Brahms: Trio Nr.1, H-Dur, op.8 (Fassung 1854)

Johannes Brahms

* 7. Mai 1833
† 3. April 1897

Trio Nr.1, H-Dur, op.8 (Fassung 1854)

Komponiert:Hannover, beendet am 31. Jänner 1854
Uraufführung:Gdansk (Danzig), Gewerbehaussaal, 13. Oktober 1855
Hr. Haupt, Klavier
Hr. Braun, Violine
Hr. Klahr, Violoncello
Erstausgabe:Breitkopf & Härtel, Leipzig, November 1854

In Brahms´ Nachlaß hat sich ein Konzertprogramm aus den Hamburger Jugendtagen des Meisters erhalten, das eine eigentümliche Besonderheit aufweist: Zur Silberhochzeit des Klavierfabrikanten Schröder wurde am 5. Juli 1851 in einem Privatkonzert unter anderem ein Trio des in keinem Lexikon verzeichneten Komponisten „Karl Würth“ vorgetragen; neben dem Pianisten Johannes Brahms wirkten die Herren Gade (nicht Niels Wilhelm, sondern sein Hamburger Namensvetter und Jahrgangskollege Johann Gade, 1817-1898) und d´Arien an dieser Aufführung mit. Brahms hat auf diesem Programmzettel seinen eigenen und den angeblichen Namen des Komponisten mit einer Bleistiftmarkierung verbunden – der früheste uns erhaltene Hinweis auf eine Brahmssche Klaviertriokomposition. Trotzdem darf man bezweifeln, daß es sich hier um sein erstes Trio gehandelt hat; und ganz sicher wissen wir, daß Brahms auch in den Jahren zwischen dieser ersten dokumentierten Trioauffführung und dem Erscheinen des H-Dur-Trios in Klaviertrios geschwärmt hat. Eines dieser Werke ist uns wenigstens dem Namen nach bekannt: Es ist jene Phantasie in d-moll (Largo und Allegro), die der Komponist am Nachmittag des 4. Oktober 1853 im Hause Schumann spielte, wo sie die Nachbarschaft des Schumannschen Opus 110 aushalten mußte. Schumanns Anerbieten, die Triophantasie zusammen mit einer Reihe weiterer Werke bei Breitkopf & Härtel zum Druck zu empfehlen, bringt den Autor in einige Verlegenheit, in der er sich ratsuchend an Joseph Joachim wendet:

„Lieber Joseph!
Dr. Schumann betreibt meine Sachen bei Breitkopf & Härtel so ernstlich und so dringend, daß mir schwindlich wird. Er meint, ich müsse in sechs Tagen die ersten Werke hinschicken.
Der Mannigfaltichkeit wegen schlägt er mir folgendes Programm vor:
op.1. Phantasie in d moll für Piano, Violine und Cello (Largo und Allegro)
op.2. Lieder
op.3. Scherzo in es moll
op.4. Sonate in C dur
op.5. Sonate in a moll für Piano und Geige
op.6. Gesänge
Schreibe mir doch deutlich Deine Herzensmeinung darüber. Ich weiß mich gar nicht zu fassen. Ob das Trio (Du erinnerst es wohl) der Veröffentlichung wert ist? Erst op.4 ist ganz nach meinem Geschmack. Aber freilich meint Schumann, man müsse mit den schwächeren Werken anfangen. Da hat er recht, entweder damit anfangen, oder sie ganz fortlassen und streben, hernach nicht zu fallen.
Die fis moll [Sonate] und das Quartett in h, meint der Dr., könnte jedem Werk nachfolgen.
Wenn das Trio abgeschrieben ist, möchte ich es Dir wohl hinschicken; daß ich einige Schwächen geheilt habe, versteht sich von selbst…“
(Düsseldorf, 17. Oktober 1853)

Dieser Brief ist ein bemerkenswertes und aufschlußreiches Dokument: Er bewahrt nicht nur die (uns Kinder einer weniger verschwenderischen Zeit wehmütig stimmende) Spur einiger offenbar durchaus präsentabler Jugendwerke des Meisters – neben der Trio-Phantasie einer frühen Geigensonate und eines Streichquartetts –, er beweist auch, daß schon der Zwanzigjährige über ein erstaunliches Maß an Selbstkritik und Unabhängigkeit des Urteils verfügte. Denn wie wir wissen, ist Brahms dem Schumannschen Publikationsplan ja keineswegs gefolgt: Nicht nur hat er die (offenbar auch von Schumann zunächst als das vergleichsweise unreifste Werk beurteilte) Phantasie völlig fallengelassen, er hat auch von Schumann besonders hochbewertete Werke (Geigensonate, Streichquartett) ungedruckt gelassen. Und das „Streben, hernach nicht zu fallen“ könnte überhaupt als Motto über dem Brahmsschen Gesamtwerk stehen, das – was die Klarheit und Strenge des in ihm verwirklichten Wertmaßstabes anlangt – in der uns bekannten Musikgeschichte seinesgleichen nicht hat.

In einem Gespräch mit seinem späteren Biographen Max Kalbeck hat Brahms 1885 diese rigorose Selbstkritik humorvoll verniedlichend als „Respekt vor der Druckerschwärze“ apostrophiert und auf Kalbecks Frage nach den unschuldigen Opfern dieser Strenge gesagt:
„Das Zeug ist alles verbrannt worden. Die Kisten mit den alten Skripturen standen lange in Hamburg. Als ich vor zwei oder drei Jahren dort war, ging ich auf den Boden – die ganze Kammer war aufs schönste mit meinen Noten tapeziert, sogar die Decke. Ich brauchte mich nur auf den Rücken zu legen, um meine Sonaten und Quartette zu bewundern. Es machte sich sehr gut. Da hab´ ich alles heruntergerissen – besser, ich tu´s, als andere! – und auch das übrige mitverbrannt…“
Dieses Autodafé hat wohl Anfang April 1883, kurz vor Brahms´ fünfzigstem Geburtstag stattgefunden. Ob neben den schon erwähnten Triokompositionen auch das in einem Bonner Nachlaß in Kopie aufgefundene und 1925 als anonyme Komposition „uraufgeführte“ A-Dur-Trio unter diese von Brahms verworfenen Werke zu zählen ist, wie seine Herausgeber (Ernst Bücken und Karl Hasse, 1938) meinten, wird wohl nie mehr eindeutig zu klären sein. Die der Ausgabe zugrundeliegende Abschrift ist in den Kriegswirren verloren gegangen, und so leidenschaftlich das Pro und Contra von Brahms´ Autorschaft in der einschlägigen Diskussion seither auch verfochten wird, muß man doch zugeben, daß die Argumente beider Seiten einander ziemlich die Waage halten. Sollte dieses Trio aber doch ein Brahmssches Jugendwerk sein, so wäre es zeitlich wohl zwischen dem Hamburger Trio und der verworfenen Phantasie einzureihen.

Von Hannover aus, wohin sich Brahms im Gefolge seines Freundes Joseph Joachim am 3. November 1853 nach den an Eindrücken und Erschütterungen so überreichen Wochen bei Robert und Clara Schumanns in Düsseldorf zurückgezogen hat, bekräftigt der junge Komponist in seinem Dankesschreiben an Robert Schumann (vom 16. November) den inzwischen gereiften Entschluß: „Ich denke keines meiner Trios herauszugeben.“ Es ist sehr leicht möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß zu dieser Zeit der Plan zu einem neuen Klaviertrio schon herangereift ist. Doch die Zeit zur Niederschrift der andrängenden Ideen ist noch nicht gekommen. Den Großteil der vorweihnachtlichen Zeit muß Brahms in Leipzig verbringen, wo er die Verhandlungen mit seinen Verlegern zum Abschluß bringt und sich der durch Schumanns Artikel neugierig gemachten Leipziger Öffentlichkeit als Komponist und Pianist vorstellt. Viele der für des Komponisten weiteres Leben wichtigen Freundschaften und Beziehungen gehen auf diese ersten Leipziger Tage zurück. Die Festtage verbringt Brahms dann in gehobener Stimmung im Kreis seiner Familie in Hamburg: Er, der vor acht Monaten nicht viel anders als ein fahrender Handwerksbursche von zuhause aufgebrochen ist, kehrt als strahlender Sieger mit seinen ersten gedruckten Kompositionen und begleitet von der erwartungsvollen Neugier der großen musikalischen Welt zurück.
Doch das Werk drängt ans Licht. Schon am 3. Jänner 1854 ist Brahms wieder in Hannover. Er hat sich ein Domizil gemietet, das – auch wenn es kein Spitzwegsches Dachstübchen ist – einem Kreisler junior recht gut als musikalisch-poetisches Laboratorium dienen kann. Max Kalbeck beschreibt das Haus in einer Weise, die einen heutigen Hannoverbesucher recht wehmütig stimmen könnte:
„Vor dem Egidientore standen, zwischen Obstgärten und Äckern verloren, einzelne Häuser, die einmal für die Günstlinge oder Favoritinnen des Fürstenhauses und -hofes gebaut worden waren. Das einstöckige, vier Fenster breite Häuschen am Papenstieg Nr.4 versteckte sich förmlich hinter den Zweigen der alten Apfel- und Nußbäume, so daß man es von der Stadt aus kaum sah. Ein eigener Schleichweg führt auch heute [1903] noch vom Papenstieg aus zu der ehemaligen Solitude, und die beiden Säulen mit ägyptischen Lotoskapitälen, die den Haupteingang noch immer schmücken, Träger eines lebensgefährlichen Miniaturbalkons und gleich diesem selbst aus Holz gearbeitet, verraten, seitdem Stuck und Kalk von ihnen abfielen, wie billig die Tempel waren, welche von vornehmen Herren der empfindsamen Restaurationszeit einer Mondgöttin oder Priesterin der Isis gestiftet wurden.“

Dieses Bild mag einen daran erinnern, daß die Bamberger Erstausgabe der Hoffmannschen Kreisleriana, Brahms´ Lieblingsbuch, ein Vorwort von Jean Paul begleitet hat…
In dieser idyllischen Umgebung muß in den folgenden Wochen der Großteil des neuen Klaviertrios zu Papier gebracht worden sein. Am 19. Jänner treffen Clara und Robert Schumann in Hannover ein. Clara findet den Freund merkwürdig verändert:
„Brahms fällt uns durch seine Schweigsamkeit auf. Er spricht fast gar nicht, oder tut er es zuweilen, so geschieht es so leise, daß ich es nicht verstehen kann. Er hat gewiß seine geheime innere Welt – er nimmt alles Schöne in sich auf und zehrt nun innerlich davon.“
(Tagebuch, 21.(?) Jänner 1854)

Trotz der Turbulenzen rund um Claras Konkurrentin Wilhelmine Clauß (Robert: „ein kleiner Anmuthteufel“) verbringen die Freunde angeregte und musikerfüllte Tage miteinander. Am 30. Jänner treten die Schumanns dann die Heimreise an. Robert Schumann und Johannes Brahms ziehen sich wieder in ihre geheime innere Welt zurück – dieser zur Vollendung seines Klaviertrios, jener um nicht wieder zurückzukommen.

Clara hatte recht: Alles Schöne, aber auch alles Erschütternde, was Brahms in den wenigen Monaten seit seinem Aufbruch aus Hamburg zu erleben beschieden war, war ihm innerliche Zehrung – und alles findet seinen Widerhall in diesem staunenswerten Opus 8. Brahms verweigert dem Werk zwar – anders als seine tschechischen Nachfolger Smetana und Janacek – einen verräterischen Titel, aber auch ohne solche äußere Hinweise ist hier alles beredt. Um in diesem Tagebuch lesen zu können, hätte es nicht einmal der vielsagenden musikalischen Zitate bedurft; aber es erstaunt uns nicht, daß auch diese der späteren Umarbeitung, die ja im Konzertbetrieb seit langem die heute gespielte Urfassung verdrängt hat, zum Opfer fallen mußten. Denn der Komponist von 1889 war schon lange nicht mehr jener „Johannes Kreisler jr.“, als welcher der Brahms von 1854 firmierte. Gerade deshalb wird ja der unvergängliche Eigenwert der ursprünglichen Fassung durch die „Ausgabe letzter Hand“ (die doch im eigentlichsten Sinne eine Neukomposition unter Verwendung alter Materialien ist) durchaus nicht berührt; und die gängige Praxis, die das Frühwerk nur als Curiosum gelten lassen will, ist sehr im Irrtum.

Zwar meinte E.T. A. Hoffmanns Johannes Kreisler:
„Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußern Sinnenwelt, die ihn umgibt und in der er alle bestimmten Gefühle zurückläßt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben.
Habt ihr dies eigentümliche Wesen auch wohl nur geahnt, ihr armen Instrumentalkomponisten, die ihr euch mühsam abquälet, bestimmte Empfindungen, ja sogar Begebenheiten darzustellen?“
– und sicher hätte unser Kreisler jr. (wie er ja auch später in seiner Haltung gegenüber der Programmusik der Neudeutschen Schule bewiesen hat) ganz ähnlich argumentiert; aber so wie Hoffmanns Kreisler schon einige Zeilen weiter von grünen Hainen, lachenden Kindern und dem Glanz des Abendrots schreibt, die ihm die Haydnschen Symphonien vor Augen führen, ebenso hätte auch Brahms sicher nicht geleugnet, daß Musik – selbst dort, wo sie sich nicht einfach in ein illustratives Verhältnis zu einem konkreten „Programm“ begibt – befähigt und sogar berufen ist, Eindrücke der äußern Sinnenwelt samt den von diesen ausgelösten bestimmten Gefühlen in uns wachzurufen. Vielleicht würde Brahms, trotz seiner schwärmerischen Verehrung für E. T. A. Hoffmann, letztlich doch Felix Mendelssohn zugestimmt haben, der einmal sagte, die von der Musik vermittelten Gefühle seien nicht zu vage, sondern, im Gegenteil, zu bestimmt, um in Worte gefaßt werden zu können?

Doch eben deshalb halte ich den Versuch, das musikalische Tagebuch, als welches sich das H-Dur-Trio leicht zu erkennen gibt, mit der Geschichte des Brahmsschen Wanderjahres illustrieren zu wollen, für ein problematisches und letzlich auch müßiges Unterfangen. Nichts in diesem Werk braucht und nur weniges duldet eine Erklärung. Auf diese wenigen Details will ich mich hier beschränken.

