Copland: Vitebsk. Study on a Jewish Theme

Aaron Copland

* 14. November 1900
† 2. Dezember 1990

Vitebsk. Study on a Jewish Theme

Komponiert:Königstein im Taunus – New York, NY, Juli-September 1927 – 1928/Anfang Februar 1929
Uraufführung:16. Februar 1929, League of Composers, New York, NY
Walter Gieseking (1895-1956), Klavier
Alphonse Onnou (1893-1940), Violine
Robert Maas (1901-1948), Violoncello
Erstausgabe:Cos Cob Press, New York, 1934

In der Saison 1926/27 gastierte das Moskauer Künstlertheater mit S. An-Skis (i.e. Salomo S. Rappaport, 1863-1920) Mysterienspiel „Der Dibbuk“ in New York. Unter den Zuschauern war ein junger Komponist, der ein besonderes Interesse für die Beziehungen zwischen Musik und Theater hatte: der 1924 aus Paris nach New York heimgekehrte Aaron Copland. Seine Orchestersuite Music for the Theatre hatte im November 1925 in der Carnegie Hall einen Skandal ausgelöst. In der den New Yorkern präsentierten Moskauer Inszenierung des „Dibbuk“ wurde eine chassidische Volksmelodie aus Vitebsk, der Heimatstadt des Dichters, als musikalisches Leitmotiv verwendet. Die archaische Ausdruckskraft dieser Musik erweckte sofort Coplands Interesse. Während der Sommermonate des Jahres 1927, die Copland in Königstein im Taunus verbrachte, begann er die Arbeit an einem Klaviertrio, in dem er versuchen wollte, die inhärenten Möglichkeiten dieses auf den ersten Blick spröden folkloristischen Materials systematisch zu erforschen. Das Resultat war die Studie Vitebsk, die kurz nach ihrer Vollendung in einem Konzert der „League of Composers“ uraufgeführt wurde. Obwohl das Werk von dem Schauspiel, durch das es angeregt wurde, programmatisch völlig unabhängig ist, könnte man doch in der radikalen Bipolarität seiner Anlage ein fernes Echo der mystischen Bühnenhandlung sehen, die um den Kampf zwischen einer lebendigen und einer toten Seele kreist.

Die Interpreten der Uraufführung waren Walter Gieseking, der seit seinem USA-Debut (New York, 22. Februar 1926) auch in Amerika zu den gesuchtesten Interpreten neuer Musik zählte, sowie Alphonse Onnou, der Primarius, und Robert Maas, der Cellist des 1912 gegründeten Quatuor Pro Arte (Brüssel), das – in Europa von Paul Collaer, in den USA von Elizabeth Sprague Coolidge gefördert – bis zu Onnous frühem Tode 1940 zu den führenden Quartetten der Welt gehörte. (Unter den Komponisten, die dem Quatuor Pro Arte Uraufführungen anvertrauten, waren Bartók, Casella, Honegger, Martinu, Milhaud u.v.a.) Für das vitale Selbstbewußtsein der jungen amerikanischen Musik ist es bezeichnend, daß ein zum Großteil in Deutschland geschriebenes Werk über eine ostjüdische Volksweise durch europäische Musiker uraufgeführt dennoch in keinem Takt Zweifel darüber aufkommen läßt, daß es sich dabei trotzdem um autochthon amerikanische Kunst handelt.

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Castillon: [Premier] Trio pour Piano, Violon et Violoncelle, Si bémol Majeur, op. 4

Alexis de Castillon

* 13. Dezember 1838
† 05. März 1873

[Premier] Trio pour Piano, Violon et Violoncelle, Si bémol Majeur, op. 4

Komponiert:Pau (Châteu des Forges), 1865?
Widmung:Vicomtesse de Truchi née de Castillon
Uraufführung:erste dokumentierte private Aufführung: Paris, Jänner 1868
Alexis de Castillon, Klavier
Friedrich Wilhelm Langhans (1832-1892), Violine
?, Violoncello
erste dokumentierte öffentliche Aufführung:
Paris, Salle Pleyel 14. Jänner 1893
Vincent d´Indy (1851-1931), Klavier
Alberto Geloso (1863-?), Violine
Frederic (Frits) Schneklud (1859-1930), Violoncello
Erstausgabe:Flaxland, Paris 1866

Unter den (abseits der von Castillons Lehrer Victor Massé geforderten Pflichtübungen) in der Mitte der 1860er Jahre entstandenen Kompositionen nimmt die Kammermusik in Alexis de Castillons Schaffen den ersten Platz ein, was sowohl mit seiner ureigensten Berufung als auch mit der praktischen Anregung durch den Cercle de l’Union artistique zu tun hat. Schon im Dezember 1863 beendet Castillon ein allererstes (unveröffentlicht gebliebenes) Klaviertrio in D-Dur; zur selben Zeit arbeitet er an seinem Opus 1, einem ganz im Banne Schumanns geschriebenen Klavierquintett in Es-Dur. Dieses für Castillons Schaffen emblematische Werk ist der Marquise Francoise d‘ Angosse gewidmet, auf deren Schloß bei Pau (Château des Forges) sich der Komponist meistens den Winter über aufhielt. Diesem 1864 abgeschlossenen und im nächsten Jahr im Pariser Verlag von Gustav Alexander Flaxland veröffentlichten Werk folgen 1865 mit dem Streichquartett a-Moll op. 3 Nr. 1 und unserem B-Dur-Klaviertrio op. 4 zwei weitere ambitionierte Kammermusikwerke, die gleichfalls bald nach ihrem Entstehen von Flaxland gedruckt werden.
Das Klaviertrio widmete Castillon seiner inzwischen mit dem Vicomte de Truchi verheirateten Schwester. Dem durchaus nicht auf konzertanten Effekt gerichteten, intimen und ungezwungenen Ton des Werkes, scheint diese Widmung gut zu entsprechen; und obwohl es eine Reihe kompositiorischer „Unarten“ aufweist, die in Castillons letztem Trio, dem im Todesjahr des Komponisten vollendeten und posthum veröffentlichten D-Moll-Trio op. 17, weitgehend überwunden erscheinen, offenbart es in vielleicht noch reinerer und unschuldigerer Form die Möglichkeiten und Besonderheiten von Castillons nicht alltäglichem Talent.

Der erste Satz ist mit Prélude et Andante überschrieben: einer den Organisten Castillon erraten lassenden rhapsodischen Introduktion folgt ein von rezitativischen Zügen geprägtes und keinem festgefügten Formschema verpflichtetes Andante, das nahtlos in den zweiten Satz Scherzo. Allegro, d-Moll) überleitet. Hier wird der tänzerische Topos der traditionellen Gigue- und Tarantella-Vorbilder auf originelle Weise unterlaufen: unerwartete Synkopierungen und Temporückungen brechen den Fluß, und als „Trio“ begegnet uns gar ein veritables Fugato im Zweivierteltakt (D-Dur). Die gemäß den Beethovenschen Modellen voll ausgeführte fünfteilige Form endet in einer hymnischen Vergrößerung einer Durvariante des Scherzothemas – und wenn zuletzt ein Mollschatten die Euphorie in Frage stellt, so scheint auch ein berührender Selbstzweifel des Komponisten mitzuklingen.
Die folgende Romance (g-Moll), in der ein ganz sakral gestimmtes Klavier (hinter dem man wieder unschwer die Orgel vernehmen kann) den elegisch-emfindsamen Streichern gegenübergestellt wird, würde bei einem Hörtest mit einiger Sicherheit einem russischen Komponisten zugeordnet werden – bis hin in die melismatischen Verästelungen der dekorativen Nebenstimmen läßt sich diese Wahlverwandtschaft ausmachen, und der Satz könnte recht gut als Bilderbuchillustration der musikhistorisch so gut dokumentierten Affinität zwischen russischer und französischer Musik dienen. Das Dur-Moll-Spiel vom Ende des Scherzos wiederholt sich auch hier in analoger Weise, bevor das unmittelbar anschließende Finale (Allegro lusingando) die Szene verwandelt. Dieser kapriziöse und widersprüchliche Satz muß mit seinen harmonischen und formalen Extravaganzen einen dogmatischen Lehrer wie Victor Massé zur Verzweiflung gebracht haben. In der Tat entspräche die hier von Castillon gewählte Form weit eher einem Scherzo als einem Finalsatz – ein Umstand, den der Komponist mit der für die beiden Episoden gewählten Bezeichnung „Quasi Trio primo“ und „Quasi Trio secondo“ noch mutwillig unterstreicht. Daß sich in diesem Schlußsatz Elemente aus allen vorangegangenen Sätzen amalgamiert finden, könnte ein Indiz für Castillons Bekanntschaft mit den Formexperimenten der Neudeutschen Schule sein; umgekehrt scheint manches in der Harmonik des Satzes schon Max Reger vorwegzunehmen – eine auch für die avancierteste französische Musik dieser Zeit nicht eben naheliegende Assoziation. Den leichtsinnigen Übermut des Ritornells unterbricht die erste der Episoden mit einem bukolisch-burlesken Interludium – tonartlich aber mit einem Rückgriff auf das D-Dur aus dem Trio des zweiten Satzes. (Die unauflösliche Ehe zwischen B-Dur und D-Dur ist nur eine der unzähligen Spuren, die das hingebungsvolle Studium Beethovens im Werk Castillons hinterlassen hat!) Die zweite Episode nimmt hingegen das schlichte thematische Material des dritten Satzes wieder auf, das nun in phantasievoller Weise und in eigenwilliger Textur weitergesponnen wird. Dieser zunächst verschleierte Rückgriff wird ganz am Ende des Satzes mit einem wörtlichen Zitat offengelegt, bevor das kecke Ritornell den Satz lakonisch beschließt.

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Brüll: Trio Es-Dur op.14

Ignaz Brüll

* 7. November 1846
† 17. September 1907

Trio Es-Dur op.14

Komponiert:Wien, 1863
Widmung:Franz Ries (Geiger, später Verleger, 1846-1932)
Uraufführung:Wien, Musikvereinssaal (Tuchlauben 12), 24. Jänner 1864
Ignaz Brüll, Klavier
Joseph Hellmesberger sen. (1828-1893), Violine
Carl Schlesinger, Violoncello
Erstausgabe:Leuckart, Leipzig, 1876
Ignaz Brüll

Als Ignaz Brüll noch nicht ganz vier Jahre alt war, übersiedelten seine Eltern aus der kleinen mährischen Provinzstadt Prosenice (Proßnitz) nach Wien. Mit zehn wurde er hier Klavierschüler von Julius Epstein, der später genauso wie Brüll zum engsten Freundeskreis von Johannes Brahms zählen und auch Gustav Mahler unterrichten sollte. Als Ignaz mit elf zu komponieren begann, verhalf ihm Epstein zu geregeltem Kompositionsunterricht (bei Johann Rufinatscha und Otto Dessoff). Seine Fortschritte waren so beachtlich, daß Joseph Hellmesberger eine Sonate des gerade dreizehnjährigen „Nazi“ in ein Konzertprogramm aufnahm. Ein Jahr darauf spielte der Knabe Anton Rubinstein vor, dessen enthusiastisches Urteil den Ausschlag für die Entscheidung zur Musikerlaufbahn gab. In die gleiche Zeit fällt der Beginn seiner Freundschaft mit Carl Goldmark. Bei einem Sommeraufenthalt in Franzensbad lernt Ignaz den nur wenig älteren David Popper kennen und schreibt eine Cellosonate für ihn.

In den Erinnerungen der Schwester an die Zeit der Entstehung des Klaviertrios entsteht ein gründerzeitliches Idyll:
„In der Stadt wohnten wir ungefähr zehn Jahre in der Domgasse. Ignaz hatte dort am anderen Ende der Wohnung ein stilles, freundliches Arbeitszimmer. Vor dem einen, dicht mit Musselin verhängten Fenster stand das Klavier, daneben ein Diwan und Tisch, in der Ecke die Venus von Milo, und in der anderen Ecke beim zweiten Fenster stand sein Schreibtisch, setwärts davon eine Etagere mit Noten und Büchern. Da arbeitete er den ganzen Tag; kam aber die Dämmerstunde, so schlich ich mich hinein, um die brausenden Tonwellen über mich ergehen zu lassen. Da spielte er Beethoven, Bach, Schumann, Schubert, Liszt, Chopin – alle lernte ich dadurch kennen und lieben. Nie war ich so stolz, aber auch so ängstlich, als wenn er rief: „Minni, komm, ich geb dir rasch eine Stunde!“ (ich nannte es eine 10-Minuten-Stunde), und nie so gekränkt, als wenn er meine Schwester öfter als mich vornahm…“

In diesem Ambiente komponierte der Siebzehnjährige sein Klaviertrio, das Hellmesberger in einer seiner Quartett-Soireen im Musikverein uraufführte – und das später auch von Joesph Joachim und Arnold Rosé ins Repertoire aufgenommen wurde, ehe es um die Jahrhundertwende allmählich in Vergessenheit geriet.

Das Werk ist eine erstaunliche Talentprobe: es ist klar formuliert, gut instrumentiert und hat eine ganze Reihe wirklich schöner Momente aufzuweisen, denen zu liebe man gerne über die wenigen unbestreitbaren Schwächen (etwa in der Dramaturgie des Finales oder dem etwas stereotypen Umgang mit der Sonatenhauptsatzform) hinwegsieht.

Der erste Satz (Allegro moderato, Es-Dur) ist ganz durchpulst von der über einer chromatisch fallenden Linie und fernem Tremolo feierlich und stolz dahinschreitenden Gestik des Hauptthemas, dessen Übergewicht die Zuhilfenahme von gleich drei (sehr knapp gehaltenen) Seitenthemen rechtfertigt. An die kurze Durchführung schließt sich eine ganz dem Expositionsablauf folgende Reprise an, die in eine konzise Coda mit der sieghaften Bestätigung des Hauptmotivs mündet.

Im zweiten Satz (Andante, b-moll) finden sich einige an Dvorak gemahnende Züge; einem elegischen Liedthema werden zwei Nebengedanken gegenübergestellt – ein trotzig drängender und ein beschwingt schwebender. Die ersten Takte der Reprise führen zu einer ganz kurzen, kadenzartigen Abschweifung, die die Stelle einer Durchführung vertritt. In der Coda wird das Liedthema ein letztes Mal mit schmerzlicher Betonung und Ausweitung der Schlußwendung rekapituliert.

Glanzstück des Werkes ist wohl der dritte Satz (Scherzo. Allegro, b-moll), der auf sehr wirkungsvolle, aber ungekünstelte Weise mit dem übermäßigen Sekundschritt der harmonischen Molltonleiter spielt. Das Trio greift eine Schubertsche Instrumentationsidee auf (Thema im Klavierdiskant, begleitendes Pizzicato der Streicher).

Wie nicht selten bei Jugendwerken ist auch hier das Finale (Allegro, Es-Dur) am wenigsten ausgegoren. Das marschartige Hauptmotiv ist aus dem Hauptthema des ersten Satzes entwickelt, auch hier sind ihm wieder mehrere Seitenthemen gegenübergestellt. Die Mitte des Satzes nimmt ein kurz angedeutetes Fugato ein, an das sich wieder eine getreue Reprise und eine effektvoll inszenierte Coda schließt.

Brüll bewahrte „Vater“ Hellmesberger, der das Werk aus der Taufe hob, immer die Freundschaft – auch wenn dieser seiner spitzen Zunge dem „Nazl“ gegenüber freien Lauf ließ. Berühmt wurde der Satz, mit dem Hellmesberger die Herren Ignaz Brüll und Anton Door Camille Saint-Saens vorstellte:

„C’est Monsieur Brüll, qui dort toujours.
C’est Monsieur Door, qui brille jamais.“

Das von der Schwester in ihrem Erinnerungsbuch beschworene harmonische Zusammenleben der Familie provozierte Hellmesberger zu der Behauptung, Brülls langgehegter Plan, eine Modulation von C-Dur nach Ges-Dur zu wagen, sei nicht zur Ausführung gelangt, weil der Familienrat sich dagegen gestellt habe. Nach dem großen Erfolg von Brülls erster Oper („Das goldene Kreuz“, 1875) bezeichnete Hellmesberger den Komponisten gar als „Nationalgenie“ – wollte das aber als „Nazi ohn‘ all‘ Genie“ geschrieben haben. Doch Brüll, der ein ebenso gutmütiger wie bescheidener Mensch war, konnte solchen Scherz sehr wohl vertragen. Diese Qualität machte ihn Brahms ganz besonders angenehm; denn auch in Brahms‘ Nähe mußte man mit manchen Derbheiten rechnen. Als Brahms die erste private Aufführung des Klaviertrios op.87 (25. August 1882 in der Villa von Prof. Ladislaus Wagner in Alt-Aussee) vorbereitete, ließ er Brüll aus dem Manuskript vortragen und gab den gespannt Zuhörenden das neue Opus als Werk Brülls aus – nur um sich am ungläubigen Staunen der Anwesenden zu weiden. Daß Brahms Brüll als Musiker aber wirklich schätzte, steht außer Zweifel: er vertraute ihm die Uraufführung der Klavierstücke op.76, op.116/1-3 und op.119/2 an, und es war ihm immer ein „rechtschaffenes Pläisir“ mit Brüll die vierhändigen Fassungen seiner Orchesterwerke zu spielen.

