Ives: Trio (1904/11)

Charles Ives

* 20. Oktober 1874
† 19. Mai 1954

Trio (1904/11)

Komponiert:New Haven, CT, 28. Juni 1904
Uraufführung:24. Mai 1948 Berea, Ohio
Baldwin-Wallace College Faculty Trio
George Poinar, Klavier
Esther Pierce, Violine
John Wolaver, Violoncello
Erstausgabe:Peer-Southern, New York, 1955

Dieses Werk, das fast ein halbes Jahrhundert auf seine „Entdeckung“ warten mußte, heute aber zu den außergewöhnlichsten Erscheinungen der Kammermusik unseres Jahrhunderts gezählt wird, ist eine durch und durch erstaunliche und verblüffende Schöpfung. Wohl selten zuvor hat ein junger Komponist Formenkanon und Gestaltungskonventionen einer ganzen Gattung mit so radikaler Nichtachtung gestraft und seinen eigenen Weg mit ähnlicher, an Tollkühnheit grenzender Sorglosigkeit verfolgt wie Ives in seinem einzigen erhaltenen Klaviertrio.

Dieser Mut hat bei Ives Methode: kaum eines seiner zahlreichen Werke, das nicht Neuland betritt, geheiligte Regeln verletzt und Tabus bricht. Der revolutionäre Impetus seiner Musik ist noch lange nicht verraucht, und das mag einer der Gründe dafür sein, daß man seine Werke nicht so oft gespielt wie seinen Namen zitiert hört. Vier Symphonien, zwei Orchestersuiten, vier Violinsonaten, drei Klaviersonaten, zwei Streichquartette und mehr als einhundertfünfzig Lieder bilden nur das Kernstück eines riesigen Oeuvres, dessen Entstehung uns ein Rätsel bleiben muß. Denn dieses nahezu unüberschaubare Lebenswerk entstand im wesentlichen im Laufe von nur etwas mehr als zwanzig Jahren ausschließlich in der karg bemessenen Freizeit, die Ives neben Aufbau und Leitung eines erfolgreichen Unternehmens (einer Lebensversicherung) blieb.

Warum ein musikalischer Kopf von solcher Eigenart und Unabhängigkeit die Musik nicht zu seinem Beruf machte, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Wahrscheinlich aber gab gerade seine Unabhängigkeit und sein unbändigerer Freiheitsdrang den Ausschlag für diese Entscheidung: Am Beispiel seines Vaters, George Edward Ives (1845-1894), auf dessen überragende Bedeutung für seine Entwicklung er nie müde wurde hinzuweisen, konnte der junge Ives in seiner Kindheit hautnah erleben, unter welchen Beschränkungen das Leben eines Musikers in einer sich stürmisch entwickelnden, jungen Industrienation, die den Künsten insgesamt bestenfalls dekorative Bedeutung beimaß, ablaufen mußte. George Ives war gegen die Traditionen der Familie, die fast ausschließlich aus geschickten Geschäftsleuten und brillanten Juristen bestand, Musiker geworden und wirkte in Danbury als Regens Chori, Kapellmeister, Organist und Musiklehrer. Trotz dieser vielfältigen Tätigkeit mußte er gegen Ende seines Lebens einen Posten in der von seinem Vater mitgegründeten örtlichen Bank annehmen, um seine Familie ernähren zu können. Charles, das jüngste von vier Kindern der Familie, muß das Schicksal des geliebten und bewunderten Vaters als ein schreiendes Unrecht empfunden haben. Als er selbst schließlich zu spätem und unerwartetem Ruhm als Komponist gelangte, war er rührend darauf bedacht, seinen Vater daran teilhaben zu lassen. Und in der Tat muß George Ives ein außergewöhnlicher Mensch gewesen sein: seinen Kindern versuchte er mithilfe eines selbstgebastelten Instrumentes, die Vierteltonmusik vertraut zu machen – daß das Singen von Vierteltonmelodien zuletzt nur mehr als Züchtigungsmittel eingesetzt wurde, zeigt, mit welch unvorhersehbaren Schwierigkeiten die akustische Bewußtseinserweiterung manchmal zu kämpfen hat. Unermüdlich war er bemüht, die Klänge, die ihn im Alltag umgaben – Kleinstadtlärm, Glockengeläute, Donner und Regen – in Musik zu übersetzen, wobei er zu ganz unerhörten Harmonien und Klängen vordrang, ohne allerdings je das Gebiet wirklicher Komposition zu betreten. Man hätte ihn einen Sammler und Erforscher von Klangphänomenen nennen können. Viel beredet und bestaunt wurden die Experimente, die er mit seinem Blasorchester anstellte (bewußte Einbeziehung von Raum und Entfernung, simultanes Spiel verschiedener Stücke etc.). Es ist dem jungen Charles nicht zu verdenken, daß er Horatio W. Parker, den in München bei Josef Rheinberger ausgebildeten Kompositionslehrer der Yale University, (auch wenn er ihm damit unrecht tat) im Vergleich zu seinem Vater für einen phantasielosen Reaktionär hielt und sich umso entschlossener von der von Parker verkörperten „akademischen“ Tradition nach deutschen Mustern abwandte.

