiensten verwendeten) unbezahlten 4. Kapellmeisters entspricht, ist für einen verletzlichen und sensiblen Menschen wie Pfitzner denkbar ungeeignet, aber er ist bereit, für das Leben seines Werkes alle Qualen auf sich zu nehmen.
Einen Lichtblick bringt ein Brief aus Wiesbaden – dorthin, an Regers Lehrer Hugo Riemann hat Pfitzner seinen Armen Heinrich zur Begutachtung geschickt, und dieser antwortet in seiner bedächtig-enthusiastischen Weise:

„Ihre Freiheit und Kühnheit der Harmoniebehandlung ist erstaunlich, aber erweckt keine Spur von Mißbehagen, da sie von einem starken Gefühl strenger Logik getragen wird, so daß ich die Überzeugung hege, daß Sie einer der berufensten Nachfolger Richard Wagners sind.“

Pfitzner hat sich inzwischen in der Mainzer Altstadt in einem der „Dombauhäuser“ (Am Leichhof 34) bei einer alten Dame als Untermieter einquartiert und versucht, zwischen seinen lästigen Pflichten und den immer wieder enttäuschten Hoffnungen zu seinem eigentlichen Beruf zurückzufinden:

Es handelt sich bei mir nur darum, daß ich den seelischen Zustand, die Stimmung wiederfinde, um das, was immer in mir liegt, loswerden zu können; sonst könnte ja jeder hochstehende und empfindende Mensch Künstler sein, wenn das nicht den Künstler ausmachte, daß bei ihm sich die Zauberstunde einstellt, in der sich sein Inneres von ihm loslöst.
(an Lulu Cossmann, 1894/95)

Als er die Hoffnung auf eine Aufführung seiner Oper schon fast aufgegeben hat – am 19. Februar 1895 hat er sich in aller Stille um eine Stelle am Stadttheater in Dessau beworben – bringt Frances Grun mit einem verwegenen Schachzug die Dinge ins Rollen: sie erreicht, daß Alexander Friedrich von Hessen sein Interesse an einer Aufführung bekundet, und damit sind plötzlich alle Hindernisse aus dem Weg geräumt. Die Uraufführung des Armen Heinrich (am 2. April 1895, Wiederholung am 15. April) ist zwar kein weithin wirkendes Ereignis, aber doch ein wichtiger Impuls für den jungen Komponisten, der zu dieser Zeit schon an seinem Klaviertrio zu schreiben begonnen hat.

Nachdem das heißumkämpfte und herbeigesehnte Ziel erreicht ist, dauert es aber nicht lange, bis Pfitzner wieder in Depressionen verfällt. Am 7. Juni 1895 wird sein Stellengesuch vom Stadttheater Dessau abschlägig beschieden. In einem an eben diesem Tag an Cossmann adressierten Brief findet sich ein für diese Zeit sehr charakteristischer Pfitzner-Akkord:

Über die Widmungen habe [ich] leider schon verfügt; sie hätten wohl mehr Zweck nach meinem Tode, der hoffentlich bald eintreten wird; uns wäre beiden geholfen, wenn Du dies etwas beschleunigen könntest.“

Einen Teil des Sommers verbringt er im Frankfurter Elternhaus, aber auch hier kommt die immer wieder stockende Arbeit am Trio nicht voran. Da Bernhard Sekles mit Beginn der neuen Saison Mainz verläßt, kann Pfitzner aber nun in die bezahlte Stelle des 3. Kapellmeisters nachrücken; das nicht eben fürstliche Salär von 120 Mark ist Grund genug, noch ein Jahr in Mainz zu bleiben. Er gelingt ihm auch, seine Bühnenmusik zu Ibsens „Fest auf Solhaug“ aufführen zu lassen (28. November 1895); das Telegramm, das die Freunde von der Premierenfeier an den verehrten Dramatiker schicken, bleibt unbeantwortet.
Pfitzners Stellung in Mainz ist inzwischen so gefestigt, daß sich unter Mitwirkung des Landgrafen und des Oberbürgermeisters ein „Hans-Pfitzner-Comité“ konstituiert – die allererste der zahlreichen Vereinsgründungen, die Pfitzner heraufbeschworen hat.

1895 ist nicht nur das Jahr von Pfitzners erster Begegnung mit dem Leitbild Palestrina (das ihm die Musikgeschichte von A. W. Ambros nahebringt), es ist auch ein Jahr intensiven Schopenhauer-Studiums. „Die Welt als Wille und Vorstellung“ wird von nun an Pfitzners Religion sein – und das bleibt nicht ohne tiefe Auswirkungen auf das eben entstehende Trio. Nicht, daß es philosophische Programmusik oder sonst in irgendeiner entschlüsselbaren Weise illustrative Musik wäre – doch das Werk atmet ein Lebensgefühl, dessen schopenhauersche Wurzeln unüberhörbar sind. Noch im Alter spricht Pfitzner von Schopenhauers Hauptwerk als dem lehrreichsten Buch der Welt, das ihm unverlierbarer Besitz geworden sei.

Nur langsam, für Pfitzner quälend langsam, nimmt das Werk Gestalt an. Selbstzweifel und selbstzerstörerische Visionen lähmen den Komponisten immer von neuem. Stellen wie diese finden sich oft in der Korrespondenz dieser Monate:

ich bitte folgendes nicht als übereilte Äußerung zu nehmen: daß ich nun glaube, daß ich & alles um mich herum in trümmer stürzt – ich nie mehr Künstler sein kann.
(an Paul Nikolaus Cossmann, 4. März 1896)

Das Frühjahr 1896 bringt eine Wiederaufnahme des Armen Heinrich, für den sich jetzt auch andere Bühnen zu interessieren beginnen. Pfitzners Verhältnis zu Alexander Friedrich von Hessen (1863-1945) gestaltet sich zunehmend freundschaftlich. Der blinde Landgraf, der als Komponist Unterricht von Herzogenberg, Draeseke und sogar Fauré erhält und gediegen-eklektische Werke schreibt, erkennt das Genie Pfitzners. Als dieser die Uraufführung von Alexander Fiedrichs Klaviertrio op.3 (für Klavier, Klarinette und Horn) besucht, lädt ihn der Landgraf ein, ihn im Sommer nach Bayreuth zu begleiten. Mit Abschluß der Saison 1895/96 endet Pfitzners Mainzer Tätigkeit. Mitte Juli reist er dann, wie verabredet, mit Alexander Friedrich von Hessen nach Bayreuth, wo er den ganzen „Ring“ unter der Leitung von Hans Richter hört. Es wird für ihn eine wichtige, wenn auch durchaus nicht beglückende Erfahrung:

…die Leute verstehen eben nur das am Genie, nur das nicht-genial ist. sonst wäre es ja leicht, und hätten wirs ja, wo doch schon ziemlich viele Genies gelebt haben, so „herrlich weit gebracht“ [.] wenn man die Leute dort hört, von denen jeder einzelne sich ein kleiner Wagner dünkt, wo Schumann & Brahms Dilettanten sind, von denen zu sprechen sich der Mühe nicht verlohnt – – – –
Man kriegt in Bayreuth furchtbare Sehnsucht nach – Wagner.
was muß der Arme gelitten haben!
(an Paul Marsop, 27. Juli 1896)

Ich habe vorwiegend Ekel, Mutlosigkeit und Verachtung von dort mitgenommen. Über Wagner habe ich künstlerisch natürlich kein Jota neuer Meinung profitiert; nur herzliches Mitleid mit dem Armen, der in solcher Gesellschaft leben mußte. Andrerseits doch auch die betrübende Entdeckung, daß doch ein kleiner Teil seiner Natur in diesen Leuten repräsentiert wird. Das ist eben die Erdenschwere, ohne die er nie durchgekommen wäre, und die bei seiner unerhörten Größe selbstverständlich ist.
(an Lulu Cossmann, 28. Juli 1896)

Unter die Activa dieser Reise ist jedenfalls die Bekanntschaft mit dem Komponisten Max von Schillings (1868-1933) zu rechnen, die zu einer Lebensfreundschaft werden sollte.
Nach Frankfurt zurückgekehrt, unternimmt Pfitzner einen neuerlichen Anlauf, das Finale des Trios zu Ende zu bringen:

Was mich anbetrifft, so komme ich wohl in diesem Leben aus dem unerquicklichsten Zustand nicht heraus, der den Charakter des Provisorischen trägt; ich kriege den letzten Satz eines Trios seit einem halben Jahr nicht fertig; hätte ich den fertig, so würde ich irgend eine Initiative ergreifen für mein ferneres Leben.
weiter wünsche ich mir nichts.
(an Frances Grun, 23. September 1896)

