Gernsheim: Trio Nr. 2 [4] H-Dur für Pianoforte, Violine und Violoncell op.37

Friedrich Gernsheim

* 17. Juli 1839
† 10. September 1916

Trio Nr. 2 [4] H-Dur für Pianoforte, Violine und Violoncell op.37

Komponiert:Rotterdam
Widmung:Helene Gernsheim, geb. Hernsheim
Erstausgabe:Rieter & Biedermann, Leipzig, 1879

Der Name Friedrich Gernsheims ist zwar in allen Musiklexika, kaum je aber auf Konzertprogrammen zu finden. Der Komponist, dessen erste Symphonie – 1874, also zwei Jahre vor Brahms‘ op. 68, uraufgeführt – noch 1897 das lebhafte Interesse Gustav Mahlers fand, ist heute nur mehr ganz wenigen Musikfreunden ein Begriff. Als 1997/98 eine erste Gesamtaufnahme der vier Symphonien Gernsheims erschien, war die Überraschung – wenn auch in kleinem Kreise – dementsprechend groß: Hier war ein Komponist am Werk, der trotz eklektischer Grundhaltung seine eigene Persönlichkeit auf ebenso unaufdringliche wie handwerklich souveräne Art zu behaupten wußte, der, ohne gerade ein „Originalgenie“ zu sein, durchaus seinen ureigenen Ton erkennen läßt: Kurz, ein Komponist den man ganz sicher kennen würde – wenn er das Glück gehabt hätte, Schwede, Engländer oder Belgier zu sein. Denn ohne Zweifel ist die einzigartige Dichte der musikalischen Produktion Deutschlands in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts der Hauptgrund dafür, daß ein Werk wie das Gernsheims dem kollektiven Bewußtsein so spurlos entschwinden konnte; daß der Rassenwahn der nationalsozialistischen Machthaber die Aufführung der Kompositionen Gernsheims zwischen 1933 und 1945 verunmöglichte, hat freilich das Vergessen ganz erheblich beschleunigt.

Ein Blick auf den Werdegang des Komponisten mag verdeutlichen, welch gediegene und solide Ausbildung man in Deutschland um 1850 erhalten konnte – im Vergleich dazu nimmt sich der Bildungsweg etwa von Johannes Brahms fast bescheiden aus. Daß nahezu alle genannten Lehrer Juden waren, hat sicherlich mit Gernsheims Elternhaus zu tun, widerspiegelt aber gleichzeitig eine musikhistorische Realität, an der auch die rabiatesten Geschichtsfälschungen des „Dritten Reiches“ nichts zu ändern vermochten.
Friedrich Gernsheim wurde als Sohn eines Arztes und einer musikalisch ausgebildeten Mutter in eine Wormser Patrizierfamilie geboren. Seine Mutter wurde auch seine allererste Lehrerin, bevor sich der Spohrschüler Louis Liebe (1819-1900) des außergewöhnlich talentierten Knaben annahm. Das Revolutionsjahr 1848/49 verbrachte der kleine Friedrich mit seiner Mutter in Mainz, wo ihn der junge Wiener Ernst Pauer (1826-1905), selbst ein Schüler Sirnon Sechters und Franz Lachners, unterrichtete. Ab 1849, als sich die Familie in Frankfurt am Main niederließ, genoß Friedrich Gernsheim dann eine ebenso breit wie profund angelegte Ausbildung: Der bekannte Virtuose Eduard Rosenhain (1818-1861) wurde sein Klavierlehrer, der Baillot-Schüler Eduard Eliason (*1811), ein angesehener Quartettist, und der Frankfurter Konzertmeister Heinrich Wolff (1813-1898) unterrichteten ihn auf der Geige, während ihm Johann Christian Hauff (1811-1891), Komponist und Autor einer fünfbändigen Theorie der Tonsetzkunst, die Welt der Musiktheorie und des Tonsatzes erschloß. Schon am Ende des ersten Unterrichtsjahres produzierte sich der Elfjährige mit großem Erfolg in einem Frankfurter Theaterkonzert als Pianist, Geiger und Komponist (mit der Uraufführung einer Orchesterouvertüre); im Jahr darauf besuchte er mit seiner Mutter seinen ehemaligen Lehrer Louis Liebe, der jetzt in Straßburg wirkte. (Hier sollte bald darauf die kleine Marie Trautmann[-JaeII] Liebes berühmteste Schülerin werden.) Von 1852 bis 1854 studierte Gernsheim dann am Leipziger Konservatorium bei den Koryphäen dieses Institutes: Moritz Hauptmann (1792-1868, Komposition), Ignaz Moscheles (1794-1870, Klavier) und Ferdinand David (1810-1873, Violine), letzterer wie Gernsheims erster Lehrer ein Schüler von Louis Spohr.