Mit dieser brüsken Abkehr vollzog Ives einen Schritt, den Emerson schon zwei Generationen zuvor fast im Tone einer Kriegserklärung gefordert hatte:

„Our day of dependence, our long apprenticeship to the learning of other lands, draws to a close. We have listened too long to the courtly muses of Europe. […] We will walk on our own feet; we will work with our own hands; we will speak our own minds.“


(Ralph Waldo Emerson, The American Scholar, 1837)

Die (sich auch in seinen Kompositionen manifestierende) Verehrung, die Ives dem Dreigestirn der großen Neuengländer Emerson, Thoreau und Hawthorne entgegenbrachte, beruht vor allem darauf, daß er sich mit ihnen in diesem Punkte eines Sinnes wußte. Daß die Erfüllung der von Emerson erhobenen Forderung angesichts der zahllosen Verflechtungen und Bindungen, die die Neue Welt an die alte ketteten, nicht eben leicht war, hatte auch die zwischen Emerson und Ives liegende Generation erfahren müssen: Henry James machte diesen Konflikt zum Hauptthema seines Werkes. Doch die rasante wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der USA einerseits und die sich abzeichnenden revolutionären Umwälzungen in der europäischen Kulturlandschaft andererseits gaben diesem alten Konflikt für die Generation von Charles Ives eine ganz neue Brisanz. Die großen Amerikaner der Generation von 1870 (übrigens alle Neuengländer wie Ives) müssen ihn jeder für sich austragen – Isolation im eigenen Land oder Europäisierung heißt die Wahl, vor die sich viele von ihnen gestellt sehen. Ives wählt den Weg der totalen Isolation: selbst gute Bekannte haben oft keine Ahnung davon, daß der erfolgreiche Geschäftsmann Charles Ives auch komponiert. Der von Ives unter seinen Zeitgenossen am meisten verehrte Musiker, Carl Ruggles (1876-1971), ändert als junger Mann seinen Vornamen Charles aus purer Germanophilie; der Weg zu seiner eigenen Sprache ist so schwierig, daß seine Oeuvre am Ende eines fünfundneunzigjährigen Lebens gerade zehn Kompositionen umfaßt. Die Biographie des großen Lyrikers Wallace Stevens (1879-1955) liest sich wie eine Replik der Ivesschen – auch er flüchtet sich in die Mimikry seines Juristenberufes und wird Präsident einer Versicherungsgesellschaft. Robert Frost (1875-1963) führt nach Lehrjahren in England das zurückgezogene Leben eines neuenglischen Farmers. Nur der Maler Lyonel Feininger (1871-1956) wählt den Weg zurück in die Heimat seiner Eltern und wäre ohne den Terror des Dritten Reiches wohl nie mehr nach Amerika gekommen.

Schon wenige Wochen nach Abschluß seiner Studien an der Yale University (1894-1898) beginnt Ives seine Arbeit für die Mutual Life Insurance Company in New York. Zusammen mit einer Gruppe von Studienkameraden bezieht er „Poverty Flat“, die traditionelle New Yorker Unterkunft der Yale-Absolventen. Von seinen musikalischen Ambitionen und Fähigkeiten erfährt die New Yorker Öffentlichkeit nur am Rande: von 1900 bis 1903 wirkt er als Organist an der Central Presbyterian Church (57th Street).