Im Oktober entschließt er sich endlich, die elterliche Wohnung zu verlassen, und zieht in die Eschersheimer Landstraße 63, nur wenige Schritte von dem sechs Jahre zuvor verlassenen Konservatorium entfernt. Die Loslösung von den Eltern bringt nun auch eine sich schon seit mehreren Jahren anbahnende Entwicklung in Fluß:

…das Trio ist immer noch nicht fertig; hoffentlich wird es jetzt, denn bevor das nicht beendigt ist, kann ich keinerlei Initiative ergreifen, und das ist jetzt für mich das notwendigste. […]
Als Mitteilung, die Dich jedenfalls doppelt interessieren wird, die ich Dich aber bitte, aufs Strengste geheim zu halten, […] sei Dir gesagt, daß sich jetzt Mimi mir ganz zugewendet hat; wir correspondieren. […]
M. wird scheint´s dort wie eine schwere Verbrecherin gehalten & bewacht; das war die Mutter! Schreibe ihr nur nicht, da es nicht sicher ist, ob die Briefe nicht abgefangen werden;
(an Paul Nikolaus Cossmann, 22. Oktober 1896)

Wenige Wochen später ist das Werk endlich beendet – allein die Arbeit am Finale hat mehr als zehn Monate in Anspruch genommen. Aber Pfitzner ist auch das glücklich-dankbare Aufatmen nach getaner Arbeit, das „Laus Deo“ Haydns, das „Bohu díky“ Dvoráks, versagt:

Lieber Paul!
Das Trio ist fertig. Das ist die wichtigste Mitteilung, die ich Dir jetzt machen kann; ich glaube, daß es für mich ein Moment ist. Augenblicklich bin ich der festen Überzeugung, daß es mein letztes Werk ist; was ich zunächst vorhabe ist: es genau fertig aufzuschreiben, meine andre Compositionen in Ordnung zu bringen […] und dann – die Aussichten dann sind sehr schlimm; mein Privatwunsch ist – sterben; ich habe nicht die moralische Kraft, das was ich ahne, zu verwirklichen.“
(an Paul Nikolaus Cossmann, Ende November 1896)

Tatsächlich läßt die Eile, mit der Pfitzner jetzt die Uraufführung des eben beendeten Werkes arrangiert, den Schluß zu, die unheilkündenden Wendungen dieses Schreibens seien mehr gewesen als depressive Rhetorik. Die Uraufführung im Hoch´schen Conservatorium unseligen Angedenkens übernehmen Pfitzners ehemaliger Klavierlehrer und (noch ahnungsloser) zukünftiger Schwiegervater James Kwast und das Brüderpaar Alfred und Friedrich Heß, Pfitzners „Mitzöglinge“ in seiner Konservatoriumszeit.

Rezension der Uraufführung
(Frankfurt/Main, 14. Dezember 1896)

Die Herren Prof. James Kwast, Concertmeister Alfred Heß und Friedrich Heß führten in ihrem gestrigen zweiten Kammermusik-Abend ein neues Klaviertrio von Hans Pfitzner in die Öffentlichkeit ein. Mehr als bei irgendeinem der früher gehörten Werke des jugendlichen Tonsetzers hat sich uns bei Anhören dieses Trios die Überzeugung von der bedeutenden kompositorischen Begabung Pfitzners aufgedrungen, wenn auch der Hang, ins Ungemessene zu schweifen, sei es in der häufigen Anwendung kühnster Modulationen oder in dem Gefallen an grübelnden Reflexionen, wie es sich namentich in dem Schlußsatze äußert, erkennen läßt, daß der Komponist seine Sturm- und Drangperiode noch nicht hinter sich hat. Wenn irgend eine Musik sich nicht beschreiben läßt, sondern gehört sein will, so ist es die Pfitzner´sche, und wenn wir die symphonische Bedeutung der Motive des ersten Satzes und die ganz außerordentliche Kunst, mit welcher diese verarbeitet sind, die etwas an „Tristan“ und „Parsifal“ erinnernde Einleitung und die Schönheit des zweiten Abschnittes des langsamen Satzes, die Liebenswürdigkeit und Eigenart des Scherzos rühmen, so ist damit die Reihe der Vorzüge noch nicht erschöpft, wie anderseits harmonische und modulatorische Härten, merkwürdige, auf die Spitze getriebene dramatische Pointen und andere Absonderlichkeiten nicht gerade vereinzelt vorkommen. Viel Kraft, Mut und Können steckt in der Pfitznerschen Musik[,] und das ist die Hauptsache. Die Novität fand gute Ausführung und einen starken äußeren Efolg.
(S[chaum] in der Frankfurter Zeitung vom 15. Dezember 1896)


Schon am Tag nach der Uraufführung scheint Pfitzners Blick wieder in die Zukunft gerichtet – wenn auch nur in lakonischer Sachlichkeit: „Es war sehr gut, daß ich das Stück erst einmal gehört habe, da stellt sich so manches heraus.“, schreibt der Komponist an seinen treuen Pianisten Jedliczka nach Berlin.
Am darauffolgenden Tag, dem 16. Dezember 1896, wird das Trio für eine Gruppe von Freunden (Emil Steinbach, Otto Neitzel u.a.), die die Uraufführung versäumt hatten, in einem Hauskonzert wiederholt. Steinbachs Begeisterung hält sich in Grenzen – er schnaubt: „Was ist ein Trio! Sie sind ein dramatischer Komponist, Sie müssen wieder eine Oper schreiben.“
Das will und wird Pfitzner auch, vorher möchte er aber noch einmal sein Glück in Berlin versuchen – das Experiment von vor vier Jahren war ja so entmutigend nicht gewesen. Seine Berliner Freunde stehen bereit: Zu dem altbewährten Jedliczka haben sich diesmal Carl Halir (1859-1909) und Hugo Dechert (1860-1923) gesellt, und auch der niederländische Stockhausen-Schüler Anton Sistermans (1865-1926), der eben erst in Wien die Uraufführung von Brahms´ „Vier ernsten Gesängen“ bestritten hat, steht zur Verfügung. Am 3. März 1897 tritt dieses Freundesquartett zusammen mit dem Komponisten, der die Begleitung der Lieder übernimmt, im Saal der Singakademie vor das Berliner Publikum.
Der Zufall bewährt sich dabei wieder einmal als überaus einfallsreicher Regisseur. Der eifrige Musikfreund kann nämlich, bevor er sich zu Pfitzners Konzert in die Singakademie begibt, Karl Straube an der Orgel der Dreifaltigkeitskirche hören, wie er „für einen jungen Tonsetzer Max Reger“ eintritt, indem er dessen Suite e-moll op.16 an den Beginn seines Programms stellt. Dieses „Den Manen Johann Sebastian Bachs“ gewidmete Werk hatte Reger nicht lange davor an Brahms geschickt, den die „allzu kühne Widmung“ zwar irritierte, der aber dem jungen Kollegen doch mit einem freundlichen und ermutigenden Brief antwortete. (Pfitzner war es einige Jahre früher mit seinem Opus 1 ja viel schlechter ergangen). Das Zusammentreffen der Novitäten von Reger und Pfitzner scheint jedenfalls einige der Kritiker bei weitem zu überfordern…

Rezensionen der Berliner Erstaufführung
(3. März 1897)

Im Begriff, über das Trio von Hans Pfitzner zu berichten, das am Mittwoch in der Singakademie von den Herren Dr. Ernest Jedliczka, Prof. Karl Halir und Hugo Dechert vortrefflich gespielt wurde, muß ich leider beschämt gestehen, daß ich nichts zu berichten weiß: ich habe das Stück einfach nicht verstanden. Da ich den Komponisten nicht kränken möchte – denn aus jedem der vier langen Sätze konnte man erkennen, wie bitter ernst es ihm mit seiner Kunst ist -, so will ich lieber die Eindrücke, die ich von seinem Werk empfangen habe, nicht wiedergeben, sondern warten, bis ein Studium der Partitur oder ein erneutes Hören meinem offenbar schwachen Geist den Schlüssel zu diesem Tiefsinn in die Hand gegeben hat.
(Carl Krebs in der Vossischen Zeitung vom 4. März 1897)