© by Claus-Christian Schuster

Bruch: Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell, c-moll, op.5

Max Bruch

* 06. Jänner 1838
† 20. Oktober 1920

Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell, c-moll, op.5

Komponiert:Köln, 1857
Widmung:Ferdinand David (1810-1873) und Friedrich Grützmacher (1832-1903)
Uraufführung:Köln, Hotel Disch, 4. November 1857
Max Bruch, Klavier
Julius Grunwald (1834-1863), Violine
Bernhard Breuer (1808-?), Violoncello
Erstausgabe:Breitkopf & Härtel, Leipzig, 1858

Die beiden Kinder des Polizeijuristen August Bruch (1799-1861) und seiner Frau Wilhelmine, geb. Almenräder (1799-1867), zeigten schon sehr früh ausgeprägtes musikalisches Talent. Von der Mutter, deren Erbteil diese Gabe ohne Zweifel war – ihr Vater und ihre beiden Brüder waren 1812 Gründungsmitglieder der Kölner Musikalischen Gesellschaft gewesen, und sie selbst hatte sich in ihrer Jugend als Gesangssolistin an den Rheinischen Musikfesten einen Namen gemacht – erhielten Max und seine um drei Jahre jüngere Schwester Mathilde („Till“, 1841-1914) ersten und gut fundierten Unterricht. Der Mutter ist auch die erste erhaltene Komposition des Sohnes gewidmet, ein Geburtstagslied aus dem Jahre 1847. Etwa um diese Zeit entschied sich der kleine Max zwischen seinen beiden rivalisierenden Talenten – der Malerei und der Musik – zugunsten der letzteren.
Nach dem Revolutionsjahr 1848/49 mußte der Vater, der inzwischen zum königlichen Polizeirat avanciert war, zu seinem größten Mißvergnügen zeitweise das Amt eines Pressezensors ausüben. Max aber wurde 1849 der musikalischen Obhut eines Studienfreundes des Vaters, des Bonner Universitätsmusikdirektors Heinrich Breidenstein (1796-1876) überantwortet. Im April 1850 übersiedelte Ferdinand Hiller von Düsseldorf (wo Robert Schumann seinen Platz einnehmen sollte) nach Köln, um hier die Nachfolge Heinrich Dorns anzutreten – der ehemalige Lehrer Robert Schumanns und Clara Wiecks war an die Berliner Oper berufen worden. Schon wenige Tage nach Hillers Ankunft in Köln stellte ihm August Bruch seinen zwölfjährigen Sohn vor. Aus Hillers Tagebüchern läßt sich ablesen, welch großen Anteil der neue städtische Musikdirektor und Konservatoriumsleiter an dem vielverprechenden Knaben nahm. Von den meisten der heute verschollenen Jugendkompositionen Bruchs wissen wir nur aus dieser Quelle. 1852 sorgte Hiller dafür, daß die Frankfurter Mozart-Stiftung ein Streichquartett des Vierzehnjährigen mit einem Preis auszeichnete, der ein vierjähriges Stipendium von jährlich 400 Gulden einschloß. Mit dieser Unterstützung nahm Max Bruch nun zwischen 1853 und 1857 bei Ferdinand Hiller Kompositionsunterricht, während seine pianistische Weiterbildung von Carl Reinecke (1824-1910) und Ferdinand Breunung (1830-1883) beaufsichtigt wurde.

Obwohl Bruchs herausragende pianistischen Fähigkeiten immer Bewunderung hervorriefen, stand er dem Klavier mit zunehmender Skepsis gegenüber, die sich mit der Zeit zu einer heftigen Aversion auswuchs: In Briefen an seinen Verleger Fritz Simrock sollte er das Instrument später als „das unmelodische Tastending“ oder „den öden Klapperkasten“ schmähen, um schließlich den folgenden kühnen Wunsch zu formulieren:
„Könnte man doch einmal ein großes Autodafé von 10000 bis 20000 Klavieren veranstalten, damit diese Plage des 19. Jahrhunderts, wenn auch nicht ausgerottet, doch wenigstens auf ein erträgliches Maß zurückgeführt werde!“
Der junge Bruch muß freilich noch etwas milder über sein Instrument gedacht haben – trotzdem fällt auf, daß er schon in seiner ersten Schaffensperiode das Klavier lieber als Ensembleinstrument denn als Soloinstrument verwendet. Leider sind mit Ausnahme unseres Trios alle bis 1858 enstandenen Klavierkammermusikwerke – darunter drei weitere Klaviertrios und ein Klavierquintett – verschollen.

Am Ende seiner Kölner Lehrjahre stellte der junge Komponist seinen Landsleuten in zwei Abschiedsveranstaltungen einen Querschnitt durch sein bisheriges Schaffen vor: Am 4. November 1857 brachte er im Festsaal des Kölner Nobelhotels Disch eine ganze Reihe seiner Kompositionen, darunter auch unser Klaviertrio, zur Aufführung, und am 14. Jänner 1858, wenige Tage nach seinem zwanzigsten Geburtstag, erlebte sein Opus 1, die Vertonung des Goetheschen Singspiels Scherz, List und Rache, am Kölner Stadttheater eine durchaus erfolgreiche öffentliche Premiere.

Daß Bruch – unter Hillers Enfluß – ausgerechnet die Neuvertonung des Goetheschen Sujets aus dem Jahre 1784 zu seinem programmatischen Opus 1 erkor, ist in mancher Hinsicht bezeichnend: Goethe hatte ja, zwei Jahre vor seiner ersten Italienreise, den Plan zu einer leichten Spieloper in italienischer Manier unter dem Eindruck der Korrespondenz mit dem damals gerade in Süditalien weilenden Komponisten Philipp Christoph Kayser (1755-1823) sowie des Weimarer Wirkens der fast ausschließlich die Opera buffa pflegenden Schauspieltruppe von Joseph Bellomo entwickelt. Kaysers Vertonung, die er Goethe im November 1787 in Rom vorlegte, hatte sich als nicht lebensfähig erwiesen – und auf die Gründe für dieses Scheitern sollte Hiller in der zwei Jahre vor seinem Tode erschienenen Studie Goethes musikalisches Leben (Köln 1883) noch einmal ausführlich zurückkommen. Daß Hiller, der – ebenso wie sein Duzfreund Mendelssohn – in Weimar (1825-1827) noch mit Goethe verkehren konnte, seinen Schützling gerade auf diese Bahn wies, nimmt nicht wunder. (Unter den verlorenen Kompositionen aus Bruchs Jugendzeit findet sich übrigens auch eine Vertonung von Goethes „Schweizerstück“ Jeri und Bätely.) Allerdings läßt sich diese Bruch in die Nachfolge von Mendelssohn und Hiller stellende Goethe-Affinität nicht allein mit dem unmittelbaren Einfluß des Lehrers erklären: Nach dem Tod von Bruchs Schwiegertochter tauchte 1968 ein bis dahin unbekanntes Septett (für Klarinette, Horn, Fagott, zwei Violinen, Violoncello und Kontrabaß) auf, das mit dem 28. August 1849 datiert und ganz offensichtlich als Hommage zu Goethes hundertstem Geburtstag gedacht war – das früheste erhaltene Kammermusikwerk Bruchs, verfaßt im Jahr vor seiner ersten Begegnung mit Hiller.

Aber wie fest der junge Bruch auch in der „klassischen“ Tradition einer sich am „italienischen Goethe“ orientierenden Ästhetik verankert war, so zeigt doch schon sein Frühwerk recht verräterische Verwerfungen (die man nur zur Vermeidung eines allzu billigen Kalauers nicht „Bruchlinien“ nennen kann). Das hängt ohne Zweifel mit den merklich erschwerten Schaffensbedingungen der Zeit zusammen. Gerade in den Jahren nach 1848/49 spitzte sich die Diskussion musikästhetischer Fragen in einer Weise zu, welche die stilistischen Kontroversen der Vergangenheit rückblickend als idyllisches Geplänkel erscheinen lassen konnte. Dieses im gesamten deutschen Sprachraum nachweisbare Phänomen spiegelte sich selbstverständlich auch in Bruchs engerer Heimat wieder: 1850 hatte Ludwig Bischoff (1794-1867) die in Köln erscheinende Rheinische Musik-Zeitung (ab 1853 Niederrheinische Musik-Zeitung) gegründet, deren erklärtes Ziel es war, die Traditionen der „klassischen Kunst“ gegen die Zumutungen der Zeitgenossen zu verteidigen. Dieser Abwehrkampf richtete sich durchaus nicht nur gegen die Symbolfiguren der „Zukunftsmusik“ (Liszt, Wagner, Berlioz), sondern mit nicht geringerer Vehemenz auch gegen deren (vermeintliche) Antipoden – etwa gegen Brahms und Verdi. Bischoffs Sicht der Musikgeschichte stimmte in vielen Punkten mit der seiner einflußreichen Kollegen in anderen Musikzentren überein; Eduard Hanslicks 1854 in Leipzig erschienener programmatischer Schrift Vom musikalisch Schönen, die den vielsagenden Untertitel Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst trug, gelang es, dieser ganzen musikästhetischen Richtung zumindest den Anschein klar umrissener Konturen und Inhalte zu geben.
Die (wahrscheinlich von Ludwig Bischoff selbst verfaßte) Kritik der Uraufführung unseres Trios artikuliert – hinter allem gönnerhaften Wohlwollen – den normativen Anspruch, mit dem man einem Kunstwerk zu begegnen pflegte, mit unüberbietbarer Deutlichkeit:

„Am 4. des Monats gab Herr [Max] Bruch mit Unterstützung der Herren [Julius] Grunwald, B[ernhard] Breuer, E. Koch, M. Dumont-Fier, W. Hülle und einer zahlreichen Chorvereinigung von Dilettanten aus den verschiedenen Gesangsvereinen eine Soirée im Hotel Disch. Außer der Sonate in E-Moll op.90 von Beethoven, welche der Concertgeber recht gut spielte, waren sämtliche Musikstücke eigene Compositionen.
Die Soirée begann mit einem Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell, das uns in seiner früheren Form mehr angesprochen hat als in seiner jetzigen, wo das etwas lange Adagio den ersten Satz bildet, dem sich dann das recht hübsche Scherzo und ein feuriges Finale anreihen. Dem Eindruck des ersten Satzes, der übrigens recht schöne Stellen enthält, schadete es offenbar, daß die Zuhörer nicht recht wußten, was sie daraus machen sollten, indem ein Anfangssatz in so langsamem Tempo und solcher Ausdehnung als erster, also Hauptsatz eines Trio´s etwas Unerwartetes war. Wir können diese Form nicht billigen, und wünschen aufrichtig, daß der talentvolle Componist nicht dahin neigen möge, in neuen Formen ein Interesse zu suchen, das allein der Inhalt geben kann.
[…]
Einen ganzen Abend bei der Musik Eines und desselben Componisten mit Spannung auszuhalten, ist unter allen Umständen etwas viel verlangt; daß die Theilnahme der Zuhörer aber in diesem falle keineswegs erlahmte, sondern bis zum letzten Tone sichtbar rege blieb, das spricht allein schon zu Gunsten des jungen Tondichters.“
(Niederrheinische Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler,
Köln, 5. Jahrgang, Nr. 45, 7. November 1857)

Dieser Rezension können wir einige beachtenswerte Details entnehmen: Zuallererst den Umstand, daß Bruchs Trio vor dieser öffentlichen Uraufführung eine Darbietung im privaten Kreis erlebt hat, und daß es damals noch eine in wesentlichen Punkten andere Gestalt haben muß. (Denkbar wäre, daß Bruch bei der Umarbeitung einen ursprünglich vorhandenen Kopfsatz verworfen hat.) Von dieser Frühfassung des Werkes hat sich im Max-Bruch-Archiv der Universität Köln ebensowenig eine Spur erhalten wie von seinen (vermutlich drei) Vorgängern, von denen wir nur aus Hillers Tagebüchern wissen. All das deutet auf eine komplexe und nicht konfliktfreie Entstehungsgeschichte, die der heutige Hörer wohl nicht leicht hinter der scheinbar „glatten“ Oberfläche des Werkes vermuten würde.
Eine andere bemerkenswerte Einzelheit ist aber in der Programmzusammenstellung selbst enthalten: Für seinen Kompositionsabend wählte der junge Bruch als einziges „fremdes“ Werk Beethovens Opus 90 – und daß sich dahinter mehr verbirgt als nur die quasi-rituelle Anrufung eines „Schutzheiligen“, dürfte dem Kritiker entgangen sein. Denn Beethovens E-moll-Sonate, die mehr als fünf Jahre nach ihrer Es-Dur-Vorgängerin (op.81a) im August 1814 entstand, wird mit vollem Recht als die erste seiner späten Klaviersonaten betrachtet, und sie eröffnet diese Werkgruppe, in der Beethoven das Terrain für die Entdeckungsreisen der späten Streichquartette auch in formaler Hinsicht schon absteckt, mit derselben ungewöhnlichen äußeren Form, die er dem Schlußstück der Reihe (op.111) geben wird. Die Wahl gerade dieses Werkes ist also wohl mehr als nur Ausdruck einer (bei Bruch wahrscheinlich durch seinen Lehrer Breidenstein, den Initiator des Bonner Beethoven-Denkmals [1845], geförderten) besonderen Beethovenverehrung, sie kann auch als historische Rechtfertigung für die Durchbrechung des als einengend empfundenen normativen Formkanons verstanden werden, deren Bruch sich in der revidierten Fassung seines Klaviertrios „schuldig“ gemacht hatte. Die Beflissenheit, mit der der Rezensent diesen zarten Hinweis überhört hat, ist bezeichnend; und man darf mit gutem Grund annehmen, daß auch Bischoff, für den – in einer Zeit, als dieser Superlativ noch nicht journalistisches Kleingeld war – Mozart ganz fraglos „der größte Musiker aller Zeiten“ war, in dessen Werken das Unerhörte, Gewagte und Ungesicherte einfach nicht wahrnehmen wollte.

Die Sorgfalt, mit der Bruch sein Klaviertrio gestaltete, äußert sich in einer langen Reihe konstruktiver und dramaturgischer Details, auf die hier nicht im einzelnen eingegangen werden kann. Ein ganzes Netz motivischer und harmonischer Querbezüge überzieht die drei Sätze des Werkes, die – trotz der notierten Trennung zwischen zweitem und drittem Satz – ein einziges Continuum bilden. Die den Kritiker der Uraufführung so irritierende Eröffnung des Werkes mit einem voll ausgeführten langsamen Satz (anstelle der vielleicht erwarteten langsamen Einleitung) ist natürlich durchaus kein Novum der Klaviertriogeschichte, auch wenn man von den in anderer Formentradition stehenden Trios Haydns und seiner Zeitgenossen absieht – so beschreitet etwa Robert Volkmanns 1849/50 entstandenes zweites Klaviertrio, übrigens auch ein Opus 5, den gleichen Weg. (Die Opuszahl kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß der um eine Generation ältere Volkmann [1815-1883] hier eben kein Jugendwerk, sondern die reife Frucht einer langen kompositorischen Entwicklung vorlegt; das Liszt gewidmete Werk wurde denn auch in der Folge eines der meistgespielten Klaviertrios des XIX. Jahrhunderts.)
Ähnlich wie bei Volkmann ist auch die agogische Dramaturgie des Werkganzen – die Abfolge der Sätze erzeugt eine kontinuierliche Temposteigerung (bei Volkmann: Largo – Allegretto – Allegro, bei Bruch: Andante – Allegro – Presto); auch dieser Kunstgriff trägt zur Geschlossenheit des Werkes bei.
Im eröffnenden Andante molto cantabile wird einem choralartigen Gedanken, der unüberhörbar an die religiösen Momente Mendelssohns erinnert, ein schwärmerisches zweites Thema gegenübergestellt, in dessen pianistischer Textur das Erbe Schumanns lebendig ist. Als Formmodell hat Bruch hier eine entwickelte Zweiteiligkeit (ABAB-Coda) gewählt, wobei die „Reprise“ das Material in stark geraffter, aber harmonisch und kontrapunktisch bereicherter Gestalt wiederaufnimmt, während in der Coda die schlichte Gestik des Anfangs zu tragischer Emphase gesteigert erscheint.
In den C-moll-Schluß des Andantes fällt das (wohl mit voller Absicht nicht als solches bezeichnete) Scherzo ein: Der Satz (Allegro assai, G-Dur/Es-Dur) weist zwar in Tempo, Metrik, Form und Disposition fast alle Charakteristika des traditionellen Scherzotyps auf, läßt aber doch ganz deutlich erkennen, daß es Bruch darum zu tun war, ein den ganz spezifischen Bedürfnissen der von ihm gewählten Großform genügendes Mittelstück, also eine gedankliche Brücke zwischen den kontrastierenden Stimmungsregionen der Ecksätze zu schaffen, kurz: dem Satz nicht allzuviel tektonisches Eigengewicht aufzubürden.
Aus eben diesem Grund ergibt sich (trotz des Fehlens der entsprechenden Spielanweisung) der nahtlose Übergang zum Finalsatz (Presto), einem Rondo, in dessen Zentrum (als zweite Episode) die Wiederkehr des ersten Gedankens aus dem Kopfsatz steht: Die daraus zwingend folgende Temporelation zwischen den beiden Ecksätzen tut noch ein übriges zur Vereinheitlichung des Werkes; dem selben Zweck dient auch die konsequente Verkürzung der Ritornelle und die Wiederholung des Andantezitats unmittelbar vor dem abschließenden Prestissimo.