Ende Juni 1904 kommt Ives zum Klassentreffen der Yale-Absolventen nach New Haven. Er sieht das altvertraute Treiben auf dem Campus, hört und singt die alten Lieder, Erinnerungen werden wach… Auf einem Blatt notiert er den Titel eines neuen Werkes:


Trio Yalensia et Americana (Fancy Names) Real name: Yankee jaws at Mr. Yale’s School for nice bad boys!!
Er beginnt die Komposition noch in New Haven mit dem Mittelsatz, dem Fence Medley, dem im darauffolgenden Herbst und Winter der erste Satz und wahrscheinlich eine erste Fassung des Finales folgen. Erst 1911 (Ives hat in der Zwischenzeit geheiratet und bewohnt jetzt in den Sommermonaten eine Villa in Hartsdale im Norden von New York) revidiert er das Werk und gibt ihm seine definitive Gestalt, in der es dann noch fast vier Jahrzehnte auf seine erste Aufführung wartete.

Der erste Satz (Moderato) führt uns zu einer Gruppe älterer Studenten, die auf der Umzäunung des Campus sitzen – „sitting on the Yale fence“ war ein Vorrecht, das den Freshmen verwehrt war. Ein alter Philosophieprofessor (nach der Meinung von Ives‘ Freund Edwards Park muß der Komponist an George T. Ladd gedacht haben) spricht sie an und führt mit ihnen ein kurzes und ernstes Gespräch. Diese Situation, die für eine musikalische Darstellung nicht eben prädestiniert erscheint, nimmt Ives zum Anlaß für ein originelles Experiment. Der musikalische Diskurs verläuft in vier unabhängigen Ebenen, zwischen denen weitverzweigte, aber relativ entfernte Beziehungen bestehen. Diese vier Schichten erklingen zuerst in zwei aufeinanderfolgenden Paaren: Klavierdiskant/Violoncello und Violine/Klavierbaß. Erst dann werden die vier Stränge zu einer Einheit verwoben, wobei nur ganz am Schluß zur Stärkung der Wirkung des Orgelpunktes auf C, der sich wider alles Erwarten am Ende doch noch in einen reinen C-Dur-Akkord fügt, drei Takte verdoppelt werden. Die Linearität dieses Vorganges kennt keine Kompromisse. Das Resultat sind komplizierteste rhythmische, harmonische und motivische Überlagerungen, die dem Gehör eine nicht leicht zu bewältigende, aber fesselnde und lohnende Aufgabe stellen – eine durchaus adäquate musikalische Beschreibung einer philosophischen Fragestellung.

Der zweite Satz (TSIAJ. Presto – Allegro moderato) trägt in der Skizze den Untertitel Medley on the Campus Fence – der Schauplatz ist also derselbe wie im ersten Satz. Der introvertierten und fast spekulativen Schau des Eröffnungssatzes steht aber hier ein Blick auf die überbordende Vitalität des Studentenlebens gegenüber. Die kryptisch erscheinende Abkürzung „TSIAJ“ bedeutet nichts anderes als „This Scherzo Is A Joke“. Obwohl die Essenz dieses „Spasses“ sich wohl nicht jedem Zuhörer gleich beim ersten Mal erschließt, wird man zugeben müssen, daß schon allein die Unbekümmertheit und Verwegenheit der Anlage geeignet ist, Vergnügen zu bereiten. Zum Thema des musikalischen Spasses bemerkt Ives bei anderer Gelegenheit in seiner ruppig-lakonischen Art:

„…It may not be a good joke, (but) the joke of it is: if it isn’t a joke, it isn’t anything.“


(Ives, Memos, m34v)

Nicht weniger als dreiundzwanzig Zitate bilden das Rohmaterial dieses Satzes; vier davon konnten bis jetzt noch nicht identifiziert werden, und es ist durchaus möglich, daß Ives, erfinderisch und schelmisch wie er war, einige weitere so gut versteckt hat, daß wir sie bis jetzt noch nicht gefunden haben. Um den nicht nur musikalischen Humor dieses Pasticcios würdigen zu können, ist es vielleicht hilfreich, die zitierten Melodien (in der Reihenfolge ihres jeweils ersten Erscheinens) aufzulisten:

