Beethoven: Trio B-Dur op.97 („Erzherzog-Trio“)

Ludwig van Beethoven

* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827

Trio B-Dur op.97 („Erzherzog-Trio“)

Komponiert:Wien, Entwurf 1810, Ausarbeitung 6.-26. März 1811,
Widmung:Erzhzg. Rudolph von Habsburg, Kardinal-Erzbischof von Olmütz (1788 – 1831)
Uraufführung:11. April 1814, 12 h, Hotel „Zum Römischen Kaiser“ (Wien 1., Renngasse 1)
Ludwig van Beethoven, Klavier
Ignaz Schuppanzigh, Violine
Joseph Linke, Violoncell
Erstausgabe:Steiner, Wien, und Birchall, London, Dezember 1816

Das „Erzherzog-Trio“, Beethovens letzte vollendete Triokomposition, hat immer schon einen Sonderplatz in der Trioliteratur eingenommen. So wie die IX. Symphonie und die letzten Streichquartette als unübertreffliche Höhepunkte der jeweiligen Werkreihen und als Vermächtnis an die Nachwelt begriffen wurden, so sah man auch in diesem Werk die Summe der von Beethoven im Genre Klaviertrio gemachten Erfahrungen und Fortschritte. Daß es sich bei Opus 97 nicht im eigentlichen Sinne um ein abschließendes oder „Spätwerk“ handelt, hat bei dieser Einschätzung kaum eine Rolle gespielt – zu suggestiv ist auch der biographische Kontext: die ungewöhnlich lange Entstehungszeit, die namensgebende Widmung und schließlich Beethovens mit diesem Werk verbundener Abschied vom Konzertpodium.

Aus einer Konversation, die Beethoven Anfang Februar 1827, also wenige Wochen vor seinem Tode, mit seinem Famulus Anton Schindler führte, scheint hervorzugehen, daß der Ideenkreis des Goetheschen Egmont auch in diesem Werk seinen Niederschlag gefunden habe. (Die Komposition der Bühnenmusik zu Goethes Egmont war im Juni 1810 beendet worden.) Tatsache ist jedenfalls, daß die Jahre 1810 bis 1812 die „GoetheJahre“ Beethovens sind, und, ohne uns gleich auf das spekulative Feld der literarischen Interpretation à la Schering (der übrigens in diesem Werk eine Illustration zu Wielands „Oberon“ sehen wollte) begeben zu müssen, kann man doch sagen, daß das „Erzherzog-Trio“ etwas von Goetheschem Geist atmet.

Nur drei große Werke Beethovens aus seinen letzten zwanzig Lebensjahren stehen in B-Dur: das „Erzherzog-Trio“, die „Hammerklavier-Sonate“ (op. 106) und das ursprünglich als Einheit konzipierte Streichquartett mit Großer Fuge (op. 130/133); alle drei Werke sind unmittelbar nach durch Schaffenskrisen, Krankheiten oder persönliche Erschütterungen verursachten Zäsuren in Beethovens Schaffen entstanden. Und wie op. 130/133 in dem unmittelbar davor geschriebenen a-Moll-Streichquartett op. 132 sein „dunkles“ Pendant hat, so geht auch dem Opus 97 ein ganz dunkel getöntes Werk voraus: das Streichquartett f-Moll op. 95. Vielleicht ist es also kein Zufall, daß Beethoven, als das „Erzherzog-Trio“ endlich für den Druck fertig war, an die Komposition eines f-Moll-Klaviertrios schritt, das aber über Skizzen nicht hinausgedieh…

Die Uraufführung fand im Rahmen eines Wohltätigkeitskonzertes statt; tags davor war mit zehntägiger Verspätung die Nachricht von der Entmachtung Napoleons nach Wien gedrungen, das in einen Freudentaumel verfiel. Unter dem 11. April 1814 schreibt der noch nicht zwanzigjährige Ignaz Moscheles, der kurz zuvor Schüler von Antonio Sahen geworden war, in sein Tagebuch:

„In einer musikalischen Unterhaltung im ,Römischen Kaiser‘ in der Mittagsstunde ein neues Trio von Beethoven in B-Dur gehört, von ihm selbst gespielt. Bei wie vielen Kompositionen steht das Wörtchen ,neu‘ am unrechten Platze: Doch bei Beethovens Kompositionen nie, und am wenigsten bei dieser, welche wieder voll Originalität ist. Sein Spiel, den Geist abgerechnet, befriedigte mich weniger, weil es keine Reinheit und Präzision hat; doch bemerkte ich viele Spuren eines großen Spielers, welches ich in seinen Kompositionen schon längst erkannt hatte.“

Eine Wiederholung dieses Konzertes fand einige Wochen später im Prater statt. Allem Anschein nach war dies Beethovens letzter öffentlicher Auftritt als Pianist.