Mit seinem Klaviertrio und etwa einem Dutzend anderer Werke im Gepäck brach der Zwanzigjährige einige Tage nach der Premiere von Scherz, List und Rache nach Leipzig auf. Der Weg in Deutschlands unangefochtene Musikmetropole war ihm wohl von Hiller geebnet worden – der Lehrer schickte seinen Lieblingsschüler auf dieselbe Bahn, die wenige Jahre zuvor Robert Schumann Johannes Brahms gewiesen hatte (und die einige Monate später Edvard Grieg auf Anraten Ole Bulls beschreiten sollte). Hillers ehemaliger Lehrer Ignaz Moscheles (1794-1870) lebte und wirkte seit seiner Rückkehr aus London 1846 in Leipzig, und Hillers vertrauter Freund Ferdinand David (1810-1873) war schon 1836 von Mendelssohn als Konzertmeister des Gewandhausorchesters hierher berufen worden. Von beiden erfuhr Bruch bereitwillige Förderung: Moscheles verschaffte Bruch innerhalb kürzester Zeit einen Verleger für das Capriccio op.2 und notierte in sein Tagebuch: „Es ist viel Frische und Tüchtigkeit in seinen Sachen.“ David, der 1849 den siebzehnjährigen Friedrich Grützmacher als Solocellisten in das Gewandhausorchester geholt hatte, stellte sich zusammen mit diesem als Triopartner des Komponisten für eine Leipziger Aufführung des Klaviertrios zur Verfügung – eine in Anbetracht der Jugend und Unbekanntheit Bruchs sicher nicht alltägliche Anerkennung und Förderung. In beiden Fällen revanchierte sich Bruch auf die nächstliegende Weise: er widmete das Fis-moll-Capriccio Ignaz Moscheles und ließ auf das Titelblatt des 1858 im Traditionsverlag Breitkopf & Härtel herausgegebenen Trios in blumiger Schrift stechen: „Den Herren F. David und F. Grützmacher“.

Vielleicht ist es die Summe dieser Unterstützungen, die dem jungen Bruch von Hiller, Moscheles, David und anderen zuteil wurden, die nationalsozialistische „Musikforscher“ zu dem Schluß kommen ließ, Bruch sei jüdischer Abstammung gewesen und habe ursprünglich „Baruch“ geheißen. Die Konsequenzen dieser Vermutung waren immerhin so gravierend, daß sich Bruchs Tochter Margarethe genötigt sah, ihr 1933 mit einer genealogischen Publikation zu widersprechen – und so zu verhindern, daß die wenigen in Deutschland verbliebenen Geiger auch noch auf Bruchs Violinkonzert verzichten mußten…

© by Claus-Christian Schuster

Bridge: Trio Nr.2, H.178 (1929)

Frank Bridge

* 25. Februar 1879
† 10. Jänner 1941

Trio Nr.2, H.178 (1929)

Komponiert:Friston Field – London, Oktober 1928 – 31. Jänner 1929
Widmung:Elizabeth Sprague Coolidge
Uraufführung:London, Langham Hotel, 4. November 1929
Harriet Cohen (1895-1967), Klavier
Antonio Brosa (1894-1979), Violine
Anthony Pino, Violoncello
Erstausgabe:Augener, London, 1930

Wie sein jüngerer Zeitgenosse Paul Hindemith war auch Frank Bridge Quartettbratschist, und wie bei Hindemith kann man an der Textur seiner Kammermusikwerke die intime Kenntnis der instrumentalen Möglichkeiten und klanglichen Realitäten bewundern. Leider teilt Bridge mit Hindemith auch das Schicksal konsequenter Vernachlässigung im Konzertsaal – zumindest außerhalb Englands.

Frank Bridge wurde als drittes Kind der dritten Ehe eines Geigenlehrers und Kapellmeisters in Brighton geboren. Nach etlichen Jahren intensiver hausmusikalischer Vorbereitung kam er als Geigenstudent an das Royal College of Music nach London, wo er mit zwanzig Jahren ein Stipendium gewann und in die Kompositionsklasse von Charles Villiers Stanford (1852-1924) aufgenommen wurde.

Stanford war, mehr noch als der gerne in einem Atemzug mit ihm genannte Hubert Parry (1848-1918), die Schlüsselfigur der englischen musikalischen Renaissance im letzten Viertel des XIX. Jahrhunderts, die schon mit dem Werk von Edward Elgar (1857-1934) und Ralph Vaughan Williams (1872-1958) das absurde Schlagwort vom „Land ohne Musik“ unwiderruflich in die düsterste Rumpelkammer bornierter Dummheiten verbannen sollte. (Das Königreich hat dieses Verdienst auch gebührend anerkannt: Sir Charles Stanford ist neben seinem Schüler Sir Ralph Vaughan Williams und Sir Edward Elgar nur einige Schritte von Purcell entfernt in der Westminster Abbey begraben…)

Schon während seiner Studienzeit wechselte Bridge von der Geige zur Bratsche. 1904 wurde er Mitglied des Grimson Quartetts, mit dem er noch im selben Jahr die englische Erstaufführung von Debussys Streichquartett spielte. Als während der letzten Englandtournee des legendären Joachim-Quartetts (1906) Emanuel Wirth erkrankte, holte Joseph Joachim den jungen Bratscher als Ersatz. Von 1907 bis 1915 gehörte Bridge dann dem Englisch String Quartet an. In der Zwischenzeit hatte er sich aber auch als Dirigent einen so guten Namen gemacht, daß er etliche Male Henry Wood bei den berühmten Promenade Concerts vertreten durfte; 1907 war in diesem Rahmen auch sein erstes großes Orchesterwerk, die Tondichtung Isabella nach Keats uraufgeführt worden.

Trotz der Orchesterpraxis, die sich Bridge in den folgenden Jahren erwerben konnte – 1923 dirigierte er zum Beispiel auf einer USA-Tournee die Orchester von New York, Boston und Cleveland – nahm in seinem eigenen Schaffen die Kammermusik ganz unstreitig den ersten Platz ein. Bis zu seinem Ausscheiden aus dem English String Quartet (1915) hatte er schon sechs Werke für Streichquartett, ein Streichsextett, ein Klaviertrio, ein Klavierquartett und ein Klavierquintett komponiert; etliche dieser Werke hatten den Cobbett Prize gewonnen und waren im Begriff, sich einen festen Platz im englischen Kammermusikrepertoire zu erobern.

Der Weltkrieg war die große Wasserscheide in Bridges Entwicklung. Hatte er bis dahin, ohne jemals einfach gefällig zu sein, doch auch den auf das Dekorative und Ornamentale gerichteten Geschmack der Zeit getroffen, so veränderte sich seine Sprache während der Kriegsjahre radikal: Der Pazifist Bridge wurde durch das Trauma des Krieges zum ersten (und eigentlich einzigen) Expressionisten der englischen Musik. Man hat diesen Wandel oft als eine „Verdüsterung“ beschrieben, aber der beunruhigende und tragische Unterton, der von nun an Bridges Werke durchzieht, ist durchaus nicht Farbverlust, sondern Kraftgewinn. Die Metamorphose läßt sich besonders gut an der zwischen 1913 und 1917 geschriebenen Sonate für Violoncello und Klavier (H.125) beobachten, in der Bridges beide Idiome eine eigenwillige und spannungsreiche Koexistenz eingehen. In den folgenden Jahren erkundet Bridge mit der für ihn typischen handwerklichen Akribie, aber auch mit visionärem Mut die Ausdrucksmöglichkeiten seines neuen Stils; die von Myra Hess uraufgeführte Klaviersonate (1921-24) ist das beeindruckende und erschütternde Zeugnis dieser Suche.

Wie nicht anders zu erwarten, war das Publikum durchaus nicht bereit, dem Künstler auf seinem Weg zu folgen. Die Zerstreuung und Ablenkung, die es suchte, waren hier nicht zu finden; aber auch der Reiz des provokanten Epatismus, der viele „avantgardistische“ Werke der Zwanziger Jahre dem Publikum wenigstens unterhaltend erscheinen ließ, lag dieser Musik fern. Die Verständnislosigkeit, mit der Bridges Werke von nun an aufgenommen wurden, schmerzte den Komponisten, aber sie konnte seinen Schaffensdrang nicht hemmen. Im Gegenteil: die Jahre 1925 bis 1932 sind nach Umfang und Gewicht der entstandenen Werke der produktivste Abschnitt im Leben des Meisters. Vier bedeutende Kammermusikwerke, zwei Solokonzerte und zwei Orchesterwerke sind neben einer Reihe Lieder und kleinerer Klavierwerke die Ernte dieser Jahre. Es ist bezeichnend, daß etliche dieser Werke erst Jahrzehnte nach ihrem Entstehen aufgeführt und veröffentlicht wurden.

Unter den vier Kammermusikwerken dieser Jahre ist das im Auftrag von Elizabeth Sprague Coolidge geschriebene Zweite Klaviertrio vielleicht das großartigste – auf jeden Fall aber das zu seiner Zeit am wenigsten verstandene. Auch die „Fachleute“, die sich beeilten ihre Vertrautheit mit dem neuen Idiom zu beteuern, um ihrer Ablehnung mehr Gewicht zu geben, wußten mit dem Stück nichts anzufangen. So schrieb etwa der Kritiker des Daily Telegraph, der (zu Recht vergessene) irische Komponist Herbert Hughes (1882-1937):

„This was patently 1929 music – owing a great deal to Scriabin and more to Schoenberg. As it proceeded one wondered whether Mr Bridge had not somewhat forced upon himself this style of writing, whether the great part of this trio had any real meaning, even superficial, to the composer himself. We are, or so it seems to me, faced today, in this present international vogue of atonalism, with a new species of Kapellmeistermusik. Mr Bridge is not the only instance of a composer on this side of the Channel having suddenly adopted a manner (as he did in his recent piano sonata) that bears no recognisable relationship to his own natural development. […] It was not at all clear what the composer was trying to convey. The idiom is no longer strange, and it should not be hard for a good craftsman to make himself understood.“

Die saloppe Präpotenz, mit der hier an einen Meister Zensuren verteilt werden, ist typisch für das Dilemma, in das eine mehrfach überforderte „Musikkritik“ in unserem Jahrhundert geraten ist: Zwischen Komponisten, die alle ihre eigenen und nicht leicht ergründlichen Wege gehen, und einem Lesepublikum, das sich am liebsten und leichtesten durch lausbübische Platitüden unterhalten läßt, muß auch ein „kompetenter“ Kritiker den Geist aufgeben. Musikkritik und Musikwissenschaft teilen das Bedürfnis, – wenn auch auf recht unterschiedliche Weise – mit kompositorischen Phänomenen „fertig zu werden“. Ein suchender und selbst nie „fertig“ werdender Komponist wird dabei leicht zu einem unbequemen Ärgernis, das Angriffe provoziert. In der Hitze des Gefechts entblößt sich dann aber meist nur der Angreifer selbst: So schrieb etwa der englische Musikologe Gerald Abraham, dem 1952 die reizvolle Aufgabe zufiel, das Werk Bridges für die monumentale Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart in einem eineinhalbspaltigen Artikel zu charakterisieren: „Man spürt in seinem ganzen Schaffen den Mangel eines eigentlichen schöpferischen Dranges.“ – ein mutiges und originelles Verdikt über ein rund zweihundert Werke umfassendes Œuvre. (Als dringend nötige Entspannung nach einer so tiefschürfenden Analyse verfaßte Herr Abraham für dieselbe Enzyklopädie dann auch gleich seine eigene Biographie – sicher unentbehrlich für ein editorisches Unternehmen, das es sich zur Regel gemacht hatte, „nur Persönlichkeiten von einer gewissen Rangstufe aufwärts eigene Artikel zu geben“; und so besehen ist es eigentlich wiederum erstaunlich, daß Frank Bridge von der Redaktion dieses Jahrhundertwerkes überhaupt eines eigenen Artikels gewürdigt wurde.)

Da sich auch die den Mond anbellenden Hunde gerne zusammenrotten, erstaunt es nicht, auch noch ein Vierteljahrhundert nach Bridges Tod ähnlich subtile Einblicke geboten zu bekommen. 1966 dringt Abrahams älterer Zunftgenosse Frank Howes (auch er selbstredend, das heißt: in einem selbstverfaßten Artikel, zu MGG-Ehren gelangt) zu folgender verblüffenden und Bridges Stilwandel nun wirklich hintergründig motivierenden Einsicht vor: „He began to uglify his music to keep it up to date.“ Hätte William Cobbett auch einen Preis für die dümmsten Anmaßungen der Kritik gestiftet, hätte er wohl die Qual der Wahl gehabt.

Benjamin Britten, der zur Zeit der Entstehung des Klaviertrios gerade fünfzehn Jahre alt und Bridges Privatschüler war, erinnerte sich an die Kränkung, die dem Komponisten folgende Bemerkung anläßlich der zweiten Londoner Aufführung des Werkes zufügte:

„It seems evident that he has made common cause with the advocates of modernity and put technical interest before aesthetic pleasure. […] My impression is that he is bartering a noble birthright for less than a mess of pottage.“

(Musical Times, London, April 1930)

Seiner Mäzenin Elizabeth Coolidge versucht Bridge vergeblich den Schmerz zu verhehlen, den ihm dieses Ausmaß an Feindseligkeit und Unverständnis bereitet:

„I see quite clearly that it is going to be increasingly difficult for people who have standardised their ideas as to what music is when they compare my work at twenty-seven (Bridge meint sein erstes Klaviertrio) and that at fifty, but that there can be any compromise between what is expected by others and what my instinct insists upon is utter impossibility. The last few years have strengthened my mental powers – such as they are – to a degree that leaves them untouched by any outward manifestation. You will admit that it is a difficult moment when one reads the kind of personal slight that Hughes finds pleasure in doling out ad infinitum ,but the effect is a momentary one. A kind of superficial sting in the flesh, but no more, and so on with the next work.“

Elizabeth Coolidge, der das Werk (wie auch das unmittelbar davor entstandene Dritte Streichquartett) gewidmet ist, hatte die Uraufführung des Klaviertrios als festlichen Abschluß ihrer ausgedehnten Europareise (Juni bis November 1929) arrangiert. Am 4. November 1929 traten im noblen Londoner Langham Hotel Harriet Cohen, Antonio Brosa und Anthony Pino vor ein geladenes Publikum, um das Werk aus der Taufe zu heben.

Die befremdete Reaktion von Publikum und Presse in London bewog Mrs Coolidge dazu, das Trio im Herbst 1930 auf Tournee in die Vereinigten Staaten einzuladen, wo das Werk zum Trost für den Komponisten größeres Verständnis – oder zumindest weniger offene Ablehnung – fand.

Seither ist immer klarer geworden, daß Bridges zweites Klaviertrio zu den ganz großen Leistungen des Genres in unserem Jahrhundert zu zählen ist. Diese Erkenntnis setzt sich seit einigen Jahren auch in den Konzertsälen und Aufnahmestudios durch, und so ist das Werk – obwohl es in Österreich sicher noch nicht oft zu hören war – inzwischen schon längst keine Trouvaille mehr.


Der Vergleich mit Bridges erstem Klaviertrio, der Phantasie (c-moll, H.79) von 1907, liegt allzu nahe – wie ja der Komponist selbst in dem oben zitierten Brief an seine Mäzenin beklagt. Aber nur in formaler Hinsicht läßt sich ein loser Bezug zwischen den beiden Werken erkennen: Hier wie dort handelt es sich nicht um einen Zyklus von autonomen Sätzen, sondern um eine subtil gewobene Einheit aus mehreren musikalischen Schichten. Denn obwohl unser Klaviertrio (im Gegensatz zur einsätzigen Phantasie) nominal vier Sätze umfaßt, besteht es eigentlich aus zwei Satzpaaren, die untereinander auf vielfältige Weise verknüpft sind.