Pfitzners Trio für Klavier, Violine und Violoncell ist eine ganz merkwürdige Komposition. Bezüglich der Dauer übertrifft es noch die Suite von Reger [das am selben Tag von Karl Straube aufgeführte Opus 16], sein Inhalt ist aber so zerfahren, schwülstig, öde und abgeschmackt, daß man darüber streiten könnte, welches von beiden Werken den trostloseren Eindruck hinterlassen habe. Ohne jede Phantasie ist Pfitzner nicht, im langsamen Satz des Trios bringen Violoncell zuerst, dann Violine eine warm empfundene Melodie; der dritte Satz, das Scherzo, ist belebt und in seinem Hauptthema, wenn auch nicht neu, so doch glücklich erfunden – aber was will dieses wenige gegen die Ungeheuerlichkeiten der Verarbeitung sagen oder bedeuten! Herr Pfitzner wühlt und würgt sich durch eine Chromatik der Harmonien, die einem den Atem benimmt, und bleibt trotzdem monoton. Dann tut er wieder recht mystisch und nimmt Ausflüge ins transzendentale Gebiet, aber – die Sache bleibt stets dunkel. Endlich aber – und dies ist das Schlimmste – jammert er so viel in seiner Musik, daß dieselbe schließlich hysterisch klingt. Eine eingehende Besprechung der einzelnen Sätze verlohnt sich nicht.
(G-s im Berliner Lokal-Anzeiger vom 4. März 1897)

… Ebenso schlimm sah es leider in der Singakademie aus. Dort gab Hans Pfitzner, der durch seine Oper „Der arme Heinrich“ bekannt wurde, ein Konzert mit eigenen Kompositionen. Künstler von Rang und Namen liehen ihm ihre Unterstützung: Herr Anton Sistermans sang Lieder, die Herren Dr. Jedliczka (Klavier), Karl Halir (Violine) und Hugo Dechert (Cello) spielten ein Trio in F.
Irgendwelche Diskussion hat in diesem Fall keinen Zweck. Für das größere Publikum haben Kompositionen, die so viel ehrliches Streben und so wenig Phantasie in sich schließen, kein Interesse. Der Komponist selbst aber wird die Kritik, die ihm sagt, daß er entweder falsche Wege geht oder überhaupt des schaffenden Vermögens ermangelt, für nicht kompetent erklären. Er wird über die Kurzsichtigkeit und Beschränktheit derer sich beklagen, die über ihn zu urteilen berufen sind; er wird sich durch das Zureden der Freunde in seinem Wahn bestärken lassen, er wird weitergehen auf dem betretenen Pfade und – nichts erreichen. Ein unerquickliches Bild! Dieser letzte Konzertabend war de peinlichste der ganzen Saison. Nichts trauriger, deprimierender als ernstes, hochfliegendes Streben, das in unüberwindliche Hindernisse verstrickt ist.
(P. M. in den Berliner Neusten Nachrichten vom 4. März 1897)

Ein interessantes Konzert hatte man Herrn Hans Pfitzner zu verdanken, der am gestrigen Abend in der Sing-Akademie eigene Kompositionen zur Aufführung bringen ließ. Den Abend eröffnete ein Trio für Klavier, Violine und Violoncello, in welchem einige hübsch erfundene Themen in vier Sätzen nicht ohne Geist behandelt, aber oft zu lang ausgesponnen werden und dadurch mindestens einen Theil ihres Reizes einbüßen. Am gefälligsten erschien uns und – dem Anschein nach – der Mehrzahl der Hörer der dritte Satz, den der Komponist als „frei und launig“ bezeichnet, und welcher in der That einen frohsinnigen Stimmungsgehalt besitzt. Die Ausführung des Trios […] ließ kaum etwas zu wünschen übrig.
(Deutscher Reichsanzeiger vom 4. März 1897)

Herr Hans Pfitzner, der schon vor Jahren hier, und seither besonders in seiner rheinischen Heomath als Componist nennenswerthe Erfolge errungen hat, gab gestern Abend in der Singakademie ein Concert, um ein Klaviertrio und elf Lieder seiner Composition vorzuführen. Der junge Autor scheint hier nicht ohne Freunde seiner Kunst zu sein, denn der Saal war ganz gefüllt[,] und der Beifall ungewöhnlich warm und laut. Demgegenüber gab es einzelne urtheilende Hörer, die an den vorgetragenen Sachen auch nicht ein gutes Haar entdecken konnten. Ich möchte mich diesmal für die goldene Mitte entscheiden; ich fand den gespendeten Beifall übertrieben und das absprechende Urtheil unberechtigt. Vor allen Dingen hat Herr Pfitzner in seinem Trio eine starke Talentprobe gegeben. Es sind in ihm gut erfundene Motive und Themen, stark wirkende Contraste und Steigerungen, und endlich ungemein stimmungsvoll durchgeführte Abschnitte. Das Bedeutsamste in dieser Hinsicht dürfte der bald nach Beginn des Finales eintretende langsame, imitatorisch geführte Satz sein, der durch seine zarte, traurige Klangfarbe und durch seine allmählich sich entwickelnde Harmonik das Interesse in hohem Grade weckt. Auch der Contrast mit dem etwas wilden Allegro wirkt vortrefflich; leider ist aber der ganze Satz viel zu lang, und die mehrfache Wiederholung desselben Gegensatzes schwächt die Theilnahme bedeutend ab. Auch der dritte Satz, eine Art Scherzo, ist sehr hübsch und von gutem Humor dazu. Aber das ganze Werk ist zu gedehnt (es dauert eine Stunde) und vor allen Dingen zu wild, zu wenig abgeklärt, um einen vollkommenen Eindruck zu machen. Der Componist scheint noch zu sehr zu schreiben, was ihm eben einfällt; das ist vielfach etwas sehr Bemerkenswerthes, aber er beherrscht seine Fantasie noch nicht vollkommen. Immerhin darf das Trio im Allgemeinen als interessant für Denjenigen gelten, der ihm folgen will. […] In Summa: Herr Pfitzner ist ein zweifelloses Talent, aber er giebt noch nicht, was man von ihm erwarten kann. Die Ausführung des Trios durch die Herren Dr. Jedliczka, Prof. Halir und Dechert war trefflich.
(O. E. im Berliner Börsen-Courier vom 4. März 1897)

Mir scheint Her Pfitzner keinen Schritt vorwärts, sondern stark rückwärts in seiner künstlerischen Entwicklung gegangen zu sein, indem er in völlig schrankenlosen Subjektivismus verfallen ist. Das Trio dauert lämnger als eine Stunde, ergeht sich mit unberechenbarer Breite derartig in Grübeleien, verschmäht dabei jede feste Gliederung im Periodenbau, entbehrt der plastischen Ausarbeitung prägnanter Motive, daß der Hörer, jedes Anhaltspunktes beraubt, sich der Willkür preisgegeben fühlt. Wenn der Satz aufhört – und jeder Satz muß doch einmal aufhören – ist man völlig erschöpft durch die redselige Breite kraftloser Klagen, durch die Vorliebe für häßliche Harmoniefolgen, die geradezu raffiniert ausgesonnen sind, um das Ohr zu peinigen. Nehmen wir allein das Scherzo aus, das eine lebhaftere Bewegung anhebt und ein paar Momente freundlicheren Charakters bringt, so bleibt für die übrige Zeitdauer des Werkes nur die Qual übrig, düstere Interjektionen, endloses Lamentieren, krampfhaftes, aber vergebliches Versuchen, sich aus der Misere zu erheben, eine wahrhaft hämische Freude an häßlichen Klängen über sich ergehen lassen zu müssen. Mir scheint dieses Trio geradezu eine Ausgeburt des Größenwahns zu sein. […] Es brachte dieses Concert die unerquicklichste Musik, die Referent seit langer Zeit hat mitanhören müssen.
(E[rnst] E[duard] T[aubert] in der Post vom 5. März 1897)

Herr Hans Pfitzner brachte am Mittwoch, den 3. März, in der Singakademie ein Trio in F und eine Anzahl Lieder seiner Komposition zur Aufführung. Der junge Komponist, der die Mitte der zwanziger Jahre kaum überschritten haben kann, ist bereits vor vier Jahren hier aufgetreten und hat Anerkennung gefunden. Auch diesmal können wir bestätigen, daß ihm Phantasie, also eigentliche schöpferische Begabung zu Theil geworden ist. Man hört, daß er sich mit Liebe in das Lebne der Töne versenkt hat, daß sie ihn locken und umspielen, daß er in ihnen schwärmt und träumt. Daher ist sein Trio reich an Schönheiten melodischer und harmonischer Erfindung, die nicht mühevoller Kombination oder Reflexion, sondern natürlichem Empfinden entspringen. Aber es fehlt ihm an der anderen Seite der künstlerischen Begabung. Sein Schaffen wird ihm nicht objektiv, und das ist die Voraussetzung der Darstellung für Andere. Er bleibt im Schwärmen befangen, er erwacht nicht aus seinem Traum, um mit klarem Kopf und fester Hand die schwankenden Gestalten festzuhalten, zu verdichten. Uns ist er so eine liebere und seltenere Erscheinung, als der Dutzendkomponist, der überhaupt nicht schwärmt, sondern nur arbeitet. Aber die Fähigkeit sich mitzutheilen leidet darunter. Man kann sich wohl vorstellen, was er empfindet, wenn er in langsamem Tempo viermal dieselbe lange Note angiebt; aber dieses Empfinden ist zu subjektiv, es geht nicht ins Objekt über und bleibt daher dem Hörer unverstanden und ermüdend. So müssen sich auch die Sätze übr ihre innere Bedeutung hinaus dehnen und nicht zu Ende kommen. Das Trio dauert eine gute Stunde. In der liebevollen und vortrefflichen Ausführung durch die Herren Ernst Jedliczka, Carl Halir und Hugo Dechert erkannte indessen das Publikum das ungewöhnliche Talent des Komponisten und rief ihn nach dem Trio zweimal hervor.
(L[udwig] B[ußler] in der National-Zeitung vom 5. März 1897)