1855 übersiedelte Friedrich Gernsheim nach Paris. Den Anstoß für diesen Schritt gab sein Wunsch, die Klavierstudien bei An toine Francois Marmontel (1816-1898) fortzusetzen. Dieser hatte 1848 eine Klasse am Conservatoire übernommen, die bald legendären Ruf genießen sollte: In den nahezu vierzig Jahren, die Marmontel hier unterrichtete, begründete er – nicht zuletzt durch seine didaktischen Kompositionen und theoretischen Schriften – eine sehr spezifische, pädagogische und interpretatorische Tradition, die in mancher Hinsicht bis heute nachwirkt. Bizet, Wieniawski, Debussy und d’Indy waren ebenso seine Schüler wie Marguerite Long und Isaac Albeniz. Der Unterricht, den Gernsheim bei Marmontel genoß, brachte ihn bald in Kontakt mit der Parjser Musikwelt: mit dem gleichaltrigen Elsässer Pianisten Franz Stockhausen (Bruder von Brahms‘ Lieblingssänger Julius), der bald darauf den umgekehrten Weg von Paris nach Leipzig nehmen sollte, ebenso wie mit dem um nur vier Jahre älteren Camille Saint-Saens, mit Edouard Lalo, mit Stephen Heller, der schon seit 1838 in Paris lebte und schließlich mit einer lebenden Legende, die gerade im Jahr 1855 endgültig nach Paris zurück- gekehrt war: mit Gioacchino Rossini. In Rossinis berühmtem SaIon in der Chaussée d’Antin fand Gernsheim dann Anschluß an viele andere Persönlichkeiten des Pariser Geistes- und Gesellschaftslebens. Im letzten Jahr seines immer wieder aufs neue ausgedehnten Parisaufenthaltes – die hoffnungslose Liebe zu Aline de Pommayrac mag zu der Anhänglichkeit an die Stadt das Ihre beigetragen haben – wurde er noch Zeuge des Skandals um die drei Aufführungen des Tannhäuser (März 1861), in denen Pöbel und Claque in wenigen Stunden das Ergebnis von 164 Proben zunichte machten; von diesem Erlebnis bewahrte er sich zeitlebens eine mitfühlende Hochachtung für die Person Richard Wagners (dem er umgehend einen Sympathiebesuch abstattete), freilich ohne daß er sich deswegen den Wagnerschen Kunstidealen angenähert hätte.

Im selben Jahr folgte Gernsheim einer Einladung nach Saarbrücken, wo er als Musikdirektor in der Nachfolge seines Kindheitsfreundes Hermann Levi (1839-1900) die Leitung eines Kammerorchesters und zweier Chöre übernahm. In dieser Zeit intensivierte er auch seinen Kontakt zu Ferdinand Hiller (1811-1885), einer Zentralfigur des deutschen Musiklebens, in dessen Kölner Heim er im Juni 1862 während des Niederrheinischen Musikfestes die für sein weiteres Leben prägende erste Begegnung mit Johannes Brahms hatte. 1865 berief Hiller seinen jungen Freund als Klavier- und Kompositionslehrer an das Kölner Konservatorium, wo bald darauf Engelbert Humperdinck sein Schüler wurde. Hier entfaltete Gernsheim in der Folge auch als Interpret und Organisator eine umfangreiche Tätigkeit, in der er seine Vorliebe für Brahms und Bruch nach Kräften auslebte. Mit beiden Komponisten stand er in dauerndem freundschaftlichen Verkehr.