Das erste Satzpaar beginnt mit einem Allegretto ben moderato. Es ist schwer vorstellbar, daß ein Geiger, der Bridge ja seiner Ausbildung nach war, diese Tempobezeichnung an dieser Stelle des Werkes niederschreiben konnte, ohne an den ebenso bezeichneten Eröffnungssatz der Violinsonate von César Franck zu denken. Die lineare Entwicklung des Satzes aus zwei Keimzellen und der Dreiachtel-Puls ( – sogar die original Franckschen Neunachteltakte schleichen sich mitunter ein – ) würden diese philologische Parallele noch unterstreichen, wenn nicht das fahle Winterlicht, das über dem Ganzen liegt, den denkbar größten Kontrast zur frühlingsselig-bräutlichen Stimmung des imaginären „Modells“ bildete. Die Stelle einer Durchführung wird von einer Art „invertierter Passacaglia“ eingenommen, bei der das ostinate Thema tänzerisch bewegt ist, während die variativen Stimmen sich nur mühsam und zögernd aus ihrer Erstarrung lösen. Die Reprise ist radikal und dramatisch verdichtet; sie mündet über eine düstere Stretta in eine rezitativische Klage, in der die unerlöste Sehnsucht des Satzes ( – vielleicht die nach der serenitá des Franckschen Pendants? -) noch einmal zu Wort kommt.

Diese ganze Szene kreist um den fast allgegenwärtigen Zentralton Cis, der jetzt auch den Ausgangspunkt für den übergangslos anschließenden Folgesatz (Molto allegro) bildet. Hier ist die beklommene und bange Sehnsucht in grotesken Spuk zerstäubt. Bridge unterstreicht den extremen Kontrast zwischen den beiden Gliedern des Satzpaares raffiniert und konsequent durch instrumentatorische und klangfarbliche Kunstgriffe: an die Stelle der vollgriffigen pianistischen Textur und der weiträumigen Streicherkantilenen des Eröffnungssatzes sind hier silbrig-dünne Diskantgespinste und nervöse Pizzicati getreten. Der Satz wird fast zur Gänze von Nonintervallen (und ihren Septimumkehrungen) beherrscht, was die gespenstische Unruhe noch erhöht. Ein sarkastischer Ton scheint in der Luft zu liegen, aber unter der makabren Oberfläche des Geschehens erahnt man bitteren und grimmigen Ernst.

Das zweite Paar des Diptychons ist zwar äußerlich (in Metrik und Disposition der Tempi) dem ersten parallel, erfüllt aber diese analogen Gegebenheiten mit völlig neuen Inhalten. Den Anfang bildet hier ein Andante molto moderato im Sechsachteltakt, ein schleppender Traumtanz, in dem Bridges harmonische Extravaganzen besonders eindrucksvoll zur Geltung kommen. Trotz der offensichtlichen motivischen Beziehungen zum ersten Satz ist die Sehnsuchtsklage hier ganz verstummt; die Musik scheint in hypnotischer Trance gefangen, aus der sie erst der unvermittelte Einbruch des Finales (Allegro ma non troppo) befreit. Dieser Satz faßt das gesamte Material des Werkes in einer beeindruckend dichten Synthese zusammen. Die Folie dafür bietet die klassische Sonatenform mit den auch schon für die „Phantasien“ des jungen Bridge charakteristischen Erweiterungen und Rückgriffen. Das thematische Material erinnert in seiner Gestik vielleicht entfernt an den Schönberg der Kammersymphonie, eine Parallele, die freilich vor allem aus rein biographischen Gründen durch die Kritik geistert. (Bridge war einer der ersten und sicher der bedeutendste Apologet der Zweiten Wiener Schule in England – vor allem ein Bewunderer Alban Bergs -, und daß er die Uraufführung seines Dritten Streichquartetts, das als die erste englische Antwort auf Schönberg gilt, gerade dem Wiener Kolisch-Quartett anvertraute, hatte sicher programmatische Bedeutung.) Die Fortspinnung des lyrischen Seitenthemas mündet am Ende der Durchführung in ein wörtliches Zitat des Werkanfangs. Aber die kriegerischen Untertöne, die schon im Hauptthema zu vernehmen waren, gewinnen immer mehr an Kontur. Am Höhepunkt dieser Entwicklung übernimmt das „Passacagliathema“ des Kopfsatzes mit hymnischer Geste die Herrschaft. Doch auch diese Scheinlösung kann sich nur wenige Takte lang behaupten, und das Werk verstummt wie es begonnen hat: mit einer unaussprechlichen Frage auf den Lippen.

© by Claus-Christian Schuster

Breit: Schibboleth. Trio für Violine, Violoncello und Klavier (1996)

Bert Breit

* 27. Juli 1927

Schibboleth. Trio für Violine, Violoncello und Klavier (1996)

Komponiert:Salzburg, 1996
Widmung:Für Wolfgang Tschernutter, obdachlos, der von Jugendlichen erschlagen wurde
Uraufführung:Schwaz, St. Martin, 24. September 1997
Altenberg Trio Wien
Claus-Christian Schuster, Klavier
Amiram Ganz, Violine
Martin Hornstein, Violoncello
Erstausgabe:Manuskript

In der Sonderbeilage „Klangspuren 1996“ der Tiroler Tageszeitung (Nr.211, Mittwoch, 11. September 1996) erschien anläßlich der für den 13. September 1996 geplanten Uraufführung des Werkes folgender Text des Komponisten:

„Das Klaviertrio, das ich für die Klangspuren 1996 geschrieben habe, trägt den Titel „Schibboleth“. Schibboleth ist ein hebräisches Wort und bedeutet soviel wie Erkennungszeichen oder Codewort.
Erklärungen zu Stil, Form und Aufbau des Trios scheinen mir nicht notwendig, nicht wichtig zu sein.
Wichtig für mich hingegen ist, daß diese Musik einem Mann gewidmet ist, der vor zwei Jahren in Innsbruck von einem Jugendlichen erschlagen wurde.
Wolfgang Tschernutter war ein Obdachloser, der sich mit geringsten mitteln durchs Leben brachte. Seine Friedfertigkeit und seine Aggressionslosigkeit waren bekannt. Sogar Bürger, die um Sandler und Obdachlose normalerweise einen Bogen machen, fanden ihn sympathisch.
Als der Mord an Wolfgang Tschernutter bekannt wurde, stellten engagierte Bürger ein Denkmal, gestaltet von dem Bildhauer Alois Schild, in der Maria-Theresien-Straße auf. Dieses Denkmal wurde auf Anordnung der Stadtverwaltung entfernt und beim ehemaligen Nazi-Arbeitslager in der Reichenau „entsorgt“. Nach langem behördlichen Hin und Her fand sich ein Platz für das Denkmal auf dem Gelände der Innsbrucker Universität. Eine Gedenktafel beim Höttinger Hallenbad – dem Ort des Mordes – wurde von unbekannter Hand entfernt.
Offenbar wollen Leute, die bei uns das Sagen haben, wollen gewisse Politiker nicht, daß an den Mord erinnert wird. Wohl deshlab, weil dieser Mord nicht die „unbegreifliche“ private Tat von Psychopathen war, sondern eine Tat, die in einem Klima möglich war, das geprägt ist vom Haß auf Außenseiter, vom Haß auf Schwächere und schwach Gemachte; in einem Klima, das geprägt ist von jodelnder Selbstgefälligkeit, Trachtenjanker-Jargon und lebfrischer Holladrio-Heuchelei.
Wer an diesen Mord erinnert wird, wird auch an die skandalöse Lage der anderen Obdachlosen Innsbrucks erinnert; denkende Bürger wissen, daß diese Lage nicht zu ändern ist mit Mildtätigkeit und Almosen-Geben. Eher mit längst fälligen öffentlichen Maßnahmen, die zu fordern sind.
Die Widmung, die ich dem Trio vorangestellt habe lautet:

Für Wolfgang Tschernutter
obdachlos
der von Jugendlichen
erschlagen wurde

Ich hoffe, daß diese Widmung ein kleiner Beitrag ist gegen das Vergessen und zum Nachdenken über Zusammenhänge anregt zwischen Armut, Wohnungsmieten, Arbeitslosigkeit, Verelendung und restriktiven Sozialhilfen.

Bert Breit (1996)

Die wegen Erkrankung eines Ensemblemitglieds verschobene Uraufführung des zweisätzigen Werkes wurde in den Klangspuren 1997 am 24. September 1997 nachgeholt.

© by Claus-Christian Schuster

Brahms: Trio Nr.3, c-moll, op.101

Johannes Brahms

* 7. Mai 1833
† 3. April 1897

Trio Nr.3, c-moll, op.101

Komponiert:Thun, Sommer, 1886
Uraufführung:Budapest, 20. Dezember 1886
Johannes Brahms, Klavier
Jenö Hubay (1858-1937), Violine
David Popper (1843-1913), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, April 1887

Mit Brahms‘ drittem Klaviertrio ist in der Entwicklung des Genres ein kritischer Punkt erreicht. Die äußerste Konzentration und Verdichtung, die hier verwirklicht ist, war nicht mehr zu überbieten. Die Nachfolger konnten, sofern sie das Brahmssche Paradigma überhaupt vor Augen hatten, nur den Weg zum episch-symphonischen Klaviertrio gehen, wie ihn etwa Pfitzner und Reger beschritten, oder aber sich, wie Ives und Ravel, auf die Suche nach Neuland machen.

„Es ist besser als alle Photographien und so das eigentliche Bild von Ihnen.“ schwärmt Elisabet von Herzogenberg (9./10. Jänner 1887), während sie schweren Herzens die Partitur einpacken läßt, um sie an Brahms zurückzuschicken. Zu Silvester hatte sie das Stück mit Joseph Joachim und Robert Hausmann ein erstes Mal durchspielen können (wobei man sich mit einer Partitur behelfen mußte, da Brahms keine Stimmen mitgesendet hatte). Ihre erste Reaktion in dem oben zitierten Brief ist so schlicht und erschöpfend, daß sie uns eigentlich der Mühe weiterer „Erläuterungen“ entheben sollte:

„…Diesen neuen Stücken gegenüber käme es mir noch lächerlicher als gewöhnlich vor, wenn ich armer Floh mich hinsetzen wollte, meine Eindrücke zu „motivieren“ und Ihnen sagen zu wollen, warum, was Sie gemacht haben, so schön ist! Und ich könnte es nicht mit Überzeugung tun; denn ich glaube und bekenne, daß es nicht an diesem und nicht an jenem liegt, warum diese Musik so besonders geraten ist, sondern weil der heilige Geist es eben besonders gut mit Ihnen meinte. Etwas, wie dieses Trio, in allen Teilen so vollendet, so leidenschaftlich und so maßvoll, so groß und so lieblich, so knapp und so beredt, ist überhaupt wohl selten geschrieben worden, und mich dünkt: Sie selber müssen ein Gefühl gehabt haben, als Sie den letzten Takt schrieben, wie etwa Heinrich der Vogler, wenn er betet: »Du gabst mir einen guten Fang, Herrgott, ich danke Dir!«…“ Auch Clara Schumann schreibt nach der ersten Bekanntschaft mit dem „wunderbar ergreifenden“ neuen Werk: „Noch kein Werk von Johannes hat mich so ganz und gar hingerissen.“

Ganz ähnlich muß der Dichter J. V. Widmann empfunden haben, in dessen Berner Haus das Werk noch im Sommer 1886, unmittelbar nach seiner Fertigstellung, zum allerersten Mal erklang – Brahms spielte es dort mit den Brüdern Friedrich und Julius Hegar. Bei dieser Leseprobe scheint es jedenfalls friedlicher zugegangen zu sein als bei jener, die der Wiener Erstaufführung (26. Februar 1887) vorausging und über die Max Kalbeck berichtet:

„…Obwohl Geiger (Robert Heckmann) und Violoncellist (R. Bellmann) ihre Stimmen vorher durchgesehen hatten, wurden sie doch von Brahms und der genialen Ungebundenheit seines Spiels so außer Fassung gebracht, daß sie ihm nur mühsam nachkamen und kaum selbständig hervortraten. Das Werk blieb ihnen fremd, und sie begriffen es um so weniger, als Brahms nicht die geringste Rücksicht auf sie nahm. Er schien die Bekanntschaft mit der Novität vorauszusetzen und ärgerte sich, daß die überraschten und verblüfften Mitspieler fast völlig versagten. Nach dem ersten Satz beging Heckmann die Unvorsichtigkeit, zu fragen, ob der Meister zufrieden sei oder es anders wünsche. Er erwiderte höhnend in gereiztem Tone: »Ja, sehr!« und fing sofort den nächsten Satz an. Im f-moll-Teile stolperten Violine und Violoncell, die den Einsatz verpaßten, und die Pizzicati mißglückten bei dem rasenden Tempo, das Brahms genommen hatte, jedesmal. Seine Ungeduld steigerte sich immer mehr, und man sah ihm an, wie es in ihm kochte. Nach dem letzten Akkord sprang er auf, schleuderte dem Konzertmeister ein paar heftige Worte zu: »So kommt man nicht zur Probe!«, war durch nichts zum Dableiben zu bewegen, sagte meiner Frau und mir Adieu, würdigte seine niedergedonnerten Mitspieler keines Blickes mehr und stürmte fort…“

Wenn man sich diese Szene vergegenwärtigt und dabei daran denkt, daß dieses Trio Brahms besser porträtiert als alle Photographien, so wird man beginnen, auch die grimmigeren Töne des Werkes zu verstehen.

Sicher hat Elisabet von Herzogenberg den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn sie feststellt, daß „es nicht an diesem und nicht an jenem liegt, warum diese Musik so besonders geraten ist.“ Es ist daher, so verlockend und lohnend es auch erscheint, gar nicht unbedingt notwendig, den motivischen und gedanklichen Querbezügen nachzuspüren, die aus den vier Sätzen dieses Werkes ein so zwingendes Ganzes machen. Überall wird man die gleiche Kraft der Verdichtung finden, unter deren Druck alle Ideen sich in ihrer reinsten Form kristallisieren – der Gedanke an gebirgsbildenden Naturgewalten wird in den Außensätzen, Allegro energico und Allegro molto, schon durch das Klang- und Notenbild nahegelegt. Nur im Schutz dieser mächtigen Ecksätze kann das Mysterium der beiden Innensätze – des phantomhaften Presto non assai und des unschuldigen Andante grazioso – unversehrt bewahrt werden.

Es gibt gar keinen Zweifel: Dieses kürzeste aller großen Klaviertrios des XIX. Jahrhunderts, „bei dem man“ – um wieder Elisabet von Herzogenberg sprechen zu lassen – „am Schluß nur einmal Mangel empfindet, weil es da aus ist und man noch mehr davon haben wollte“, braucht und duldet keine Einführung.

© by Claus-Christian Schuster

Brahms: Trio Nr.2, C-Dur, op.87

Johannes Brahms

* 7. Mai 1833
† 3. April 1897

Trio Nr.2, C-Dur, op.87

Komponiert:Wien, März, 1880
Uraufführung:(privat) 25. August 1882, Villa Ladislaus Wagner, Alt-Aussee
Johannes Brahms, Klavier
Ludwig Straus, Violine
Rudolf Lutz, Violoncello
(öffentlich) 29. Dezember 1882, Frankfurt am Main, Saalbau
Johannes Brahms, Klavier
Hugo Heermann, Violine
Valentin Müller, Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, Dezember 1882

Auch wenn man nie endgültig klären wird können, ob das vielumstrittene „apokryphe“ Klaviertrio in A-Dur wirklich ein Werk des jungen Brahms ist oder nicht, so wissen wir doch mit Sicherheit, daß das Genre Klaviertrio im Jugendwerk des Meisters eine wichtige Rolle spielte. Aber wir wissen auch, daß seine Versuche auf diesem Gebiet für ihn selbst Sorgenkinder blieben. Am 16. November 1853 schreibt er aus Hannover an Robert Schumann, dessen Artikel „Neue Bahnen“ eben erschienen war:

„Das öffentliche Lob, das Sie mir spendeten, wird die Erwartung des Publikums auf meine Leistungen so außerordentlich gespannt haben, daß ich nicht weiß, wie ich denselben einigermaßen gerecht werden kann. Vor allen Dingen veranlaßt es mich zur größten Vorsicht bei der Wahl der herauszugebenden Sachen. Ich denke keines meiner Trios herauszugeben… Sie werden es natürlich finden, daß ich mit aller Kraft strebe, Ihnen so wenig Schande als möglich zu machen…“

Die Entscheidung, die Klaviertrios nicht zu veröffentlichen, ist umso bemerkenswerter, als Joseph Joachim wenige Wochen zuvor (18. Oktober 1853) Brahms die Herausgabe eines dieser Werke (der Phantasie d-moll) ans Herz gelegt hatte. Schon der Zwanzigjährige erwies sich also auch seinen besten Freunden gegenüber in seinem Urteil als ganz unbeirrbar. Wieviele Klaviertrios dem strengen Blick des jungen Meisters nicht genügten, läßt sich heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen – wenn das ominöse A-Dur-Trio (Werkverzeichnis Anhang IV Nr.5) wirklich von Brahms stammen sollte, dann müssen es wohl mindestens drei gewesen sein.