Mit welcher Haltung sich die Zeitgenossen diesem Werk und seinem Komponisten nahten, möge der Beginn einer bald nach der Veröffentlichung des Trios in der Wiener Allgemeinen musikalischen Zeitung erschienenen anonymen Rezension zeigen:

„Wenn es bisweilen erlaubt ist, schon ab auctoritate auf die Güte eines Werkes zu schliessen, so biethet das obengenannte Product diesen Vorzug in doppelter Hinsicht dar; denn abgesehen, dass der Nahme Beethoven an und für sich zu grossen Erwartungen berechtigt, welche durch seine geniale Vielseitigkeit jederzeit nicht nur vollkommen befriedigt, sondern meistens noch weit übertroffen werden, so hat noch überdiess der Verfasser seine Geistesgeburt diesmahl dem erlauchten Mäcenas der Tonkunst geweiht – ihm, der mit den erhabensten Fürstentugenden den reinsten Kunstsinn und die seltensten praktischen Talente vereinigt, dem man daher nur das Auserlesenste, solcher Phönix-Gaben Würdige, zum Opfer darbringen darf. Dass der Orpheus unserer Zeit diesen Forderungen wirklich Genüge geleistet habe, beweiset, neben dem einstimmigen Urtheile aller Kenner, auch die huldvolle Annahme seiner Opfergabe. – Nur für jene also, denen diese Perle in der Strahlenkrone des herrlichen Meisters noch unbekannt ist – für jene wiss- und lernbegierigen Kunstjünger, die mit sehnsuchtsvollen Blicken noch an den Pforten des Tempels weilen, und an der Hand des treuen Führers von einem ehrfurchtsvollen Schauer ergriffen, das Heiligthum betreten, dessen Innerstes ihnen noch unenthüllt ist – vorzüglich für Letztere ist der nachfolgende skizzirte Abriss entworfen, welcher ihnen mitunter einen Fingerzeig geben kann, wo sie die eigenthümlichen Schönheiten desselben aufsuchen sollen, und wodurch sie die wahre Ansicht eines Kunstwerkes erhalten mögen, das durch seinen reellen Werth unzerstörbar zur Nachwelt übergeht…“

Das „Erzherzog-Trio“ hat eine solche Fülle von Erklärungen, Analysen und Kommentaren provoziert, die teils im hagiographischen Stil der eben zitierten Rezension gehalten sind, teils in wissenschaftlicher Akribie und Detailversessenheit schwelgen, daß es völlig unmöglich ist, diesen Gegenstand hier mit einiger Gründlichkeit zu erörtern. Ich möchte mich daher auf einige wenige allgemeine Bemerkungen und ein paar mir persönlich besonders bedeutsame Details beschränken.

Der Kontrast zu dem Vorgängerwerk op. 70 Nr. 2 ist vor allem instrumentatorischer Hinsicht verblüffend groß: dort über weite Strecken ein vierstimmiges Stimmengeflecht, das die Instrument völlig gleichgewichtet am musikalischen Diskurs teilhaben läßt – hier eine unüberhörbare Präferenz für das Klavier, die vor alle im letzten Satz bis an die Grenzen des kammermusikalisch Möglichen getrieben wird; dort ein gleichmäßig ausgewogenes Erschließen des gesamten Tonraumes mit besonders brillanter Verwendung der hohen Geigenlagen – hier eine eindeutige Vorliebe für die dunkleren Register der Geige, während dem Klavier, ganz wie in den späten Sonaten, oft extrem weitgriffige Lagen anvertraut werden, sodaß die beiden Streicher sich oft in Mittelstimmsituationten befinden. Eine weitere Besonderheit des op. 97 liegt in der auffälligen Vorliebe für Pizzicati – besonders eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang die zweite Hälfte der Durchführung des ersten Satzes, die mit ihren tiefen Streicherpizzicati unter Staccato- und Trillerkaskaden des Klavierdiskants ein wirklich unerhörtes und revolutionäres Klangbild bietet. Auf die innere und organische Beziehung zwischen nahezu allen Themen des gesamten Werkes wurde schon oft hingewiesen.