Im ersten Satz (Allegro con moto) wird auch einen mit der Spätfassung des Werkes nicht vertrauten Hörer der offene Widerspruch zwischen dem verschwenderisch blühenden Hauptthema und dem asketischen Seitenthema frappieren: Dem flächig-akkordischen Satz des ersten steht die karge Einstimmigkeit des zweiten unvermittelt gegenüber. Trotz des leicht nachvollziehbaren motivischen Zusammenhanges zwischen den beiden Themen ist es völlig unmöglich, diesen Bruch zu überhören. Erst im Laufe der weiteren Entwicklung des Seitenthemas wird es zögernd kontrapunktisch bereichert, verharrt aber in seiner lugubren Linearität. Eine überraschende Mediantrückung bringt schließlich einen unverhofften Stimmungswechsel, mit dem der zweite Teil des Seitensatzes sich lichteren und freundlicheren Regionen zuwendet. Der klagend-fallende Duktus der Gis-moll-Episode weicht in diesem E-Dur-Abschnitt („dolce, poco scherzando“) einer kindlich-vertrauensvollen Stimmung, die durch steigende Wendungen geprägt ist. Trotzdem bleibt auch hier das instrumentale Gewand betont schlicht. Vor allem die auffällige Sparsamkeit des über weite Strecken einhändig ausführbaren und bis gegen Ende des Maggioreteiles auf die tieferen Register beschränkten Klaviersatzes bewirkt, daß über den Charakter- und Tonartenwechsel hinweg die Einheit des Seitensatzes gewahrt bleibt.
Dieser bemerkenswerte Zug, zu dem es im erhaltenen Frühwerk Brahms´ keine Parallele gibt, ruft mir eine sehr einprägsamen Passage in den Hoffmannschen Kreisleriana in Erinnerung. Das im vierten Band der Fantasiestücke in Callots Manier enthaltene Kreislerianum Kreislers musikalisch-poetischer Clubb berichtet von der ungeschickten Neugier eines der um das Klavier versammelten Freunde des exzentrischen Musikers:
„…damit steckte er ausdrücklich das Licht an, welches sich auf dem breiten Schreibeleuchter befand, und forschte, ihn über die Saiten haltend, sehr bedächtig nach dem invaliden Hammer. Da fiel aber die schwere, auf dem Leuchter liegende Lichtschere herab, und, im grellen Ton aufrauschend, sprangen zwölf bis fünfzehn Saiten.“
Die anschließende Diskussion der Freunde, die sich um den erhofften musikalischen Genuß gebracht sehen, beendet Kreisler selbst mit den Worten:
„Und ich will doch phantasieren… im Baß ist alles ganz geblieben, und das soll mir genug sein.“
Gleich zu Beginn der nun folgenden Phantasie, die der verrückte Kapellmeister mit schwärmerischen Deklamationen begleitet, erscheint die Akkordfolge as-moll (was enharmonisch dem Brahmsschen gis-moll entspricht) – E-Dur. Die erste Harmonie läßt Kreisler von Sehnsucht und Schmerz sprechen, während ihn die zweite zu dem Ausruf hinreißt:
„Frisch auf, mein wackrer Geist! – rege und hebe dich empor in dem Element, das dich gebar, das deine Heimat ist!“

Trotz der erkennbaren Berührungspunkte zwischen dem Hoffmannschen Text und der Brahmsschen Musik (Tonartenfolge, Charakter, Aussparung des Klavierdiskants), muß man wohl nicht betonen, daß Brahms – auch wenn meine Assoziation nicht ganz unbegründet sein sollte – keinesfalls eine musikalische Textillustration angestrebt haben kann; denn jenseits der aufgezeigten Entsprechungen gibt es rein gar nichts, was die Vermutung zuließe, wir wären hier auf der Spur eines „Programms“. So wenig Hoffmann seine dichterische Phantasie befähigte, in Tönen ähnliche Wirkungen hervorzubringen wie in Worten, so wenig bedurfte Brahms der Krücke eines dramaturgischen Leitfadens, um seine musikalischen Ideen zu entwickeln. Dennoch wäre es denkbar, daß wir es an dieser Stelle – in Analogie zu den später ebenfalls ausgemerzten musikalischen Zitaten der letzten beiden Sätze – ganz einfach mit einer (dem engsten Kreis der Freunde vielleicht verständlichen) literarischen Anspielung zu tun haben, die der strengeren und gereifteren Ästhetik des Meisters entbehrlich erscheinen mußte.
Da das im Seitensatz aufgestellte Themenmaterial den weiteren Verlauf des Satzes diktiert, zog seine Eliminierung 1889 die Neukomposition des Satzganzen nach sich. Vielleicht ist die noch immer Erstaunen auslösende Radikalität der Neufassung des ganzen Werkes eine mittelbare Folge dieser ersten Entscheidung.

Wenn man nach den Abenteuern der Durchführung, in denen die Motive des Seitenthemas in Gebiete vordringen, die einige Jahrzehnte später zum Reich Gustav Mahlers gehören werden, wieder das gesicherte Terrain der Reprise erreicht glaubt, findet man sich unversehens inmitten eines veritablen Fugatos wieder, das auf eigenwillige und selbstherrliche Art die Stelle des Seitensatzes vertritt. Diese „Fughette“ erregte schon bei den ersten Kritikern des Werkes Anstoß, und auch eineinhalb Jahrhunderte später dürfen sich die Interpreten an dieser Stelle an der befremdeten Ratlosigkeit des Publikums ergötzen. Beim Durchdringen dieses polyphonen Engpasses kann man heute noch auf vielen Gesichtern Reaktionen lesen, die Hoffmann in Kreislers ironischem Lamento über die „wahnsinnigen“ Komponisten aufs Korn genommen hat:
„Die ganz unnützen Spielereien des Kontrapunkts, die den Zuhörer gar nicht aufheitern und so den eigentlichen Zweck der Musik ganz verfehlen, nennen sie schauerlich geheimnisvolle Kombinationen und sind imstande, sie mit wunderlich verschlungenen Moosen, Kräutern und Blumen zu vergleichen.“
(E. T. A. Hoffmann, Gedanken über den hohen Wert der Musik)

Am Scherzo (Allegro molto, h-moll) kann man sich noch einmal davon überzeugen, daß die für diesen Satztyp charakteristischen Züge dem Empfinden der Romantik – und Brahms ist in diesem Stadium eindeutig ein romantischer Jüngling – besonders entgegenkommen. Eine sprunghafte Phantasie, die sich in überraschenden Stimmungswechseln ausdrückt, burlesker Übermut, spukhafter Zauber, der in geheimnisvoll nächtlichen Farben geschildert wird – all das ist für die romantische Kunst ganz allgemein typisch, und all das läßt sich in der von großräumigen Gestaltungszwängen vergleichsweise unbelasteten Syntax des Scherzos besonders treffend gestalten. Obwohl Brahms auch in den Scherzi von Anfang an seinen eigenen, unverwechselbaren Ton findet, ist es daher wohl kein Zufall, daß sich gerade in diesen Stücken besonders deutliche Berührungspunkte mit der Musik der vorbrahmsichen Generation ergeben. (Der Mendelssohn-Anklang im Scherzo der Klaviersonate op.5 und das Chopin-Echo im Es-moll-Scherzo op.4 sind besonders bekannte Beispiele dafür.)
Bezeichnenderweise ist das Scherzo des H-Dur-Trios der einzige Satz, den der Meister 1889 so gut wie unangetastet ließ; er hat sich hier bei der Letztfassung mit kleinen (vor allem Instrumentation und Satz betreffenden) Retouchen und einer neuen Coda begnügt.
Schon unter Brahms´ frühesten erhaltenen Werken findet sich ein H-moll-Scherzo, das eine ganze Reihe auffälliger Gemeinsamkeiten mit dem vorliegenden Satz aufweist: Das Scherzo der Klaviersonate fis-moll op.2 (Hamburg, November 1852) trägt nicht nur eine völlig idente Spielanweisung (staccato e leggiero), es zeichnet sich auch durch die gleichen schroffen dynamischen Kontraste (piano – fortissimo), durch analoge motivische Keimzellen (Hauptteil: Aufstieg von der Tonika zur Terz mit anschließender Wendung zum Leitton; Trio: Umkreisen des Terztones) und durch etliche Texturparallelen (nachschlagende Bässe im Trio etc.) aus. Diese Analogien vermindern freilich in keiner Weise die Eigenständigkeit der beiden Werke: man könnte in ihnen prächtig charakterisierte Portraits eines sehr ungleichen Geschwisterpaares sehen.

Das folgende Adagio non troppo (H-Dur) ist trotz seiner rhapsodisch-improvisatorischen Form von zwingender Stimmigkeit. Natürlich fällt es uns – aus der vollständigeren Kenntnis der kompositorischen Entwicklung des Meisters – heute leichter, die innere Logik des Ablaufes nachzuvollziehen. Sogar den ergebenen „Brahminen“ unter den Kritikern bereitete dieser Satz seinerzeit aber einiges Kopfzerbrechen: Adolf Schubring vermißte 1862 die „rechte Einheit“, und Eduard Hanslick stieß sich noch 1870 an den „gesuchten Seltsamkeiten“ des Adagios. Freilich muß nach dem vergleichsweise „traditionell“ gebauten Scherzo der langsame Satz als eine Sphinx erscheinen. „Ists nicht eigentümlich, daß man vom Komponisten in allem Originalität fordert und daß man sie ihm in der Form verbietet?“ wird Busoni zehn Jahre nach Brahms´ Tod fragen.
Die erwartete Dreiteiligkeit (zu der sich die Spätfassung bekennen wird) erscheint hier in verfremdender Brechung: Als Mittelteil erscheint das kaum verhüllte Zitat eines Schubert-Liedes (Am Meer, D 957 Nr.12), das gleich zum Ausgangspunkt einer frei assoziativen Entwicklung wird. Unerwartet rasch mündet diese aber wieder in die Reprise des Hauptteiles. Hier verwundert schon im zweiten Takt eine gewissermaßen schlafwandlerische Rückführung, mit der der subdominantische Beginn in die Tonika zurückfindet. (Die selbstvergessene Irrationalität dieser Wendung verleitet bis heute manchen gewissenhaften Pianisten zu einer wohlgemeinten, aber verheerenden „Korrektur“…) Die improvisierenden Melismen, mit denen das Klavier den Streichersatz von hier an untermalt, sind frische Triebe eines Baumes, der in Beethovens letzten Klaviersonaten gepflanzt wurde. Spätestens mit den beiden – einander aufhebenden – kühnen Ganztonrückungen, die den weiteren Verlauf in ein fremdes Licht tauchen, wird klar, daß wir es hier nicht mit einer „Reprise“, sondern mit einem Traumbild, einer verklärenden Erinnerung zu tun haben. Und weil Traum und Delirium benachbarte Reiche sind, macht es Brahms keine Mühe, uns von diesem in jenes zu führen: Das Allegro (doppio movimento), das parenthetisch in die geträumte Reprise einbricht und das Schubring in seiner Besprechung einen zweiten „Mittelsatz“ nennt, ist nämlich nichts anderes als eine Fiebervision, in der sich ein Fragment des Hauptthemas ekstatisch verselbständigt und in einem heimatlosen Motivsplitter aus dem ersten Satz sein „surreales“ Spiegelbild findet. (Für Analytiker: Aus dem Geigenthema der Takte 5-6 wird eine Folge von vier Tönen gelöst und anschließend zu einem Dreitonmotiv verkürzt, dessen diastematische Kontur dem ebenfalls dreitönigen Geigenmotiv aus Takt 202ff. des ersten Satzes entspricht – die geringfügig veränderte Krebsumkehrung dieses Motivs dient dann als „Spiegelbild“.) Dieses assoziative Spiel mit kleinräumigen, ostinat wiederholten Motivzellen werden wir später bei Janacek und seinen Nachfolgern wiederfinden. Faszinierend an diesem Vorgang ist nun aber weder die kombinatorische Logik (auf die sich Schönberg und seine Jünger berufen werden, die aber zum Glück nur im Verborgenen wirkt), noch auch die inhärente musikgeschichtliche Prophetie, sondern die sich hier eröffnende Perspektive: In diesem Fiebertraum offenbaren sich die bis dahin verborgenen Beziehungen zwischen allen Figuren und Motiven des Satzes, gerade hier gewinnt das Ganze die von Schubring vermißte „rechte Einheit“, und zwar völlig unabhängig davon, ob diese Einheit unbewußt erlebt oder bewußt entdeckt wird.
Das Ende der Vision klingt an den Abschluß der Schubert-Episode an und faßt damit noch einmal die zunächst heterogen erscheinenden Elemente des Satzes zusammen; erst dann wird die „Reprise“ zu Ende geführt. Das Satzganze folgt also trotz seiner grundlegend anderen Form ähnlichen Prinzipien wie der Kopfsatz: So wie sich dort der Fugato-Abschnitt in plötzlich gezügeltem Tempo mitten in die Reprise geschoben hatte, so unterbricht hier der beschleunigte Puls des Deliriums die entrückte Erinnerung an das Hauptthema. In beiden Fällen wird die erwartete Form an anloger Stelle durchbrochen und die Abweichung agogisch betont – und beide Stellen zogen von Anfang an Kritik auf sich. Daß Brahms in der Neukomposition auch diese beiden Steine des Anstoßes aus dem Weg geräumt hat, sollte uns freilich nicht zu der Annahme verleiten, sein Ziel sei der Widerruf aller jugendlichen Experimente gewesen. Der Hörer der IV. Symphonie und der späten Kammermusik- und Klavierwerke wird nie im Zweifel gelassen, daß Brahms in seinem Alter nichts an Kühnheit eingebüßt hat. Daß Anspruch und Ästhetik des Spätwerkes mit dem romantischen Wagemut der ersten Werke in Konflikt geraten, macht aus Brahms noch lange keinen reaktionären Traditionalisten, wie das die neudeutsche (und „neufranzösische“) Musikkritik gerne darstellten.