In der Singakademie gab der Komponist Hans Pfitzner zur selben Zeit ein Konzert mit eigenen Kompositionen, einem Klaviertrio und elf Liedern. Er ist durch sein Musikdrama „Der arme Heinrich“ bekannt geworden, und hat auch hier schon in einem eigenen Konzerte Proben eines starken Talentes abgelegt, das freilich noch weiterer Klärung bedurfte. Wir hofften also, für die uns durch Hrn. Reger zugefügten Unbilden einigermaßen entschädigt zu werden, kamen aber aus dem Regen in die Traufe, und in was für eine! Pfitzner ist anscheinend in böse Hände oder Einflüsse gerathen, vielleicht ist ihm auch die übertriebene Beräucherung durch „gute“ Freunde zu Kopfe gestiegen, denn was er uns in diesem Trio bietet, übersteigt alles Greuliche, was in der Musik jemals dagewesen ist. Ein solcher jäher Niedergang eines bedeutenden Talentes könnte Trauer erwecken, wenn nicht doch die Heiterkeit über diesen „musikalischen“ Unsinn schließlich überwöge, das Werk ist beim besten Willen nicht ernst zu nehmen. Angeblich steht es in F-dur, aber schon der erste Satz geht fast durchweg in einer Anzahl bisher unbekannter Tonarten, der zweite steht in cis-moll, der dritte in es-moll, der vierte in f-moll, d.h. in den ersten und letzten Takten, dazwischen geht es wieder rundum. Aus dem wüsten (meist chromatischen) Durcheinander der drei Stimmen, das durch den fortwährenden Taktwechsel noch anmuthender wird, treten einzelne klare, melodische Stellen angenehm hervor, sie werden aber durch die stets wiederkehrenden Nachahmungen, Sequenzen u.s.w. so entsetzlich in die Länge gezogen, daß man froh ist, wenn der wüste Spektakel wieder losgeht, weil man hofft, er werde die Sache endlich zu Ende bringen. Diese Hoffnung bleibt freilich lange unerfüllt, das Werk dauert fast eine Stunde; für 10 Minuten würde sein Gedankeninhalt allenfalls ausreichen, namentlich wenn man die freundlichen Anleihen bei anderen Komponisten abzieht, die sich ziemlich zahlreich finden. Die Herren Jedliczka, Halir und Dechert vedienen für den Heldenmuth, womit sie das ungenießbare Werk einstudirt hatten, rückhaltlose Bewunderung; wie namentlich Herr Jedliczka es fertig gebracht hat, den maßlos schwierigen Klaviersatz überhaupt zu lesen, bleibt uns ein Räthsel.
(Anonymus in der Neuen Preußischen Zeitung vom 5. März 1897)

Ein viersätziges Trio für Klavier, Geige und Violoncello in F-dur, von den Herren Dr. Jedliczka, Prof. Halir und Hugo Dechert mit rühmenswerther Hingabe gespielt, ließ in seiner molluskenartigen Verschwommenheit, in der gänzlich charakterlosen Verwendung der einzelnen Instrumente und in der tiefsinnig sein sollenden Schreibweise einen befremdenden Eindruck. In die weltschmerzlichen Falten des Denkers und Philosophen legt der Komponist seine jugendliche Stirn. Nur ganz vorübergehend, wie in dem langsamen Cis-moll-Satz, glückt es ihm einigermaßen[,] eine Stimmung festzuhalten, und in dem dritten Satze gleitet nur einmal ein leises Lächeln über die ernsten Züge. Dabei ist das Werk von einer Ausdehnung – es dauert eine Stunde – gegen die der göttliche Schubert im Lapidarstil schreibt.
(Wilhelm Blanck in der Täglichen Rundschau vom 5. März 1897)

…Von dem Konzerte der Genannten begaben wir uns in das des Herrn Hans Pfitzner, welcher nur eigene Kompositionen aufführte. Von einem Trio für Klavier, Violine und Violoncello hörten wir noch die Musik der letzten zehn Minuten; eine ganze Stunde hatte es aber bereits gedauert. Dies Endstück machte auf uns den Eindruck musikalischer Leere, und wir erfuhren denn auch, daß das die Signatur des ganzen Werkes sei: nirgends eine Zeichnung, nirgends ein fester Umriß, alles Stimmungsausdruck, der sich nicht selten in unangenehmen Klangkombinationen geäußert habe…
(Anonymus in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 6. März 1897)

Das musikalische Ereignis des Mittwochs war das Konzert, das der junge Komponist Hans Pfötzner [sic] mit eigenen Kompositionen in der Singakademie veranstaltete. Hervorragende Kräfte waren daran beteiligt, die Herren Dr. Jedliczka, Professor Halir und Dechert bildeten ein stattliches Trio, und Herr Sistermans übernahm die Liedervorträge. Hans Pfötzner [sic] hatsich mit seiner Oper „Der arme Heinrich“ als ein gedankenreicher, vielversprechender Vertreter neuerer deutscher Kunstrichtung erwiesen[,] und so sah man seinem Konzert mit Spannung entgegen. Leider brachte es in seiner ersten Hälfte eine arge Enttäuschung. Sein rund eine Stunde ausfüllendes Trio ist[,] gerade herausgesagt[,] eine Mißgeburt. Die einzelnen Schönheiten gehen in ausgedehnten öden und leeren Strecken unter, so daß das Ganze einfach ungenießbar ist.
(Sp. in der Deutschen Tageszeitung Berlin vom 8. März 1897)

…Sein Klavier-Trio ist ein wirres Produkt einer im Dunkeln tastenden , krankhaften Phantasie. Weder in den Themen, noch in deren Verarbeitung verräth sich der göttliche Funke. Es kommt nicht einmal etwas vor, was zum Widerspruch herausfordert, vielmehr herrscht in dem langen, fünf Viertelstunden währenden Opus öde Eintönigkeit, gähnende Langeweile. Auch die Lieder entbehren jener gesunden, frischen Melodik, die das Merkmal des wahren Talentes ist. Die Ausführenden, Herr Sistermann

[sic]

, Dr. Jedliczka, Prof. Haler [sic] und Dechert, gaben sich redliche Mühe, um die ihnen anvertrauten Kompositionen vom Schiffbruch zu retten; aber vergebens.
(Eugenio von Pirani in der Charlottenburger Zeitung vom 8. März 1897)

So komponiert man nicht für vernünftige Menschen, sondern für Idioten.
(Anonymus in der Allgemeinen musikalischen Rundschau vom 7. März 1897)

Leider fühlen sich auch wieder Komponisten bewogen, eigene Konzerte zu geben, zunächst am Mittwoch Hans Pfitzner in der Singakademie. Der noch sehr junge Mann erregte, als er vor mehreren Jahren zum erstenmal hierher kam, allgemeine Aufmerksamkeit, man setzte große Hoffnungen auf ihn. Er bereitete den Freunden seiner Kunst jetzt eine herbe Enttäuschung. Ein Hang zur Grübelei trat schon in seinen früheren Kompositionen zutage, aber doch nicht in dem Maße, daß man nicht auf größere Frische für die Zukunft hätte rechnen dürfen. Die Entwicklung Pfitzners ist aber in einer ungünstigen Richtung fortgeschritten; etwas Grämlicheres, ich möchte sagen, etwas „Erdachteres“ als sein Trio kann man sich kaum vorstellen. Nur der dritte Satz, der mit „Frei und launig“ bezeichnet ist, machte einigen Eindruck. Die Motive sind im allgemeinen kurzatmig und werden zu häufig wiederholt, sie drängen sich zu sehr auf, der melodische Gehalt ist gleich Null. Das Trio hinterläßt nur den Eindruck der Öde und Länge, die ermüdet.
(Anonymus im Berliner Tagblatt vom 9. März 1897)