Auch dem zwei Monate nach dieser Entscheidung in Hannover beendeten Klaviertrio in H-Dur, das im November 1854 bei Breitkopf & Härtel als Opus 8 erschien, begegnete Brahms mit Zweifeln, die sich im Laufe der Jahre so verstärkten, daß er es selbst nie mehr aufführte und interessierten Interpreten massive Kürzungen verordnete. Kein Wunder also, wenn Brahms zu dem Schluß kommen mochte, er habe keine glückliche Hand für das Genre.

So vergingen nicht weniger als sechsundzwanzig Jahre, bis er sich dieser Aufgabe wieder stellte. Wie Beethoven, der, als er nach langen Jahren sich wieder dem Genre seines Opus 1 zuwendete, ein Trio-Diptychon (op.70) schuf, wollte auch Brahms die schwierige Probe gleich zweimal bestehen: Im Juni 1880 beendete er zu Beginn seines Sommeraufenthaltes in Ischl die Kopfsätze zweier Klaviertrios in C-Dur und Es-Dur, die wahrscheinlich schon im März in Wien skizziert worden waren. Hörbar gut gelaunt, aber doch nicht ohne die charakteristischen Untertöne des Zweifels, schickt er die beiden Sätze an Theodor Billroth nach Wien, damit sie dort kopiert werden:

„Lieber Freund
! Ich komme wohl am leichtesten zum Briefpapier, wenn ich Dich bitte, mir ein wenig beim Komponieren zu helfen!
Unser guter Alter (Hlawaczek, Lammgasse 12) schreibt gern behaglich; so gib ihm doch beifolgende Anfänge, daß er mir zunächst die Stimmen ausschreibt. Auch die Partitur hätte ich hernach ganz gern kopiert, zuerst die C-Dur. Ist’s denn der Mühe wert, daß man weiter damit spazieren geht?
Ischl aber muß ich sehr loben, und da nur mit dem Einen gedroht wird, daß halb Wien sich hier zusammenfindet, so kann ich ruhig sein – mir ist das ganze nicht zuwider.
Ich wohne höchst behaglich Salzburger Straße 51. An Konkurrenten habe ich einstweilen nur [Ernst] Frank und [Ignaz] Brüll hier, jetzt konkurrieren wir wohl im Spazierenlaufen und Bummeln – da bin ich all meinen Kollegen weit über!…“

Anfang September verbrachte Brahms einige Tage mit Clara Schumann, die auf der Durchreise nach Berchtesgaden ins Salzkammergut gekommen war, und zu ihrem Geburtstag am 13. September kam er selbst zu ihr nach Berchtesgaden, worüber Clara in ihrem Tagebuch vermerkt:

„Johannes wirklich besonders guter freundlicher Stimmung, so daß ich wirklich Freude an seinem Besuch haben konnte. Er spielte mir auch zwei neue erste Sätze zu zwei Trios, von denen mir der in Es-Dur zumeist gefiel.“

Auch aus Billroths erstem Urteil läßt sich eine gewisse Bevorzugung des Es-Dur-Trios heraushören. Doch ebenso wenig wie 1853 Joachims Fürsprache die d-moll-Phantasie retten hatte können, vermögen jetzt die Freunde das Schicksal dieses Trios zu beeinflussen. Brahms entschied schließlich, es sei nicht der Mühe wert, daß man weiter damit spazieren geht: Nie mehr wieder wird von diesem Es-Dur-Trio die Rede sein.

Doch auch das C-Dur-Werk legte Brahms beiseite, um es erst zwei Jahre später wieder vorzunehmen: Im Mai und Juni 1882 entstehen, wieder in Brahmsens Ischler Domizil, die letzten drei Sätze des Werkes. Und ganz so wie zwei Jahre zuvor wird wieder Billroth beauftragt, dem Kopisten Franz Hlawaczek das Manuskript zu überbringen. Die Zweifel scheinen beseitigt – und doch ist aus den Briefen dieser Tage zwischen den Zeilen eine gewisse Distanz zu dem Werk herauszulesen. Sowohl Simrock als auch Clara hören von dem Werk sozusagen en passant, während Brahms das gleichzeitig entstandene Erste Streichquintett (F-Dur, op.88) in für ihn ganz ungewöhnlicher Weise anpreist. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch, daß Brahms das Trio an Clara schickt, während er das ihm geglückter erscheinende Quintett Elisabeth von Herzogenberg übersendet, die von der Komposition des Trios offenbar gar nichts weiß. Claras Dankesbrief (aus Gastein, 1. August 1882) enthält neben enthusiastischer Zustimmung auch eine ganze Reihe kritischer Bemerkungen und Änderungsvorschläge (die Brahms allesamt unbeachtet ließ). Schon in diesem Brief überraschen einige Urteile: Die flackernde Unruhe des Scherzos entzückend zu finden, mag ja noch eher eine Frage der Wortwahl sein – aber dem Trio eben dieses Scherzos vorzuwerfen, es sei „nicht bedeutend genug,…zu wenig anmutig,… mehr wie gemacht, als empfunden“, ist wohl ein Verdikt, dem sich nur sehr wenige Zuhörer anschließen werden. Claras Reserve gegenüber dem Werk sollte sich mit der Zeit noch verstärken. Als Brahms sie zu Weihnachten 1882 mit einem Besuch überrascht, notiert sie nach einer Probe des inzwischen gedruckten Werkes (25. Dezember):

„…Auch das Trio wurde probirt, so sehr ich aber bei Einzelnem schwärme, so habe ich vom Ganzen keinen befriedigenden Eindruck, außer vom Andante, das wundervoll ist. Schade doch, daß er zuweilen nicht mehr feilt, flaue Stellen herauswirft…“

Genauso wie bei dieser Probe und der vier Tage später stattfindenden öffentlichen Uraufführung des neuen Trios, ließ Brahms auch bei der „inoffiziellen“ Einweihung des Werkes dem Trio das ihn befriedigendere Quintett op.88 folgen. Bei der ersten Probe für diese private Uraufführung, die nach mehrtägigen Vorbereitungen am Vormittag des 25. August 1882 in Alt-Aussee in der neuen Villa des Budapester Gelehrten und Melomanen Ladislaus Wagner stattfand, überließ Brahms den Platz am Flügel seinem Freund Ignaz Brüll und stellte den Anwesenden das Trio als die neueste Komposition Brülls vor, der das Werk auch meisterlich vom Blatt spielte, durch das ungläubig bewundernde Staunen der anderen aber doch in eine mißliche Lage kam – einer jener Brahmsschen Scherze, die deutlich machen, daß man eine recht dicke Haut brauchte, um als Freund des Meisters bestehen zu können. (Brüll brachte nicht nur diese Voraussetzung mit und war sich seiner eigenen Grenzen genügend bewußt, um nicht gekränkt zu sein, sondern befand sich zudem gerade in der unerschütterlichsten Hochstimmung: Wenige Tage nach dieser denkwürdigen Probe gab er seine Verlobung mit Marie Schoosberg bekannt, die später zu den treusorgenden „Marien“ des Meisters gehören sollte…)

Die daheimgebliebenen Wiener Freunde durften Trio und Quintett bei einem der berühmten Billrothschen Hausmusikabende am 19. Oktober 1882 kennenlernen, über den der Hausherr selbst an Clara Schumann berichtet:

„…Es giebt auch bei solchen Abenden glückliche und unglückliche Varianten. Diesmal war es einer der glücklichsten. Brahms war in allerbester Laune, nicht gerade, daß alles schon vollendet gelang, aber die neuen Werke selbst begeisterten die Spieler; beide Stücke wurden gleich zwei mal hintereinander gespielt und es entwickelte sich bei allen, ich möchte fast sagen auch in der Luft meines Musiksaals eine musicalisch warme Stimmung, nach der man an anderen Abenden vergeblich ringt. Brahms stöhnte und ächzte beim Spiel (unter uns gesagt, Sie kennen ihn gewiß so); man hatte die Empfindung, er habe es eben erst niedergeschrieben; so heiß strömte die Empfindung bei ihm aus; der Flügel ächzte freilich auch, denn, um den im ganzen mehr weichen Hellmesberger zu einer solchen Energie zu treiben, wie ihn gleich der erste Satz vom Trio braucht, – dazu ist freilich einiger Impuls nöthig…“

(24. Oktober 1882)

Die drängende Energie dieses Eröffnungssatzes (Allegro) entfaltet sich Schritt für Schritt, um vom poco forte des Streicherincipits zum vollgriffigen Satz der Wiederholung des Themas im alle Instrumente vereinenden Forte zu gelangen. Brahms hat in der Sorge, die Interpreten könnten sich von der Monumentalität des Materials zu einem zu behäbigen Tempo verleiten lassen, seine tiefe Aversion gegen das Mälzelsche Marterinstrument für einmal überwunden und dem Satz eine metronomische Tempobezeichnung vorangestellt. Keimzelle des Satzes (und in der Folge des ganzen Werkes) ist ein steigendes Dreitonmotiv, das alle erdenklichen Gestalten zwischen einer chromatischen Halbtonfolge und einer Dehnung über ein Tritonusintervall annimmt, zugleich aber in seiner „reinsten“, nämlich diatonischen Form als „Urlinie“ im Hintergrund agiert.

Der von den ersten Hörern des Werkes einmütig bevorzugte Variationensatz (Andante con moto, a-moll) verwendet diese diatonische Urgestalt als charakteristisch rhythmisierten Themenkopf – die markiert trochäischen Betonungen des wohl zugrundeliegenden ungarischen Volksliedes regieren den Satz, bis in der vierten Variation gleichzeitig mit dem Verlassen der Molltonart auch dieses Element sich allmählich verflüchtigt, um aus der Ferne einen lieblicheren Siciliano-Rhythmus durchscheinen zu lassen, der uns an die analoge Stelle (Variation VII) der Haydn-Variationen op.56 denken läßt. Auch in der abschließenden fünften Variation, die direkt in eine wehmütige Coda mündet, wird der sanft wiegende Sechsachteltakt der vorhergehenden Variation beibehalten, ohne daß der Magyarenstolz des Anfangs noch einmal zu Wort käme.

Eine völlig andere Erscheinung des Sechsachteltaktes tritt uns im Scherzo (Presto, c-moll) entgegen. Die von Billroth und anderen behauptete Nähe dieses Satzes zu Mendelssohn ist wohl nichts viel mehr als eine optische Täuschung, die der akustische Eindruck eigentlich korrigieren sollte: Mendelssohns Vorliebe für dahinhuschende Sechsachtel-Scherzi ist im allgemeinen sehr weit von der dämonischen Unruhe entfernt, die diesen Satz beherrscht, bis das Trio (Poco meno presto, C-Dur) einen hymnisch-hellen Gegenpol schafft.

Das Urmotiv, das die ersten beiden Sätze durchzieht und nur im Scherzo in den Hintergrund tritt, gibt im Finale (Allegro giocoso) wieder ganz kräftige Lebenszeichen von sich. Es hat sich jetzt von dem dramatischen Druck, der im ersten Satz zu so ausdrucksvollen Verformungen geführt hat, ganz befreit und führt ein sehr übermütiges und schalkhaftes Dasein. Die unbändige Spottlust dieses Motivs setzt sich am Ende der Durchführung gegen alle ernsthafteren Einwände durch. Der nahezu dadaistische Unernst dieser Passage ließ den Brahms-Biographen Alfred von Ehrmann befremdet fragen, wie Brahms sich so weit gehen lassen konnte, einen solchen „Schusterfleck“ passieren zu lassen. Bei näherer Betrachtung sieht man freilich, daß der unverhohlene Schabernack dieser Stelle in anderer Form jene Diskussion wiederholt (und karikiert), aus der der erste Satz seine imposanten Energien bezogen hat. Die innige Verquickung von konstruktivem Tiefsinn und souveränem Nonsens, zu der Brahms hier spielerisch gelangt, ist sicheres Indiz dafür, daß er in die Jahre seiner reifsten Meisterschaft eingetreten ist.

© by Claus-Christian Schuster

Brahms: Trio Nr.1, H-Dur, op.8 (Fassung 1889)

Johannes Brahms

* 7. Mai 1833
† 3. April 1897

Trio Nr.1, H-Dur, op.8 (Fassung 1889)

Komponiert:Hannover, Jänner 1854 / Bad Ischl, Mai – August 1889
Uraufführung:Budapest, 10. Jänner 1890
Johannes Brahms, Klavier
Jenö Hubay (1858-1937), Violine
David Popper (1843-1913), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, Februar 1891

„Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen.“ Wie gerne würde man dem Rate Goethes folgen, und wie selten bietet sich dem nichtschöpferischen Menschen dazu eine Gelegenheit! Was Brahms betrifft, gibt es jedenfalls keinen Punkt, wo wir der Erfüllung dieses Wunsches näher wären als bei seinem Klaviertrio op.8. Es ist zwar nicht die eigentliche Geburt des Kunstwerkes, der wir hier beiwohnen können, sondern nur eine Metamorphose, aber die ist so umfassend und tiefgreifend, daß sie uns die faszinierendsten Einblicke in die Werkstatt des Komponisten bietet, die er uns je gestattet hat. Zwar ist es vorlaut, hier von „gestatten“ zu sprechen, denn daß Brahms uns diese Einblicke nur wider Willen gewährt, steht außer Frage. Wäre die Erstfassung dieses Werkes nicht seit November 1854 gedruckt vorgelegen, so wäre sie wohl dem unerbittlichen Meister zum Opfer gefallen und in eben jenem Ischler Sommer, der uns die „Neufassung“ bescherte, genauso der Traun überantwortet worden, wie viel „zerrissenes Notenpapier“ vor und nach ihr. So aber können wir in aller Ruhe die beiden Fassungen dieses Werkes vergleichen, die recht eigentlich zwei unabhängige, nur dem selben Keim entsprungene Werke darstellen. Wer sich die Zeit nimmt, diesen Vergleich anzustellen, dem wird sich ein ganzer Kosmos rätselhafter und wunderbarer Verwandlungen eröffnen.

Es ist hier selbstverständlich nicht der Platz, auf die Beziehungen zwischen den beiden Werken näher einzugehen. Ein kurzer Überblick über die Art der Umformung und Neuschöpfung mag genügen. Hier ist an erster Stelle die Eliminierung der beiden beziehungsreichen Liedzitate im dritten und vierten Satz der Urfassung zu nennen: Schuberts „Das Meer erglänzte weit hinaus“ (Am Meer (Heine) / „Schwanengesang“, D 957 Nr.12) und Beethovens „Nimm sie hin denn, diese Lieder“ (An die ferne Geliebte (Jeitteles), op.98 Nr.6) waren in der ursprünglichen Komposition Kristallisationskerne von Momenten besonderer lyrischer Dichte. Die Tilgung dieser beiden Bezugspunkte hatte einschneidende Folgen für Dramaturgie und Aussage dieser beiden Sätze. Als womöglich noch radikaler erwiesen sich die Eingriffe bei der Neukomposition des Kopfsatzes. Hier behielt Brahms überhaupt nur den Hauptsatz bei, während Seitensatz und Durchführung zur Gänze ersetzt wurden. Die neukomponierten Teile traten hier an die Stelle von Passagen, die Klangwelt und Gestik der Musik von Janacek, Mahler und Pfitzner vorweggenommen hatten. Weitere Umformungen zielen auf Verknappung und Formteilverschmelzung. Alles in allem erscheint der Text in seinen äußeren Dimensionen um etwa zwei Fünftel gekürzt, wobei aber vom ursprünglichen Material der Ecksätze nur etwa ein Achtel, von dem des Adagios nur rund ein Drittel übernommen wurde. Lediglich das Scherzo beider Fassungen kann als inhaltlich ident bezeichnet werden, obwohl auch hier zahlreiche instrumentatorische Änderungen vorgenommen wurden und der Satz eine völlig neue Coda erhielt. Die neukomponierten Teile weisen durchwegs eine kräftigere und dichtere Textur als die ausgeschiedenen auf, so daß die Neukomposition ganz allgemein gedrängter und „solider“ auftritt als die Erstfassung. Die Aussage beider Werke ist nicht nur verschieden, sie erscheint in manchen und nicht eben den unwesentlichsten Punkten geradezu als diametral entgegengesetzt. Instrumentation und Tektonik der zweiten Komposition bezeichnen einen der Höhepunkte der Brahmsschen Meisterschaft. Die Bändigung der Zentrifugalkräfte des Materials, die bei der ersten Komposition wohl gar nicht versucht worden war, kann als in höchster Vollendung geglückt bezeichnet werden. Daß diesem Sieg einige der anrührendsten Momente der Brahmsschen Musik geopfert werden mußten, zeigt ein Grunddilemma des menschlichen Schaffens schlechthin auf.