Das Finale (Allegro molto agitato) ist von jener bestürzenden Eindringlichkeit und entwaffnenden Offenheit, wie sie wohl nur ein Jugendwerk haben kann. Das atemlos insistierende Hauptthema strandet dreimal an einer schicksalshaft verneinenden Geste, mit der es schließlich einen todesmutigen Kampf aufnimmt. Am Höhepunkt dieser Auseinandersetzung tritt verwegen ein Viertonmotiv auf, das in erbitterter Engführung das bis dahin stabile metrische Gefüge zertrümmert. Wie Brahms den barbarischen Ansturm dieses Motivs besänftigt und es zur zärtlichen Begleitung des nun eintretenden schwärmerischen Seitenthemas zähmt, gehört zu jener Art von Wundern, die einen das Schumannsche Wort vom „Zauberstab“ des jungen Komponisten begreifen lassen. (Das Motiv ist übrigens nichts anderes als der um einen Ton erweiterte Motivsplitter, der uns schon im vorigen Satz als ein Revenant aus dem ersten begegnet ist.) Über das Seitenthema selbst, dem wie Goethes Mignon schon immer die anbetende Liebe des Publikums sicher war, wurde schon allzuviel gesprochen und geschrieben – und das bekommt der Liebe nicht immer gut. Nun ja, der Kern dieses berückenden Themas ist ein Zitat: Beethoven hat mit eben dieser Wendung seiner Fernen Geliebten „Nimm´ sie hin denn, diese Lieder!“ zugerufen. Aber – und das wird in der Diskussion um den tieferen Sinn dieses Zitates gerne unterschlagen – Brahms´ Quelle ist nicht Beethoven, sondern Robert Schumann: dort ist dieses Motiv nämlich ein immer wiederkehrendes, verborgen-offenes Zeichen der Liebe zu Clara. Daß Brahms aber, wie man auch ohne spekulative Aufdringlichkeit glauben darf, seiner Zuneigung zu Clara ausgerechnet jene Tongestalt gibt, die sich Schumann von Beethoven erborgt hat, gibt dem Zitat einen entsagungsvollen Hintersinn, der der zupackenden Neugier nur allzuleicht entgeht. Vor allem aber: Die Weiterführung des Themas, in der die einhaltgebietenden Wendung des Hauptthemas nun in verständnisinnig-tröstlichem Licht erscheint, läßt sich zwar bis Beethoven zurückverfolgen, hat aber dort nicht im entferntesten diese Bedeutungstiefe. Man könnte also auch auf dieses Zitat anwenden, was Brahms seinem Freunde Otto Dessoff entgegnete, als der eine ihn an Brahms erinnernde Stelle aus seinem (diesem gewidmeten) Streichquartett entfernen wollte:
„Lieber Freund!
Ich bitte Dich, mache keine Dummheiten. Eines der dümmsten Capitel der dummen Leute ist das von den Reminiszenzen. Die betreff. kleine Stelle bei mir ist, so vortrefflich auch alles Übrige sein mag, wirklich ganz und gar nichts. Bei Dir ist aber gerade die Stelle von einer allerliebsten, schönen und natürlichen Empfindung. Verdirb nichts, rühr nicht daran.“
(Johannes Brahms an Otto Dessoff, Pörtschach, 26. Juni 1878)

In seinem eigenen Werk hat Brahms freilich sehr wohl daran gerührt – er hat 1889 aus dem Finale nur das Hauptthema übernommen (aber auch diesem die exaltiert atemlosen Achtelpausen genommen) und den ganzen übrigen Satz völlig neu komponiert. Daß er damit etwas verdorben hat, wird man schwerlich behaupten können: die neuen Teile sind von monumentaler Dichte und Stringenz. Außerdem (und das beweist noch einmal, daß die Neufassung nichts mit der Zurücknahme „fortschrittlicher“ Positionen zu tun hat) greift das neue Finale Lösungen auf, die man als konsequente Weiterentwicklungen der Experimente im ersten und dritten Satz der Frühfassung begreifen kann – in die unmittelbar an die Exposition anschließende Reprise ist der „Durchführungsrest“ (der einen Nachhall der eliminierten Kämpfe bewahrt) als Enklave integriert. Daß aber das neue Finale, in all seiner meisterlichen Ökonomie und Kraft, die beglückenden und bestürzenden Verwirrungen des Jugendwerkes nicht ersetzen kann, hat wohl niemand besser gewußt als der Vater dieses so ungleichen Geschwisterpaares; und der soll in diesem Bruderzwist auch das letzte Wort haben – das hoffentlich niemand so ernst nimmt wie seine Noten:
„Wegen des verneuerten Trios muß ich noch ausdrücklich sagen, daß das alte zwar schlecht ist, ich aber nicht behaupte, das neue sei gut! Was Sie mit dem alten anfangen, ob Sie es einschmelzen oder auch neu drucken, ist mir, im Ernst, ganz einerlei.“
(Johannes Brahms an Fritz Simrock, 13. Dezember 1890)


Die Mason-Thomas Soirées of Chamber Music und die Frage der Uraufführung

Bis in die jüngste Zeit galt die Aufführung durch William Mason, Theodore Thomas und Carl Bergmann in der New Yorker Dodworth´s Hall am 27. November 1855 als die Uraufführung des Trios. Sie bleibt in jedem Falle ein verblüffendes Zeugnis für das frühe Interesse, das Brahms in Amerika gefunden hat – und sie versammelte drei bedeutende Interpreten, die für die Entwicklung des amerikanischen Musiklebens von größter Bedeutung sind. Der aus einer weitverzweigten Bostoner Musikerfamilie stammende Pianist und Komponist William Mason (1829-1908) hatte ab 1849 unter anderem bei Moscheles in Leipzig und bei Liszt in Weimar studiert (wo er im Juni 1853 auch Brahms kennenlernte), bevor er sich 1855 in New York niederließ. In diesem Jahr dirigierte Carl Bergmann (1821-1876) das erste Mal die Philharmonic Society of New York (dem 1842 gegründeten Vorläufer der New Yorker Philharmoniker), deren wichtigster (und ab 1866 alleiniger) Dirigent er bis zu seinem Tode bleiben sollte. Der gebürtige Sachse Bergmann war schon 1850 nach Amerika gekommen und hatte sich als Dirigent und Cellist in den Musikzentren der Ostküste bestens bewährt. In ihm hatte Mason den richtigen Partner für sein ehrgeiziges Projekt einer ständigen Kammermusikserie in New York gefunden:
„I asked Carl Bergmann, who was the most noted orchestral conductor of those days, and thus well acquainted with musicians, to get together a good string quartet. This he accomplished in a day or two, and made me acquainted with Theodore Thomas, first violin; Joseph Mosenthal, second violin; and George Matzka, viola, Bergmann himself being the violoncellist. We began rehearsing, and our first concert, or rather matinée, took place in Dodworth´s Hall, opposite Eleventh Street, and one door above Grace Church in Broadway.“
Es ist nicht erstaunlich, daß Bergmann sich für einen Landsmann als Primgeiger entschied: Der knapp zwanzigjährige Theodor[e] Thomas (1835-1905), der Sohn eines Stadtpfeifers aus dem ostfriesischen Esens (wie sich die Bilder gleichen!), war schon 1845 nach Amerika gekommen und hatte – ganz wie der junge Brahms – erste praktische Erfahrungen als Musiker in Tanzlokalen und Gaststätten gesammelt, bevor er 1854 in die Philharmonic Society aufgenommen wurde, deren Chefdirigent er nach Bergmanns Tod werden sollte. (Auch die beiden an der Uraufführung des Brahmstrios nicht beteiligten Ensemblemitglieder waren bemerkenswerte und vielseitige Musiker: Joseph Mosenthal (1834-1896) stammte aus Kassel und war durchaus nicht nur als Sekundgeiger, sondern ebenso als Pianist, Organist und Chordirigent erfolgreich tätig; und der Bratschist George Matzka hatte ebenfalls weiterreichende Ambitionen: 1876 sollte er die New Yorker Erstaufführung von Tschaikovskijs „Romeo und Julia“ dirigieren.)
Unter dem Namen „Mason-Thomas Soirées of Chamber Music“, der bald die ursprüngliche Bezeichnung „Mason & Bergmann´s Classical Matinées“ ersetzte, wurde der mit der amerikanischen Erstaufführung des Opus 8 inaugurierte Konzertzyklus ein wichtiger Bestandteil des New Yorker Konzertlebens; vierzehn Saisonen hindurch (1855-1869) wurde hier das New Yorker Publikum mit vielen der wichtigsten kammermusikalischen Neuerscheinungen aus Europa bekannt gemacht.

So verdienstvoll dieses Unternehmen auch war – das Verdienst der öffentlichen Uraufführung von Brahms´ Opus 8 gebührt, wie Michael Struck schon 1991 nachgewiesen hat, einem anderen Ensemble, dessen Mitglieder allerdings zu keinen lexigraphischen Ehren gelangt sind: die Herren Haupt, Braun und Klahr, die Ende 1855 im Danziger Gewerbehaus einen Zyklus von vier Trio-Soiréen veranstalteten, in deren erster das Brahmssche Opus auf dem Programm stand, sind uns nur aus den Rezensionen dieser Konzerte bekannt.

© by Claus-Christian Schuster

Boulanger: Deux pièces en trio (1918)

Lili Boulanger

* 21. August 1893
† 15. März 1918

Deux pièces en trio (1918)

Komponiert:Paris, 1917/18

Lili Boulanger entstammt einer traditionsreichen und bemerkenswert vitalen Pariser Musikerfamilie: ihre Großmutter, Marie-Julie Hallinger, war eine gefeierte Sängerin an der Opéra-Comique, wo sie lange genug wirkte, um noch das Erstlingswerk ihres Sohnes aus der Taufe heben zu können; ihr Großvater, der in Dresden geborene Frédéric Boulanger, lehrte als Cello-Professor am Pariser Conservatoire und versuchte sich auch als Gesangspädagoge und Komponist. Der Sohn der beiden, Ernest Boulanger, Lilis Vater – der bei der Geburt seiner jüngsten Tochter immerhin schon 78 Jahre alt war – begann seine Karriere triumphal, indem er als Zwanzigjähriger 1835 mit dem Rompreis ausgezeichnet wurde. Nach einer langen und recht erfolgreichen Laufbahn als Opernkomponist wurde auch er Gesangsprofessor am Conservatoire. Dort hatte er als Schülerin eine achtzehnjährige russische Prinzessin, Raïsa Mytschetskaja, die sich Hals über Kopf in ihren um 43 Jahre älteren Lehrer verliebte und ihn am 16. September 1877 in St. Petersburg heiratete.

Zum Pariser Freundeskreis des ungleichen Paares gehörten unter anderem Gounod, Massenet und Saint-Saëns. Genau am zehnten Hochzeitstag von Ernest und Raïsa kam Juliette-Nadia auf die Welt. Nadia sollte ihre jüngere Schwester um 61 Jahre überleben und die erfolgreichste Kompositionslehrerin unseres Jahrhunderts werden.

Am 21. August 1893 wurde Marie-Juliette geboren, die seit ihrer frühesten Kindheit nur Lili gerufen wurde. Mit drei Jahren begann sie Klavier zu spielen, später lernte sie Geige, Cello und Harfe. Da sie ihre um sechs Jahre ältere Schwester überallhin begleiten durfte, wurde ihre ohnedies ausgeprägte Frühreife noch unterstützt: Als Begleiterin Nadias bekam sie schon mit fünf Jahren ihren ersten Unterricht in Harmonielehre, und zwar gleich am Conservatoire, von dem Komponisten und Organisten Auguste Chapuis. Ein Jahr später finden wir sie als jüngste Schülerin in der Orgelklasse von Louis Vierne und gemeinsam mit Nadia in der Klasse für Instrumentalbegleitung des Rompreisträgers Paul Vidal, ihres späteren Kompositionslehrers. Dort freundeten sich die Geschwister mit dem jungen Komponisten André Caplet an. Die fragile Gesundheit Lilis und die Vorzeichen ihrer Todeskrankheit Tuberkulose machten immer wieder längere Unterbrechungen des Unterrichts nötig; an einen geregelten Schulbesuch war überhaupt nicht zu denken. Die Ferien verbrachte man meist in Trouville an der Seinemündung, wo sich auch der Dichter Tristan Bernard mit seiner Familie aufhielt. (Einer von Lilis Kindheitsfreunden, Tristan Bernards Sohn Etienne, sollte später eine Kapazität in der Tuberkulosebehandlung werden.)

Im April 1900 starb Lilis Vater. Noch am Tag vor seinem Tod hatte er seinen Freund Théodore Dubois, den Direktor des Conservatoires, zu sich gerufen, um ihm die Obsorge für seine Kinder anzuvertrauen. Doch der trockene und pedantische Dubois war wohl nicht der geeignete Mentor für die Mädchen – die fühlten sich vielmehr zu Dubois späterem Nachfolger Gabriel Fauré hingezogen.

Mit neun Jahren fing Lili zu komponieren an, wobei sie zunächst von Nadia unterwiesen wurde. Da Nadia schon zu dieser Zeit Kompositionsunterricht von Fauré bekam, durfte auch Lili in dessen Klasse zuhören. Fauré delektierte sich mit besonderer Vorliebe an Lilis ungewöhnlichen Blattlesekünsten. Der Lieblingsschüler des Meisters, Roger Ducasse, wurde ein „Wahlbruder“ der beiden Schwestern, aber auch mit den anderen Schülern dieser bemerkenswerten Klasse freundeten sich die Mädchen bald an: Alfredo Casella, Charles Koechlin, Georges Enescu, Florent Schmitt, Raoul Laparra und Maurice Ravel.

Es ist unmöglich, den ganzen Reichtum an Beziehungen, Freundschaften und Anregungen, der Lili und Nadia in diesen Jahren zufiel, zu skizzieren. Eine ganz besondere Bedeutung sollte die Beziehung zu dem Pianisten und Komponisten Raoul Pugno (1852-1914) gewinnen, den Nadia und Lili 1904 kennenlernten. Nadia wurde eine der bevorzugten Duopartnerinnen Pugnos (der auch oft mit Eugène Ysaye oder Claude Debussy konzertierte). Die Freundschaft mit ihm war es auch, die den Ausschlag für eine Änderung des Sommerquartiers gab: von nun an verbrachten die Boulangers ihre Ferien im nahen Gargenville (Yvelines, damals Seine-et-Oise), wo Raoul Pugno seit 1904 Bürgermeister war. Er selbst wohnte in dem zu Gargenville gehörenden Weiler Hanneucourt, und Raïsa, Nadia und Lili Boulanger erwarben in unmittelbarer Nähe drei kleine Häuser („Les Maisonnettes“), die von nun an ihr Lieblingsdomizil wurden. So ländlich auch die Gegend war, so kosmopolitisch war die sich hier einfindende Gesellschaft: Paul Valéry – wie Pugno selbst Italofranzose – wohnte einige Kilometer weiter in Le Mesnil (Valérys Frau war Raouls Privatschülerin), und als Gäste sah man in diesen Jahren in Gargenville auch Gabriele d´Annunzio, Emile Verhaeren, Eugène Ysaye, Jacques Thibaud und Wilhelm Mengelberg.
1904 hatte die Familie Boulanger auch eine neue Stadtwohnung bezogen: 36, rue Ballu – die Entstehungsstätte nahezu des ganzen schmalen Œuvres von Lili, und praktischerweise gleichzeitig auch das Wohnhaus ihrer beiden wichtigsten Lehrer, Georges Caussade (Kontrapunkt) und Paul Vidal (Komposition).

Im Jahre 1908 wurde Nadia Boulanger als erste Frau zum Finale des Wettbewerbs um den Rompreis zugelassen und erhielt den zweiten Preis. Dieser Erfolg der Schwester gab Lili großen Auftrieb. Trotz ihrer gesundheitlichen Probleme, die immer wieder Arbeitspausen erzwangen, intensivierte sie ihre Studien in den folgenden Jahren bis an und über die Grenzen ihrer physischen Leistungsfähigkeit. Ihr erklärtes Ziel war es, „den Rompreis in die Familie zurückzuholen“. Im ersten Anlauf scheiterte sie 1912 – wahrscheinlich an einer durch Überanstrengung ausgelösten Krise. Aber im Mai 1913 war ihre Stunde gekommen: Als erste Frau in der 110jährigen Geschichte des Prix de Rome errang sie diese begehrteste Trophäe des französischen Musiklebens.