Mit Gernsheims Berufung als Direktor der Maatschappij tot bevordering der toonkunst in Rotterdam eröffnete sich ihm 1874 ein neues und weites Wirkungsfeld. Die in den letzten Jahren seines Kölner Wirkens nicht eben spannungsfreie Beziehung zu Hiller hatte wahrscheinlich Anteil an seiner Entscheidung für Rotterdam. In den sechzehn Jahren seiner dortigen Tätigkeit gab Gernsheim dem holländischen Musikleben wichtige Impulse; vor allem an Brahms‘ frühem und nachhaltigem Erfolg in den Niederlanden hat er ganz wesentlichen Anteil. Auch der zentrale Teil seines eigenen Schaffens, darunter alle vier Symphonien, entstand in den Rotterdamer Jahren. Erst 1890 kehrte Gernsheim nach Deutschland zurück, um in Berlin die Leitung einer Kompositionsklasse am Sternschen Konservatorium und die Direktion des Sternschen Gesangvereines zu übernehmen. 1897 wurde er hier in den Senat der Akademie der Künste gewählt, die ihm 1901 auch die Leitung einer Meisterklasse für Komposition übertrug. Daneben war Gernsheim bis an sein Lebensende als Pianist und Dirigent (unter anderem der Meininger Hofkapelle) erfolgreich tätig. Für die Hochschätzung, die Gernsheim zu Lebzeiten genoß, mag der Umstand sprechen, daß man etwa in Dortmund aus Anlaß seines 75. Geburtstages noch wenige Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein zweitägiges Gernsheim-Fest veranstaltete.

Das Bild des hochdekorierten und geehrten Senators Friedrich Gernsheim ist wohl auch mitverantwortlich dafür, daß der Komponist sehr bald schon als eine epigonale Erscheinung aus dem Kreis der Berliner Akademiker abgetan wurde. So lange man nicht Gelegenheit hat, eine solche Pauschalklassifizierung am klingenden Werk zu überprüfen, ist es unmöglich, ihr entgegenzutreten oder sie zu bestätigen. In den Symphonien findet sich jedenfalls eine Reihe von Zügen, die Gernsheim als einen der experimentierfreudigeren Vertreter seiner Generation erscheinen lassen. In seinen späteren Werken läßt sich sogar eine Befruchtung durch die Tonsprache der nachfolgenden Generation – Richard Strauss, Hans Pfitzner und Max Reger – feststellen. Wilhelm Altmann hat in seinen zahlreichen Publikationen ebenso beredt wie resonanzlos auf die Qualitäten des Komponisten hingewiesen, zuletzt noch (und das mag als ein Ruhmesblatt einer wie immer auch kleinlauten Zivilcourage gelten) 1934 in seinem Handbuch für Klaviertriospieler.

Von seinen insgesamt vier Klaviertrios hat Gernsheim nur die letzten beiden veröffentlicht: 1873 das F-Dur- Trio op. 28 und 1879 als „Nr. 2“ unser H-Dur- Trio; ein Jugendwerk in Es-Dur und das Trio in B-Dur op. 23 blieben Manuskript und werden in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt.

Das H-Dur-Trio entstand 1877 in Rotterdam; im selben Jahr heiratete Gernsheim die aus Karlsruhe stammende Helene Hernsheim, und ihr ist das Werk auch qewidmet.

Die zärtliche Leidenschaft des ersten Satzes (Allegro moderato) gibt beredtes Zeugnis von dem Enstehungsanlaß des Trios. Das von langer Hand vorbereitete Seitenthema (in As-Dur) erinnert in seiner hymnischen Achtelbewegung an das Schlußgruppenthema aus dem Kopfsatz von Brahms‘ Klavierquartett op. 25, eines der ersten Werke seines Vorbildes, das Gernsheim kennenlernte. (Der Eindruck, den dieses Werk auf den jungen Komponisten gemacht haben muß, spiegelt sich unter anderem auch darin wieder, daß er sein eigenes Opus 25, das erste seiner fünf Streichquartette, mit einem unüberhörbar von Brahms angeregten Rondo all’ongarese beschließt.) Die Reprise folgt minutiös und – von der unumgänglichen Transposition des Seitensatzes einmal abgesehen – ohne jede Änderung der Exposition. Dieses Detail scheint in einigem Widerspruch zu dem schwärmerischen, ja überschwänglichen Ton des Satzes zu stehen. Bei näherer Betrachtung ergibt sich freilich, daß der Komponist wohl einen außermusikalischen Grund für diese Regelhaftigkeit hatte: Exposition und Reprise weisen nämlich dank dieses Vorgehens je 77 Takte auf – eine gut versteckte Anspielung auf das Hochzeitsiahr des Paares.