I (Takt 16-42 Vl.) : A band of brothers in DKE / We march along tonight (DKE-Song)
II (Takt 43-47 Vl. & 107-111 Vlc.): Henry Clay Work – Marching Through Georgia
III (Takt 47-63 Vl.): Few Days (Psi-U-Song)
IV (Takt 64-67 Vl.): (Portrait eines hinkenden Mannes)
V (Takt 68-83 Klav., rechte Hand): Stephen Collins Foster – My Old Kentucky Home („The sun shines bright…“, 1853)
VI (Takt 68-83 Vlc.): That Old Cabin Home Upon The Hill (Verszeile: Far away in the South)
VII (Takt 84-85 & 200-201 Klav.): Joseph Philbrick Webster – In the sweet by and by („There’s a land that is fairer than day…“)
VIII (Takt 88-91 Vlc.): David W. Reeves – Second Regiment Connecticut National Guard March (Quickstep)
IX (Takt 89-92 Vl.): Sailor’s Hornpipe
X (Takt 93-106 Vl.): unidentifiziert
XI (Takt 93-107 & 114-120 Klav., rechte Hand; 107-114 Vl.): unidentifiziert
XII (Takt 107-114 Vlc.): unidentifiziert
XIII (Takt 118-119 & 149-153 Vl.): Pig-Town Fling
XIV (Takt 119-120 Vlc.): The Campbells Are Coming
XV (Takt 120-124c Vl.): Thomas Haynes Bayly – Long, long ago… [Lang, lang ist’s her („Sag‘ mir das Wort, das so gern ich gehört…“), Gedicht von Robert Burns]
XVI (Takt 124c-129 Vl. & Vlc., kanonisch): How Dry I Am (Parodie auf die Revival-Hymne „O Happy Day“)
XVII (Takt 130 Vl. & Vlc., bitonal): Ta-ra-ra-boom-de-ay
XVIII (Takt 145-147 Vl.): Daniel D. Emmet – Dixie Land (1859)
XIX (Takt 163-168 Klav., rechte Hand): unidentifiziert
XX (Takt 169-175 Klav., linke Hand): Hold The Fort
XXI (Takt 173 Vlc.): Reuben and Rachel
XXII (Takt 178-187 Klav.): unidentifiziert (Wolf’s Head Song)
XXIII (Takt 188 Klav.): Lowell Mason (?) – Cleansing Fountain („There is a fountain filled with blood…“, Wolf’s Head Song)


Es ist der Nachmittag eines Festes, und auf dem Campus tummeln sich Horden ausgelassener Studenten. Ihre Lieder und Spiele sind nicht alle von der vornehmsten Art. Ives hat den rauhen und burschikosen Umgangston in entwaffnend „realistischer“ Weise Musik werden lassen: auch musikalisch herrscht hier das Recht des Stärkeren. Eine Melodie verdrängt die andere, Rhythmen und Tonarten verwirren sich zu chaotisch anmutenden Gebilden, dröhnendes Schlagzeug, schmetterndes Blech und frenetisches Gefiedel wollen einander übertrumpfen. Aber obwohl der erste Höreindruck vielleicht Willkür und Zufälligkeit suggeriert, herrscht in diesem Tohuwabohu eine recht genau kalkulierte Ordnung. Denn wenn auch die verwendete Collagetechnik die Verwendung eines traditionellen Formschemas unmöglich macht, so gelingt es Ives doch, erkennbare Gliederungselemente einzuführen, ohne der Musik ihre elementare Unmittelbarkeit und ihren bissigen Humor zu rauben. Dem Pasticciocharakter des Satzes entsprechend konnten diese strukturierenden Elemente natürlich nicht vorwiegend thematischer Art sein; Ives verwendet daher andere gliedernde Parameter, wie Tempo, Dynamik und Textur. Sparsam eingesetzte thematische Querbezüge geben der so gewonnenen Gestalt nur noch zusätzliches Relief.

Die Großgliederung wird durch markante Tempowechsel erzielt: Anfang und Ende des Satzes werden von zwei kurzen Prestoabschnitten gebildet (der abschließende klingt in etwa wie eine von George Grosz gezeichnete Karikatur des Trios aus dem Scherzo der VII. Symphonie von Beethoven). Der dazwischen liegende Hauptteil des Satzes (Allegro moderato) wird an zwei Stellen von einem kurzen Adagio-Passus (Zitat VII) unterbrochen, der das zweite Mal (unmittelbar vor dem Schluß-Presto) in eine Klavierkadenz mündet. Das hier in einer Aura bedeutungstiefer Hintergründigkeit zitierte Lied, Websters „In the sweet by and by“, ist kurioserweise Gegenstand einer Begebenheit, die Ives etliche Jahre nach der Komposition des Trios tief beeindruckte: Als sich in New York die Kunde von der Versenkung der Lusitania (7. Mai 1915) verbreitete, wurde Ives Zeuge, wie die Passagiere eines U-Bahn-Zuges als Ausdruck ihrer Betroffenheit spontan dieses Lied anstimmten – nicht laut und demonstrativ, sondern still und nachdenklich, genauso, wie es auch inmitten des lärmenden Übermutes unseres Satzes erscheint. (Ives hat dieses spätere Erlebnis dann im letzten Satz seiner Zweiten Orchestersuite musikalisch nacherzählt.)

