Juon: Trio-Caprice nach Selma Lagerlöfs „Gösta Berling“, h-moll, op.39 [Trio No.2]

Paul Juon

* 23. Februar 1872
† 21. August 1940

Trio-Caprice nach Selma Lagerlöfs „Gösta Berling“, h-moll, op.39 [Trio No.2]

Komponiert:Berlin, 1907/08
Widmung:Russisches Trio (Russkoe Trio)
Uraufführung:München, ADMV, 5. Juni 1908
Russisches Trio (Russkoe Trio)
Vera Maurina (1876-1969), Klavier
Iosif Issakovic (Joseph) Press (1871-1938), Violine
Moisej Issakovic (Michael) Press (1881-1924), Violoncello
Erstausgabe:Schlesinger, Berlin, 1908

Juons zweites Klaviertrio erschien im Jahre 1908 mit einer Widmung an jenes Ensemble, das sich über die ganze Zeit seines Bestehens am nachhaltigsten und erfolgreichsten für das Werk des Komponisten eingesetzt hat und das auch dieses Opus uraufführte: das Russische Trio. Juons Studienkollege Josef Press (1881-1924), der als einer der besten Repräsentanten der Moskauer Geigenschule galt, hatte dieses Ensemble 1906 zusammen mit seiner Frau Vera Maurina (Klavier) und seinem Bruder Michael Press (Violoncello) gegründet. In den Vorkriegsjahren residierte das Trio in Berlin und gehörte zu Juons engerem Freundeskreis. Auch Selma Lagerlöf (1858-1940), die sich schon mit ihrem Erstlingswerk „Gösta Berlings Saga“ (1891) Weltruhm erworben hatte, hatte Juon in Berlin kennengelernt. Seine Bewunderung für die Eigenart der großen Dichterin drückte er in zwei großangelegten Kammermusikkompositionen aus: der Rhapsodie op.37 für Klavierquartett (1907) und unserer im darauffolgenden Jahr beendeten Trio-Caprice.

Zum Verhältnis zwischen literarischer Vorlage und ihrer musikalischen Ausdeutung bemerkte der Komponist anläßlich der Uraufführung des Werkes: „Dieses Werk ist durch Selma Lagerlöfs »Gösta Berling« angeregt worden, doch soll es keine Programmusik im üblichen Sinne sein, denn es will weder bestimmte Vorgänge oder Situationen noch gewisse Personen musikalisch charakterisieren. Vielmehr hat der eigenartige Stil des Lagerlöfschen Buches – das Launenhafte, Kapriziöse, das Rhapsodische und Episodische desselben, also gewissermaßen die Stimmung des Buches im ganzen – die Komposition der Trio-Caprice beeinflußt.“

Der erste Satz (Moderato non troppo, h-moll) entwickelt auf rhapsodische Weise zwei Grundgedanken, die nur mehr sehr bedingt als „Haupt-“ und „Seitenthema“ eines Sonatensatzes gedeutet werden können. In allen Teilen der Großform ABABA wird das Material assoziativ verarbeitet und verknüpft, wobei der dritte Abschnitt am deutlichsten durchführungsartige Züge aufweist, während die Eckteile einander spiegelbildlich entsprechen und als Exposition und (invertierte) Reprise fungieren.

Auch in den als unzertrennliche Einheit konzipierten Mittelsätzen (Andante, G-Dur, und Scherzo. Vivace, d-moll) ist die formale Dramaturgie des traditionellen viersätzigen Zyklus erkennbar, aber auf sehr persönliche und charakteristische Weise umgedeutet und neugestaltet: Im Andante wird ein weiträumiges, zwischen Dur und Moll irisierendes Thema nicht etwa „variiert“, sondern von seinem harmonischen Fundament abgelöst, auf dem sich dann ein völlig andersgeartetes Nachfolgethema breitmacht. Am Spiel zwischen diesen beiden „Verkleidungen“ desselben Gerüstes läßt sich die für die Musik des Jugendstils so typische Spannung zwischen archaisch-volksliedmäßigen und urban-salonhaften Elementen wieder besonders gut nachvollziehen. Juon nützt die sich aus der Verschiedenartigkeit dieser Elemente ergebenden Möglichkeiten mit sicherer Hand aus und versteht es auch, im nachfolgenden Scherzo einen saltarelloartigen Hauptteil mit einem marschmäßigen Trio (in das er noch Zitate der vorangehenden beiden Sätze einflicht) so mühelos zu verbinden, daß sich aus all diesen heterogenen Schichten doch noch eine zwingende Einheit ergibt. Das am Schluß des Scherzos wiederholte Incipit des Andante ist daher nicht eine leitmotivische Pflichtübung, sondern folgerichtiger Ausdruck organischer Kohärenz.

In analoger Weise mündet das eigenwillige Finale (Risoluto, h-moll), in dem der schwedische Landpastor Gösta Berling uns etliche Male in akzentfreiem (und recht ungebärdigem) Russisch anzuspechen scheint, in eine hymnische Beschwörung der beiden Leitthemen des ersten Satzes, bevor die Schlußwendung des Andante-Themas, die jetzt alle fragende Nachdenklichkeit abgeworfen hat, dem Satz ein grimmiges Ende bereitet. Angesichts der Fülle dieser Rückgriffe und Querverbindungen ist es besonders bemerkenswert, daß Juon es verstand, diesem Satz eine lapidare zweiteilige Form zu geben, deren dramaturgisch begründete Unregelmäßigkeiten dadurch kompensiert werden, daß der Beginn des zweiten Teiles mit mathematischer Präzision in die Satzmitte fällt – ein weiterer Beleg dafür, daß rhapsodische Impulsivität und formales Kalkül einander nicht ausschließen müssen.

© by Claus-Christian Schuster