Einer später auch Max Reger heiligen Tradition gemäß steht das Scherzo (Vivace, D-Dur) an zweiter Stelle; bei Brahms ist diese Satzfolge eher die Ausnahme – und bezeichnenderweise zählt wieder auch das Opus 25 (wie die Opera 8, 36, 40, 60 und 101) zu diesen Ausnahmen -, während sie bei Gernsheim recht häufig anzutreffen ist (Streichquintett op. 9, 1. und 3. Klavierquartett, 3. bis 5. Streichquartett, Klaviertrio op. 28 u. a. m.). Einen so ungetrübt gutgelaunten, ausgelassenen und geradezu leichtsinnigen Satz wird man bei Brahms jedenfalls vergeblich suchen. Raffinement würde zum Übermut dieses Stückes schlecht passen, und Gernsheim verzichtet leichten Herzens darauf. Der einzige Kunstgriff, den der Komponist sich gestattet ist die Verwebung des über einer fortlaufenden Dreiviertel-Begleitung sich irn Zweivierteltakt bewegenden Trios in die Coda des Hauptteiles.

In denkbar größtem Gegensatz zum aufgeräumten Charme dieses leutseligen Scherzos steht der dritte Satz (Lento e mesto, fis-Moll/Dur). Es ist ein Klagelied von schlichter Elndringlichkeit und berührender Innigkeit und sicher einer der wertvollsten Sätze in Gernsheims Kammermusik. Der Maggiore-Mittelteil (Un pochino più lento) schlägt religiöse Töne an und kehrt als Coda des Satzes wieder. Das Ganze wirkt wie ein kammermusikalisches De profundis – eine im Hinblick auf den Entstehungsanlaß des Werkes doch eher unerwartete Nuance. Vielleicht findet sich in der Grundhaltung dieses Satzes auch ein ferner Nachklang jener Stimmung, die Brahms im Adagio mesto seines (1868 veröffentlichten) Horntrios beschworen hat.

Im Finale (Allegro non troppo, ma energico) herrschen dann wieder „stolzes Kraftgefühl und Lebenslust“ (Altmann). Der Ton, den Gernsheim hier anschlägt, hat ein wenig von der Bärbeißigkeit, die man recht häufig bei Reger, gelegentlich auch beim jungen Pfitzner antrifft; auch die Harmonik des Satzes weist an einigen Stellen (vor allem in der recht knappen Durchführung und der originellen Coda) auf die Musik der Strauss-Generation voraus. Wie im ersten Satz folgt der Komponist auch hier ganz ohne Extravaganzen den etablierten formalen Schemata, und die Reprise ist wieder – und diesmal ganz ohne hermeneutischen Hintersinn – eine taktgetreue Wiedergabe der Exposition mit nur marginalen Änderungen. Daß diese Treue gegenüber den erprobten Modellen Hand in Hand mit einer urwüchsigen Vitalität geht und ihr durchaus nichts Schülermäßiges oder Akademisches anhaftet, ist ein weiterer Zug, den Gernsheim mit Reger gemeinsam hat.

Nur ein Teil – wenn auch der bedeutendste – der nahezu 250 Kompositionen Gernsheims liegt gedruckt vor; größere Manuskriptbestände befinden sich in Berlin und Jerusalem, wohin sie als Nachlaß von Gernsheims Tochter Clara gelangten. Wie Brahms und eine ganze Reihe von Komponisten des Brahmskreises hat Gernsheim in seinem OEuvre eigentlich nur die Oper bewußt ausgespart, alle anderen Gattungen sind mit zum Teil bedeutenden Werkreihen vertreten. Die Kammermusik, die zusammen mit der Symphonik den wohl gewichtigsten Teil seines Schaffens darstellt, macht etwa ein Zehntel seiner Produktion aus.
Wie immer man sein Schaffen auch beurteilen mag: Sein künstlerisches Ethos, das sich in rigider Selbstkritik ebenso niederschlägt wie in seinem hingebungsvollem Einsatz für das Werk seiner Freunde, macht Friedrich Gernsheim zu einer ebenso beeindruckenden wie gewinnenden Gestalt der deutschen Musikgeschichte.