Hans Pfitzner hat sich neuerdings mit seinem in Mainz und Frankfurt sehr beifällig aufgenommenen „Armen Heinrich“ einen Namen als Opernkomponist gemacht, einzelne begeisterte Verehrer des jungen Tondichters wollten sogar etwas wie den „kommenden Mann“ in ihm erblicken. Das scheint nun allerdings, nach den Kindern seiner Muse zu urteilen, […] einigermaßen über das Ziel geschossen zu sein, denn weder seinem Klaviertrio […] noch den […] Liedern […] ist viel Gutes nachzusagen. […] Herr Pfitzner mußte sich dementsprechend mit einem bescheidenen Achtungserfolge begnügen; zwei, dem Komponisten zum Schluß überreichte gewaltige Lorbeerkränze konnten daran nichts mehr ändern.
(Anonymus in der Volks-Zeitung vom 9. März 1897)

Was uns in den letzten Tagen an musikalischen Genüssen geboten wurde, war nicht besonders probehaltig. Da hat sich ein junger Komponist Hans Pfitzner für einen Abend in der Singakademie niedergelassen mit einem Trio für Klavier, Violine und Violoncello und elf Liedern. Ja, war denn das noch Musik, was dort gemacht wurde? Wenn ich das wirklich schöne, natürlich fließende und kurze Scherzo ausnehme, war das Trio in seiner Formlosigkeit, mit seinen abgerissenen, selten zu einander passenden Scenen, seinem Mangel an melodischer Substanz und seiner erfindungsarmen Weitschweifigkeit ein trostloser Wüstenmarsch in Tönen. Dir Herren Dr. Jodliczka [sic], Halir und Dechert sind tapfer durch den Sand gewatet – ohne Erfolg. Etwas weniger zerfahren, gleichwohl der Geschlossenheit entbehrend, waren die Lieder. Von Wärme der Empfindung zeugen einige; die Grundstimmung fast aller ist aber eine trübe Weinerlichkeit. Sind das die zukünftigen Klassiker?
(Anonymus in der Berliner Zeitung vom 10. März 1897)

Durch ein abendfüllendes Komponisten-Konzert brachte sich Hans Pfitzner in Erinnerung. […] ich zweifle nicht, wir dürfen Großes erwarten von Hans Pfitzner, wenn auch das Programm seines Konzertes meine Hoffnungen nicht genügend unterstützt haben sollte. […] das sehr schwere Trio spielten die Herren Dr. Jedliczka, Professor Halir und Kammermusiker Dechert mit einer seltenen Hingabe und ausgezeichnetem Gelingen. Ich konnte der Ausführung des breit und tief angelegten, etwas rücksichtslos durchgeführten Werkes mit dem autographen Manuskript in der Hand folgen und war erstaunt über die geniale Größe der Konzeption und die Kühnheit der Faktur; eine gewisse herbe Konsequenz, nur hie und das unterbrochen durch flüchtige Sonnenblicke, erschwert das Verständniß[,] und ich kann mir denken, daß auch der gutwilligste Zuhörer nach und nach die Empfänglichkeit eingebüßt, die Geduld verloren hat. Es geht dem Komponisten wie jenem Säemann im Evangelium: unter die Dornen viel manches edle Samenkorn. Im Gestrüpp einer ziemlich melancholisch angehauchten Reflexion gelangten viele schöne Keime nicht zur rechten Entwicklung, sondern vegetirten nur, als fehle ihnen Licht und Wärme. Und doch sage ich: in dem Trio steckt eine bedeutende Schaffenskraft, es waltet darin ein so mächtiger „Wille zum Leben“, daß ich den hochgespanntesten Erwartungen mich hingebe. […] Pfitzner befindet sich noch in einem Übergangsstadium, jenes alte geflügelet Wort vom gährenden Most trifft auch bei ihm zu. Das gute Weinjahr kommt sicher! In der nächsten Zeit gilt sein Trachten und das Dichten eines bewährten Poeten der neuen Oper, welche Beide, fern vom Gewühl der Großstadt, in Angriff nehmen wollen. Recht so! Nur muthig weiter streben und schaffen!
(Anonymus [Wilhelm Tappert] im Kleinen Journal vom 11. März 1897)

Monströs in Bezug auf Ausdehnung… So monströs geringfügig und gequält sein Inhalt kein organischer Bau… stellenweis widerwärtige Kakophonie… Wüßte ich nicht, daß Herr Pfitzner ein ernster Künstler mit redlichem Streben ist, ich müßte auf den Gedanken kommen, er habe in einem Anfall von Galgenhumor versuchen wollen, was alles einem sympathisch gestimmten Publikum dargeboten werden darf.
(Otto Leßmann in der Allgemeinen Musikzeitung 1897/Nr.11)

Nachdem Pfitzner diese bunte Garbe an Kritiken eingesammelt hat, reist er mit James Grun nach Oostende, wo sie gemeinsam am Libretto zu Pfitzners nächster Oper, Die Rose vom Liebesgarten, arbeiten. Nach seiner Heimkehr schreibt der so vielstimmig geschmähte Komponist an einen seiner treuesten (und kompetentesten) Bewunderer:

Wie mein Concert in Berlin von der Kritik aufgenommen worden ist, werden Sie wohl vielleicht gehört haben; mit Ausnahme von Tappert & Bußler haben sie mich alle fürchterlich vermöbelt; einer meinte, es sei überhaupt das Scheußlichste, was überhaupt noch in der Musik da war, ein anderer brandmarkte mich sogar als den Führer der Socialdemokratie in der Musik; dagegen hatte ich beim Publikum großen Erfolg.
(an Engelbert Humperdinck, 10. Juni 1897)

Schon gleich nach der Uraufführung hatte Eugène d´Albert in seiner Eigenschaft als beratendes Mitglied des Direktoriums des ADMV um die Übersendung eines Werkes von Pfitzner gebeten; das ihm von Jedliczka überbrachte Opus 8 faszinierte ihn so, daß er seinen Einfluß für die Herausgabe des Trios geltend machte. In dem Brief, den der Komponist über diese Wendung an seinen Freund schreibt, fällt es nicht leicht, Freude und Sarkasmus auseinander zu halten:

Das Trio wird gedruckt bei Simrock. Auf d´Alberts begeisterte Empfehlung. Ich bekomme kein Honorar, nie etwas vom Verkauf. Wie froh bin ich, daß Simrock es nimmt! Ich brauche noch nicht einmal die Druckkosten zu bezahlen.
(an Paul Nikolaus Cossmann, 20. Februar 1898)

Am 24. November 1899 erlebte das Werk seine Wiener Erstaufführung: Hier gehörten Gustav und Alma Mahler, die Bruno Walter auf Pfitzner aufmerksam gemacht hatte, zu den Bewunderern dieses in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Trios.