Drei Jahre sollten sich die Rompreisträger in der Villa Medici aufhalten – aber mit Lili hatte das Schicksal anderes vor. Nicht einmal fünf Monate dauerte ihr römisches Intermezzo: der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zwang sie schon in den ersten Augusttagen 1914 zur Rückkehr nach Paris. Dort widmete sie sich von da an neben der Komposition in erster Linie karitativen Aufgaben. 1916 konnte sie noch einmal für wenige Monate nach Rom zurückkehren. Aber wegen des fortgeschrittenen Stadiums ihrer Krankheit konnte sie die Villa Medici nur selten verlassen – eine flüchtige Begegnung mit Paul Claudel und eine Audienz bei Papst Benedikt XV. war die spärliche Ausbeute der Reise. Wieder nach Paris zurückgekehrt komponierte sie trotz ihres sich rapide verschlimmernden Leidens bis zuletzt, wobei sie in ihren letzten Lebensmonaten ihre Werke Nadia diktieren mußte. Lili Boulanger starb im fünfundzwanzigsten Lebensjahr, elf Tage vor Claude Debussy.

Das Diptychon, dessen Triofassung bis vor wenigen Jahren unbekannt war, gehört zu den allerletzten Werken Lili Boulangers. Das erste der beiden Stücke, D‘ un soir triste, existiert auch in einer Orchesterfassung. Es ist als letztes entstanden und zeigt die junge Komponistin an der Schwelle zu einer ganz eigengeprägten Tonsprache. Diese großangelegte rhapsodische Klage ist in ihren Mitteln so kompromißlos und von einer so jenseitigen Trauer erfüllt, daß es schwer fällt, in der französischen Musik eine Parallele dafür zu finden. Ähnlich wie die Gedichte Trakls ist diese Musik die Antwort eines hypersensiblen Menschen auf die Zeit einer als apokalyptisch empfundenen Menschheitsdämmerung – von hier führt ein direkter Weg zu Messiaens Quatuor pour la fin du temps. Wenn es denn also unbedingt eines Etiketts bedarf, so wäre die Bezeichnung „Expressionismus“ für diese Musik weit mehr angebracht als „Impressionismus“, als dessen Vertreterin Lili Boulanger, nicht zuletzt wegen ihrer lebenslangen Verehrung für Claude Debussy, gemeinhin gilt.

Vom zweiten Stück des Diptychons, D‘ un matin de printemps, gibt es eine Alternativfassung für Flöte oder Violine und Klavier. Es ist etwas früher entstanden und in vieler Hinsicht „traditioneller“, doch auch in einem durchaus persönlichen Idiom formuliert. Schon allein das Sujet, das so viel mehr zu den Leitbildern luziden gallischen Musizierens paßt, legt eine Fülle von Assoziationen innerhalb der französischen Musik der Zeit nahe. Es verwundert nicht, daß dieses Stück zumindest in der Alternativfassung schon seit langem gedruckt vorliegt und relativ bekannt wurde, während das herbe und kryptische erste Stück bis in die jüngste Zeit völlig unbeachtet geblieben ist.

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Bloch: Three Nocturnes (1924)

Ernest Bloch

* 24. August 1880
† 15. Juli 1959

Three Nocturnes (1924)

Komponiert:Cleveland, Ohio, 1924
Widmung:New York Trio
Uraufführung:New York Trio
Clarence Adler, Klavier
Louis Edlin, Violine
Cornelius van Vliet, Violoncello
Erstausgabe:C. Fischer, New York, und Universal Edition, Wien, 1925

Obwohl einige seiner Werke es zu unbestreitbarer Popularität gebracht haben (allen voran wohl Nigun und Schelomo), zählt Ernest Bloch zu den am wenigsten gewürdigten und erforschten unter den großen Komponisten unseres Jahrhunderts. Das in der englischsprachigen Literatur für Bloch zuweilen gebrauchte Etikett „Hebrew Prophet“ trifft auf jeden Fall zumindest insofern zu, als ja der Prophet bekanntlich im eigenen Land nichts gilt – und welches Land nun das Bloch eigene sei, ist eine Frage, die der Komponist selbst nie definitiv beantworten wollte: In drei großen Orchesterwerken huldigte er jenen drei Ländern, die das meiste Anrecht auf ihn geltend machen könnten: Israel (1912/16), America – An Epic Rhapsody (1926) und Helvetia – A Symphonic Fresco (1928). Sein Lebensweg läßt ihn als Weltbürger par excellence erscheinen: In eine aus dem Aargau stammende jüdische Familie in der französischen Schweiz geboren, kehrt er nach Studienjahren in Brüssel, Frankfurt, München und Paris nach Genf zurück. 1916 geht er in die USA, wo er nach anfänglichen Schwierigkeiten große künstlerische Erfolge erringen kann, sich aber nicht heimisch fühlt und auch noch nach dem Erwerb der amerikanischen Staatsbürgerschaft (1924) daran denkt, nach Palästina auszuwandern. Zwischen 1930 und 1938 lebt er wieder in Europa (im Tessin und in Savoyen), von wo ihn die aufziehenden Gewitterwolken gerade rechtzeitig fliehen lassen; erst die letzten beiden Lebensdekaden beenden sein Wanderleben – in Agate Beach an der noch immer fast naturbelassenen Pazifikküste von Oregon findet er, was er sich immer erträumt hat, die Erfüllung einer Vision seines Lieblingsdichters:

Give me the splendid silent sun with all his beams full-dazzling,
Give me the juicy autumnal fruit ripe and red from the orchard,
Give me a field where the unmow’d grass grows,
Give me an arbor, give me the trellis’d grape,
Give me fresh corn and wheat, give me serene moving animals teaching content..

Give me to warble spontaneous songs recluse by myself, for my own ears only,
Give me solitude, give me Nature, give me again O Nature your primal sanities!


(Walt Whitman, Leaves of Grass, Drum-taps)

Blochs erste amerikanische Periode, zu deren Ernte die Three Nocturnes zählen, begann nicht eben verheißungsvoll. Sein Landsmann Alfred Pochon, der Gründer des Flonzaley-Quartetts, hatte Bloch eine Einladung als Dirigent für eine ausgedehnte Tournee der Tänzerin Maud Allan vermittelt. Da eine Schiffsreise über den Atlantik in jenen Monaten eine lebensgefährliche Unternehmung war – drei Monate vor Blochs Abreise war Enrique Granados beim Untergang der „Sussex“ nach einem deutschen U-Boot-Überfall ertrunken – hatte Bloch wohlweislich seine Frau und die drei kleinen Kinder in der Schweiz zurückgelassen. Die Überfahrt verlief ohne Zwischenfälle, aber die schlecht vorbereitete Tournee versandete nach nur sechs Wochen, und Bloch fand sich, nachdem man ihm im New Yorker Astor Hotel seinen einzigen Wintermantel gestohlen hatte, Ende November 1916 frierend und mittellos auf der Straße wieder. Um die Hotelrechnung bezahlen zu können, mußte er seine Geige versetzen; für die Heimkehr konnte er kein Geld auftreiben. Doch am letzten Tag dieses abenteuerlichen Jahres erstritten seine Freunde vom Flonzaley- Quartett einen wichtigen Etappensieg für den Komponisten: die Uraufführung des monumentalen Ersten Streichquartetts in New York wurde zu einem sensationellen Erfolg. Obwohl dieser Durchbruch Blochs prekäre Lage nicht beendete, ließ er mit seinem vielbeachteten Protest gegen die Internierung Carl Mucks – der als deutscher Staatsangehöriger seines Amtes als Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra enthoben worden war – gleich von Anfang an keinen Zweifel daran aufkommen, daß er nicht gewillt war, in den USA nur ein braver Zaungast zu sein. Der Mut und die Integrität Blochs, die ihn in Europa zum Freund Romain Rollands gemacht hatten, brachten ihm bald auch die Anerkennung der amerikanischen Elite ein: Max Eastman, John Haynes Holmes, Samuel Eliot Morison und Upton Sinclair zählten bald zu seinem Freundes- und Bekanntenkreis. David Mannes (1866 – 1959), der ehemalige Konzertmeister des New York Symphony Orchestra und Initiator des „Music School Settlement for Colored People“ (1912), holte Bloch als Leiter der Abteilung für Musiktheorie und Komposition an sein neugegründetes College. Bald schon steht Bloch am Dirigentenpult der bedeutendsten amerikanischen Orchester – und immer stehen auch seine eigenen Werke auf dem Programm: mit der Boston Symphony (26. März 1917), dem Philadelphia Orchestra (25./26. Jänner 1918) und schließlich mit der New Yok Philharmony (8. Mai 1918, mit der amerikanischen Erstaufführung der Symphonie in cis-moll) erkämpft er sich so in kürzester Zeit einen sicheren und ruhmvollen Platz in der amerikanischen Musikwelt. Hans Kindler, den wir etwas später als musikalischen Berater von Elizabeth Sprague Coolidge wiederfinden werden, hatte schon am 3. Mai 1917 in New York die Uraufführung von Blochs wahrscheinlich populärstem Werk, Schelomo, gespielt. 1919 gewinnt die Suite für Viola und Klavier den mit eintausend Dollar dotierten Coolidge-Prize beim Berkshire Music Festival in Pittsfield, Massachusetts. Die Uraufführung dieses Werkes (am 25. September 1919) brachte Bloch die Begegnung mit dem englischen Pianisten Harold Bauer (1873-1951), der einer der wichtigsten Interpreten der Kammermusik des Komponisten werden sollte.

Trotz aller persönlichen Erfolge steht Bloch dem Kulturleben der Vereinigten Staaten sehr kritisch gegenüber. Als er 1920 gebeten wird, in Cleveland die Leitung eines neuzugründenden Musikinstituts zu übernehmen, ist er skeptisch: „Ich soll ein Konservatorium gründen in einer Wüste von 800.000 Menschen…“ Trotzdem nimmt er die Herausforderung an. Zunächst versucht er, seine Zeit zwischen New York und Cleveland gleichmäßig aufzuteilen, doch bald sieht er, daß seine dauernde Anwesenheit in Cleveland erforderlich sein wird. Die Übersiedlung fällt ihm umso leichter, als er an seiner neuen Wirkungsstätte einen genial begabten Schüler hat: ihn, den gerade fünfundzwanzig Jahre alten Roger Sessions, nennt er „a spiritual son, closer to me than my own son.“ Lehrer und Schüler begeistern sich gemeinsam für die afroamerikanische Musik. Wenn Sessions jungenhaft schwärmt: „Oh, how I would like to be a Negro!“, kann Bloch nicht umhin beipflichtend festzustellen: „They possess the only original talent in this land.“ So wie Dvorák vor ihm ist er aber auch von den Überresten der indianischen Musikkultur fasziniert. Ende 1924 besucht er während eines Aufenthaltes in Santa Fe das Indianerdorf Tesuque – die Eindrücke, die er dort empfängt, haben in der zwei Jahre später vollendeten Orchesterrhapsodie America ihre Spuren hinterlassen.

1922 wird Carl Engel Leiter der Musikabteilung an der Washingtoner Library of Congress. Im Juni kommt Bloch zu einem Antrittsbesuch nach Washington. Man spricht französisch und deutsch – Engel ist als Sohn deutscher Eltern in Paris geboren -, und Bloch klagt über die Kulturlosigkeit Amerikas. Engel führt den Komponisten durch die Schätze der Musiksammlung und zuletzt in die im obersten Stock gelegene Direktoriumskantine, von der aus man die die stolze Reihe der Museen an der sonnenüberfluteten Mall bis hin zum Lincoln Memorial überblickt. Noch Jahre später erinnert sich Bloch an diesen Augenblick wie an eine „Bekehrung“ zu Amerika:

„…it impresses upon me once more the idea of America of the past and America of the future, and makes me indulgent with America of the present…“

(an Carl Engel, San Francisco, 19. Dezember 1925)

Wenige Tage später bewirbt Bloch sich um die amerikanische Staatsbürgerschaft, die ihm am 8. November 1924 verliehen wird.

Blochs Ruf als Lehrer hatte eine ganze Plejade junger Komponisten nach Cleveland gezogen – neben Roger Sessions finden wir etwa Bernard Rogers, Mark Brunswick, Quincy Porter und Theodore Chanler in seiner Klasse. Die Freude an diesen Talenten konnte aber nicht über die stetig zunehmenden Spannungen mit der administrativen Schulleitung hinwegtäuschen. Der unmittelbar nach der Verleihung der Staatsbürgerschaft unternommene Ausflug nach New Mexico hatte wohl auch den Zweck verfolgt, Alternativen zu Cleveland zu sondieren. Mit Ende des Schuljahres 1924/25 tritt Bloch von seinem Direktorsposten in Cleveland zurück und folgt einem Ruf der Gründerinnen des San Francisco Conservatory, Ada Clement und Lillian Hodghead, nach Kalifornien, wo er die Jahre bis zu seiner vorläufigen Rückkehr nach Europa verbringen wird.

Von allem Anfang an spielt die Kammermusik eine zentrale Rolle in Blochs Leben. Es ist ein – später zurückgezogenes – Streichquartett, das der Sechzehnjährige in Genf dem durchreisenden Eugène Ysaye vorlegt. In Brüssel wohnt er dann als Schüler Ysayes im Hause des deutschen Kammermusikers Franz Schörg; hier entstehen zwischen 1897 und 1899 eine (Ysaye gewidmete) Phantasie für Violine und Klavier und eine (unveröffentlichte) Cellosonate. Erst der übermächtige Einfluß der beiden deutschen Richards, dem Bloch in Frankfurt und München ausgesetzt war, drängt ihn vorübergehend auf andere Gebiete der Musik. Aber auch sein „zweites Leben“, der Neubeginn in den USA, geht von der Kammermusik aus: das erste Streichquartett ebnet ihm den Weg, und der Coolidge Prize bestätigt seinen Ruf in der Welt der Kammermusik. Die Jahre in Cleveland bringen dann die reichste Kammermusikernte in Blochs Leben: hier entstehen die beiden Violinsonaten, Baal Shem, From Jewish Life, Méditation hebraique, Three Nocturnes und das Harold Bauer gewidmete Erste Klavierquintett, das Tobias Matthay nicht eben zurückhaltend the greatest piece of chamber music since Beethoven’s death nannte.

Unsere Three Nocturnes, gegen Ende der Clevelander Zeit entstanden, sind Blochs einzige Komposition für Klaviertrio. Im Schaffen dieser Jahre, das neben den großräumigen Architekturen des Quintetts und der Sonaten vor allem die „hebräische“ Sphäre von Blochs Genie entwickelt, ist das Werk ein Sonderfall. Es mutet wie eine wehmütige Rückbesinnung auf das verlorene Land der Kindheit an. Ein so nostalgisches Bild verführt zu „Beschreibungen“, wie sie die Jahrhundertwende liebte, und warum sollten wir dieser Verführung widerstehen?

