Aaron Copland
* 14. November 1900
† 2. Dezember 1990
Vitebsk. Study on a Jewish Theme
Komponiert: | Königstein im Taunus – New York, NY, Juli-September 1927 – 1928/Anfang Februar 1929 |
Uraufführung: | 16. Februar 1929, League of Composers, New York, NY Walter Gieseking (1895-1956), Klavier Alphonse Onnou (1893-1940), Violine Robert Maas (1901-1948), Violoncello |
Erstausgabe: | Cos Cob Press, New York, 1934 |
In der Saison 1926/27 gastierte das Moskauer Künstlertheater mit S. An-Skis (i.e. Salomo S. Rappaport, 1863-1920) Mysterienspiel „Der Dibbuk“ in New York. Unter den Zuschauern war ein junger Komponist, der ein besonderes Interesse für die Beziehungen zwischen Musik und Theater hatte: der 1924 aus Paris nach New York heimgekehrte Aaron Copland. Seine Orchestersuite Music for the Theatre hatte im November 1925 in der Carnegie Hall einen Skandal ausgelöst. In der den New Yorkern präsentierten Moskauer Inszenierung des „Dibbuk“ wurde eine chassidische Volksmelodie aus Vitebsk, der Heimatstadt des Dichters, als musikalisches Leitmotiv verwendet. Die archaische Ausdruckskraft dieser Musik erweckte sofort Coplands Interesse. Während der Sommermonate des Jahres 1927, die Copland in Königstein im Taunus verbrachte, begann er die Arbeit an einem Klaviertrio, in dem er versuchen wollte, die inhärenten Möglichkeiten dieses auf den ersten Blick spröden folkloristischen Materials systematisch zu erforschen. Das Resultat war die Studie Vitebsk, die kurz nach ihrer Vollendung in einem Konzert der „League of Composers“ uraufgeführt wurde. Obwohl das Werk von dem Schauspiel, durch das es angeregt wurde, programmatisch völlig unabhängig ist, könnte man doch in der radikalen Bipolarität seiner Anlage ein fernes Echo der mystischen Bühnenhandlung sehen, die um den Kampf zwischen einer lebendigen und einer toten Seele kreist.
Die Interpreten der Uraufführung waren Walter Gieseking, der seit seinem USA-Debut (New York, 22. Februar 1926) auch in Amerika zu den gesuchtesten Interpreten neuer Musik zählte, sowie Alphonse Onnou, der Primarius, und Robert Maas, der Cellist des 1912 gegründeten Quatuor Pro Arte (Brüssel), das – in Europa von Paul Collaer, in den USA von Elizabeth Sprague Coolidge gefördert – bis zu Onnous frühem Tode 1940 zu den führenden Quartetten der Welt gehörte. (Unter den Komponisten, die dem Quatuor Pro Arte Uraufführungen anvertrauten, waren Bartók, Casella, Honegger, Martinu, Milhaud u.v.a.) Für das vitale Selbstbewußtsein der jungen amerikanischen Musik ist es bezeichnend, daß ein zum Großteil in Deutschland geschriebenes Werk über eine ostjüdische Volksweise durch europäische Musiker uraufgeführt dennoch in keinem Takt Zweifel darüber aufkommen läßt, daß es sich dabei trotzdem um autochthon amerikanische Kunst handelt.
© by Claus-Christian Schuster