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Gál: Variationen über eine Alt-Wiener Heurigenmelodie op.9

Hans Gál

* 05. August 1890
† 04. Oktober 1987

Variationen über eine Alt-Wiener Heurigenmelodie op.9

Komponiert:Wien, Frühsommer 1914
Widmung:„Dem Trön in Grinzing zugeeignet“
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1921

Nach dem Abschluß des Maximiliangymnasiums in der Wasagasse, wo sein „Zwillingsbruder“ Erich Kleiber sein Sitznachbar und bester Freund gewesen war, wurde der Arztsohn Hans Gál Kompositionsschüler von Eusebius Mandyczewski. 1913 promovierte er mit einer Dissertation über „Die Stileigentümlichkeiten des jungen Beethoven“ unter den Auspizien von Guido Adler. In den bangen Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges schrieb er Variationen für Klaviertrio über ein in Grinzing gehörtes Heurigenlied, die nach dem Kriege veröffentlicht wurden und seither, im Gegensatz zu den meisten anderen Werken Gáls, eine ganzeReihe von Neuauflagen erlebt haben.
Das Thema ist, ganz wie der Weiglsche „Gassenhauer“ des Beethoven-Trios op.11, ein unscheinbares und überaus simples Gebilde: ein Achttakter im Zweivierteltakt, der viermal das gleiche metrische Modell wiederholt – ein städtischer Nachfahre eines unverwüstlichen „Schnaderhüpflers“. Nichts an diesem Einfall scheint irgendeine Entwicklungsmöglichkeit zu bieten; trotzdem ist von Anfang an zu spüren, daß Gál dieses anspruchslose Material mit einer gewissen liebevollen Sorgfalt und ganz ohne Überheblichkeit behandelt. Nachdem alle drei Instrumente der Reihe nach das Thema vorgestellt haben, beginnt eine ununterbrochene Folge von 24, meist paarweise zusammengehörenden Variationen, in deren Verlauf nur zweimal das achttaktige Schema um kurze Überleitungen erweitert wird: nach dem Variationenpaar 11/12 (das im 7/8-Takt dahinstolpert) moduliert eine Codetta nach G-Dur, wo nun eine Gruppe von sechs Variationen (13-18) im Dreivierteltakt beginnt, in deren Verlauf in allmählich sich steigerndem Tempo das Lied vom lieben Augustin unser Variationenthema überlagert. Auch hier folgt dann eine knappe Überleitung, nach der die Geradtaktigkeit wiederhergestellt wird. Nach der letzten Variation wird das Thema wieder, analog dem Anfang, von den drei Instrumenten der Reihe nach rekapituliert, wobei aber diesmal die Einsätze „enggeführt“ werden. Diese erste Coda mündet in eine über einer chromatischen Baßlinie viermal wiederholte schüchterne Frage. In die hierauf folgende Stille (ideales Betätigungsfeld für musikalische Huster!) „bricht mit einem Male / los der volle, kräft’ge Chor“. Aber weil eine Heurigenpartie doch nicht mit Pathos enden soll und darf, auch wenn es nur ein ausgelassenes ist, gibt es noch ein allerletztes Thema, das die Geige fast alleine vorträgt: das Cello spielt nur die jeweiligen Abschlußnoten (quasi mit herausgestreckter Zunge), und das Klavier muß natürlich zwölf Glockenschläge vernehmen lassen. Doch nicht einmal hierin waltet in Grinzing Disziplin – die letzten beiden Glockenschläge verlassen das ostinate B und lösen schließlich jene chromatische Schlußverwirrung aus, die das Werk zu einem nicht eben nachdenklichen Ende bringt.
Grinzing und der liebe Aug:ustin, in den letzten, schon überschatteten Friedenstagen noch einmal wehmütig und doch auch leichtsinnig beschworen – dieses kleine musikalische Apercu ist, in all seiner Bescheidenheit, doch auch ein privates programmatisches Postskriptum zu einer Epoche, deren qualvolles und über Jahrzehnte prolongiertes Dahinsterben in immer nacktere Barbarei schließlich auch den Komponisten zu einem Heimatlosen und Enterbten machen sollte. Gál, einst Mitarbeiter Eusebius Mandyczewskis im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, fand nach einem Intermezzo als Direktor der Musikhochschule in Mainz (1929-1933) nach 1938 Zuflucht in Edinburgh, wo er 1987 gestorben ist