Das erste Stück, Andante, das kürzeste der Reihe, wirkt wie ein Prélude: der Wind trägt uns ferne Glockenklängezu, kaum erkennbare Bruchstücke eines Liedes tönen von irgendwogher dazwischen, zwischen Wolkenfetzen und Nebelschwaden wirft die Spätnachmittagssonne ein geheimnisvolles und fremdes Licht auf die vertrauten Bergmatten.

Im darauffolgenden Andante quieto ist der Abendfriede eingekehrt, wie wir ihn vielleicht aus den stillen Bildern Millets und den schlichten Versen von Francis Jammes kennen, den aber Bloch in seinem Haus in den Weinbergen von Satigny allabendlich und unmittelbar genießen konnte. Diese Erinnerung nimmt die Gestalt eines alten waadtländischen Volksliedes an, das für den Komponisten offenbar ganz besondere Bedeutung hatte – es erweist sich nicht nur als das „Leitmotiv“ der Three Nocturnes, sondern erscheint auch an prominenter Stelle in der symphonischen Dichtung Helvetia. Die Nacht ist schon lange hereingebrochen, wenn mit dem abschließenden Tempestoso ein kurzes, aber heftiges Seegewitter über der Traumlandschaft niedergeht. Melodiefetzen treiben wie herrenlos hin- und hergeworfene Boote über die aufgepeitschten Wellen. Am Höhepunkt des Aufruhrs wirft die Sonne ihre ersten Strahlen durch die Wolkenbank – und das geschieht, seliges Angedenken an München und Richard Strauss, in strahlendem C-Dur, dem Festtagskleid unseres Volksliedes. Während sich die Sonne wieder in eine dichte Wolkendecke hüllt, entfernt sich das Unwetter grollend im Morgengrauen.

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Bjelik: Trio in B (1986)

Martin Bjelik

* 31. Juli 1940

Trio in B (1986)

Komponiert:Wien, 1984/86
Uraufführung:Wien, Festsaal des Währinger Amtshauses, 9. Oktober 1984
Giovanna Ferraris, Klavier
Michael Dell, Violine
Bettina Brosche, Violoncello
Erstausgabe:ungedruckt

Martin Bjelik wurde 1984 von einem jungen Klaviertrio um ein neues Werk gebeten. Das daraufhin geschriebene „Trio in B“ wurde nach seiner Uraufführung vom Komponisten einer verknappenden Überarbeitung unterzogen. In dieser Neufassung wurde es 1986 vom Wiener Concordia-Trio für den ORF produziert.

Nach seinen eigenen Worten schrieb der Komponist dieses Trio gleichsam „aus dem Handgelenk, lockerer als manche andere Stücke, die oftmals in zunehmendem Maße einer skrupulösen, verkrampften Handhabung des »Aussparungsprinzips« unterlagen.“ Die unverhohlene Selbstkritik, die aus diesen Zeilen spricht, ist keine Pose, sondern gelebter Ernst: Bjelik, der die meisten seiner Werke immer wieder nachbesserte und überarbeitete, beendete 1992, kurz nach der Uraufführung seiner „Verformungen für Kammerensemble“ (Auftragswerk der Gesellschaft der Musikfreunde für Peter Keuschnig und sein Ensemble „Kontrapunkte“), seine kompositorische Tätigkeit.

Mag also die mühelos erscheinende Klarheit und Souveränität des Klaviertrios auch einen besonderen Glücksfall im Oeuvre des Komponisten darstellen, so läßt sich doch an dieser Leistung ermessen, welchen Verlust das Verstummen des Autors bedeutet. Ohne Zweifel gehört dieses in seinen äußeren Dimensionen so bescheidene Stück zu den gelungensten Leistungen der österreichischen Kammermusik nach 1945.

Das Werk ist in drei ineinander übergehende Teile gegliedert: der erste, in belebtem Tempo ablaufend, ist rondoartig angelegt; ihm folgt eine Art Intermezzo voll schattenhaft huschender Klavierkaskaden, die ein kurze choralartige Episode umschließen. Diese gewinnt dann am Ende des Stückes an Bedeutung, indem sie den Abschluß und Höhepunkt des zunächst reprisenartig anlaufenden dritten Teiles des Werkes bildet.

Die Bezeichnung „in B“ bezieht sich auf den (Anfang und Schluß der Komposition dominierenden) Zentralton. Damit ist auch angedeutet, daß das Idiom dieses Werkes mehr als das anderer Kompositionen Bjeliks modale, sich dem Tonalen annähernde Züge aufweist. Auch hierin hat der Komponist die Anregungen seiner beiden Lehrer – Karl Schiske und Gottfried von Einem – auf durchaus persönliche Art weiterentwickelt.

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Bernstein: Trio op.2

Leonard Bernstein

* 25. August 1918
† 14. Oktober 1990

Trio op.2

Komponiert:Cambridge, Massachusetts (Harvard University), April 1937
Widmung:Madison Trio (Boston)
Uraufführung:Cambridge, Massachusetts (Harvard University), 1937
Mildred Spiegel [Zucker], Klavier (*1916)
Dorothy Rosenberg [Alpert], Violine (*1916)
Sarah Kruskall, Violoncello (1916-1996)
Erstausgabe:Selbstverlag 1979

Im Herbst 1935 störte ein Neuankömmling die beschauliche Ruhe des Wigglesworth Dormitory der altehrwürdigen Harvard University: er hatte ein Pianino mitgebracht. Der Freshman Leonard Bernstein wollte dafür sorgen, daß man in Harvard von der Musik, über die man sprach, auch etwas hören konnte. Eben siebzehn Jahre alt geworden, hatte er die traditionelle Eliteuniversität seiner Heimatstadt Boston wohl nur auf Drängen seines Vaters bezogen – er selbst wäre sehr viel lieber an das Curtis Institute in Philadelphia gegangen. Nicht, daß die Musik in Harvard keinen Platz gehabt hätte – mit Walter Piston (1894-1976) gehörte sogar einer der prominenteren amerikanischen Komponisten der Zeit dem Lehrkörper an; aber für einen als Wunderkind bestaunten Pianisten war es doch ein eher ungewöhnlicher Studienort.

Samuel Bernstein hätte in seinem erstgeborenen Sohn am liebsten den künftigen Leiter der von ihm mit so viel Mühe und Glück aus dem Nichts aufgebauten „Samuel Bernstein Hair Company“, einer in ganz Neuengland und darüber hinaus geachteten Vertriebsfirma für den Friseur- und Kosmetikbedarf, gesehen. Später sollte er nicht ohne bittere Koketterie sagen:

„You know, every genius had a handicap. Beethoven was deaf. Chopin had tuberculosis. Well, some day I suppose the books will say, »Lenny Bernstein had a father«…“

Samuel Bernstein, geboren als Yiroel Yosef ben Yehuda in der Nähe von Berezdiv in der Ukraine, war erst zehn Jahre vor der Geburt seines berühmten Sohnes als sechzehnjähriger Habenichts in Ellis Island angekommen, wo ihm ein Einwanderungsbeamter den neuen Namen verpaßt hatte. Die ersten Dollar hatte er sich als Hilfsarbeiter auf einem New Yorker Fischmarkt verdienen müssen; 1912 war er zu seinem Onkel nach Hartford in Massachusetts übersiedelt, der ihn als Friseurgehilfen angestellt hatte. Bis zu seiner Heirat, 1917, hatte er sich dann in einer Friseurbedarfsfirma Schritt um Schritt emporgedient. Jennie Resnick, seine Braut, stammte aus seiner engsten Heimat. Die Ehe war von Anfang an unglücklich: Schon in den ersten Ehejahren zog Jennie zweimal für längere Zeit zu ihren Eltern zurück. Auch die Geburt von Louis, der schon bald nach der Geburt nur „Lenny“ gerufen wurde (und 1934 auch offiziell den Namen „Leonard“ annahm), trug nur wenig zur Festigung der Beziehung bei. 1923 gab es einen ersten Wendepunkt im Lennys Leben: seine Schwester Shirley wurde geboren, sein Vater gründete eine eigene Firma, und die Familie übersiedelte in ein recht komfortables Haus am Stadtrand von Boston. Samuel Bernstein hatte einen glücklichen Geschäftsinstinkt, und das Geschäft mit der Dauerwelle trug ihn triumphal über alle Fährnisse der Krisenzeit.

1928 wurde das von Bernstein später oft beschworene Klavier Tante Claras ins Haus gebracht:

„And I remember touching it… and that was it. That was my contract with life, with God.“

Das neuerworbene Klavier wurde bald zum natürlichen Mittelpunkt von Leonards Leben. Obwohl er zumeist katastrophale Klavierlehrer hatte, machte er rasche und unüberhörbare Fortschritte. Sein Repertoire waren meist populäre Tänze und seichte Salonstücke. 1929 kam er als Schüler an die Boston Public Latin School (die 1635 gegründete gymnasiale Schwester der Harvard University), wo schon Benjamin Franklin und Ralph Waldo Emerson die Schulbank gedrückt hatten (und nach Bernstein auch John F. Kennedy Schüler sein sollte). Im Herbst 1932 fand er dann endlich auch eine adäquate Klavierlehrerin: Helen Coates, gerade sieben Jahre älter als ihr neuer Schüler, wurde seine phantasievolle und inspirierende Förderin und Freundin. Neben seiner Mutter wurde sie zur ersten Bewunderin von Lennies Improvisations- und Kompositionstalent.

Im Vollgefühl seiner Berufung und von der Anerkennung seines weiblichen Publikums getragen, tyrannisiert der angehende Star das Haus: mitten in der Nacht wirft er sich ans Klavier und hämmert die ganze Familie (einschließlich seines wenige Monate alten jüngsten Bruders Burton) aus dem Bett. Auf die hilflosen Vorwürfe des genervten Vaters antwortet er entrüstet:

„But papa, I have to do this, it’s in my head now and I got to put it down!“

Man kann sich also denken, daß Eltern und Geschwister keinen großen Widerstand leisteten, als Leonard nach brillantem Abschluß des Gymnasiums sein Quartier gleich in der Universität aufschlug, statt die kurze Strecke vom Elternhaus täglich hin- und herzufahren. Er war ein eigenwilliger und undisziplinierter Student. Obwohl sein Hauptfach Musik war, zeigte er sich nur unregelmäßig in den Kompositions- und Theoriestunden, und oft endeten seine Gastspiele dort damit, daß er seine Professoren zu endlosen Diskussionen herausforderte. Fleißiger als die Musikvorlesungen besuchte er die Philosophie- und Philologieklassen, die er als Nebenfächer belegt hatte.

Die meiste Zeit aber verbrachte der junge Student in der Musikalienhandlung Briggs & Briggs, wo er immer neue Schallplatten entdeckte. Der an der Harvard University herrschende Geschmack war eindeutig:

„Tchaikovsky was located one pigeonhole beneath Contempt at the time, as was Verdi. The fashion dictated pre-Beethoven and post-Wagner.“

So ist es nicht verwunderlich, daß Bernstein bei Briggs & Briggs vor allem Aufnahmen von Stravinskij und Prokofiev, Malipiero und Casella, Hindemith und Copland erstand. Vor allem der letztgenannte wurde bald zu seinem kompositorischen Idol.

Madison Trio
Zu Bernsteins engsten Freunden gehörte in dieser Zeit die zwei Jahre ältere Mildred Spiegel, die er schon 1932 als Gymnasiast kennengelernt hatte. Mildred war eine solide ausgebildete Pianistin und Lenny handwerklich weit überlegen, was er auch neidlos anerkannte. Sie hatte mit ihren gleichaltrigen Freundinnen Dorothy Rosenberg und Sarah Kruskall ein Trio gegründet, das in Anspielung an die Initialen der Namen seiner Mitglieder (M. D. S.) als „Madison Trio“ firmierte. Die drei Mädchen waren häufige Gäste im Sommerhaus der Bernsteins in der Lake Avenue in Sharon, wo immer eifrig musiziert wurde. Leonards besondere Sympathie für Mildred drückte sich unter anderem in einer Reihe von Kompositionen aus, dier er für sie schrieb: zu ihren Geburtstagen 1937 und 1938 widmete er ihr zwei Klavierstücke mit dem Titel Music for the Dance, und im Sommer 1938 sollte er mit ihr zusammen seine Music for two pianos No.1 aus der Taufe heben.

Das Madison Trio gab wöchentliche Konzerte in der lokalen Radiostation WHTH, war sich aber auch durchaus nicht zu schade, um bei Parties, Hochzeiten und Festen aufzuspielen. Bernstein mochte die direkte, offene und unkomplizierte Art des Ensembles. Man darf wohl annehmen, daß er bei der Komposition des Klaviertrios, das er im April 1937, gegen Ende seines Sophomore-Jahres, für die drei jungen Damen schrieb, auch die Charaktere der Widmungsträgerinnen mitkomponierte. Jedenfalls weht durch das ganze Stück ein frischer, manchmal frecher, immer aber jugendlich unbekümmerter Atem. Mit Brillanz und Melancholie gibt uns Bernstein eine stimmungsvolle und farbenfrohe Skizze, in der der ganze Zauber des Studentenlebens eingefangen ist; daß dabei auch die akademische Würde der geehrten Herren Professoren Anlaß zu einigen kontrapunktisch-parodistischen Seitenhieben gibt, kommt bei einem Studenten wie Bernstein nicht ganz unerwartet.

Der erste Satz (Adagio non troppo – Più mosso) ist eine polyphone Phantasie, deren von einem fanfarenartigen Septimsprung charakterisiertes Fugatothema (die „idée fixe“ des ganzen Werkes) von zwei lyrischen Nebenthemen eingeleitet und begleitet wird. Zwischen die fugierten Teile schieben sich übermütig-geschwätzige homophone Partien, die dem Satz einen zur Melancholie der Nebenthemen und zur Heroik des Hauptthemas in auffälligem Kontrast stehenden burlesken Ton geben.

Dieser burleske Ton kommt im darauffolgenden Scherzo (Tempo di marcia) dann auch zur vollen Entfaltung. Die mutwillige Verschmelzung amerikanischer, spanischer, preußischer und weiß Gott welcher Wendungen zu einer grotesken Marschparodie läßt an die musikalischen Frechheiten der Zwanziger Jahre à la Schostakowitsch, Prokofjew und Casella denken. Die moderne Großstadt scheint sich in kosmopolitischer und nonchalanter Clownerie hier selbst zu bespiegeln.

Der Schlußsatz (Largo – Allegro vivo e molto ritmico) wird mit einer langsamen Einleitung eröffnet, in der uns das Fugatothema des ersten Satzes wiederbegegnet. Im Hauptteil wird der koloristische Eklektizismus des zweiten Satzes wiederaufgenommen und weitergeführt: an prominentester Stelle erscheint hier ein „russisches“ Chorliedthema mit den charakteristischen ungeraden Takten. Auch die iberische Maske aus dem Marsch erscheint wieder, diesmal nicht mehr rhapsodisch wie dort, sondern mit dem tänzerisch betonten, archetypischen Spiel von Dreiviertel- und Sechsachteltakten. Zwei Nebenthemen ergänzen das Personal dieses figurenreichen Satzes, in dem der Exposition sofort und ganz ohne verarbeitende oder vertiefende Umwege eine verkürzte Reprise mit neuer Themenreihung folgt. In der Coda bleibt nur mehr der „spanische“ Ostinato-Rhythmus zürück, über den das Cello in herrischer Einsamkeit die Fugatofanfare zum Sieg führen möchte. Die Spanier weichen, verstummen… Da stürzt der vermeintliche Triumphator vom Pferd – und die frechen Tänzer haben das letzte Lachen.