Brahms, den man vielleicht den kritischsten Komponisten der bisherigen Musikgeschichte nennen könnte, hat dieses Dilemma ganz bewußt erlebt und durchlitten. Ich glaube daher, daß die Äußerungen des Komponisten selbst uns dichter an den Kern der Fragen heranführen, die diese einzigartigen Schwesterwerke aufwerfen, als alle wertenden und beschreibenden Vergleiche. Beim Lesen dieser Zeugnisse wird man hinter der Selbstironie und dem Sarkasmus des Autors immer wieder auch jenen nicht lähmenden, sondern läuternden Selbstzweifel anklingen hören, der das Adelsprädikat des wahren Genies ist.


Schon wenige Tage, nachdem Breitkopf & Härtel die Erstfassung des Werkes zur Herausgabe angenommen hat, schreibt Brahms, von Gewissensbissen geplagt, aus Düsseldorf an Joseph Joachim (19. Juni 1854):

„…Das Trio hätte ich auch gern noch behalten, da ich jedenfalls später darin geändert hätte…“

Doch das Werk ist eben schon unwiderruflich „vom Stapel“ und kommt im November 1854 in seiner unverändert frischen und urwüchsigen Gestalt in den Handel. Am 22. November 1854 stellt Brahms selbst das Werk in einem Hauskonzert bei Joseph Joachim in Hannover vor. Clara notiert:

„Später spielte Johannes noch sein Trio, dem ich nichts wünschte als einen anderen ersten Satz, denn ich kann mich mit diesem nicht befreunden.“

Louis Köhler (1820-1886) meldet aus Königsberg in seiner im März 1855 in den „Signalen für die musikalische Welt“ erschienenen Rezension etwas mildere Bedenken ähnlicher Art an:

„ …Der erste Satz ist überhaupt reich von schöner Wirkung; doch störte uns die Fughette etwas. Vielleicht erfreut sie andere um so mehr…“

Die ersten öffentlichen Aufführungen des Trios finden kurz hintereinander in Danzig (13. Oktober 1855), New York (27. November 1855) und Breslau (18. Dezember 1855) statt. Einige Wochen später kann man in Kiel die Novität mit Brahms selbst, Carl Georg Peter Grädener und John Böie hören (20. Jänner 1856). Doch als kurz darauf, im März 1856, Joachim Brahms vorschlägt, das Werk mit ihm in einer Kammermusiksoiree in Hannover zu spielen, zeigt der junge Meister wenig Lust. Ist Brahms´ Absage (die er schlicht damit begründet, in Düsseldorf sei gerade „der schönste Frühling“) schon ein Anzeichen wachsender Distanz gegenüber seinem Kammermusikerstling? Jedenfalls ist uns aus den folgenden Jahren keine einzige Aufführung des H-Dur-Trios durch Brahms bekannt geworden.

1869 kehrt der Pianist Anton Door (1833-1916) aus Moskau in seine Heimatstadt Wien zurück. Door hat sich in Rußland, wo er zum engeren Freundeskreis von Nikolaj Rubinstein und Tschaikovskij gehört, einen Namen als hervorragender Kammermusiker gemacht. Ihm bleibt es vorbehalten, dem ersten (und bis dahin einzigen) Brahmsschen Klaviertrio zu seiner Wiener Erstaufführung zu verhelfen – man schreibt inzwischen das Jahr 1871, und seit der Komposition des Werkes sind nicht weniger als siebzehn Jahre vergangen. Doch auf ausdrücklichen Wunsch des Komponisten bekommen die Wiener nicht die gedruckte Fassung, sondern eine um eben jene von Clara Schumann und Louis Köhler beanstandeten Durchführungsteile des ersten Satzes gekürzte Version zu hören.

Wieder vergehen siebzehn Jahre, da bietet sich Brahms schließlich ein Anlaß zur Neukomposition des Werkes – denn nicht anders kann man die Umarbeitung nennen. 1888 hat Fritz Simrock dem Verlag Breitkopf & Härtel alle dort erschienenen Brahms-Werke abgekauft und will sie nun neu herausgeben. Diese Gelegenheit zu einer gründlichen Ausmerzung aller erkannten Schwächen seines Jugendwerkes will sich der Meister nicht entgehen lassen. Er durchforstet das Werk mit unbestechlichem Auge und findet „viel Häßliches“ und „viele unnütze Schwierigkeiten drin“. Daß er zunächst wohl wirklich nur an eine Korrektur und nicht an eine so tiefgreifende Neukomposition denkt, erscheint aufgrund der Bleistifteintragungen im Handexemplar der Erstausgabe wahrscheinlich. Doch während seines Bad Ischler Sommeraufenthaltes 1889 arbeitet er sich immer tiefer in das Werk hinein, und kurz vor seiner Abreise nach Wien kann er Clara Schumann nach Baden-Baden berichten:

„…Mit welcher Kinderei ich schöne Sommertage verbrachte, rätst Du nicht. Ich habe mein H-Dur-Trio noch einmal geschrieben und kann es Op.108 statt Op.8 nennen. So wüst wird es nicht mehr sein wie früher – ob aber besser?
Wenn sich´s träfe, daß dort kleine Joachims und Hausmanns tummelten, könnten wir’s immer einmal versuchen…“
(3. September 1889)

Schon zwei Tage zuvor hat er bei seinem Verleger Fritz Simrock angefragt:

„Auch muß ich z.B. jetzt doch Sie fragen wegen des Trios op.8, ob Sie davon eine neue Ausgabe machen und einige neue Platten daran wenden mögen. Es wird kürzer, hoffentlich besser und jedenfalls teurer – in welcher frohen Aussicht bestens grüßt Ihr
J. B.“

Doch Brahms hat es beileibe nicht eilig mit der Drucklegung seiner Neukomposition. Nach Wien zurückgekehrt feilt er weiter an dem Werk, bis er es schließlich am 10. Jänner 1890 in Budapest der Öffentlichkeit präsentiert.

Am 22. Februar 1890 kann auch das Wiener Publikum das neue Werk kennenlernen: Brahms stellte es in einer Soirée des Rosé-Quartetts im Bösendorfer-Saal mit Arnold Rosé, Violine, und Reinhard Hummer, Violoncello, vor. Am nächsten Tag schreibt er an Clara:

„…Ich hatte das Stück schon zu den Toten geworfen und wollte es nicht spielen. Daß es mir selbst nicht genügen und gefallen wollte heißt wenig, aber wenn darauf die Rede kam, war niemand neugierig darauf, und jeder, auch Joachim, Wüllner z.B., fing dann davon an, wie er erst neulich mit so vielem Vergnügen das alte Stück gespielt habe, und fand es schwärmerisch, romantisch und was alles.
Nun ist mir lieb, daß ich´s doch gespielt habe, es war ein sehr vergnügter Tag.“

Und Brahms hat offensichtlich Lust bekommen, sich noch mehrere solche vergnügte Tage zu verschaffen, denn am selben Tag schreibt er an seinen Freund Franz Wüllner, städtischer Kapellmeister und Konservatoriumsdirektor in Köln:

„…Gestern erst habe ich denn das verneuerte Trio hier gespielt und bin wirklich in Versuchung es Dich hören zu lassen…“

Diese Anregung wird dankbar aufgegriffen, und Brahms kann auf diese Weise seinen Freunden aus Düsseldorfer Tagen sein erwachsen gewordenes Jugendwerk vorführen. Zu dem auf den 13. März 1890 in Köln angesetzten Konzert (ein von Wüllner dirigiertes Chorkonzert, in dessen Mitte Brahms sein „verneuertes“ Trio mit Gustav Holländer, Violine, und Louis Hegyesi, Violoncello spielen wird) lädt er seinen Jugendfreund Julius Otto Grimm („Isegrimm“) und dessen Frau Philippine („Pine Gur“) ein:

„…es wäre ganz ausnahmsweise schön und lieblich, wenn Du und gar Pine Gur dabei wären. Du hörst allerlei würdige Chormusik, einen Haufen Motetten von mir und ein Stück, das Dich notwendig interessieren muß.
Kennst Du etwa noch ein H-Dur-Trio aus unserer Jugendzeit, und wärst Du nicht begierig, es jetzt zu hören, da ich ihm – (keine Perrücke aufgesetzt – !) aber die Haare ein wenig gekämmt und geordnet…“
(Anfang März 1890)

Gleich nach dem Kölner Konzert setzt Brahms seine Reise in die Vergangenheit fort und besucht Clara in Frankfurt am Main, wo er am 23. März auch noch einmal das Trio aufführt. Damit ist die Reihe der Probekonzerte, in denen sich das neue Werk bewähren muß, zu Ende.
Aus Bad Ischl kann Brahms am Ende seines Sommeraufenthaltes 1890 an Elisabeth und Heinrich von Herzogenberg die nun ausgereifte Neukomposition zusammen mit dem ganz neuen zweiten Streichquintett (G-Dur, op.111) schicken. Kurz davor hat er an Heinrich von Herzogenberg noch geschrieben:

„…mit Buchstaben geht mir´s noch schlimmer als mit den Noten – diese gefallen mir doch erst morgen nicht, wenn ich sie heute geschrieben…“
(14. Juni 1890)

Elisabeths Antwortschreiben enthält die wohl herzlichste und gültigste Anmerkung zu dem „Problem“ des doppelten Op.8, das eben viel mehr ein Geschenk als ein Problem ist – soviele Fragen es auch aufwirft:

„…Bei dem alt-neuen Trio ging mir´s eigen. Im Stillen protestierte etwas in mir gegen die Umarbeitung – es war mir, als hätten Sie kein Recht dazu, in die Jugendzüge, die lieblichen, wenn auch ab und zu verschwommenen, mit Ihrer Meisterhand jetzt hineinzukomponieren, und ich dachte, das kann nimmermehr werden, weil niemand derselbe ist nach so langer Zeit – und ob man nicht wehmütig singen würde: Es war ein Duft, es war ein Glanz. –
Absichtlich sah ich das „alte“ Trio deshalb nicht vorher wieder an, da vieles mir davon entfallen war, und ich wußte nicht, wo der neue Brahms angesetzt hatte, da ich Kritiken mir nie merke! Im ersten Satz erkannte ich sofort die Stelle, wo Sie eingegriffen, aber ich wurde trotz aller Bedenken fortgerissen und spielte hingerissen weiter! – Es ist schön, wie es ist, und das Rechten mit Ihnen überlasse ich gern den Philologen unter den Musikern, die das Datum an dem Ding mehr interessiert als das Ding… Das Adagio ist durch die Zusammenziehung wunderbar rund geworden, und wie von neuem bezaubert das herrlich feierliche Schreiten des Hauptmotivs. Im Scherzo, wo ja scheinbar die wenigsten Veränderungen vorgenommen wurden, bewundern wir die riesig klare Akzentuierung der früheren Intentionen. Genug, wer wollte sich nicht freuen, das Werk mit dem Jünglingsgesicht und mit dem Meisterantlitz –
„Nun kann man´s zweimal lesen,
Wie gut ist das gewesen!“ …..“
(9. Oktober 1890)

Am 13. Dezember 1890 endlich schickt Brahms die beiden neuen Opera (8 und 111) zur Drucklegung nach Berlin. Wenige Tage später heißt es in einem Brief an Fritz Simrock:

„…Ich dachte alles ganz gut korrigiert zu haben!? Und nun stimmt’s nicht!? Und Sie schwindeln einen Takt mehr heraus, als ich fürs Geld geben will!? Ja, Geld – was habe ich denn für das erste Quintett gekriegt? Und wie rechnet man das Kastrieren eines Trios?“
(22. Dezember 1890)

Eine Woche später kommt hier dann auch das weitere Schicksal der Erstfassung zur Sprache:

„…Ich meine, es brauchte bei op.8 nichts weiter zu stehen als: Neue Ausgabe. In Ankündigungen können Sie ja beisetzen: vollständig umgearbeitete und veränderte und was Sie wollen. Was mit der alten Ausgabe geschehen soll: es ist wirklich unnütz, darüber zu reden und zu beschließen – nur meine ich, man kann sie nicht wohl jetzt mit der neuen Ausgabe zugleich anzeigen. Wird sie verlangt, so schicken Sie sie, und scheint es Ihnen eines Tags nötig oder wünschenswert, so drucken Sie sie neu (lassen ja auch möglicherweise die neue Ausgabe eingehen!) Ein Vorsatz aber ist überflüssig. Ich denke selbstverständlich dabei nicht an das Honorar und weiß wirklich nicht, was ich fürs Kastrieren verlangen soll….
Für das verböserte Trio hätte ich nichts verlangt und erwartet, aber Sie schreiben ganz klar, kurz und grob, daß Sie es nicht umsonst nehmen! So kaufe ich mir noch Kuchen zu Ihrem Champagner – wird alles den armen Leibeigenen abgezapft!…“
(An Fritz Simrock, 29. Dezember 1890)

Die fast kaltblütig zu nennende Objektivität, mit der Brahms sein Jugendwerk noch einmal auf die Welt gebracht hatte, verstellte ihm nicht die Sicht auf das Lebensrecht des Erstgeborenen. Daß uns auf diese Weise Jünglingsgesicht und Meisterantlitz erhalten blieben, zählt zu den schönsten Geschenken der Musikgeschichte.

© by Claus-Christian Schuster

Brahms: Trio Nr.1, H-Dur, op.8 (Fassung 1854)

Johannes Brahms

* 7. Mai 1833
† 3. April 1897

Trio Nr.1, H-Dur, op.8 (Fassung 1854)

Komponiert:Hannover, beendet am 31. Jänner 1854
Uraufführung:Gdansk (Danzig), Gewerbehaussaal, 13. Oktober 1855
Hr. Haupt, Klavier
Hr. Braun, Violine
Hr. Klahr, Violoncello
Erstausgabe:Breitkopf & Härtel, Leipzig, November 1854

In Brahms´ Nachlaß hat sich ein Konzertprogramm aus den Hamburger Jugendtagen des Meisters erhalten, das eine eigentümliche Besonderheit aufweist: Zur Silberhochzeit des Klavierfabrikanten Schröder wurde am 5. Juli 1851 in einem Privatkonzert unter anderem ein Trio des in keinem Lexikon verzeichneten Komponisten „Karl Würth“ vorgetragen; neben dem Pianisten Johannes Brahms wirkten die Herren Gade (nicht Niels Wilhelm, sondern sein Hamburger Namensvetter und Jahrgangskollege Johann Gade, 1817-1898) und d´Arien an dieser Aufführung mit. Brahms hat auf diesem Programmzettel seinen eigenen und den angeblichen Namen des Komponisten mit einer Bleistiftmarkierung verbunden – der früheste uns erhaltene Hinweis auf eine Brahmssche Klaviertriokomposition. Trotzdem darf man bezweifeln, daß es sich hier um sein erstes Trio gehandelt hat; und ganz sicher wissen wir, daß Brahms auch in den Jahren zwischen dieser ersten dokumentierten Trioauffführung und dem Erscheinen des H-Dur-Trios in Klaviertrios geschwärmt hat. Eines dieser Werke ist uns wenigstens dem Namen nach bekannt: Es ist jene Phantasie in d-moll (Largo und Allegro), die der Komponist am Nachmittag des 4. Oktober 1853 im Hause Schumann spielte, wo sie die Nachbarschaft des Schumannschen Opus 110 aushalten mußte. Schumanns Anerbieten, die Triophantasie zusammen mit einer Reihe weiterer Werke bei Breitkopf & Härtel zum Druck zu empfehlen, bringt den Autor in einige Verlegenheit, in der er sich ratsuchend an Joseph Joachim wendet:

„Lieber Joseph!
Dr. Schumann betreibt meine Sachen bei Breitkopf & Härtel so ernstlich und so dringend, daß mir schwindlich wird. Er meint, ich müsse in sechs Tagen die ersten Werke hinschicken.
Der Mannigfaltichkeit wegen schlägt er mir folgendes Programm vor:
op.1. Phantasie in d moll für Piano, Violine und Cello (Largo und Allegro)
op.2. Lieder
op.3. Scherzo in es moll
op.4. Sonate in C dur
op.5. Sonate in a moll für Piano und Geige
op.6. Gesänge
Schreibe mir doch deutlich Deine Herzensmeinung darüber. Ich weiß mich gar nicht zu fassen. Ob das Trio (Du erinnerst es wohl) der Veröffentlichung wert ist? Erst op.4 ist ganz nach meinem Geschmack. Aber freilich meint Schumann, man müsse mit den schwächeren Werken anfangen. Da hat er recht, entweder damit anfangen, oder sie ganz fortlassen und streben, hernach nicht zu fallen.
Die fis moll [Sonate] und das Quartett in h, meint der Dr., könnte jedem Werk nachfolgen.
Wenn das Trio abgeschrieben ist, möchte ich es Dir wohl hinschicken; daß ich einige Schwächen geheilt habe, versteht sich von selbst…“
(Düsseldorf, 17. Oktober 1853)

Dieser Brief ist ein bemerkenswertes und aufschlußreiches Dokument: Er bewahrt nicht nur die (uns Kinder einer weniger verschwenderischen Zeit wehmütig stimmende) Spur einiger offenbar durchaus präsentabler Jugendwerke des Meisters – neben der Trio-Phantasie einer frühen Geigensonate und eines Streichquartetts –, er beweist auch, daß schon der Zwanzigjährige über ein erstaunliches Maß an Selbstkritik und Unabhängigkeit des Urteils verfügte. Denn wie wir wissen, ist Brahms dem Schumannschen Publikationsplan ja keineswegs gefolgt: Nicht nur hat er die (offenbar auch von Schumann zunächst als das vergleichsweise unreifste Werk beurteilte) Phantasie völlig fallengelassen, er hat auch von Schumann besonders hochbewertete Werke (Geigensonate, Streichquartett) ungedruckt gelassen. Und das „Streben, hernach nicht zu fallen“ könnte überhaupt als Motto über dem Brahmsschen Gesamtwerk stehen, das – was die Klarheit und Strenge des in ihm verwirklichten Wertmaßstabes anlangt – in der uns bekannten Musikgeschichte seinesgleichen nicht hat.