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Foerster: Trio Nr. 2, B-Dur, op. 38

Josef Bohuslav Foerster

* 30. Dezember 1859
† 29. Mai 1951

Trio Nr. 2, B-Dur, op. 38

Komponiert:Hamburg, 1894
Erstausgabe:Universal Edition, Wien, 1918

Der außerhalb seiner tschechischen Heimat nur sporadisch gewürdigte Josef Bohuslav Foerster, von dessen drei Klaviertrios wir die ersten beiden in das Programm unserer diesjährigen Konzertreihe aufgenommen haben, entstammt einer überaus produktiven Musikerfamilie. Schon der Großvater, Josef (I) Foerster (1804-1892) wirkte fünf Jahrzehnte lang als Regens chori und Lehrer in Osenice; seine sechs Kinder schlugen alle die musikalische Laufbahn ein – zwei der fünf Söhne, Josef (II) und Antonín, wurden bedeutende Organisten und Komponisten: Josef (1833-1907), den man einen „tschechischen Bruckner“ genannt hat, wurde 1892 als vierter Musiker (nach Dvoøák, Bendl und Fibich) außerordentliches Mitglied der Tschechischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Sein Bruder Antonín (1837-1926) wurde 1865 als Kathedralorganist nach Senj (Kroatien) berufen; ab 1867 wirkte er dann in Ljubljana und wurde neben Benjamin Ipavec (1829-1909) und Fran Gerbiè (1840-1917) einer der Führer der slowenischen romantischen Schule und Komponist der ersten slowenischen Oper (1870/71). – Josef (II) kam 1857 als Organist nach Prag und heiratete hier am 9. Jänner 1859 seine Schülerin Marie Hladíková (1838-1878). Josef Bohuslav war das erste von fünf Kindern dieser Verbindung und sollte der bei weitem prominenteste Vertreter der Dynastie werden. Schon frühzeitig trat er mit den Größen des tschechischen Musiklebens in persönlichen Kontakt – Smetana, Dvoøák, aber auch der junge Janaèek gehörten zum Freundes- und Bekanntenkreis der Familie. Der vielseitig begabte Josef Bohuslav – neben dem Orgelspiel betrieb er Gesang, Schauspiel und Malerei – brach schließlich sein Studium an der Prager Technischen Hochschule ab, um sich ganz der Musik widmen zu können. Ab 1882 wirkte er als Organist an verschiedenen Prager Kirchen; 1888 heiratete er die Sopranistin Berta Lautererová (1869-1936). Als sie 1893 an die Hamburger Oper engagiert wurde, folgte er ihr dorthin. Mit dem dort wirkenden Gustav Mahler verband ihn bald eine enge Freundschaft.

Noch vor seinem Abschied von Prag hatte Foerster seine II. Symphonie (F-Dur, op. 29) beendet, die er dem Andenken seiner Schwester Marie (1863-1889) geweiht hatte. Die Erinnerung an den Augenblick, als er mit seinem Bruder und seinem Vater in Olmütz die Tote vorgefunden hatte, war nicht verblaßt:

„Es war in einem alten, ärmlichen Hause. Über einen schmutzigen und dunklen Torgang kamen wir in einen großen Hof mit Wohnungen zu ebener Erde. Im Hof stand ein zweites Haus; es war der Nachbarstraße zugekehrt, in den Hof hinein, und durch große offene Gänge in jedem Stockwerk verbunden. Hier, dicht an der Nebentreppe, in dem unfreundlichen Hof, stand ein offener Sarg, und in ihm lag im weißen Hochzeitskleid der entseelte Körper meiner teuren geliebten Schwester. Das Gesicht war mit einem durchsichtigen Schleier verhüllt, und unter dem Schleier sah ich sie – schlummernd, weiß, still, schön und gleichsam schon von dem Licht der Auserwählten durchstrahlt, die am Tage des Gerichts zur Rechten Gottes sitzen werden. In der Hand hielt sie ein Bild des Gekreuzigten und ein Büschel Blumen, das wir gebracht hatten; zu ihren Füßen lagen Bildlein, von Kindern aus der Nachbarschaft dargebracht…“
(J. B. Foerster: Poutník (Der Pilger), in der Übersetzung von Pavel Elsner)