Vor allem die komödiantischen Qualitäten dieses kleinen Werkes lassen es als eine erste Talentprobe des künftigen Theatergenies erscheinen, das auch die Kunst der Selbstinszenierung auf eben so gewinnende wie meisterhafte Art zu beherrschen lernen sollte.

© by Claus-Christian Schuster

Beethoven: Allegretto B-Dur WoO.39

Ludwig van Beethoven

* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827

Allegretto B-Dur WoO.39

Komponiert:Wien, 26.Juni 1812
Widmung:Maximiliane von Brentano
Uraufführung:nicht dokumentiert
Erstausgabe:Dunst, Frankfurt am Main, 1830

Beethoven schrieb das Allegretto in B-Dur im Juni 1812 für seine „kleine Freundin“ Maximiliane von Brentano, die gerade zehnjährige Tochter von Bettinas Bruder Franz, die mit ihren Eltern das „Birkenstocksche Haus“ in der Erdbergstraße bewohnte. Bettina von Brentano beschreibt diesen idyllischen Haushalt, in dem Beethoven mit Vorliebe Zuflucht suchte, in einem Brief an Goethe vom 15.Mai 1810:

„… Ein ungeheurer Maiblumenstrauß durchduftet mein kleines Cabinet, wir ist wohl hier im engen kleinen Kämmerchen auf dem alten Thurm wo ich den ganzen Prater übersehe: Bäume und Bäume von majestätischem Ansehen, herrlicher grüner Rasen. Hier wohne ich im Haus des verstorbenen Birkenstock, mitten zwischen zweitausend Kupferstichen, eben so viel Handzeichnungen, so viel hundert alten Aschenkrügen und hetrurischen Lampen, Marmorvasen, antiken Bruchstücken von Händen und Füßen, Gemälden, chinesischen Kleidern, Münzen, Steinsammlungen, Meerinsekten, Ferngläsern, unzählbare Landkarten, Plane alter versunkener Reiche und Städte, kunstreich geschnitzte Stöcke, kostbare Dokumente und endlich das Schwert des Kaisers Karolus. Dies alles umgibt uns in bunter Verwirrung und soll gerade in Ordnung gebracht werden, da ist denn nichts zu berühren und zu verstellen, die Kastanienallee in voller Blüthe und die rauschende Donau die uns hinüberträgt auf ihrem Rücken, da kann man es im Kunstsaal nicht aushalten…“

Man könnte diesen kleinen, verträumten Triosatz für eine musikalische Illustration dieses Briefes nehmen – da ist der Blick in die blühenden Rasumowsky-Gärten, weiter über den Donaukanal den Praterauen zu, und über allem ein mildes Frühsommerlicht. In die Klavierstimme für Maximiliane schrieb Beethoven: „Zur Aufmunterung im Klavierspielen“. Diesem pädagogischen Zwecke dient auch der eigenhändige, sorgfältig ausgearbeitete Fingersatz Beethovens, der sowohl in rein pianistisch-handwerklicher als auch in stilistisch-artikulatorischer Hinsicht bemerkenswert und aufschlußreich ist. Jedenfalls scheint die „Aufmunterung“ Erfolg gehabt zu haben – zehn Jahre später kann Beethoven dem jungen Mädchen die Klaviersonate in E-Dur op.109 widmen, ein Werk, das pianistisch nicht eben anspruchslos genannt werden kann.

Czerny hörte von Hofrat Witteschek, daß die kleine Maxe Beethoven einmal, „als er eben sehr erhitzt war, in kindischem Muthwillen eine Flasche eiskaltes Wasser unversehens über den Kopf schüttete. Von da an entwickelte sich sein krankhafter Zustand bis zur völligen Taubheit.“ Schon Schindler zweifelte die Richtigkeit dieser Überlieferung an, und wir dürfen wohl annehmen, daß das so reich beschenkte Mädchen an Beethovens Taubheit ganz unschuldig war…

© by Claus-Christian Schuster

Beethoven: Trio B-Dur op.97 („Erzherzog-Trio“)

Ludwig van Beethoven

* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827

Trio B-Dur op.97 („Erzherzog-Trio“)

Komponiert:Wien, Entwurf 1810, Ausarbeitung 6.-26. März 1811,
Widmung:Erzhzg. Rudolph von Habsburg, Kardinal-Erzbischof von Olmütz (1788 – 1831)
Uraufführung:11. April 1814, 12 h, Hotel „Zum Römischen Kaiser“ (Wien 1., Renngasse 1)
Ludwig van Beethoven, Klavier
Ignaz Schuppanzigh, Violine
Joseph Linke, Violoncell
Erstausgabe:Steiner, Wien, und Birchall, London, Dezember 1816

Das „Erzherzog-Trio“, Beethovens letzte vollendete Triokomposition, hat immer schon einen Sonderplatz in der Trioliteratur eingenommen. So wie die IX. Symphonie und die letzten Streichquartette als unübertreffliche Höhepunkte der jeweiligen Werkreihen und als Vermächtnis an die Nachwelt begriffen wurden, so sah man auch in diesem Werk die Summe der von Beethoven im Genre Klaviertrio gemachten Erfahrungen und Fortschritte. Daß es sich bei Opus 97 nicht im eigentlichen Sinne um ein abschließendes oder „Spätwerk“ handelt, hat bei dieser Einschätzung kaum eine Rolle gespielt – zu suggestiv ist auch der biographische Kontext: die ungewöhnlich lange Entstehungszeit, die namensgebende Widmung und schließlich Beethovens mit diesem Werk verbundener Abschied vom Konzertpodium.

Aus einer Konversation, die Beethoven Anfang Februar 1827, also wenige Wochen vor seinem Tode, mit seinem Famulus Anton Schindler führte, scheint hervorzugehen, daß der Ideenkreis des Goetheschen Egmont auch in diesem Werk seinen Niederschlag gefunden habe. (Die Komposition der Bühnenmusik zu Goethes Egmont war im Juni 1810 beendet worden.) Tatsache ist jedenfalls, daß die Jahre 1810 bis 1812 die „GoetheJahre“ Beethovens sind, und, ohne uns gleich auf das spekulative Feld der literarischen Interpretation à la Schering (der übrigens in diesem Werk eine Illustration zu Wielands „Oberon“ sehen wollte) begeben zu müssen, kann man doch sagen, daß das „Erzherzog-Trio“ etwas von Goetheschem Geist atmet.

Nur drei große Werke Beethovens aus seinen letzten zwanzig Lebensjahren stehen in B-Dur: das „Erzherzog-Trio“, die „Hammerklavier-Sonate“ (op. 106) und das ursprünglich als Einheit konzipierte Streichquartett mit Großer Fuge (op. 130/133); alle drei Werke sind unmittelbar nach durch Schaffenskrisen, Krankheiten oder persönliche Erschütterungen verursachten Zäsuren in Beethovens Schaffen entstanden. Und wie op. 130/133 in dem unmittelbar davor geschriebenen a-Moll-Streichquartett op. 132 sein „dunkles“ Pendant hat, so geht auch dem Opus 97 ein ganz dunkel getöntes Werk voraus: das Streichquartett f-Moll op. 95. Vielleicht ist es also kein Zufall, daß Beethoven, als das „Erzherzog-Trio“ endlich für den Druck fertig war, an die Komposition eines f-Moll-Klaviertrios schritt, das aber über Skizzen nicht hinausgedieh…

Die Uraufführung fand im Rahmen eines Wohltätigkeitskonzertes statt; tags davor war mit zehntägiger Verspätung die Nachricht von der Entmachtung Napoleons nach Wien gedrungen, das in einen Freudentaumel verfiel. Unter dem 11. April 1814 schreibt der noch nicht zwanzigjährige Ignaz Moscheles, der kurz zuvor Schüler von Antonio Sahen geworden war, in sein Tagebuch:

„In einer musikalischen Unterhaltung im ,Römischen Kaiser‘ in der Mittagsstunde ein neues Trio von Beethoven in B-Dur gehört, von ihm selbst gespielt. Bei wie vielen Kompositionen steht das Wörtchen ,neu‘ am unrechten Platze: Doch bei Beethovens Kompositionen nie, und am wenigsten bei dieser, welche wieder voll Originalität ist. Sein Spiel, den Geist abgerechnet, befriedigte mich weniger, weil es keine Reinheit und Präzision hat; doch bemerkte ich viele Spuren eines großen Spielers, welches ich in seinen Kompositionen schon längst erkannt hatte.“

Eine Wiederholung dieses Konzertes fand einige Wochen später im Prater statt. Allem Anschein nach war dies Beethovens letzter öffentlicher Auftritt als Pianist.

Mit welcher Haltung sich die Zeitgenossen diesem Werk und seinem Komponisten nahten, möge der Beginn einer bald nach der Veröffentlichung des Trios in der Wiener Allgemeinen musikalischen Zeitung erschienenen anonymen Rezension zeigen:

„Wenn es bisweilen erlaubt ist, schon ab auctoritate auf die Güte eines Werkes zu schliessen, so biethet das obengenannte Product diesen Vorzug in doppelter Hinsicht dar; denn abgesehen, dass der Nahme Beethoven an und für sich zu grossen Erwartungen berechtigt, welche durch seine geniale Vielseitigkeit jederzeit nicht nur vollkommen befriedigt, sondern meistens noch weit übertroffen werden, so hat noch überdiess der Verfasser seine Geistesgeburt diesmahl dem erlauchten Mäcenas der Tonkunst geweiht – ihm, der mit den erhabensten Fürstentugenden den reinsten Kunstsinn und die seltensten praktischen Talente vereinigt, dem man daher nur das Auserlesenste, solcher Phönix-Gaben Würdige, zum Opfer darbringen darf. Dass der Orpheus unserer Zeit diesen Forderungen wirklich Genüge geleistet habe, beweiset, neben dem einstimmigen Urtheile aller Kenner, auch die huldvolle Annahme seiner Opfergabe. – Nur für jene also, denen diese Perle in der Strahlenkrone des herrlichen Meisters noch unbekannt ist – für jene wiss- und lernbegierigen Kunstjünger, die mit sehnsuchtsvollen Blicken noch an den Pforten des Tempels weilen, und an der Hand des treuen Führers von einem ehrfurchtsvollen Schauer ergriffen, das Heiligthum betreten, dessen Innerstes ihnen noch unenthüllt ist – vorzüglich für Letztere ist der nachfolgende skizzirte Abriss entworfen, welcher ihnen mitunter einen Fingerzeig geben kann, wo sie die eigenthümlichen Schönheiten desselben aufsuchen sollen, und wodurch sie die wahre Ansicht eines Kunstwerkes erhalten mögen, das durch seinen reellen Werth unzerstörbar zur Nachwelt übergeht…“

Das „Erzherzog-Trio“ hat eine solche Fülle von Erklärungen, Analysen und Kommentaren provoziert, die teils im hagiographischen Stil der eben zitierten Rezension gehalten sind, teils in wissenschaftlicher Akribie und Detailversessenheit schwelgen, daß es völlig unmöglich ist, diesen Gegenstand hier mit einiger Gründlichkeit zu erörtern. Ich möchte mich daher auf einige wenige allgemeine Bemerkungen und ein paar mir persönlich besonders bedeutsame Details beschränken.

Der Kontrast zu dem Vorgängerwerk op. 70 Nr. 2 ist vor allem instrumentatorischer Hinsicht verblüffend groß: dort über weite Strecken ein vierstimmiges Stimmengeflecht, das die Instrument völlig gleichgewichtet am musikalischen Diskurs teilhaben läßt – hier eine unüberhörbare Präferenz für das Klavier, die vor alle im letzten Satz bis an die Grenzen des kammermusikalisch Möglichen getrieben wird; dort ein gleichmäßig ausgewogenes Erschließen des gesamten Tonraumes mit besonders brillanter Verwendung der hohen Geigenlagen – hier eine eindeutige Vorliebe für die dunkleren Register der Geige, während dem Klavier, ganz wie in den späten Sonaten, oft extrem weitgriffige Lagen anvertraut werden, sodaß die beiden Streicher sich oft in Mittelstimmsituationten befinden. Eine weitere Besonderheit des op. 97 liegt in der auffälligen Vorliebe für Pizzicati – besonders eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang die zweite Hälfte der Durchführung des ersten Satzes, die mit ihren tiefen Streicherpizzicati unter Staccato- und Trillerkaskaden des Klavierdiskants ein wirklich unerhörtes und revolutionäres Klangbild bietet. Auf die innere und organische Beziehung zwischen nahezu allen Themen des gesamten Werkes wurde schon oft hingewiesen.

Ein Detail, das meines Wissens bisher noch nicht beachtet wurde und über dessen Interpretation ich hier keine Spekulationen anstellen möchte, ist die eigenartige (programmatisch symbolische?) Verwendung der in B-Dur besonders „unwahrscheinlichen“ Note ces: in allen drei B-Dur-Sätzen erscheint diese Note mit besonderem Nachdruck an neuralgischen, formal besonders wichtigen Punkten, und zwar immer als ostinat pulsierende „Störnote“: im 1. Satz bei der Rückführung zur Reprise im Klavierdiskant – hier ersetzt sie, nachdem die Durchführung in die Tonika statt in die Dominante geführt hat, die fehlende Dominantspannung; im Scherzo löst der Halbtonschritt b-ces den fugierten b-Moll-Trioteil aus – und die Coda dieses Satzes besteht eigentlich aus nichts anderem als eben diesem, 24 Takte lang unermüdlich wiederholten Tonschritt Im Finale schließlich erscheint sie als verdoppelte Note eines Klaviertremolos – und zwar zu Beginn des dritten Ritornells, genau dort, wo die Geige das erste (und einzige) Mal den Themenkopf zu spielen hat; obwohl dieses Erscheinen, zeitlich betrachtet, das flüchtigste ist, gewinnt es besondere Bedeutung dadurch, daß das ces hier die Anderung der Harmonisierung dieses Thementaktes bewirkt – und das, obwohl die erwartete, „richtige“ Harmonie davor acht Takte hindurch orgelpunktartig über einem Crescendo aufgebaut wurde!

Unzählige Bemerkungen dieser Art sind schon gemacht worden und ließen sich ad infinitum noch machen, denn jede erneute Begegnung mit diesem Text schwemmt uns allen, Hörern und Spielern, immer neue rätselhafte, faszinierende und wunderbare Details vor die Füße.