In den beiden durch das Webster-Zitat voneinander getrennten Hauptteilen des Satzes verzichtet Ives im wesentlichen auf dynamische und agogische Gliederung. Die Binnenstruktur dieser Teile ergibt sich in erster Linie durch die Art des Umganges mit den gewählten Zitaten. In beiden Teilen werden nämlich vollständig zitierte Melodien (im ersten Teil: Zitate I, V/VI; im zweiten Teil: Zitate XXII und XXIII) kaleidoskopartigen Abschnitten mit einer Vielzahl ineinander greifender Melodiefragmente gegenübergestellt. Während Ives für die vollständigen Zitate großflächige, rhythmisch stabile und klangmalerische Begleittexturen verwendet, greift er in den „fragmentierten“ Passagen, der Instabilität und Flüchtigkeit des thematischen Materials entsprechend, zu polyrhythmischen und polytonalen Formulierungen. Es sind vor allem diese Momente mit ihrer Überfülle an widersprüchlichen Klangreizen und Irritationen, die dem Satz auch hundert Jahre nach seinem Entstehen seine provokante Brisanz und unbekümmerte Frische bewahrt haben.

Doch auch die Zitate selbst folgen einer – wenn auch alles anderen als klaren und strengen – inneren Dramaturgie. Die Umrahmung des Pasticcios bilden ausgesprochenen Yale-Lieder: Das erste (I) ist die „inoffizielle Hymne“ der sophomore society DKE (einer Art Geheimverbindung von siebzehn durch Wahl bestimmten Studenten des zweiten Studienjahres); die letzten beiden (XXII, XXIII) sind Erkennungslieder der senior society „Wolf’s Head“, deren Mitglied Ives war. (Die Zugehörigkeit zu einer der drei senior societies erscheint vielen Yale-Studenten erstrebenswerter als ein noch so brillanter Studienerfolg; die Wahl in diese Verbindungen, in die nur je fünfzehn Studenten des vierten Studienjahres aufgenommen werden, gilt als besondere Auszeichnung.) Zitat VIII, mit dem der zweite Hauptteil eröffnet wird, war die traditionelle „Schlachthymne“ Yales bei sportlichen Wettbewerben. Fosters berühmtes „Old Kentucky Home“ (Zitat V) bildet schließlich das Herzstück des Medleys: Das ihm gleichsam dienend unterlegte „Old Cabin Home“ (Zitat VI) unterstreicht seine besondere Bedeutung ebenso wie die fast sakral anmutende Wiederaufnahme seiner Schlußwendung in den beiden Adagio-Momenten. Diese auszeichnende Behandlung von Fosters wohl berühmtestem Lied kommt nicht von ungefähr: Der Autodidakt Stephen Collins Foster (1826-1864) war für Ives eine wichtige Identifikationsfigur, in der sich Möglichkeiten und Aufgaben einer eigenen amerikanischen Musikkultur kristallisierten. In seinen Schriften nennt Ives ihn an mehreren Stellen in einem Atemzug mit Bach und Schubert – eine Wertschätzung, die vielleicht auch gleich das entrüstet-mißbilligende Kopfschütteln der von Ives mit unermüdlicher Inbrunst verachteten „nice ladies“ mit einkalkuliert.

Während der zweite Satz, der ja den Ausgangspunkt des ganzen Werkes darstellt, (mit Grabbe zu reden) ganz Scherz, Satire und Ironie zu sein scheint, kommt im Schlußsatz (Moderato con moto) wieder die tiefere Bedeutung zu ihrem Recht. Die Erinnerung an einen Sonntagsgottesdienst in Dwight Hall gab Ives den Anstoß zur Komposition dieses Satzes. Folgerichtig bilden zwei Zitate geistlicher Musik die Angelpunkte des Stückes.

Eines davon ist ein Selbstzitat: 1896 hatte Ives für den Yale Glee Club eine großangelegte geistliche Kantate unter dem Titel The All-Enduring geschrieben. Der Chor, der anspruchslosere Werke des jungen Komponisten (wie etwa The Bells of Yale) schon in sein Repertoire aufgenommen hatte, zeigte aber kein Interesse an einer Aufführung. Wie so oft bei Ives gelangten daraufhin einzelne Teile dieses Werkes nach mehreren Metamorphosen in andere Kompositionen, und so findet sich an zentraler Stelle des Schlußsatzes unseres Trios ein 35 Takte langer Passus der Solostimme von The All-Enduring als Kanon zwischen Geige und Violoncello wieder. (Reminiszenzenjäger dürfen sich hier an einer grotesken und hintergründigen Vorausahnung erfreuen: der Komponist der ehemaligen sowjetischen Nationalhymne hätte jedenfalls Mühe gehabt, die unüberhörbare Nähe seines Themas zu dem religiösen Werk eines amerikanischen Kapitalisten zu rechtfertigen… – aber auch diese Notwendigkeit gehört ja, Gott sie Dank, inzwischen der Vergangenheit an.)