Der erste Satz (Kräftig und feurig, nicht zu schnell, F–Dur) liefert gleich eines der markantesten Beispiele dafür, was Pfitzner unter einem musikalischen „Einfall“ versteht: das Hauptmotiv des Satzes, ein knappes Motto von unerhörter rhythmischer Prägnanz, überfällt den Hörer förmlich und durchpulst mit seiner nie völlig versiegenden Energie noch die fernsten Verästelungen des musikalischen Gewebes. Als wollte der Komponist deutlich machen, daß mit diesem „Einfall“ eigentlich schon alles gesagt sei, läßt er – ein völlig unerhörter Vorgang – den musikalischen Diskurs unmittelbar nach der Vorstellung dieses Hauptthemas mit einer Reihe hingedonnerter Schlußakkorde abbrechen. Daß das Stück dennoch weitergeht, scheint auf den ersten Blick nur ein Zugeständnis an die Konvention zu sein – jedenfalls dürfte es schwer sein, irgendwo in der Musikliteratur eine ähnlich tollkühne Demonstration der Bruchstelle zwischen „Einfall“ und „Verarbeitung“ zu finden: schon allein dieser – mit Schopenhauer zu reden – „Kniff“ macht den Satz unvergeßlich. (Knapp dreißig Jahre später hat T. S. Eliot in der Schlußpassage von „The Hollow Men“ ähnliches mit den Mitteln der Sprache versucht.)
Mit dem zweiten Satz (Sehr langsam, cis-moll) betreten wir den innersten Bezirk des Werkes: der Satz beginnt in mehreren Anläufen mit warnenden und abwehrenden Gesten; es ist, als müßte wie im Märchen erst ein Bannkreis der Erstarrung durchschritten werden, um schließlich in das ersehnte Zauberland zu gelangen. Das Thema, mit dem wir dort empfangen werden, gehört zu den ergreifendsten Eingebungen Pfitzners. Bei der Wiederholung des Geschehens hat der Bannkreis die Gestalt einer fast unüberwindlichen Felswand angenommen – die Geste der Warnung ist zur Drohgebärde gesteigert, und die dabei in Bewegung gesetzten Klangmassen haben wirklich nichts „Kammermusikalisches“ mehr an sich. Und wenn nach der Reprise des Hauptthemas schließlich alles in wehmutvolle Ruhe zu versinken scheint, erscheint plötzlich das Abwehrmotiv des Anfangs, zu einem dissonanten Aufschrei verzerrt und in grellster Beleuchtung, und läßt den Satz hoffnungslos ersticken. Es sind diese dramaturgischen Ungeheuerlichkeiten – wann hatte man je der Ermordung eines langsamen Satzes beigewohnt? – die auch durchaus wohlmeinende Kritiker am Ende des XIX. Jahrhunderts überfordert haben müssen.
Der dritte Satz (Mäßig schnell, etwas frei im Vortrag, es-moll) ist, trotz mancher bizarren Einzelheit, der „normalste“ des Werkes (und genau deshalb der von der Kritik am ehesten akzeptierte); an kaum einer anderen Stelle seines Oeuvres ist Pfitzner dem Jugendwerk Richard Strauss‘ (etwa der „Improvisation“ aus der Violinsonate op.18 von 1888) näher. Obwohl es auch hier durchaus nicht an wilden Eruptionen und zerstörerischen Brüchen fehlt, ist der Gesamteindruck fast abgerundet – ja, Pfitzner überwindet sich sogar zu einem „konventionellen“, fast humoristischen Schluß.
Diese trügerische Versöhnlichkeit läßt die Radikalität des vierten Satzes (Rasch und wild. – Langsam. – Sehr schnell, f-moll) nur umso verheerender über uns hereinbrechen. Ein nicht enden wollender Kampf widersteitender Gefühlswelten spiegelt sich in einer formalen Zerrissenheit, die nur durch die frappante Kraft des motivischen Materials zusammengehalten werden. Auch hier wird ein Gegenbild zur Tradition des „krönenden Abschlusses“ geschaffen – die Konflikte der vorangegangenen Sätze werden nicht versöhnt, sondern verschärft. Es ist klar, daß Musik, die (nicht aus einer spielerischen Lust am Widerspruch, sondern aus schicksalhafter Notwendigkeit) solche Wege einschlägt, sich nicht die Gunst des Publikums erkämpfen kann. Nicht kollektiver Genuß ist der Gewinn, den sie verspricht, sondern die herbe Lust des Mitleidens. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß ein Musikmarkt, der Kunstwerke nach Konsumierbarkeit und Unterhaltungswert zu klassifizieren gewohnt ist, einem Werk, dessen Radikalität und Modernität nicht im Material, sondern in der Aussage liegen, nichts abzugewinnen weiß. Aber daß Musik, die mit solcher Intensität empfangen und mit solcher inneren Konsequenz gebändigt wurde, nicht mehr spielende Verteidiger findet, ist doch irritierend. An solcher Stelle ist meist ein missionarisches „Seine Zeit wird noch kommen…“ fällig – aber ich glaube, Pfitzner bedarf ihrer nicht: er braucht, ganz einfach, nur einen Zuhörer.

© by Claus-Christian Schuster

Novak: Trio quasi una ballata, d-moll, op.27 (1902)

Vitezslav Novak

* 05. Dezember 1870
† 18. Juli 1949

Trio quasi una ballata, d-moll, op.27 (1902)

Komponiert:Prag, 1901/02
Uraufführung:Brno, 6. April 1902
Vitezslav Novák, Klavier
Rudolf Reissig, Violine
H. Brodsky, Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1903

Der Arztsohn aus dem südböhmischen Kamenice nad Lipou, repräsentierte in seinen Anfängen ganz die Dvorák-Schule; auch ihm ebnete Johannes Brahms von Wien aus durch eine Empfehlung an den Verlag Simrock in Berlin den Weg in die Welt. Dort erschien auch das 1902 komponierte (zweite) Klaviertrio „quasi una Ballata“ (d-moll, op.27). Es ist daher wohl auch mehr als bloßer Zufall, daß sich man an etlichen Stellen des Werkes in Tonfall und Ductus an die Brahmsschen „Zigeunerlieder“ erinnert fühlt (etwa an das in der selben Tonart stehende „Hochgetürmte Rimafluten“, op.103 Nr.2). Freilich kann hier weder von Zitat noch von Nachahmung die Rede sein; der Ursprung dieser Verwandtschaft ist wohl am ehesten in der beiden Komponisten gemeinsamen Liebe zum Volkslied zu suchen: 1896 hatte Novák in Velké Karlovice, wo er in der Folge oft den Sommer verbrachte, seine erste Begegnung mit der walachischen Volksmusik. Mit offenem Ohr für den unverfälschten Reichtum des Volksliedes bereiste er in den folgenden Jahren mit Freunden (unter anderem auch mit Leos Janácek) Mähren, die Hohe Tatra und die Slowakei. Auch wenn die Musik des zweiten Klaviertrios keine illustrativ-folkloristischen Züge hat, finden sich die Spuren dieser Beschäftigung doch in jedem Takt. Die Form des Werkes ist rhapsodisch; in den großzügig angelegten einzigen Satz des Werkes, der seine dynamische Spannung aus der Gegenüberstellung eines Andante tragico mit einem leidenschaftlichen Allegro bezieht, ist als Mittelepisode ein extravagantes Scherzo (Allegro burlesco) mit kapriziösen Zügen eingeflochten. Novák hat hier ein dramaturgisches und formales Konzept entwickelt, das der englische Musikliebhaber und Mäzen Walter W. Cobbett in der Folge zur Leitlinie der von ihm ins Leben gerufenen Wettbewerbe für Kammermuiskkompositionen (ab 1906) gemacht hat.

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Mozart: Trio (Terzett) G-Dur KV 564

Wolfgang Amadeus Mozart

* 27. Jänner 1756
† 05. Dezember 1791

Trio (Terzett) G-Dur KV 564

Komponiert:Wien (Währinger Straße 26, Gartenhaus), beendet am 27. Oktober 1788
Uraufführung:nicht dokumentiert
Erstausgabe:Artaria, Wien, Oktober 1790

„…Wenn Sie vielleicht so bald nicht eine Solche Summa entbehren könnten, so bitte ich sie mir wenigstens bis Morgen ein paar hundert gulden zu lehnen, weil mein Hausherr auf der Landstrasse so indiscret war, daß ich ihn gleich auf der stelle ( um ungelegenheit zu vermeiden ) auszahlen musste, welches mich sehr in unordnung gebracht hat! – wir schlafen heute daß erstemal in unserem neuen quartier, alwo wir Sommer und winter bleiben; – ich finde es im grunde einerley wo nicht besser; ich habe ohnehin nicht viel in der stadt zu thun, und kann, da ich den vielen besuchen nicht ausgesezt bin, mit mehrerer Musse arbeiten; – und muß ich geschäfte halber in die stadt, welches ohnehin selten genug geschehen wird, so führt mich Jeder fiacre um 10 x: hinein, um das ist auch das logis wohlfeiler, und wegen frühJahr, Sommer, und Herbst, angenehmer – da ich auch einen garten habe. – Das Logis ist in der waringergasse, bey den 3 Sternen N:o 135.“

Die Übersiedlung, die Mozart seinem Logenbruder Michael Puchberg am Mitte Juni 1788 mit diesem Brief anzeigt, ist äußeres Zeichen der kontinuierlichen Verschlechterung seiner Lage: schon im April hatte er den herrschaftlichen Haushalt im „Figaro-Haus“ aufgeben müssen. Wenige Wochen zuvor hatte Joseph II. als Verbündeter Rußlands dem Osmanischen Reich den Krieg erklärt, ein in jeder Hinsicht unglücklicher Schritt, dessen absehbares Scheitern auch die allgemeine Wirtschaftslage deutlich verschlechterte. Die dadurch heraufbeschworene Krise zwang sogar den Adel zu Sparmaßnahmen, und darunter litt naturgemäß das Wiener Musikleben. Der in krassem Gegensatz zu dem Prager Triumph des Vorjahres stehende Mißerfolg der Wiener Erstaufführung des „Don Giovanni“ (7. Mai 1788) ist so besehen nicht ausschließlich auf den schlechten Geschmack der Wiener zurückzuführen. Was Mozarts persönliche finanzielle Probleme anlangt, so waren, neben einer in manchem wahrscheinlich allzu aufwendigen und luxuriösen Haushaltsführung, vor allem Constanzes Krankheit und die dadurch notwendigen Kuren eine zusätzliche Belastung. Immer wieder und in immer kürzeren Abständen muß Mozart sich mit der Bitte um finanzielle Unterstützung an Puchberg wenden, der ihn fast nie enttäuscht. Zu der materiellen Misere kommt persönliches Leid: knapp zwei Wochen nach der Übersiedlung auf den Alsergrund stirbt Mozarts gerade sechsmonatige Tochter Theresia.