Ein Detail, das meines Wissens bisher noch nicht beachtet wurde und über dessen Interpretation ich hier keine Spekulationen anstellen möchte, ist die eigenartige (programmatisch symbolische?) Verwendung der in B-Dur besonders „unwahrscheinlichen“ Note ces: in allen drei B-Dur-Sätzen erscheint diese Note mit besonderem Nachdruck an neuralgischen, formal besonders wichtigen Punkten, und zwar immer als ostinat pulsierende „Störnote“: im 1. Satz bei der Rückführung zur Reprise im Klavierdiskant – hier ersetzt sie, nachdem die Durchführung in die Tonika statt in die Dominante geführt hat, die fehlende Dominantspannung; im Scherzo löst der Halbtonschritt b-ces den fugierten b-Moll-Trioteil aus – und die Coda dieses Satzes besteht eigentlich aus nichts anderem als eben diesem, 24 Takte lang unermüdlich wiederholten Tonschritt Im Finale schließlich erscheint sie als verdoppelte Note eines Klaviertremolos – und zwar zu Beginn des dritten Ritornells, genau dort, wo die Geige das erste (und einzige) Mal den Themenkopf zu spielen hat; obwohl dieses Erscheinen, zeitlich betrachtet, das flüchtigste ist, gewinnt es besondere Bedeutung dadurch, daß das ces hier die Anderung der Harmonisierung dieses Thementaktes bewirkt – und das, obwohl die erwartete, „richtige“ Harmonie davor acht Takte hindurch orgelpunktartig über einem Crescendo aufgebaut wurde!

Unzählige Bemerkungen dieser Art sind schon gemacht worden und ließen sich ad infinitum noch machen, denn jede erneute Begegnung mit diesem Text schwemmt uns allen, Hörern und Spielern, immer neue rätselhafte, faszinierende und wunderbare Details vor die Füße.

Im ersten Satz (Allegro moderato) erinnert die ungewöhnlich tonale Zweiteilung der Exposition (zweite Hälfte / Seitensatz und Coda in G-Dur) an ein ähnliches Verfahren im Finalsatz von op. 70 Nr. 2. Da die Durchführung in ihrer Mitte – die sich ziemlich genau mit der Mitte des ganzen Satzes deckt – einen 13 Takte langen Orgelpunkt auf D(-Dur) aufweist, das in den folgenden Takten zur Dominante von G-Dur umgedeutet wird, läge die Vermutung nahe, Beethoven habe mit dieser auffälligen Stärkung des relativ weit entfernten G-Dur die Verwendung des D-Dur als Grundtonart für den langsamen Satz sozusagen von langer Hand vorbereiten wollen. Allerdings wissen wir ja aus den Fugen von op. 106 und op. 133, daß bei Beethoven B-Dur und D-Dur sehr gerne in schwesterlicher Eintracht auftreten.

Das Scherzo (Allegro) ist in Beethovens Klavierkammermusik das einzige Beispiel für eine voll ausgeführte, „symphonische“, d.h. also fünfteilige Form des Typs ABABACoda. Umso unverständlicher muß es bleiben, daß etliche der renommiertesten Interpreten sowohl im Studio als auch im Konzertsaal diesen einzigartigen Satz durch sorglose Unterdrückung der Wiederholungen auf eine Alltags-Dreiteiligkeit reduzieren. Daß die „Zeitersparnis“ von etwa vier Minuten diesen kaltschnäuzigen Eingriff aus der Sicht des Publikums rechtfertige, mag ich entgegen allem Kulturpessimismus nicht recht glauben; man sollte meinen, daß gerade ein durch mehrstündige Sportübertragungen abgehärteter Zuhörer, wie ihn erst die letzten Jahrzehnte heranreifen haben lassen, auch dieser vierminütigen Herausforderung gewachsen sein müßte. Das 1. Thema des Hauptteils (A) ist – nicht unähnlich jenem des Menuetts der Ersten Symphonie – einfach eine charakteristisch rhythmisierte Tonleiter über eine Oktave. Der Mittelteil (B) entwickelt sich in konsequentem Kontrast zu dem diatonischen Staccato des Hauptteils aus einem in bedrohlichem Legato chromatisch ansteigenden Quartmotiv, das sich nach kurzem Fugato aber alsbald in einen wirbelnden Tanz befreit – ein Spiel, das mit wechselnder Gewichtung der Teile und in wechselnden Tonarten dreimal wiederholt wird, bevor der Hauptteil wiederkehrt.

Das Andante cantabile wurde immer schon als das „innerste Heiligtum“ des Werkes empfunden. Die weite Entfernung von dem Tonartenspiel der umgebenden Sätze läßt dieses Andante wirklich wie einen abgegrenzten, gleichsam unbetretbaren Bezirk erscheinen. Auf das innige Liedthema, das in seinem metrischen Habitus eine gewisse Verwandtschaft zu dem analogen Variationensatz aus der Klaviersonate op. 109 aufweist, folgen vier durch das Prinzip der schrittweisen Akzeleration verbundene Figuralvariationen, an welche sich eine besonders ausgedehnte und gedankentiefe Coda anschließt. Über das Problem des Überganges zum Finalsatz (Allegro moderato), den Beethoven unmittelbar folgen läßt, schreibt Rudolf Bockholdt in seiner jüngst (1992) veröffentlichten Studie zum Andante des op. 97:

„Nach äußerster Bedrohung ist am Ende des Satzes der Zustand tiefen Friedens wiederhergestellt. Für das in sich versunkene, sinnende Ich ist die Außenwelt wie nicht vorhanden. Aber: die Außenwelt ist vorhanden. An der Rücksichtslosigkeit, mit der Beethoven den letzten Satz beginnen läßt, kann man sich stoßen, hat dies auch getan und das ganze Finale sogar als geschmacklos empfunden (mit Kopfschütteln gleichsam: ,solche Musik nach diesem Satz!‘). Das dreimalige Motiv zu Beginn ist aus dem ,Abschieds‘-Motiv des Andanteschlusses abgeleitet und wirkt wie eine mutwillige Persiflage desselben. Beethovens Vision ist ebenso erschreckend – das ist sie in der Tat – wie grandios. Mit einem einzigen Akkord, dem Septakkord auf b, löst sich die ganze D-Dur-Musik wie eine Fata Morgana auf. Der Ton b ist auf einmal ,nur‘ ein Leitton von es. Wir hatten vergessen, daß die Tonalität des Werkes von den Tönen es und b beherrscht wird. Es war ohnehin ein Wunder, daß das gleich neben d liegende, von diesem nur durch eine ganz dünne Wand getrennte es so lange draußen gehalten werden konnte. Jetzt wird die Wand durchstoßen. Wir treten wieder in die Welt der sogenannten nackten Tatsachen ein; die Musik des letzten Satzes ist von handfester und unbekümmerter Diesseitigkeit. Die Friedensvision ist verschwunden. Vergessen ist sie damit nicht.“

In der Tat scheinen schon die Zeitgenossen – und zwar auch die Musiker aus Beethovens nächster Umgebung – mit dieser Metamorphose ihre liebe Not gehabt zu haben. Im folgenden, sich auf diesen Umstand beziehenden Bericht erzählt der Schubert-Freund Franz Lachner (1803-1890) von einem Zusammentreffen mit Beethoven im Hause Streicher in der Ungargasse:
„… Eines Tages war ich allein dort und sass am Flügel neben Nanette Streicher, welche eben das grosse B-Dur-Trio von Beethoven Op. 97 studirte. Da trat plötzlich Beethoven, auf dessen Hauswesen Frau Streicher viel Einfluss hatte, in das Zimmer, eben als wir bis zum Anfang des letzten Satzes gekommen waren. Er hörte unter Anwendung des stets in seiner Hand befindlichen Hörrohres einige Augenblicke zu, zeigte sich aber alsbald mit dem zu zahmen Vortrage des Hauptmotivs des Finales nicht einverstanden, sondern beugte sich über die Clavierspielerin hinüber und spielte ihr dasselbe vor, worauf er sich alsbald wieder entfernte…“

Einige Jahrzehnte später (1860) wird derselbe Gewährsmann dann so zitiert:
„In einem durch seine Pflege der Musik bekannten und berühmten Hause Wiens hatte eine namhafte Künstlerin auf dem Klavier den sehr originell und eigentümlich anhebenden vierten Satz eben begonnen, als Beethoven mit ernsten, fast feierlichen Schritten und den Worten: ,Nichts! Nichts!‘ eintrat. Lautlose Stille unter allen Anwesenden, die längst schon nur mit Scheu und Ehrfurcht zu dem einzigen Meister emporzublicken vermochten. Dieser aber näherte sich der Pianistin, beugte sich über dieselbe und spielte in dieser Stellung mit glühendem und sprühendem Auge den Hauptgedanken des berühmten Tonstückes vor. Das Instrument schien wie völlig umgewandelt, die einzelnen Töne erklangen mit einer wunderbaren Energie, Kraft und Fülle, und die Zuhörer allzumal fühlten sich unwiderstehlich wie von einer höhern und überirdischen Macht tief und gewaltig erschüttert.“

Hier schließt sich der Kreis. Was wir einleitend über die Verselbständigung des Beethoven-Bildes gesagt haben, manifestiert sich hier im direkten Vergleich dieser beiden, offenbar auf ein und dieselbe Begebenheit zurückgehenden Berichte. Aus einem biedermeierlichen Idyll ist ein historisches Schauspiel geworden, das nur mehr der Dekoration durch Hans Makart harrt. Aber wir wollen bedenken, daß beides – familiäres Idyll und numinoses Mysterium – im Kern wohl das gleiche Maß an Wahrheit und Verzerrung enthalten; und daß unser einziger Weg zu Beethoven nicht die gedachte, besprochene und umstrittene, sondern die lebendige und klingende Musik ist.

© by Claus-Christian Schuster