In einem Gespräch mit seinem späteren Biographen Max Kalbeck hat Brahms 1885 diese rigorose Selbstkritik humorvoll verniedlichend als „Respekt vor der Druckerschwärze“ apostrophiert und auf Kalbecks Frage nach den unschuldigen Opfern dieser Strenge gesagt:
„Das Zeug ist alles verbrannt worden. Die Kisten mit den alten Skripturen standen lange in Hamburg. Als ich vor zwei oder drei Jahren dort war, ging ich auf den Boden – die ganze Kammer war aufs schönste mit meinen Noten tapeziert, sogar die Decke. Ich brauchte mich nur auf den Rücken zu legen, um meine Sonaten und Quartette zu bewundern. Es machte sich sehr gut. Da hab´ ich alles heruntergerissen – besser, ich tu´s, als andere! – und auch das übrige mitverbrannt…“
Dieses Autodafé hat wohl Anfang April 1883, kurz vor Brahms´ fünfzigstem Geburtstag stattgefunden. Ob neben den schon erwähnten Triokompositionen auch das in einem Bonner Nachlaß in Kopie aufgefundene und 1925 als anonyme Komposition „uraufgeführte“ A-Dur-Trio unter diese von Brahms verworfenen Werke zu zählen ist, wie seine Herausgeber (Ernst Bücken und Karl Hasse, 1938) meinten, wird wohl nie mehr eindeutig zu klären sein. Die der Ausgabe zugrundeliegende Abschrift ist in den Kriegswirren verloren gegangen, und so leidenschaftlich das Pro und Contra von Brahms´ Autorschaft in der einschlägigen Diskussion seither auch verfochten wird, muß man doch zugeben, daß die Argumente beider Seiten einander ziemlich die Waage halten. Sollte dieses Trio aber doch ein Brahmssches Jugendwerk sein, so wäre es zeitlich wohl zwischen dem Hamburger Trio und der verworfenen Phantasie einzureihen.

Von Hannover aus, wohin sich Brahms im Gefolge seines Freundes Joseph Joachim am 3. November 1853 nach den an Eindrücken und Erschütterungen so überreichen Wochen bei Robert und Clara Schumanns in Düsseldorf zurückgezogen hat, bekräftigt der junge Komponist in seinem Dankesschreiben an Robert Schumann (vom 16. November) den inzwischen gereiften Entschluß: „Ich denke keines meiner Trios herauszugeben.“ Es ist sehr leicht möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß zu dieser Zeit der Plan zu einem neuen Klaviertrio schon herangereift ist. Doch die Zeit zur Niederschrift der andrängenden Ideen ist noch nicht gekommen. Den Großteil der vorweihnachtlichen Zeit muß Brahms in Leipzig verbringen, wo er die Verhandlungen mit seinen Verlegern zum Abschluß bringt und sich der durch Schumanns Artikel neugierig gemachten Leipziger Öffentlichkeit als Komponist und Pianist vorstellt. Viele der für des Komponisten weiteres Leben wichtigen Freundschaften und Beziehungen gehen auf diese ersten Leipziger Tage zurück. Die Festtage verbringt Brahms dann in gehobener Stimmung im Kreis seiner Familie in Hamburg: Er, der vor acht Monaten nicht viel anders als ein fahrender Handwerksbursche von zuhause aufgebrochen ist, kehrt als strahlender Sieger mit seinen ersten gedruckten Kompositionen und begleitet von der erwartungsvollen Neugier der großen musikalischen Welt zurück.
Doch das Werk drängt ans Licht. Schon am 3. Jänner 1854 ist Brahms wieder in Hannover. Er hat sich ein Domizil gemietet, das – auch wenn es kein Spitzwegsches Dachstübchen ist – einem Kreisler junior recht gut als musikalisch-poetisches Laboratorium dienen kann. Max Kalbeck beschreibt das Haus in einer Weise, die einen heutigen Hannoverbesucher recht wehmütig stimmen könnte:
„Vor dem Egidientore standen, zwischen Obstgärten und Äckern verloren, einzelne Häuser, die einmal für die Günstlinge oder Favoritinnen des Fürstenhauses und -hofes gebaut worden waren. Das einstöckige, vier Fenster breite Häuschen am Papenstieg Nr.4 versteckte sich förmlich hinter den Zweigen der alten Apfel- und Nußbäume, so daß man es von der Stadt aus kaum sah. Ein eigener Schleichweg führt auch heute [1903] noch vom Papenstieg aus zu der ehemaligen Solitude, und die beiden Säulen mit ägyptischen Lotoskapitälen, die den Haupteingang noch immer schmücken, Träger eines lebensgefährlichen Miniaturbalkons und gleich diesem selbst aus Holz gearbeitet, verraten, seitdem Stuck und Kalk von ihnen abfielen, wie billig die Tempel waren, welche von vornehmen Herren der empfindsamen Restaurationszeit einer Mondgöttin oder Priesterin der Isis gestiftet wurden.“

Dieses Bild mag einen daran erinnern, daß die Bamberger Erstausgabe der Hoffmannschen Kreisleriana, Brahms´ Lieblingsbuch, ein Vorwort von Jean Paul begleitet hat…
In dieser idyllischen Umgebung muß in den folgenden Wochen der Großteil des neuen Klaviertrios zu Papier gebracht worden sein. Am 19. Jänner treffen Clara und Robert Schumann in Hannover ein. Clara findet den Freund merkwürdig verändert:
„Brahms fällt uns durch seine Schweigsamkeit auf. Er spricht fast gar nicht, oder tut er es zuweilen, so geschieht es so leise, daß ich es nicht verstehen kann. Er hat gewiß seine geheime innere Welt – er nimmt alles Schöne in sich auf und zehrt nun innerlich davon.“
(Tagebuch, 21.(?) Jänner 1854)

Trotz der Turbulenzen rund um Claras Konkurrentin Wilhelmine Clauß (Robert: „ein kleiner Anmuthteufel“) verbringen die Freunde angeregte und musikerfüllte Tage miteinander. Am 30. Jänner treten die Schumanns dann die Heimreise an. Robert Schumann und Johannes Brahms ziehen sich wieder in ihre geheime innere Welt zurück – dieser zur Vollendung seines Klaviertrios, jener um nicht wieder zurückzukommen.

Clara hatte recht: Alles Schöne, aber auch alles Erschütternde, was Brahms in den wenigen Monaten seit seinem Aufbruch aus Hamburg zu erleben beschieden war, war ihm innerliche Zehrung – und alles findet seinen Widerhall in diesem staunenswerten Opus 8. Brahms verweigert dem Werk zwar – anders als seine tschechischen Nachfolger Smetana und Janacek – einen verräterischen Titel, aber auch ohne solche äußere Hinweise ist hier alles beredt. Um in diesem Tagebuch lesen zu können, hätte es nicht einmal der vielsagenden musikalischen Zitate bedurft; aber es erstaunt uns nicht, daß auch diese der späteren Umarbeitung, die ja im Konzertbetrieb seit langem die heute gespielte Urfassung verdrängt hat, zum Opfer fallen mußten. Denn der Komponist von 1889 war schon lange nicht mehr jener „Johannes Kreisler jr.“, als welcher der Brahms von 1854 firmierte. Gerade deshalb wird ja der unvergängliche Eigenwert der ursprünglichen Fassung durch die „Ausgabe letzter Hand“ (die doch im eigentlichsten Sinne eine Neukomposition unter Verwendung alter Materialien ist) durchaus nicht berührt; und die gängige Praxis, die das Frühwerk nur als Curiosum gelten lassen will, ist sehr im Irrtum.

Zwar meinte E.T. A. Hoffmanns Johannes Kreisler:
„Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußern Sinnenwelt, die ihn umgibt und in der er alle bestimmten Gefühle zurückläßt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben.
Habt ihr dies eigentümliche Wesen auch wohl nur geahnt, ihr armen Instrumentalkomponisten, die ihr euch mühsam abquälet, bestimmte Empfindungen, ja sogar Begebenheiten darzustellen?“
– und sicher hätte unser Kreisler jr. (wie er ja auch später in seiner Haltung gegenüber der Programmusik der Neudeutschen Schule bewiesen hat) ganz ähnlich argumentiert; aber so wie Hoffmanns Kreisler schon einige Zeilen weiter von grünen Hainen, lachenden Kindern und dem Glanz des Abendrots schreibt, die ihm die Haydnschen Symphonien vor Augen führen, ebenso hätte auch Brahms sicher nicht geleugnet, daß Musik – selbst dort, wo sie sich nicht einfach in ein illustratives Verhältnis zu einem konkreten „Programm“ begibt – befähigt und sogar berufen ist, Eindrücke der äußern Sinnenwelt samt den von diesen ausgelösten bestimmten Gefühlen in uns wachzurufen. Vielleicht würde Brahms, trotz seiner schwärmerischen Verehrung für E. T. A. Hoffmann, letztlich doch Felix Mendelssohn zugestimmt haben, der einmal sagte, die von der Musik vermittelten Gefühle seien nicht zu vage, sondern, im Gegenteil, zu bestimmt, um in Worte gefaßt werden zu können?

Doch eben deshalb halte ich den Versuch, das musikalische Tagebuch, als welches sich das H-Dur-Trio leicht zu erkennen gibt, mit der Geschichte des Brahmsschen Wanderjahres illustrieren zu wollen, für ein problematisches und letzlich auch müßiges Unterfangen. Nichts in diesem Werk braucht und nur weniges duldet eine Erklärung. Auf diese wenigen Details will ich mich hier beschränken.

Im ersten Satz (Allegro con moto) wird auch einen mit der Spätfassung des Werkes nicht vertrauten Hörer der offene Widerspruch zwischen dem verschwenderisch blühenden Hauptthema und dem asketischen Seitenthema frappieren: Dem flächig-akkordischen Satz des ersten steht die karge Einstimmigkeit des zweiten unvermittelt gegenüber. Trotz des leicht nachvollziehbaren motivischen Zusammenhanges zwischen den beiden Themen ist es völlig unmöglich, diesen Bruch zu überhören. Erst im Laufe der weiteren Entwicklung des Seitenthemas wird es zögernd kontrapunktisch bereichert, verharrt aber in seiner lugubren Linearität. Eine überraschende Mediantrückung bringt schließlich einen unverhofften Stimmungswechsel, mit dem der zweite Teil des Seitensatzes sich lichteren und freundlicheren Regionen zuwendet. Der klagend-fallende Duktus der Gis-moll-Episode weicht in diesem E-Dur-Abschnitt („dolce, poco scherzando“) einer kindlich-vertrauensvollen Stimmung, die durch steigende Wendungen geprägt ist. Trotzdem bleibt auch hier das instrumentale Gewand betont schlicht. Vor allem die auffällige Sparsamkeit des über weite Strecken einhändig ausführbaren und bis gegen Ende des Maggioreteiles auf die tieferen Register beschränkten Klaviersatzes bewirkt, daß über den Charakter- und Tonartenwechsel hinweg die Einheit des Seitensatzes gewahrt bleibt.
Dieser bemerkenswerte Zug, zu dem es im erhaltenen Frühwerk Brahms´ keine Parallele gibt, ruft mir eine sehr einprägsamen Passage in den Hoffmannschen Kreisleriana in Erinnerung. Das im vierten Band der Fantasiestücke in Callots Manier enthaltene Kreislerianum Kreislers musikalisch-poetischer Clubb berichtet von der ungeschickten Neugier eines der um das Klavier versammelten Freunde des exzentrischen Musikers:
„…damit steckte er ausdrücklich das Licht an, welches sich auf dem breiten Schreibeleuchter befand, und forschte, ihn über die Saiten haltend, sehr bedächtig nach dem invaliden Hammer. Da fiel aber die schwere, auf dem Leuchter liegende Lichtschere herab, und, im grellen Ton aufrauschend, sprangen zwölf bis fünfzehn Saiten.“
Die anschließende Diskussion der Freunde, die sich um den erhofften musikalischen Genuß gebracht sehen, beendet Kreisler selbst mit den Worten:
„Und ich will doch phantasieren… im Baß ist alles ganz geblieben, und das soll mir genug sein.“
Gleich zu Beginn der nun folgenden Phantasie, die der verrückte Kapellmeister mit schwärmerischen Deklamationen begleitet, erscheint die Akkordfolge as-moll (was enharmonisch dem Brahmsschen gis-moll entspricht) – E-Dur. Die erste Harmonie läßt Kreisler von Sehnsucht und Schmerz sprechen, während ihn die zweite zu dem Ausruf hinreißt:
„Frisch auf, mein wackrer Geist! – rege und hebe dich empor in dem Element, das dich gebar, das deine Heimat ist!“

Trotz der erkennbaren Berührungspunkte zwischen dem Hoffmannschen Text und der Brahmsschen Musik (Tonartenfolge, Charakter, Aussparung des Klavierdiskants), muß man wohl nicht betonen, daß Brahms – auch wenn meine Assoziation nicht ganz unbegründet sein sollte – keinesfalls eine musikalische Textillustration angestrebt haben kann; denn jenseits der aufgezeigten Entsprechungen gibt es rein gar nichts, was die Vermutung zuließe, wir wären hier auf der Spur eines „Programms“. So wenig Hoffmann seine dichterische Phantasie befähigte, in Tönen ähnliche Wirkungen hervorzubringen wie in Worten, so wenig bedurfte Brahms der Krücke eines dramaturgischen Leitfadens, um seine musikalischen Ideen zu entwickeln. Dennoch wäre es denkbar, daß wir es an dieser Stelle – in Analogie zu den später ebenfalls ausgemerzten musikalischen Zitaten der letzten beiden Sätze – ganz einfach mit einer (dem engsten Kreis der Freunde vielleicht verständlichen) literarischen Anspielung zu tun haben, die der strengeren und gereifteren Ästhetik des Meisters entbehrlich erscheinen mußte.
Da das im Seitensatz aufgestellte Themenmaterial den weiteren Verlauf des Satzes diktiert, zog seine Eliminierung 1889 die Neukomposition des Satzganzen nach sich. Vielleicht ist die noch immer Erstaunen auslösende Radikalität der Neufassung des ganzen Werkes eine mittelbare Folge dieser ersten Entscheidung.

