Bloch: Three Nocturnes (1924)

Ernest Bloch

* 24. August 1880
† 15. Juli 1959

Three Nocturnes (1924)

Komponiert:Cleveland, Ohio, 1924
Widmung:New York Trio
Uraufführung:New York Trio
Clarence Adler, Klavier
Louis Edlin, Violine
Cornelius van Vliet, Violoncello
Erstausgabe:C. Fischer, New York, und Universal Edition, Wien, 1925

Obwohl einige seiner Werke es zu unbestreitbarer Popularität gebracht haben (allen voran wohl Nigun und Schelomo), zählt Ernest Bloch zu den am wenigsten gewürdigten und erforschten unter den großen Komponisten unseres Jahrhunderts. Das in der englischsprachigen Literatur für Bloch zuweilen gebrauchte Etikett „Hebrew Prophet“ trifft auf jeden Fall zumindest insofern zu, als ja der Prophet bekanntlich im eigenen Land nichts gilt – und welches Land nun das Bloch eigene sei, ist eine Frage, die der Komponist selbst nie definitiv beantworten wollte: In drei großen Orchesterwerken huldigte er jenen drei Ländern, die das meiste Anrecht auf ihn geltend machen könnten: Israel (1912/16), America – An Epic Rhapsody (1926) und Helvetia – A Symphonic Fresco (1928). Sein Lebensweg läßt ihn als Weltbürger par excellence erscheinen: In eine aus dem Aargau stammende jüdische Familie in der französischen Schweiz geboren, kehrt er nach Studienjahren in Brüssel, Frankfurt, München und Paris nach Genf zurück. 1916 geht er in die USA, wo er nach anfänglichen Schwierigkeiten große künstlerische Erfolge erringen kann, sich aber nicht heimisch fühlt und auch noch nach dem Erwerb der amerikanischen Staatsbürgerschaft (1924) daran denkt, nach Palästina auszuwandern. Zwischen 1930 und 1938 lebt er wieder in Europa (im Tessin und in Savoyen), von wo ihn die aufziehenden Gewitterwolken gerade rechtzeitig fliehen lassen; erst die letzten beiden Lebensdekaden beenden sein Wanderleben – in Agate Beach an der noch immer fast naturbelassenen Pazifikküste von Oregon findet er, was er sich immer erträumt hat, die Erfüllung einer Vision seines Lieblingsdichters:

Give me the splendid silent sun with all his beams full-dazzling,
Give me the juicy autumnal fruit ripe and red from the orchard,
Give me a field where the unmow’d grass grows,
Give me an arbor, give me the trellis’d grape,
Give me fresh corn and wheat, give me serene moving animals teaching content..

Give me to warble spontaneous songs recluse by myself, for my own ears only,
Give me solitude, give me Nature, give me again O Nature your primal sanities!


(Walt Whitman, Leaves of Grass, Drum-taps)