Im ersten Satz (Allegro moderato) erinnert die ungewöhnlich tonale Zweiteilung der Exposition (zweite Hälfte / Seitensatz und Coda in G-Dur) an ein ähnliches Verfahren im Finalsatz von op. 70 Nr. 2. Da die Durchführung in ihrer Mitte – die sich ziemlich genau mit der Mitte des ganzen Satzes deckt – einen 13 Takte langen Orgelpunkt auf D(-Dur) aufweist, das in den folgenden Takten zur Dominante von G-Dur umgedeutet wird, läge die Vermutung nahe, Beethoven habe mit dieser auffälligen Stärkung des relativ weit entfernten G-Dur die Verwendung des D-Dur als Grundtonart für den langsamen Satz sozusagen von langer Hand vorbereiten wollen. Allerdings wissen wir ja aus den Fugen von op. 106 und op. 133, daß bei Beethoven B-Dur und D-Dur sehr gerne in schwesterlicher Eintracht auftreten.

Das Scherzo (Allegro) ist in Beethovens Klavierkammermusik das einzige Beispiel für eine voll ausgeführte, „symphonische“, d.h. also fünfteilige Form des Typs ABABACoda. Umso unverständlicher muß es bleiben, daß etliche der renommiertesten Interpreten sowohl im Studio als auch im Konzertsaal diesen einzigartigen Satz durch sorglose Unterdrückung der Wiederholungen auf eine Alltags-Dreiteiligkeit reduzieren. Daß die „Zeitersparnis“ von etwa vier Minuten diesen kaltschnäuzigen Eingriff aus der Sicht des Publikums rechtfertige, mag ich entgegen allem Kulturpessimismus nicht recht glauben; man sollte meinen, daß gerade ein durch mehrstündige Sportübertragungen abgehärteter Zuhörer, wie ihn erst die letzten Jahrzehnte heranreifen haben lassen, auch dieser vierminütigen Herausforderung gewachsen sein müßte. Das 1. Thema des Hauptteils (A) ist – nicht unähnlich jenem des Menuetts der Ersten Symphonie – einfach eine charakteristisch rhythmisierte Tonleiter über eine Oktave. Der Mittelteil (B) entwickelt sich in konsequentem Kontrast zu dem diatonischen Staccato des Hauptteils aus einem in bedrohlichem Legato chromatisch ansteigenden Quartmotiv, das sich nach kurzem Fugato aber alsbald in einen wirbelnden Tanz befreit – ein Spiel, das mit wechselnder Gewichtung der Teile und in wechselnden Tonarten dreimal wiederholt wird, bevor der Hauptteil wiederkehrt.

Das Andante cantabile wurde immer schon als das „innerste Heiligtum“ des Werkes empfunden. Die weite Entfernung von dem Tonartenspiel der umgebenden Sätze läßt dieses Andante wirklich wie einen abgegrenzten, gleichsam unbetretbaren Bezirk erscheinen. Auf das innige Liedthema, das in seinem metrischen Habitus eine gewisse Verwandtschaft zu dem analogen Variationensatz aus der Klaviersonate op. 109 aufweist, folgen vier durch das Prinzip der schrittweisen Akzeleration verbundene Figuralvariationen, an welche sich eine besonders ausgedehnte und gedankentiefe Coda anschließt. Über das Problem des Überganges zum Finalsatz (Allegro moderato), den Beethoven unmittelbar folgen läßt, schreibt Rudolf Bockholdt in seiner jüngst (1992) veröffentlichten Studie zum Andante des op. 97:

„Nach äußerster Bedrohung ist am Ende des Satzes der Zustand tiefen Friedens wiederhergestellt. Für das in sich versunkene, sinnende Ich ist die Außenwelt wie nicht vorhanden. Aber: die Außenwelt ist vorhanden. An der Rücksichtslosigkeit, mit der Beethoven den letzten Satz beginnen läßt, kann man sich stoßen, hat dies auch getan und das ganze Finale sogar als geschmacklos empfunden (mit Kopfschütteln gleichsam: ,solche Musik nach diesem Satz!‘). Das dreimalige Motiv zu Beginn ist aus dem ,Abschieds‘-Motiv des Andanteschlusses abgeleitet und wirkt wie eine mutwillige Persiflage desselben. Beethovens Vision ist ebenso erschreckend – das ist sie in der Tat – wie grandios. Mit einem einzigen Akkord, dem Septakkord auf b, löst sich die ganze D-Dur-Musik wie eine Fata Morgana auf. Der Ton b ist auf einmal ,nur‘ ein Leitton von es. Wir hatten vergessen, daß die Tonalität des Werkes von den Tönen es und b beherrscht wird. Es war ohnehin ein Wunder, daß das gleich neben d liegende, von diesem nur durch eine ganz dünne Wand getrennte es so lange draußen gehalten werden konnte. Jetzt wird die Wand durchstoßen. Wir treten wieder in die Welt der sogenannten nackten Tatsachen ein; die Musik des letzten Satzes ist von handfester und unbekümmerter Diesseitigkeit. Die Friedensvision ist verschwunden. Vergessen ist sie damit nicht.“

In der Tat scheinen schon die Zeitgenossen – und zwar auch die Musiker aus Beethovens nächster Umgebung – mit dieser Metamorphose ihre liebe Not gehabt zu haben. Im folgenden, sich auf diesen Umstand beziehenden Bericht erzählt der Schubert-Freund Franz Lachner (1803-1890) von einem Zusammentreffen mit Beethoven im Hause Streicher in der Ungargasse:
„… Eines Tages war ich allein dort und sass am Flügel neben Nanette Streicher, welche eben das grosse B-Dur-Trio von Beethoven Op. 97 studirte. Da trat plötzlich Beethoven, auf dessen Hauswesen Frau Streicher viel Einfluss hatte, in das Zimmer, eben als wir bis zum Anfang des letzten Satzes gekommen waren. Er hörte unter Anwendung des stets in seiner Hand befindlichen Hörrohres einige Augenblicke zu, zeigte sich aber alsbald mit dem zu zahmen Vortrage des Hauptmotivs des Finales nicht einverstanden, sondern beugte sich über die Clavierspielerin hinüber und spielte ihr dasselbe vor, worauf er sich alsbald wieder entfernte…“

Einige Jahrzehnte später (1860) wird derselbe Gewährsmann dann so zitiert:
„In einem durch seine Pflege der Musik bekannten und berühmten Hause Wiens hatte eine namhafte Künstlerin auf dem Klavier den sehr originell und eigentümlich anhebenden vierten Satz eben begonnen, als Beethoven mit ernsten, fast feierlichen Schritten und den Worten: ,Nichts! Nichts!‘ eintrat. Lautlose Stille unter allen Anwesenden, die längst schon nur mit Scheu und Ehrfurcht zu dem einzigen Meister emporzublicken vermochten. Dieser aber näherte sich der Pianistin, beugte sich über dieselbe und spielte in dieser Stellung mit glühendem und sprühendem Auge den Hauptgedanken des berühmten Tonstückes vor. Das Instrument schien wie völlig umgewandelt, die einzelnen Töne erklangen mit einer wunderbaren Energie, Kraft und Fülle, und die Zuhörer allzumal fühlten sich unwiderstehlich wie von einer höhern und überirdischen Macht tief und gewaltig erschüttert.“

Hier schließt sich der Kreis. Was wir einleitend über die Verselbständigung des Beethoven-Bildes gesagt haben, manifestiert sich hier im direkten Vergleich dieser beiden, offenbar auf ein und dieselbe Begebenheit zurückgehenden Berichte. Aus einem biedermeierlichen Idyll ist ein historisches Schauspiel geworden, das nur mehr der Dekoration durch Hans Makart harrt. Aber wir wollen bedenken, daß beides – familiäres Idyll und numinoses Mysterium – im Kern wohl das gleiche Maß an Wahrheit und Verzerrung enthalten; und daß unser einziger Weg zu Beethoven nicht die gedachte, besprochene und umstrittene, sondern die lebendige und klingende Musik ist.

© by Claus-Christian Schuster

Beethoven: Trio Es-Dur op.70 Nr.2

Ludwig van Beethoven

* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827

Trio Es-Dur op.70 Nr.2

Komponiert:Wien, 1808
Widmung:Anna Maria von Erdödy
Uraufführung:nicht dokumentiert, privat wahrscheinlich Anfang 1809,
bei Gräfin Erdödy (Wien, Krugerstraße 10)
Ludwig van Beethoven, Klavier
Ignaz Schuppanzigh, Violine
Anton Kraft, Violoncello
Erstausgabe:Breitkopf & Härtel, Leipzig, August 1809

Von den beiden 1808 komponierten Klaviertrios hat das erste sich die besondere Gunst des „breiten“ Publikums erworben; unter dem auf eine Rezension E. T. A. Hoffmanns zurückgehenden Namen „Geister-Trio“ ist es mit Abstand das meistgespielte der Beethovenschen Klaviertrios – ein eindrucksvolles Beispiel unter anderem für die auch vor der Musik nicht haltmachende Faszination von Marke und Etikett ( – was ist schon ein Trio ohne Namen?…). Das zweite hingegen ist namenlos geblieben und nie so recht populär geworden, obwohl es nicht wenige Kammermusikfreunde gibt, die gerade in ihm das meisterlichste aller Beethoven-Trios sehen. Beethoven selbst hat, wenn wir dem Zeugnis seiner Gesprächspartner glauben dürfen, das Es-Dur Trio immer dem „Geister-Trio“ vorgezogen. Die ungewöhnliche Zweizahl des Opus 70 ( – Standard waren in der Kammermusikproduktion damals Opera zu drei oder sechs Werken – ) führte übrigens bei der Drucklegung zu einem bemerkenswerten Zwischenfall. Auf eine Anfrage des Verlegers bezüglich der Drucklegung von „drei“ neuen Trios antwortet Beethoven verblüfft:


„Soviel ich weiß, habe ich nur zwei Trios geschickt. Es muß hierbei ein Irrtum obwalten. Sollte vielleicht Wagener den Spaß gemacht haben und ein drittes von seiner Erfindung oder von einem anderen hinzugefügt haben? Um allen Irrtum zu vermeiden, setze ich die Themas der Stücke her…“

(Wien, 28. März 1809)

Sollte wirklich, wie Beethoven vermutet, Breitkopf & Härtels Wiener Verlagskommissionär Wagener versucht haben, ein eigenes Elaborat unter die ihm zur Weitersendung anvertrauten Manuskripte zu schmuggeln und durch diese Hintertüre zu erschlichenem Komponistenruhm zu gelangen, wäre das wirklich eine Eulenspiegeliade, für deren naive Unverfrorenheit allein dem guten Mann schließlich doch ein kleines Stück Unsterblichkeit gebühren würde.

Auch die Widmung des Opus 70 war nicht frei von Komplikationen. Beethoven hatte die beiden Werke wahrscheinlich gerade beendet, als er im Herbst 1808 aus seinem langjährigen Quartier im Pasqualati-Haus auf der Mölker-Bastei in die Stadtwohnung seiner Gönnerin und Freundin, der Gräfin Marie von Erdödy, in dier Krugerstraße übersiedelte. Als eine Art Einstandsgeschenk hatte er ihr offenbar die neuen Trios zugedacht. Als es jedoch zwischen den beiden bald darauf (wahrscheinlich im März 1809) wegen Beethovens übersteigerter Reizbarkeit zu einem kurzfristigen Zerwürfnis kam, und der gekränkte Meister das Quartier wechselte, versuchte er beim Verleger noch in letzter Minute eine Änderung der Dedikation zugunsten von Erzherzog Rudolph zu erreichen, wozu es aber offensichtlich schon zu spät war. Wahrscheinlich hatte Beethoven Erzherzog Rudolph von dieser Absicht unterrichtet, und mithin könnte diese Episode der unmittelbare Anlaß für die Widmung von Beethovens letztem Klaviertrio op.97 an Erzherzog Rudolph sein ( – wodurch wieder einmal ein Trio zu einem publikumswirksamen Markennamen gekommen wäre…).

Wahrscheinlich spiegeln diese mannigfaltigen Verwirrungen ein wenig auch die gereizte und hektische Atmosphäre der napoleonischen Kriege wieder. Von all dem ist aber im Werk selbst nichts zu hören – die reife Sammlung und überlegene Ausgewogenheit des Es-Dur-Trios sind wahrlich bewundernswert.

Das Poco sostenuto des Beginns verwendet ein kanonisch durchgeführtes Motiv zur Eröffnung. Diesem improvisatorisch wirkendem Anfang liegt die harmonische Fortschreitung des späteren Hauptthemas (Allegro ma non troppo, Es-Dur) zugrunde. Daher wäre es nicht richtig, in diesem eröffnenden Abschnitt einfach eine langsame Einleitung zu sehen – zu eng sind seine Bindungen an das folgende Geschehen: es dient sowohl in der Exposition als auch in der Reprise als Bindeglied zwischen Haupt- und Seitensatz und kehrt zudem noch als Coda in seiner ursprünglichen Gestalt wieder. Der edle Schwung des eigentlichen Hauptthemas wirkt womöglich noch faszinierender, wenn man es mit seiner infantilen Urgestalt, dem Kopfthema des letzten Satzes aus Beethovens frühem Es-Dur-Trio (WoO 38, 1790/91), vergleicht. Solche über lange Zeiträume sich erstreckende allmähliche Metamorphosen vom Gewöhnlich-Banalen zum Einmalig-Genialen, die bei Beethoven ja keine Seltenheit darstellen, sind vielleicht geeignet, unsere Vorstellungen von „Einfall“ und „Eingebung“ etwas zu relativieren. – Das Kronjuwel des Satzes ist wohl der Wiedereintritt der Reprise, die wie aus Versehen in Des-Dur beginnt und innerhalb eines einzigen Taktes in die „richtige“ Tonart Es-Dur zurückfindet – ganz ohne Gewalttätigkeit, aber auch ohne „Gelehrtheit“: einfach traumwandlerisch.

Mit den beiden Mittelsätzen beschreitet Beethoven einen Weg, auf dem Brahms ihm später mit Vorliebe folgen sollte: die Abfolge von langsamem Satz und Scherzo wird ersetzt durch ein Diptychon aus zwei Sätzen nahezu identischen Tempos, aber komplementären Charakters. Hier handelt es sich um ein Allegretto (C-Dur/c-moll) in Form von Doppelvariationen, die um die beiden Pole zierliche Anmut und grimmige Entschlossenheit kreisen, und um ein liedhaftes Allegretto ma non troppo (As-dur), das uns vor allem in seinem Trio ganz auf Schubertsches Terrain führt. Die traumhafte und zärtliche Verhaltenheit dieses Satzes läßt den überbordenden Elan des Finales (Allegro, Es-Dur) umso wirkungsvoller hereinbrechen. Czerny will wissen, daß Beethoven für das G-Dur-Seitenthema dieses Satzes ebenso wie für den Durteil des zweiten Satzes auf Anregungen durch in Ungarn gehörte kroatische Volkslieder zurückgegriffen habe. Diese Feststellung kann sich wohl nur auf den rhythmischen Gestus der beiden in Frage stehenden Themen beziehen – alles andere an ihnen ist – im besten Sinne des Wortes – pure Kunst. Besonders bewundernswert ist die Subtilität, mit der Beethoven sich die Dynamik der für das Seitenthema gewählten Mediante als Konstruktionsprinzip zunutze macht: weil dem ausgedehnten G-Dur-Passus der Exposition in der Reprise ein ebenso großflächiger C-Dur-Abschnitt entspricht, ergibt sich die dramaturgische Notwendigkeit einer Art „zweiter Reprise“ des Seitenthemas auf der Tonika, in der nun bisher ausgesparte Möglichkeiten der Instrumentation und Charakterisierung eingesetzt werden. Diese hier wie an Dutzenden anderer Stellen erkennbare raffinierte Balance zwischen unmittelbarer Vitalität und meisterlichem Kalkül machen diesen Satz zu einem der Höhepunkte der gesamten Klaviertrioliteratur.