Wenn man nach den Abenteuern der Durchführung, in denen die Motive des Seitenthemas in Gebiete vordringen, die einige Jahrzehnte später zum Reich Gustav Mahlers gehören werden, wieder das gesicherte Terrain der Reprise erreicht glaubt, findet man sich unversehens inmitten eines veritablen Fugatos wieder, das auf eigenwillige und selbstherrliche Art die Stelle des Seitensatzes vertritt. Diese „Fughette“ erregte schon bei den ersten Kritikern des Werkes Anstoß, und auch eineinhalb Jahrhunderte später dürfen sich die Interpreten an dieser Stelle an der befremdeten Ratlosigkeit des Publikums ergötzen. Beim Durchdringen dieses polyphonen Engpasses kann man heute noch auf vielen Gesichtern Reaktionen lesen, die Hoffmann in Kreislers ironischem Lamento über die „wahnsinnigen“ Komponisten aufs Korn genommen hat:
„Die ganz unnützen Spielereien des Kontrapunkts, die den Zuhörer gar nicht aufheitern und so den eigentlichen Zweck der Musik ganz verfehlen, nennen sie schauerlich geheimnisvolle Kombinationen und sind imstande, sie mit wunderlich verschlungenen Moosen, Kräutern und Blumen zu vergleichen.“
(E. T. A. Hoffmann, Gedanken über den hohen Wert der Musik)

Am Scherzo (Allegro molto, h-moll) kann man sich noch einmal davon überzeugen, daß die für diesen Satztyp charakteristischen Züge dem Empfinden der Romantik – und Brahms ist in diesem Stadium eindeutig ein romantischer Jüngling – besonders entgegenkommen. Eine sprunghafte Phantasie, die sich in überraschenden Stimmungswechseln ausdrückt, burlesker Übermut, spukhafter Zauber, der in geheimnisvoll nächtlichen Farben geschildert wird – all das ist für die romantische Kunst ganz allgemein typisch, und all das läßt sich in der von großräumigen Gestaltungszwängen vergleichsweise unbelasteten Syntax des Scherzos besonders treffend gestalten. Obwohl Brahms auch in den Scherzi von Anfang an seinen eigenen, unverwechselbaren Ton findet, ist es daher wohl kein Zufall, daß sich gerade in diesen Stücken besonders deutliche Berührungspunkte mit der Musik der vorbrahmsichen Generation ergeben. (Der Mendelssohn-Anklang im Scherzo der Klaviersonate op.5 und das Chopin-Echo im Es-moll-Scherzo op.4 sind besonders bekannte Beispiele dafür.)
Bezeichnenderweise ist das Scherzo des H-Dur-Trios der einzige Satz, den der Meister 1889 so gut wie unangetastet ließ; er hat sich hier bei der Letztfassung mit kleinen (vor allem Instrumentation und Satz betreffenden) Retouchen und einer neuen Coda begnügt.
Schon unter Brahms´ frühesten erhaltenen Werken findet sich ein H-moll-Scherzo, das eine ganze Reihe auffälliger Gemeinsamkeiten mit dem vorliegenden Satz aufweist: Das Scherzo der Klaviersonate fis-moll op.2 (Hamburg, November 1852) trägt nicht nur eine völlig idente Spielanweisung (staccato e leggiero), es zeichnet sich auch durch die gleichen schroffen dynamischen Kontraste (piano – fortissimo), durch analoge motivische Keimzellen (Hauptteil: Aufstieg von der Tonika zur Terz mit anschließender Wendung zum Leitton; Trio: Umkreisen des Terztones) und durch etliche Texturparallelen (nachschlagende Bässe im Trio etc.) aus. Diese Analogien vermindern freilich in keiner Weise die Eigenständigkeit der beiden Werke: man könnte in ihnen prächtig charakterisierte Portraits eines sehr ungleichen Geschwisterpaares sehen.

Das folgende Adagio non troppo (H-Dur) ist trotz seiner rhapsodisch-improvisatorischen Form von zwingender Stimmigkeit. Natürlich fällt es uns – aus der vollständigeren Kenntnis der kompositorischen Entwicklung des Meisters – heute leichter, die innere Logik des Ablaufes nachzuvollziehen. Sogar den ergebenen „Brahminen“ unter den Kritikern bereitete dieser Satz seinerzeit aber einiges Kopfzerbrechen: Adolf Schubring vermißte 1862 die „rechte Einheit“, und Eduard Hanslick stieß sich noch 1870 an den „gesuchten Seltsamkeiten“ des Adagios. Freilich muß nach dem vergleichsweise „traditionell“ gebauten Scherzo der langsame Satz als eine Sphinx erscheinen. „Ists nicht eigentümlich, daß man vom Komponisten in allem Originalität fordert und daß man sie ihm in der Form verbietet?“ wird Busoni zehn Jahre nach Brahms´ Tod fragen.
Die erwartete Dreiteiligkeit (zu der sich die Spätfassung bekennen wird) erscheint hier in verfremdender Brechung: Als Mittelteil erscheint das kaum verhüllte Zitat eines Schubert-Liedes (Am Meer, D 957 Nr.12), das gleich zum Ausgangspunkt einer frei assoziativen Entwicklung wird. Unerwartet rasch mündet diese aber wieder in die Reprise des Hauptteiles. Hier verwundert schon im zweiten Takt eine gewissermaßen schlafwandlerische Rückführung, mit der der subdominantische Beginn in die Tonika zurückfindet. (Die selbstvergessene Irrationalität dieser Wendung verleitet bis heute manchen gewissenhaften Pianisten zu einer wohlgemeinten, aber verheerenden „Korrektur“…) Die improvisierenden Melismen, mit denen das Klavier den Streichersatz von hier an untermalt, sind frische Triebe eines Baumes, der in Beethovens letzten Klaviersonaten gepflanzt wurde. Spätestens mit den beiden – einander aufhebenden – kühnen Ganztonrückungen, die den weiteren Verlauf in ein fremdes Licht tauchen, wird klar, daß wir es hier nicht mit einer „Reprise“, sondern mit einem Traumbild, einer verklärenden Erinnerung zu tun haben. Und weil Traum und Delirium benachbarte Reiche sind, macht es Brahms keine Mühe, uns von diesem in jenes zu führen: Das Allegro (doppio movimento), das parenthetisch in die geträumte Reprise einbricht und das Schubring in seiner Besprechung einen zweiten „Mittelsatz“ nennt, ist nämlich nichts anderes als eine Fiebervision, in der sich ein Fragment des Hauptthemas ekstatisch verselbständigt und in einem heimatlosen Motivsplitter aus dem ersten Satz sein „surreales“ Spiegelbild findet. (Für Analytiker: Aus dem Geigenthema der Takte 5-6 wird eine Folge von vier Tönen gelöst und anschließend zu einem Dreitonmotiv verkürzt, dessen diastematische Kontur dem ebenfalls dreitönigen Geigenmotiv aus Takt 202ff. des ersten Satzes entspricht – die geringfügig veränderte Krebsumkehrung dieses Motivs dient dann als „Spiegelbild“.) Dieses assoziative Spiel mit kleinräumigen, ostinat wiederholten Motivzellen werden wir später bei Janacek und seinen Nachfolgern wiederfinden. Faszinierend an diesem Vorgang ist nun aber weder die kombinatorische Logik (auf die sich Schönberg und seine Jünger berufen werden, die aber zum Glück nur im Verborgenen wirkt), noch auch die inhärente musikgeschichtliche Prophetie, sondern die sich hier eröffnende Perspektive: In diesem Fiebertraum offenbaren sich die bis dahin verborgenen Beziehungen zwischen allen Figuren und Motiven des Satzes, gerade hier gewinnt das Ganze die von Schubring vermißte „rechte Einheit“, und zwar völlig unabhängig davon, ob diese Einheit unbewußt erlebt oder bewußt entdeckt wird.
Das Ende der Vision klingt an den Abschluß der Schubert-Episode an und faßt damit noch einmal die zunächst heterogen erscheinenden Elemente des Satzes zusammen; erst dann wird die „Reprise“ zu Ende geführt. Das Satzganze folgt also trotz seiner grundlegend anderen Form ähnlichen Prinzipien wie der Kopfsatz: So wie sich dort der Fugato-Abschnitt in plötzlich gezügeltem Tempo mitten in die Reprise geschoben hatte, so unterbricht hier der beschleunigte Puls des Deliriums die entrückte Erinnerung an das Hauptthema. In beiden Fällen wird die erwartete Form an anloger Stelle durchbrochen und die Abweichung agogisch betont – und beide Stellen zogen von Anfang an Kritik auf sich. Daß Brahms in der Neukomposition auch diese beiden Steine des Anstoßes aus dem Weg geräumt hat, sollte uns freilich nicht zu der Annahme verleiten, sein Ziel sei der Widerruf aller jugendlichen Experimente gewesen. Der Hörer der IV. Symphonie und der späten Kammermusik- und Klavierwerke wird nie im Zweifel gelassen, daß Brahms in seinem Alter nichts an Kühnheit eingebüßt hat. Daß Anspruch und Ästhetik des Spätwerkes mit dem romantischen Wagemut der ersten Werke in Konflikt geraten, macht aus Brahms noch lange keinen reaktionären Traditionalisten, wie das die neudeutsche (und „neufranzösische“) Musikkritik gerne darstellten.

Das Finale (Allegro molto agitato) ist von jener bestürzenden Eindringlichkeit und entwaffnenden Offenheit, wie sie wohl nur ein Jugendwerk haben kann. Das atemlos insistierende Hauptthema strandet dreimal an einer schicksalshaft verneinenden Geste, mit der es schließlich einen todesmutigen Kampf aufnimmt. Am Höhepunkt dieser Auseinandersetzung tritt verwegen ein Viertonmotiv auf, das in erbitterter Engführung das bis dahin stabile metrische Gefüge zertrümmert. Wie Brahms den barbarischen Ansturm dieses Motivs besänftigt und es zur zärtlichen Begleitung des nun eintretenden schwärmerischen Seitenthemas zähmt, gehört zu jener Art von Wundern, die einen das Schumannsche Wort vom „Zauberstab“ des jungen Komponisten begreifen lassen. (Das Motiv ist übrigens nichts anderes als der um einen Ton erweiterte Motivsplitter, der uns schon im vorigen Satz als ein Revenant aus dem ersten begegnet ist.) Über das Seitenthema selbst, dem wie Goethes Mignon schon immer die anbetende Liebe des Publikums sicher war, wurde schon allzuviel gesprochen und geschrieben – und das bekommt der Liebe nicht immer gut. Nun ja, der Kern dieses berückenden Themas ist ein Zitat: Beethoven hat mit eben dieser Wendung seiner Fernen Geliebten „Nimm´ sie hin denn, diese Lieder!“ zugerufen. Aber – und das wird in der Diskussion um den tieferen Sinn dieses Zitates gerne unterschlagen – Brahms´ Quelle ist nicht Beethoven, sondern Robert Schumann: dort ist dieses Motiv nämlich ein immer wiederkehrendes, verborgen-offenes Zeichen der Liebe zu Clara. Daß Brahms aber, wie man auch ohne spekulative Aufdringlichkeit glauben darf, seiner Zuneigung zu Clara ausgerechnet jene Tongestalt gibt, die sich Schumann von Beethoven erborgt hat, gibt dem Zitat einen entsagungsvollen Hintersinn, der der zupackenden Neugier nur allzuleicht entgeht. Vor allem aber: Die Weiterführung des Themas, in der die einhaltgebietenden Wendung des Hauptthemas nun in verständnisinnig-tröstlichem Licht erscheint, läßt sich zwar bis Beethoven zurückverfolgen, hat aber dort nicht im entferntesten diese Bedeutungstiefe. Man könnte also auch auf dieses Zitat anwenden, was Brahms seinem Freunde Otto Dessoff entgegnete, als der eine ihn an Brahms erinnernde Stelle aus seinem (diesem gewidmeten) Streichquartett entfernen wollte:
„Lieber Freund!
Ich bitte Dich, mache keine Dummheiten. Eines der dümmsten Capitel der dummen Leute ist das von den Reminiszenzen. Die betreff. kleine Stelle bei mir ist, so vortrefflich auch alles Übrige sein mag, wirklich ganz und gar nichts. Bei Dir ist aber gerade die Stelle von einer allerliebsten, schönen und natürlichen Empfindung. Verdirb nichts, rühr nicht daran.“
(Johannes Brahms an Otto Dessoff, Pörtschach, 26. Juni 1878)

In seinem eigenen Werk hat Brahms freilich sehr wohl daran gerührt – er hat 1889 aus dem Finale nur das Hauptthema übernommen (aber auch diesem die exaltiert atemlosen Achtelpausen genommen) und den ganzen übrigen Satz völlig neu komponiert. Daß er damit etwas verdorben hat, wird man schwerlich behaupten können: die neuen Teile sind von monumentaler Dichte und Stringenz. Außerdem (und das beweist noch einmal, daß die Neufassung nichts mit der Zurücknahme „fortschrittlicher“ Positionen zu tun hat) greift das neue Finale Lösungen auf, die man als konsequente Weiterentwicklungen der Experimente im ersten und dritten Satz der Frühfassung begreifen kann – in die unmittelbar an die Exposition anschließende Reprise ist der „Durchführungsrest“ (der einen Nachhall der eliminierten Kämpfe bewahrt) als Enklave integriert. Daß aber das neue Finale, in all seiner meisterlichen Ökonomie und Kraft, die beglückenden und bestürzenden Verwirrungen des Jugendwerkes nicht ersetzen kann, hat wohl niemand besser gewußt als der Vater dieses so ungleichen Geschwisterpaares; und der soll in diesem Bruderzwist auch das letzte Wort haben – das hoffentlich niemand so ernst nimmt wie seine Noten:
„Wegen des verneuerten Trios muß ich noch ausdrücklich sagen, daß das alte zwar schlecht ist, ich aber nicht behaupte, das neue sei gut! Was Sie mit dem alten anfangen, ob Sie es einschmelzen oder auch neu drucken, ist mir, im Ernst, ganz einerlei.“
(Johannes Brahms an Fritz Simrock, 13. Dezember 1890)


Die Mason-Thomas Soirées of Chamber Music und die Frage der Uraufführung

Bis in die jüngste Zeit galt die Aufführung durch William Mason, Theodore Thomas und Carl Bergmann in der New Yorker Dodworth´s Hall am 27. November 1855 als die Uraufführung des Trios. Sie bleibt in jedem Falle ein verblüffendes Zeugnis für das frühe Interesse, das Brahms in Amerika gefunden hat – und sie versammelte drei bedeutende Interpreten, die für die Entwicklung des amerikanischen Musiklebens von größter Bedeutung sind. Der aus einer weitverzweigten Bostoner Musikerfamilie stammende Pianist und Komponist William Mason (1829-1908) hatte ab 1849 unter anderem bei Moscheles in Leipzig und bei Liszt in Weimar studiert (wo er im Juni 1853 auch Brahms kennenlernte), bevor er sich 1855 in New York niederließ. In diesem Jahr dirigierte Carl Bergmann (1821-1876) das erste Mal die Philharmonic Society of New York (dem 1842 gegründeten Vorläufer der New Yorker Philharmoniker), deren wichtigster (und ab 1866 alleiniger) Dirigent er bis zu seinem Tode bleiben sollte. Der gebürtige Sachse Bergmann war schon 1850 nach Amerika gekommen und hatte sich als Dirigent und Cellist in den Musikzentren der Ostküste bestens bewährt. In ihm hatte Mason den richtigen Partner für sein ehrgeiziges Projekt einer ständigen Kammermusikserie in New York gefunden:
„I asked Carl Bergmann, who was the most noted orchestral conductor of those days, and thus well acquainted with musicians, to get together a good string quartet. This he accomplished in a day or two, and made me acquainted with Theodore Thomas, first violin; Joseph Mosenthal, second violin; and George Matzka, viola, Bergmann himself being the violoncellist. We began rehearsing, and our first concert, or rather matinée, took place in Dodworth´s Hall, opposite Eleventh Street, and one door above Grace Church in Broadway.“
Es ist nicht erstaunlich, daß Bergmann sich für einen Landsmann als Primgeiger entschied: Der knapp zwanzigjährige Theodor[e] Thomas (1835-1905), der Sohn eines Stadtpfeifers aus dem ostfriesischen Esens (wie sich die Bilder gleichen!), war schon 1845 nach Amerika gekommen und hatte – ganz wie der junge Brahms – erste praktische Erfahrungen als Musiker in Tanzlokalen und Gaststätten gesammelt, bevor er 1854 in die Philharmonic Society aufgenommen wurde, deren Chefdirigent er nach Bergmanns Tod werden sollte. (Auch die beiden an der Uraufführung des Brahmstrios nicht beteiligten Ensemblemitglieder waren bemerkenswerte und vielseitige Musiker: Joseph Mosenthal (1834-1896) stammte aus Kassel und war durchaus nicht nur als Sekundgeiger, sondern ebenso als Pianist, Organist und Chordirigent erfolgreich tätig; und der Bratschist George Matzka hatte ebenfalls weiterreichende Ambitionen: 1876 sollte er die New Yorker Erstaufführung von Tschaikovskijs „Romeo und Julia“ dirigieren.)
Unter dem Namen „Mason-Thomas Soirées of Chamber Music“, der bald die ursprüngliche Bezeichnung „Mason & Bergmann´s Classical Matinées“ ersetzte, wurde der mit der amerikanischen Erstaufführung des Opus 8 inaugurierte Konzertzyklus ein wichtiger Bestandteil des New Yorker Konzertlebens; vierzehn Saisonen hindurch (1855-1869) wurde hier das New Yorker Publikum mit vielen der wichtigsten kammermusikalischen Neuerscheinungen aus Europa bekannt gemacht.

So verdienstvoll dieses Unternehmen auch war – das Verdienst der öffentlichen Uraufführung von Brahms´ Opus 8 gebührt, wie Michael Struck schon 1991 nachgewiesen hat, einem anderen Ensemble, dessen Mitglieder allerdings zu keinen lexigraphischen Ehren gelangt sind: die Herren Haupt, Braun und Klahr, die Ende 1855 im Danziger Gewerbehaus einen Zyklus von vier Trio-Soiréen veranstalteten, in deren erster das Brahmssche Opus auf dem Programm stand, sind uns nur aus den Rezensionen dieser Konzerte bekannt.

© by Claus-Christian Schuster