Das zweite Zitat des Satzes ist ein Klassiker der amerikanischen Kirchenmusik: Rock of ages, cleft for me von Thomas Hastings auf die Verse von Augustus M. Toplady (1830). Dieses Zitat bildet den vieldeutigen Abschluß des Werkes; der von Ives dazu erfundene Kontrapunkt ist in variierter Gestalt schon an mehreren Stellen der vorangehenden Sätze erschienen und stellt also ein werkübergreifendes Leitmotiv dar, das erst am Schluß seine wahre Funktion offenbart. Schon daraus kann man ersehen, daß diesem Rock of ages besondere Bedeutung zukommt – es ist übrigens das einzige Zitat des ganzen Werkes, das Ives selbst expressis verbis als solches gekennzeichnet hat. Der auf diese Weise geehrte Komponist, Thomas Hastings (1784-1872), stammte ebenso wie Ives aus Connecticut, und auch er verbrachte den größten Teil seines Lebens in New York – im Gegensatz zu seinem gleichzeitig kühneren und unentschlosseneren Landsmann allerdings als professioneller Musiker.

Das Gewicht der beiden Zitate wird durch ihre Stellung im formalen Ablauf des Satzes betont: The All-Enduring definiert genau die Mitte dieser komplizierten Architektur, während Rock of ages durch die suggestive und wiederholte Vorwegnahme des dazugehörigen Kontrapunktes sich als ihr vieldeutiger Fluchtpunkt (in der perspektivischen und der metaphysischen Bedeutung des Wortes) zu erkennen gibt. Hinter dem Reichtum des verwendeten thematischen Materials und seinen vielfachen Verschränkungen kann man die zugrundeliegende „Urform“ ABCAB kaum noch erkennen; sie ist aber an der genau kalkulierten Proportionierung der Eckteile A und B (je 45 Takte) nachweisbar. Diese Teile sind in sich reich gegliedert: A umfaßt eine Quinten-Fanfare als Eröffnungsmotiv und ein inniges Gebet, das in der Mitte von B, umrahmt von einem (den folkloristisch-heiteren Charakter des Scherzos in gezähmter Form wiederaufnehmenden) bitonalen Kanon, wiederkehrt. Am Ende von B steht jeweils der Rock of ages-Kontrapunkt, dem zuletzt dann das eigentliche Zitat folgt. Der Mittelteil (The All-Enduring) stellt mit seiner fast opernhaften Rhetorik eine unerwartete Verbindung zu Wagner und Strauss her – es ist, trotz aller verfremdenden Elemente, der einzige Passus des Werkes, den man „spätromantisch“ nennen könnte. Gerade solche Momente lassen das Innovative an Ives‘ „eigener“ Tonsprache noch kostbarer und noch zwingender erscheinen.

Ein deutscher Geiger, dem Ives im August 1914 seine Musik zeigte, hielt sich nach einer Weile die Ohren zu und rief verzweifelt aus: „Wenn man unverdauliches Zeug in den Magen bekommen hat, so kann man es wieder loswerden – aber ich bekomme diese schrecklichen Klänge nicht mehr aus meinen Ohren!“ An Reaktionen dieser Art mußte Ives sich im Laufe seines Lebens gewöhnen. Er wollte mit seiner Musik die erschlafften Muskeln einer betulich schöngeistigen Zuhörerschaft zu neuer Tätigkeit anregen, die Ohrenmuskeln, die Kopfmuskeln, die Herzmuskeln und die Seelenmuskeln. Diese Art geistiger Gymnastik ist auch nach einem Jahrhundert der Experimente noch nicht überflüssig. Ives selbst ist jedenfalls auf diese Weise jung geblieben. Sein Mut und Witz, seine Naivität und Neugier sind für offene und unvoreingenommene Ohren noch immer frisch und ansteckend. „This may not be a nice way to write music, but it’s one way! – and who knows the only real nice way?“

© by Claus-Christian Schuster