Blochs erste amerikanische Periode, zu deren Ernte die Three Nocturnes zählen, begann nicht eben verheißungsvoll. Sein Landsmann Alfred Pochon, der Gründer des Flonzaley-Quartetts, hatte Bloch eine Einladung als Dirigent für eine ausgedehnte Tournee der Tänzerin Maud Allan vermittelt. Da eine Schiffsreise über den Atlantik in jenen Monaten eine lebensgefährliche Unternehmung war – drei Monate vor Blochs Abreise war Enrique Granados beim Untergang der „Sussex“ nach einem deutschen U-Boot-Überfall ertrunken – hatte Bloch wohlweislich seine Frau und die drei kleinen Kinder in der Schweiz zurückgelassen. Die Überfahrt verlief ohne Zwischenfälle, aber die schlecht vorbereitete Tournee versandete nach nur sechs Wochen, und Bloch fand sich, nachdem man ihm im New Yorker Astor Hotel seinen einzigen Wintermantel gestohlen hatte, Ende November 1916 frierend und mittellos auf der Straße wieder. Um die Hotelrechnung bezahlen zu können, mußte er seine Geige versetzen; für die Heimkehr konnte er kein Geld auftreiben. Doch am letzten Tag dieses abenteuerlichen Jahres erstritten seine Freunde vom Flonzaley- Quartett einen wichtigen Etappensieg für den Komponisten: die Uraufführung des monumentalen Ersten Streichquartetts in New York wurde zu einem sensationellen Erfolg. Obwohl dieser Durchbruch Blochs prekäre Lage nicht beendete, ließ er mit seinem vielbeachteten Protest gegen die Internierung Carl Mucks – der als deutscher Staatsangehöriger seines Amtes als Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra enthoben worden war – gleich von Anfang an keinen Zweifel daran aufkommen, daß er nicht gewillt war, in den USA nur ein braver Zaungast zu sein. Der Mut und die Integrität Blochs, die ihn in Europa zum Freund Romain Rollands gemacht hatten, brachten ihm bald auch die Anerkennung der amerikanischen Elite ein: Max Eastman, John Haynes Holmes, Samuel Eliot Morison und Upton Sinclair zählten bald zu seinem Freundes- und Bekanntenkreis. David Mannes (1866 – 1959), der ehemalige Konzertmeister des New York Symphony Orchestra und Initiator des „Music School Settlement for Colored People“ (1912), holte Bloch als Leiter der Abteilung für Musiktheorie und Komposition an sein neugegründetes College. Bald schon steht Bloch am Dirigentenpult der bedeutendsten amerikanischen Orchester – und immer stehen auch seine eigenen Werke auf dem Programm: mit der Boston Symphony (26. März 1917), dem Philadelphia Orchestra (25./26. Jänner 1918) und schließlich mit der New Yok Philharmony (8. Mai 1918, mit der amerikanischen Erstaufführung der Symphonie in cis-moll) erkämpft er sich so in kürzester Zeit einen sicheren und ruhmvollen Platz in der amerikanischen Musikwelt. Hans Kindler, den wir etwas später als musikalischen Berater von Elizabeth Sprague Coolidge wiederfinden werden, hatte schon am 3. Mai 1917 in New York die Uraufführung von Blochs wahrscheinlich populärstem Werk, Schelomo, gespielt. 1919 gewinnt die Suite für Viola und Klavier den mit eintausend Dollar dotierten Coolidge-Prize beim Berkshire Music Festival in Pittsfield, Massachusetts. Die Uraufführung dieses Werkes (am 25. September 1919) brachte Bloch die Begegnung mit dem englischen Pianisten Harold Bauer (1873-1951), der einer der wichtigsten Interpreten der Kammermusik des Komponisten werden sollte.

Trotz aller persönlichen Erfolge steht Bloch dem Kulturleben der Vereinigten Staaten sehr kritisch gegenüber. Als er 1920 gebeten wird, in Cleveland die Leitung eines neuzugründenden Musikinstituts zu übernehmen, ist er skeptisch: „Ich soll ein Konservatorium gründen in einer Wüste von 800.000 Menschen…“ Trotzdem nimmt er die Herausforderung an. Zunächst versucht er, seine Zeit zwischen New York und Cleveland gleichmäßig aufzuteilen, doch bald sieht er, daß seine dauernde Anwesenheit in Cleveland erforderlich sein wird. Die Übersiedlung fällt ihm umso leichter, als er an seiner neuen Wirkungsstätte einen genial begabten Schüler hat: ihn, den gerade fünfundzwanzig Jahre alten Roger Sessions, nennt er „a spiritual son, closer to me than my own son.“ Lehrer und Schüler begeistern sich gemeinsam für die afroamerikanische Musik. Wenn Sessions jungenhaft schwärmt: „Oh, how I would like to be a Negro!“, kann Bloch nicht umhin beipflichtend festzustellen: „They possess the only original talent in this land.“ So wie Dvorák vor ihm ist er aber auch von den Überresten der indianischen Musikkultur fasziniert. Ende 1924 besucht er während eines Aufenthaltes in Santa Fe das Indianerdorf Tesuque – die Eindrücke, die er dort empfängt, haben in der zwei Jahre später vollendeten Orchesterrhapsodie America ihre Spuren hinterlassen.

1922 wird Carl Engel Leiter der Musikabteilung an der Washingtoner Library of Congress. Im Juni kommt Bloch zu einem Antrittsbesuch nach Washington. Man spricht französisch und deutsch – Engel ist als Sohn deutscher Eltern in Paris geboren -, und Bloch klagt über die Kulturlosigkeit Amerikas. Engel führt den Komponisten durch die Schätze der Musiksammlung und zuletzt in die im obersten Stock gelegene Direktoriumskantine, von der aus man die die stolze Reihe der Museen an der sonnenüberfluteten Mall bis hin zum Lincoln Memorial überblickt. Noch Jahre später erinnert sich Bloch an diesen Augenblick wie an eine „Bekehrung“ zu Amerika:

„…it impresses upon me once more the idea of America of the past and America of the future, and makes me indulgent with America of the present…“

(an Carl Engel, San Francisco, 19. Dezember 1925)

Wenige Tage später bewirbt Bloch sich um die amerikanische Staatsbürgerschaft, die ihm am 8. November 1924 verliehen wird.