Mozarts Hoffnung, „mit mehrerer Musse arbeiten“ zu können, hat sich aber all diesen tragischen und widrigen Umständen zum Trotz in wunderbarer Weise bestätigt: schon in den ersten zwei Monaten entstand im neuen Quartier die Triade der letzten Symphonien – ein Leistung, deren konzentrierte Dichte in der Musikgeschichte vielleicht nur noch in der Entstehung von Schuberts letzten drei Klaviersonaten erreicht wird; gleichzeitig komponiert Mozart auch die Klaviersonate C-Dur KV 545, die letzte Violinsonate (F-Dur, KV 547) und die beiden Klaviertrios E-Dur (KV 542) und C-Dur (KV 548). Als Epilog zu dieser überreichen Sommerernte sind die beiden nach einer kurzen Pause im Herbst komponierten Trios zu betrachten: das sechssätzige Streichtrio Es-Dur (KV 563) und das letzte Klaviertrio (G-Dur, KV 564). Waren schon im Sommer die Kammermusikwerke zwischen den monumentalen Symphonien gleichsam in Momenten der Entspannung entstanden, so darf man in KV 564 in übergreifenderem Sinne ein Postskriptum zu dem überreichen Gesamtwerk dieser kritischen Monate sehen. Wie schon in der C-Dur-Klaviersonate („eine kleine klavier Sonate für anfänger“) und der F-Dur Violinsonate („eine kleine klavier Sonate – für Anfänger mit einer Violin“) sind die technischen Ansprüche in Hinblick auf häusliches Musizieren ( – etwa mit Michael Puchberg – ) niedrig gehalten, wenn auch das Klaviertrio in seinem ersten Satz einen deutlich konzertanteren Ton aufweist als die beiden Sonaten. Das Autograph legt die Vermutung nahe, daß das Werk ursprünglich als Klaviersonate konzipiert war und erst nachträglich zum Klaviertrio umgearbeitet wurde.

Das Allegro spielt in gelöstester und glücklichster Manier mit dem Motiv einer fallenden Terz – wie ein quasi monothematischer Satz unter Aussparung dramatischer Komplikationen so abwechslungsreich und fesselnd sein kann, ist ein beglückendes Rätsel.

Das Andante (C-Dur) unterzieht ein volksliedhaftes Thema sechs ganz schlichten Variationen, von denen die ersten drei sich auf einfache figurale Umspielung beschränken, während die folgenden beiden die schon im Thema manifesten imitatorischen Möglichkeiten nacheinander in Dur und Moll skizzenhaft umreißen. Mit dem Minore ist auch die dramaturgische Mitte des ganzen Werkes und der einzige Moment drohender Vereinsamung erreicht; schon die folgende Schlußvariation zerstäubt diese Gefahr in einen schwerelos beschwingten Tanz. Auf diese Weise finden sich der dunkelste und der hellste Ton des Werkes in unmittelbarer Nachbarschaft und halten das Werk aus seiner Mitte heraus im Gleichgewicht.

Das abschließende Allegretto ist eine Siciliana in Rondoform. Das Ritornell ist auf naiv-raffinierte Weise phrasiert, in dem die Baßlinie im Wechsel von abschließenden Viertel- und Achtelnoten zwischen zögernder Frage und tänzerischem Schwung irisiert. Die beiden Rondo-Episoden sind in subtiler Antithese aufeinander bezogen, indem die erste, ein unmißverständlich „französisches“ Minore, der Siciliana empfindsame Töne entlockt, während die andere den eleganten metrischen Duktus des Satzes ganz verläßt, um uns auf einer „teutschen“ Tenne mit bäurischer Ausgelassenheit tanzen zu lassen. Die Coda ist in ihrem unprätentiosen Einfallsreichtum ein würdiger Schlußpunkt für Mozarts Klaviertriowerk. Wer sich erst einmal von der (in repräsentationshungrigen Zeiten gerne genährten) Erwartung gelöst hat, jede Werkgruppe im Schaffen eines Genies müsse auf ein alles zuvor Begonnene überragendes Erfüllungswerk zustreben (also etwa einem Pendant zu „Jupiter-Symphonie“ oder Requiem), wird die innige und unbeschwerte Einfachheit dieses Abschlußwerkes nicht als Schwäche, sondern als unverdiente Gnade erleben.

© by Claus-Christian Schuster

Mozart: Trio (Terzett) C-Dur KV 548

Wolfgang Amadeus Mozart

* 27. Jänner 1756
† 05. Dezember 1791

Trio (Terzett) C-Dur KV 548

Komponiert:Wien (Währinger Straße 26, Gartenhaus), beendet am 14. Juli 1788
Uraufführung:nicht dokumentiert
Erstausgabe:Artaria, Wien, 1788

Aus der Beschäftigung mit den diversen zu Mozarts Zeit verwendeten „ungleichschwebenden Temperaturen“ wissen wir, daß C-Dur zu den klassischen „akkordischen“ Tonarten gehört. Das sollte allerdings nicht zur Annahme verleiten, es handle sich dabei um eine „neutrale“ Allerweltstonart. Offensichtlich beinhaltete das ungleichschwebende C-Dur ein koloristisches Element, das es zum „Gegenbild“ des komplizierten E-Dur geradezu prädestinierte. Jedenfalls fällt auf, daß diese beiden Tonarten in drei Haydnschen Werkzyklen unmittelbar aufeinander folgen. Während in den Bartolozzi-Trios (Hob.XV:27-29) und den Esterházy-Sonaten (Hob.XVI:21-26) die Folge jeweils C-Dur/E-Dur ist, finden wir im ersten Zyklus der Tost-Quartette (Hob.III:57-59) ebenso wie einige Jahre später an einer sehr auffälligen Stelle der „Schöpfung“ die auch von Mozart für seine Trios gewählte Abfolge E-Dur/C-Dur: Zu Beginn des dritten Teiles schildert Haydn den Paradiesesmorgen (E-Dur), der Adam und Eva zu einem naiven Lobgesang (C-Dur) hinreißt. Nicht unähnlich der hier von Haydn verwendeten Dramaturgie führt auch bei unseren beiden Mozartschen Klaviertrios der Weg von E-Dur nach C-Dur aus einer Sphäre lyrischer Halbtöne in das volle Licht tätiger Zustimmung.

Das eröffnende Allegro läßt gleich mit seinem Kopfmotiv an Figaros „Non più andrai“ („…delle belle turbando il riposo…“) denken. Überhaupt scheint der ganze Satz von opernhafter Gestik und Mimik durchzogen zu sein – die charakteristische Tonwiederholung auf der Dominante, die zwischen Bangigkeit und Koketterie schwankt, unterstreicht das ebenso wie das klagende Seufzermotiv, das in der Durchführung neu hinzutritt und in der Reprise dann noch ein wehmütiges Echo findet. Zwischen diese primadonnenhaft kapriziösen Details schiebt sich aber immer wieder der zupackende Humor des Incipits, das auch die launige Coda dominiert.

Der zweite Satz, Andante cantabile (F-Dur), ist ein Sonatensatz mit einem Hauptthema von recht eigenwilligem Zuschnitt: Vordersatz und Nachsatz der eröffnenden Periode (Klavier solo) haben motivisch nur sehr wenig gemeinsam, dafür wird der Nachsatz von der Geige wiederholt, so daß sich rückblickend der Vordersatz fast wie ein enleitendes Motto ausnimmt. Das charakteristischste Detail dieses Mottos, eine sich aus dem rhythmischen Hauptmotiv anmutig lösende Skala in zierlichen Zweiunddreißigsteln, wird in der Durchführung auf eine weite modulatorische Reise geschickt, wobei ihm das Seitenthema als Weggefährte mitgegeben wird. An kontrapunktischer Originalität steht diese Durchführung derjenigen des analogen Satzes von KV 496 nicht viel nach. In der Reprise wird der Ablauf des Geschehens kurz vor Ende von einem „Seufzerdialog“ (zwischen Geige und Klavier) unterbrochen, der noch einmal, gleichsam von ferne, an die opernhaften Momente des Kopfsatzes erinnert.