© by Claus-Christian Schuster

Beethoven: Trio D-Dur op.70 Nr.1 („Geister Trio“)

Ludwig van Beethoven

* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827

Trio D-Dur op.70 Nr.1 („Geister Trio“)

Komponiert:Wien, etwa Juni bis September 1808
Widmung:Anna Maria von Erdödy, geb. Niczky (1779-1837)
Uraufführung:privat: Wien, Krugerstraße 10 (bei Gräfin Erdödy), vor dem 10.Dezember 1808
Ludwig van Beethoven, Klavier
Ignaz Schuppanzigh (1776-1830), Violine
Joseph Linke (1783-1837), Violoncello
Erstausgabe:Breitkopf & Härtel, Leipzig, August 1809

In Beethovens Kammermusik ist die Dreisätzigkeit die Ausnahme: Schon in seinem Opus 1 wendet er sich von diesem bis dahin vorherrschenden Schema ab, und nach dem Klaviertrio op.11 („Gassenhauer-Trio“), den drei Sonaten für Klavier und Violine op.12 und der Hornsonate op.17 – alle diese Werke entstanden zwischen 1797 und 1800 – werden wir nur noch viermal dreisätzigen Kammermusikwerken begegnen: der Sonate für Klavier und Violine op.30 Nr.3 (G-Dur), der „Kreutzer-Sonate“ (op.47), dem vorliegenden Trio und zuletzt der Sonate für Klavier und Violoncello op.102 Nr.2, die mit dem „Geister-Trio“ auch in Grundtonart und Tonartenfolge übereinstimmt. (Es ist vielleicht erwähnenswert, daß auch Beethovens beide D-Dur-Klaviersonaten, op.10 Nr.3 und op.28, dreisätzige Werke mit einem Mittelsatz in D-moll sind.)
Offenbar wurde die Arbeit an diesem Trio während eines Sommeraufenthaltes in Heiligenstadt begonnen, und zwar allem Anschein zu einem Zeitpunkt, als das Schwesterwerk schon recht weit gediehen war; trotzdem war das Werk (laut Beethovens Zeugnis) bereits Mitte September, also früher als das Es-Dur-Trio, vollendet.

Das eröffnende Allegro vivace e con brio überfällt den Zuhörer mit einem lapidaren Incipit, dessen gedrängter Ansturm keinen Raum für metrische Ordnung läßt – erst dahinter eröffnet sich nach einer ebenso jähen wie scheinbar folgenlosen Wendung in die Submediante der schwärmerische Reichtum eines begeisterten Dreivierteltaktes. Der hymnische Fluß dieser wohl gerafftesten aller großen Beethoven-Expositionen vereint auf engstem Raum „bildhauerische“ und „malerische“ Elemente. In der Durchführung, die der Exposition an Prägnanz um nichts nachsteht, treten die einzelnen motivischen Elemente in einen ebenso brillanten wie subtilen kontrapunktischen Wettstreit. Erst in der Reprise wird in verdoppeltem Anlauf die am Satzbeginn angedeutete Submediantrückung beim Wort genommen: Dieser B-Dur-Exkurs mutet wie ein träumerischer Vorgriff auf die Welt des „Erzherzog-Trios“ an. Trotz dieser lyrischen Erweiterung bleibt aber auch hier die ungewöhnliche Gedrängtheit der Darstellung bewahrt, so daß die von Beethoven geforderte (und von den meisten Interpreten kaltblütig verweigerte) Wiederholung von Durchführung und Reprise gewissermaßen eine architektonische Notwendigkeit darstellt. Erst danach, zum Beginn der Coda, darf sich der unaufhaltsame Fluß eine kurze Wegstrecke lang in die (bis dahin kaum berührte und jetzt umso zauberischer wirkende) Subdominante G-Dur weiten. Mit einer Crescendo- Stromschnelle kommt der Satz dann zu einem das Incipit ein letztes Mal energisch resümierenden Abschluß.

Daß der Mittelsatz (Largo assai ed espressivo, d-moll) das Herzstück des Werkes sei, darüber herrscht zwischen Hörern, Interpreten und Musikwissenschaftlern seltene Einmütigkeit. Der Einzigartigkeit dieser tondichterischen Vision ist Stefan Kunze (1933-1992) in einer bemerkenswerten Studie („Beethovens »Besonnenheit« und das Poetische“) nachgegangen. Hier wird auch eine ebenso differenzierte wie klare Antwort auf die seit den verunglückten literarischen Deutungsversuchen von Arnold Schering (1934) nicht mehr verstummen wollende Frage nach der Beziehung zwischen (nicht unwahrscheinlichen) außermusikalischen Anregungen und dem Beethovenschen Werk gegeben: „Die Bündigkeit, mit der […] Empfindung und Konstruktion sich gegenseitig bedingen, spricht dafür, daß zwischen dem möglichen Ausgangspunkt und dem Resultat (dem vollendeten Werk) kein relevantes Verhältnis mehr besteht, kein Rest von »Abbildlichkeit« bleibt. Die Sprachfähigkeit von Beethovens Musik hat Ergänzung oder Stützung nicht nötig. Die Wirklichkeit, die aus Beethovens Tönen spricht, ist eine in keiner Hinsicht erborgte – weder aus dem Reich romantischer Welterfahrung, noch aus Shakespeares nachtschwarzen albtraumhaften Visionen, die ihrerseits unübertragbar sind. Seine Musik bedarf keines »Schlüssels«, der außerhalb ihrer selbst zu suchen wäre. (Dies soll nicht heißen, es sei nicht wissenswert, wodurch Beethovens Phantasie im einen oder anderen Fall in Gang gesetzt, vielleicht beflügelt wurde.)“ Im konkreten Fall wird eine solche Wißbegierde wenigstens zum Teil dadurch befriedigt, daß sich auf einem Skizzenblatt Entwürfe zu einer geplanten Oper Macbeth und zu unserem Largo unmittelbar nebeneinander (und auch durch die gleiche Tonart aufeinander bezogen) finden. Den evokativen Reichtum dieser Musik aber auf ein Shakespeare-„Programm“ festlegen zu wollen (worauf ja auch die populäre Bezeichnung „Geister-Trio“ abzielt), hieße, die Autonomie der hier gewonnenen musikalischen Gestalt zu verkennen. Wer noch einen Beweis für die Unzulänglichkeit der „Programm“-Theorie sucht, kann ihn übrigens im Autograph des Satzendes finden: Nicht weniger als fünf Anläufe benötigte Beethoven, um zur gültigen Formulierung dieses Schlusses zu gelangen – und die beiden vollständig ausgeführten Varianten münden wahlweise in einen konzis affirmativen (die verworfene) und einen erschöpft verebbenden Schluß (die endgültige Fassung); daß das bei Vorliegen eines konkreten außermusikalischen dramaturgischen Programms schwer denkbar wäre, dürfte wohl einleuchten.

Der Finalsatz (Presto) mutet wie eine spielerische, von allen dramatischen und kontrapunktischen Komplikationen befreite Widerspiegelung des Kopfsatzes an. Dieser Eindruck wird schon durch die auffällige, mit einer Fermate betonte Mediantwendung der ersten Phrase hervorgerufen – das irrationale und folgenlose Fis-Dur entspricht spiegelbildlich dem ebenso „unerklärten“ B-Dur am Anfang des Werkes. Die Fernbeziehung zwischen den beiden Wendungen wird am Ende des Satzes (T.378 ff.), wo die „Auflösung“ in die Tonika den Umweg über B-moll nimmt, noch sinnfälliger. (Natürlich läßt sich hier wie dort ganz bequem eine rein funktionale Erklärung des Vorganges finden, aber mit der unmittelbar erlebbaren Klangrealität haben solche Erklärungen recht wenig zu tun.) Auf die generische Verwandtschaft dieses Finales mit dem 5. Satz aus dem Streichquartett op.131 ist schon verschiedentlich hingewiesen worden – beiden Sätzen ist nicht nur die eben erwähnte harmonische Finesse, sondern auch Tempobezeichnung, Taktart und metrisches Grundgerüst gemeinsam. Die – vor allem nach dem vorangegangenen Largo – verblüffende Leichtgewichtigkeit des Schlußsatzes, seine geradezu clownesken (stellenweise wäre man sogar versucht zu sagen: dadaistischen) Züge wurden und werden von einigen strengen Kunstrichtern mit kritischem Stirnrunzeln vermerkt; doch gerade diese dramaturgische Eigenwilligkeit ließe sich in konsequenter Fortsetzung der im Largo geweckten Assoziationen mit ähnlich radikalen Stimmungsbrüchen in den Shakespeareschen Tragödien in Zusammenhang bringen. Joseph Kerman nannte den Satz „Beethoven´s Musikalischer Spaß without Mozart´s malice“ – und, wie immer man über Mozarts Bosheit denken mag, ein wirklicher Spaß ist dieses Finale allemal.

© by Claus-Christian Schuster

Beethoven:Variationen Es-Dur op.44

Ludwig van Beethoven

* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827

Variationen Es-Dur op.44

Komponiert:Wien, etwa 1793, beendet um 1800
Erstausgabe:Hoffmeister & Kühnel, Leipzig, 1804

Über die Entstehungsgeschichte dieses Werkes wissen wir nahezu nichts; auf der Rückseite des Autographs der Lieder „Feuerfarb'“ (op.52 Nr.2) und „An Minna“ (WoO 115), die auf die Jahreswende 1792/93 datiert werden, scheint das Thema neben einigen Skizzen zum Klaviertrio op.1 Nr.1 das erste Mal auf. Dieses im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde aufbewahrte Blatt ist der einzige autographe Beleg für die Komposition. Das fertige Werk wurde erst im Jänner 1804 veröffentlicht; stilistische Merkmale legen eine Entstehungszeit nicht nach 1800 nahe. Das Thema der Variationen wurde bis vor kurzem Beethoven selbst zugeschrieben. Erst 1991 hat es Sieghard Brandenburg als das der Arie „Ja, ich muß mich von ihr scheiden“ aus der komischen Operette „Das rothe Käppchen“ von Carl Ditters von Dittersdorf identifizieren können. Dieses Werk war 1788 in Wien uraufgeführt und 1792 bei Schott in Mainz gedruckt worden.

Petra Weber-Bockholdt hat in einer dem Werk gewidmeten Studie darauf hingewiesen, daß von den zwölf originalen und vollendeten Werken Beethovens für Klavier, Violine und Violoncello gleich fünf in Es-Dur stehen, und also eine gewisse Affinität zwischen dieser Besetzung und dieser Tonart zu bestehen scheint: „In Opus 44 kulminiert diese Affinität gleichsam dergestalt, daß hier… der Es-Dur-Dreiklang selber den Gegenstand der Variationen bildet. Er tut dies in provokant nackter Beschaffenheit: auch bei Beethoven selbst sind einfache, bisweilen plakative thematische Gestalten ja keine Seltenheit, aber die ersten vier Takte von op.44 unterbieten an Kargheit alles, was wir an einfachen musikalischen Gestalten kennen: Alle drei Instrumente tragen den Es-Dur-Dreiklang gebrochen, unisono und oktaviert vor.“

Die nachfolgenden vierzehn Variationen sind ein Wunderwerk an subtiler Charakterisierung und raffiniertem Spiel mit vieldeutigen Details. Auch die Dramaturgie des Ablaufes ist überaus sorgfältig durchdacht. Die erste Variation hebt die metrische und harmonische Unbestimmtheit des Themas auf und etabliert den leichtfüßigen, aber im Tempo verhaltenen Alla-breve-Takt mit hingetupften Akkorden, über denen die rechte Hand des Klaviers das Thema zierlich zerstäubt; nach dieser charakterlichen Interpretation des Themas stellen die Variationen II bis IV einem traditionellen Ablaufmuster folgend die drei Instrumente der Reihe nach solistisch vor. Die folgenden beiden Variationen durchbrechen dann das dynamische und metrische Ebenmaß der bisherigen Entwicklung auf wirkungsvolle Weise mit ins Leere gehenden Crescendi und mutwilligen Akzentversetzungen. Mit den Variationen VII und VIII haben wir die formale und gedankliche Mitte des Werks erreicht: auf ein elegisches und inniges Zwiegespräch zwischen den Streichern (Largo, es-moll) folgt ein origineller Dialog zwischen den beiden Händen des Klaviers (Un poco adagio, Es-Dur), wobei der Baß das Thema in seiner nackten Urgestalt festhält; der hier erreichte Schwebezustand zwischen den eleganten Figurationen des Diskants und diesem naiv-plumpen Cantus firmus unter den pochenden Streichertriolen macht diese Variation schon für sich genommen zu einem Musterbeispiel der Beethovenschen Kunst vielschichtiger Charakterisierung mit sparsamsten Mitteln. Mit der folgenden Variationengruppe (IX – XII) kehren wir wieder ins Ausgangstempo und zu dem Nuancierungsspiel der Variationen V – VI zurück, denen sie spiegelbildlich entsprechen. Die vorletzte Variation (Adagio, es-moll) nimmt noch einmal die Stimmung der ersten Minore-Variation (VII) auf, wobei diesmal das Klavier Soloinstrument ist und in einer ergreifenden chromatische Umdeutung der Schlußtakte (mit einem wundervollen Trugschluß nach Ces-Dur) den Punkt der größten Entfernung von der Harmlosigkeit des Themas erreicht. Auch die anschließende Finalvariation (Allegro) bezieht sich, diesmal aber nicht intensivierend sondern antagonistisch, auf die erste Minore-Variation, indem sie deren Metrum (6/8) mit völlig verändertem Charakter wiederaufgreift. Diese gemeinsame Beziehung der letzten beiden Variationen auf die Werkmitte wird noch durch die Coda unterstrichen, in der auf den der vorletzten Variation entlehnten Trugschluß ein wörtliches Zitat derselben folgt. Den Schluß bildet wieder der schmucklose Es-Dur-Dreiklang des Themenkopfes, diesmal im Kanon zwischen den Instrumenten, der endlich in eine köstlichen Miniaturstretta mündet.

© by Claus-Christian Schuster