Blochs Ruf als Lehrer hatte eine ganze Plejade junger Komponisten nach Cleveland gezogen – neben Roger Sessions finden wir etwa Bernard Rogers, Mark Brunswick, Quincy Porter und Theodore Chanler in seiner Klasse. Die Freude an diesen Talenten konnte aber nicht über die stetig zunehmenden Spannungen mit der administrativen Schulleitung hinwegtäuschen. Der unmittelbar nach der Verleihung der Staatsbürgerschaft unternommene Ausflug nach New Mexico hatte wohl auch den Zweck verfolgt, Alternativen zu Cleveland zu sondieren. Mit Ende des Schuljahres 1924/25 tritt Bloch von seinem Direktorsposten in Cleveland zurück und folgt einem Ruf der Gründerinnen des San Francisco Conservatory, Ada Clement und Lillian Hodghead, nach Kalifornien, wo er die Jahre bis zu seiner vorläufigen Rückkehr nach Europa verbringen wird.

Von allem Anfang an spielt die Kammermusik eine zentrale Rolle in Blochs Leben. Es ist ein – später zurückgezogenes – Streichquartett, das der Sechzehnjährige in Genf dem durchreisenden Eugène Ysaye vorlegt. In Brüssel wohnt er dann als Schüler Ysayes im Hause des deutschen Kammermusikers Franz Schörg; hier entstehen zwischen 1897 und 1899 eine (Ysaye gewidmete) Phantasie für Violine und Klavier und eine (unveröffentlichte) Cellosonate. Erst der übermächtige Einfluß der beiden deutschen Richards, dem Bloch in Frankfurt und München ausgesetzt war, drängt ihn vorübergehend auf andere Gebiete der Musik. Aber auch sein „zweites Leben“, der Neubeginn in den USA, geht von der Kammermusik aus: das erste Streichquartett ebnet ihm den Weg, und der Coolidge Prize bestätigt seinen Ruf in der Welt der Kammermusik. Die Jahre in Cleveland bringen dann die reichste Kammermusikernte in Blochs Leben: hier entstehen die beiden Violinsonaten, Baal Shem, From Jewish Life, Méditation hebraique, Three Nocturnes und das Harold Bauer gewidmete Erste Klavierquintett, das Tobias Matthay nicht eben zurückhaltend the greatest piece of chamber music since Beethoven’s death nannte.

Unsere Three Nocturnes, gegen Ende der Clevelander Zeit entstanden, sind Blochs einzige Komposition für Klaviertrio. Im Schaffen dieser Jahre, das neben den großräumigen Architekturen des Quintetts und der Sonaten vor allem die „hebräische“ Sphäre von Blochs Genie entwickelt, ist das Werk ein Sonderfall. Es mutet wie eine wehmütige Rückbesinnung auf das verlorene Land der Kindheit an. Ein so nostalgisches Bild verführt zu „Beschreibungen“, wie sie die Jahrhundertwende liebte, und warum sollten wir dieser Verführung widerstehen?

Das erste Stück, Andante, das kürzeste der Reihe, wirkt wie ein Prélude: der Wind trägt uns ferne Glockenklängezu, kaum erkennbare Bruchstücke eines Liedes tönen von irgendwogher dazwischen, zwischen Wolkenfetzen und Nebelschwaden wirft die Spätnachmittagssonne ein geheimnisvolles und fremdes Licht auf die vertrauten Bergmatten.

Im darauffolgenden Andante quieto ist der Abendfriede eingekehrt, wie wir ihn vielleicht aus den stillen Bildern Millets und den schlichten Versen von Francis Jammes kennen, den aber Bloch in seinem Haus in den Weinbergen von Satigny allabendlich und unmittelbar genießen konnte. Diese Erinnerung nimmt die Gestalt eines alten waadtländischen Volksliedes an, das für den Komponisten offenbar ganz besondere Bedeutung hatte – es erweist sich nicht nur als das „Leitmotiv“ der Three Nocturnes, sondern erscheint auch an prominenter Stelle in der symphonischen Dichtung Helvetia. Die Nacht ist schon lange hereingebrochen, wenn mit dem abschließenden Tempestoso ein kurzes, aber heftiges Seegewitter über der Traumlandschaft niedergeht. Melodiefetzen treiben wie herrenlos hin- und hergeworfene Boote über die aufgepeitschten Wellen. Am Höhepunkt des Aufruhrs wirft die Sonne ihre ersten Strahlen durch die Wolkenbank – und das geschieht, seliges Angedenken an München und Richard Strauss, in strahlendem C-Dur, dem Festtagskleid unseres Volksliedes. Während sich die Sonne wieder in eine dichte Wolkendecke hüllt, entfernt sich das Unwetter grollend im Morgengrauen.

© by Claus-Christian Schuster