Ein keckes Rondo im Sechsachteltakt (Allegro) beschließt das Werk – unter allen Klaviertriosätzen Mozarts sicher der übermütigste und brillanteste. Der formale Ablauf entspricht fast genau dem des Finales aus KV 542, doch ist die konzertante Weiträumigkeit des E-Dur-Satzes hier einer frechen Knappheit gewichen, die hervorragend zu dem vorlauten Ton des thematischen Materials paßt. In das Minore klingen zwar wie von ferne noch die Sospiri der vorangehenden Sätze hinüber, aber auf die Dauer vermag nichts, sich der ansteckenden Ausgelassenheit zu entziehen, mit der Mozart den Satz zu einem wirkungsvollen Abschluß bringt. Die Lausbübereien reichen buchstäblich bis zum letzten Ton: In der Schlußwendung wird das augenzwinkernd martialische Incipit des ersten Satzes noch in einer wie beiläufig angebrachten Umkehrung verspottet.

© by Claus-Christian Schuster

Mozart: Trio E-Dur KV 542

Wolfgang Amadeus Mozart

* 27. Jänner 1756
† 05. Dezember 1791

Trio E-Dur KV 542

Komponiert:Wien (Währinger Straße 26, Gartenhaus), beendet am 22. Juni 1788
Widmung:Michael Puchberg (1741-1822)
Uraufführung:privat wohl Ende Juni 1788 bei Michael Puchberg
(I., Hoher Markt)
erste dokumentierte (nicht gesicherte) öffentliche Aufführung:
Dresden, Hotel de Pologne, 13. April 1789
W. A. Mozart, Klavier
? Violine
Anton Kraft (1749-1820), Violoncello
Erstausgabe:Artaria, Wien, 1788

Der kompositorisch reichste Sommer in Mozarts Leben schenkte uns neben der Triade der letzten Symphonien auch die beiden Klaviertrios, die heute auf unserem Programm stehen. Über den schattenreichen biographischen Hintergrund dieser Monate haben wir schon in Zusammenhang mit Mozarts letztem Klaviertrio (G-Dur, KV 564) gesprochen, das als letzte Nachsommerfrucht diese unfaßbar reiche Schaffensperiode beschließt. Geldnöte, Krankheit, ungünstige politische und soziale Konstellationen bilden einen dissonanzenreichen Kontrapunkt zum Schaffensglück dieses Sommers und hängen wie dräuende Gewitterwolken über einem Erntetag.

Wie schon im vorangehenden Exkurs erörtert, ist das Trio KV 542 Mozarts einziges Werk in der Haupttonart E-Dur. Diese Tonart gehört in der ungleichschwebenden Stimmung zu den besonders „expressiven“, „gespannten“, was die Sparsamkeit ihrer Verwendung durch die Klassiker erklärt. Immerhin fällt auf, daß in Haydns Werk E-Dur zwar auch zu den selteneren Tonarten zählt, doch als Grundtonart mit einer ganzen Reihe gewichtiger Werke vertreten ist (je drei Streichquartette, Streichtrios und Klaviersonaten, je zwei Symphonien und Klaviertrios). Der Opernfreund wird sich aber unschwer an einige sehr bezeichnende und beziehungsreiche E-Dur-Momente auch in Mozarts Oeuvre erinnern: der gravitätisch-ehrfurchtsvollen (bzw. ehrfurchtgebietenden) Geste von Leporellos „O statua gentilissima“ und Sarastros „In diesen heil’gen Hallen“ steht die Naturpoesie zweier auch textlich verwandter Stellen in „Cosí fan tutte“ („Soave sia il vento“) und „Idomeneo“ („Zeffiretti lusinghieri“) gegenüber.

Dieses letzte Stück (KV 366/Nr.19 – Grazioso) führt uns recht nahe an die Stimmungswelt des Kopfsatzes (Allegro) unseres Trios. Hier wie dort wird die Atmosphäre von einem schwebenden Dreivierteltakt mit ausdrucksvollen chromatischen Wendungen getragen. Der weitgespannte Bogen des Hauptthemas, das in der Reprise noch eine sehr bemerkenswerte harmonische Bereicherung erfährt; das fast zerbrechliche Seitenthema, an dessen Ende das Cello eine verblüffende Rückung auslöst, die ihrerseits wiederum zu einem kontrapunktischen Geniestreich führt; und endlich die „empfindsam“ dahinsterbende Schlußgruppe, in der die alle Elemente verbindende chromatische Keimzelle offen zutage tritt – all das läßt den Satz in einem außergewöhnlichen, nicht alltäglichen Licht erscheinen.

Bei aller Skepsis gegenüber der müßigen Reminiszenzenjagd ist nicht zu leugnen, daß das folgende Andante grazioso (A-Dur) eine Zwillingsschwester des As-Dur-Andante aus der benachbarten Symphonie (Es-Dur, KV 543) ist: rhythmischer Duktus, melodische Gestik , bis hin zu einzelnen Wendungen – alles ist aus dem gleichen Holz geschnitzt. Und doch befinden wir uns hier in einer völlig anderen Welt, die freilich mit dem Gegensatz A-Dur/As-Dur nur ganz oberflächlich angedeutet werden kann. Vor Mozarts wirklich unerschöpflichem Erfindungsreichtum in der Harmonisierung des schlichten Rondothemas kann man nur sprachlos staunen. Die Rondoform ist übrigens wieder sehr frei behandelt: Die erste Episode ist nur ein reich ausgezierter Zwischensatz, das Minore variiert das Thema fast in der Art einer Durchführung, und die dazwischenliegenden Ritornelle sind miniaturhaft verkürzt, wodurch noch Raum für eine Coda gewonnen wird, in der Mozart sich selbst an harmonischem Einfallsreichtum noch einmal übertrifft.

Auch für den Finalsatz (Allegro), der erst im zweiten Anlauf seine uns bekannte Gestalt erhielt ( – im Autograph steht zwischen Andante und Finale ein 65 Takte langes Fragment des ursprünglichen Schlußsatzes im Sechsachteltakt – ), bedient sich Mozart der Rondoform, und wieder finden wir bestätigt, was wir bezüglich der formalen Verhältnisse zwischen dem 2. und 3. Satz des Trios B-Dur KV 502 schon feststellen konnten. Die Aufeinanderfolge zweier Sätze, denen das gleiche formale Grundschema zugrunde liegt, bedingt die Verwendung möglichst weit auseinanderliegender Varianten dieses Schemas. Folgerichtig finden wir in diesem herrlichen Schlußrondo die erste Episode betont konzertant ausgeprägt und das Minore mit besonders großer Selbständigkeit behandelt. Dem Formumriß ABACA-Coda des Andante ist hier die Gestalt ABACBA-Coda gegenübergestellt, worin sich noch über all diese Gewichtsverschiebungen hinaus die formale Eigenständigkeit der beiden Sätze manifestiert. In die Rückführung zum 2. Ritornell hat Mozart übrigens einen ganz köstlich „schrägen“ Querstand eingebaut (ich glaube fast, im Autograph das spitzbübische Vergnügen an diesem Streich graphisch ausgedrückt zu sehen!) – leider haben fast alle Ausgaben diese „Ungebührlichkeit“ des Meisters schamhaft wegretouchiert.

Aus dem Postscriptum des Briefes, mit dem Mozart seinem Logenbruder und Mäzen Michael Puchberg Mitte Juni 1788 seine Übersiedlung anzeigt: „Wann werden wir denn wieder bey ihnen eine kleine Musique machen?– Ich habe ein Neues Trio geschrieben!“ klingt schon die Vorfreude auf das Vergnügen, das Mozart sich und seinen Freunden mit diesem Werk zu bereiten gedenkt. Daß er dabei in besonderer Weise an Michael Puchberg gedacht hat, geht aus mehreren Briefstellen hervor, in denen das Werk als für Puchberg geschrieben bezeichnet wird. Wenige Wochen später bittet er seine Schwester, Michael Haydn zu sich nach St. Gilgen einzuladen und ihm seine – Mozarts – „Neuen sachen“ vorzuspielen: „…das Trio [KV 542], und quartett [KV 493] wird ihm nicht misfallen.“ Auf der Reise, die Mozart im darauffolgenden Frühling mit Fürst Carl Lichnowsky nach Prag, Dresden und Berlin führte, kam es in Dresden am 13. April 1789, am Vorabend von Mozarts Auftreten am Hof des Kurfürsten Friedrich August III. Von Sachsen, zur ersten datierbaren Aufführung des Werkes. Mozart wußte ganz offensichtlich, daß ihm mit diesem Werk ein auch in seinem Oeuvre nicht alltäglicher Wurf gelungen war. Nicht nur die meisten Mozartbiographen sehen in diesem Werk die Krönung von Mozarts Klaviertrioschaffen. Chopin schätzte das E-Dur-Trio ganz besonders und führte es etliche Male öffentlich auf.

© by Claus-Christian Schuster