Auch bei dem 1894 in Hamburg niedergeschriebenen zweiten Klaviertrio stand dieses Bild, das der Ausgangspunkt für die im Vorjahr beendete Symphonie gewesen war, vor den Augen des Komponisten. Aber ein anderes Bild trat mit suggestiver Kraft hinzu: Bei seinem Lieblingskomponisten Edvard Grieg (dem er schon 1890 das 1883 entstandene erste Klaviertrio op. 8 gewidmet hatte) war er auf die Vertonung eines Gedichtes gestoßen, das ihn tief berührte und der Erinnerung an die Schwester eine ganz neue Dimension gab:

Ausfahrt

Es war eine dämmernde Sommernacht,
ein Schiff am Ufer lag,
schon färbte sich der Himmel heller sacht,
es graute der junge Tag.

Und frischer nun wehte die Morgenluft,
zerteilend der Nebel Flor,
und leuchtend stieg jetzt aus ros´gem Duft
die Sonne in Pracht empor!

Das Schiff auch erwachte von nächt´ger Rast
und machte zur Fahrt sich bereit,
bald wehten die bunten Wimpel hoch am Mast,
und blähten die Segel sich weit.

Früh schon sollte es, ein stolzer Schwan,
verlassen den heimischen Port,
ziehn über die glänzende Wasserbahn,
zur duftigen Ferne hin fort.

Und sieh! das Deck nun im Sonnengold
mein junges Weib betrat:
so freudestrahlend, so jugendhold,
wie die Göttin des Glücks wohl naht.

Ihr Auge, die Wimper regend kaum,
schien offen den Himmel zu sehn,
zur Wahrheit wurde ihr sel´ger Traum,
wir sollten zusammen gehn

weit über´s Meer, in Liebe vereint,
zum fernen, herrlichen Süd,
wo ew´ge Sonne dem Wand´rer scheint,
und ewiger Frühling ihm blüht.

Erfüllung nun ward ihrem höchsten Begehr,
sie sollte die Schönheit erschaun,
so zog sie dahin über´s blauende Meer,
die glücklichste aller Fraun.

Gelobt sei Gott, daß nicht weiter sah
ihr Blick in Zukunft Land!
Gar bald, ach gar bald lag still sie da
unterm Rasen am fremden Strand.

(Andreas Munch, Udfarten,
aus dem Norwegischen übertragen von Hans Schmidt)

Edvard Grieg hatte dieses Gedicht 1866 vertont und es an den Schluß einer Gruppe von vier Liedern auf Texte seines Landsmannes Andreas Munch (1811-1884) gestellt, die im Dezember 1866 als Opus 9 veröffentlicht worden war. Die Stimmung dieser Verse und ihr musikalischer Widerhall verwoben sich nun bei Foerster mit dem Bild Mariens zu einem ganz eigentümlichen Akkord, einer komplexen poetischen Chiffre, aus der nach und nach das Trio erwuchs.

Die Kontur der lyrischen Anregung schimmert zwar durch das ganze Werk hindurch, aber – und das ist es wohl auch, was den Komponisten dazu bewog, die Quelle schließlich doch unzitiert zu lassen – wir haben es durchaus nicht mit „Programm-Musik“ im illustrativen Sinne des Wortes zu tun.

Der erste Satz (Allegro energico) ist ganz durchpulst von dem Motiv des sich in unbestimmte Fernen verlierenden „Aufbruchs“, ein Motiv, dem sich eine sehnsuchtsvoll-leidenschaftliche Geste als Seitenthema beigesellt; mit diesen beiden Grundelementen gestaltet Foerster einen knappen, aber sehr rhapsodisch konzipierten Sonatensatz.

Der Mittelsatz (Allegro molto, g-moll) mit seinem breit ausgeführten Trio (Meno mosso, G-Dur) entspricht weit mehr den Regeln des traditionellen Formenkanons. Ein fernes Echo der Mendelssohnschen Féerien ist hier nicht zu überhören; und es ist sehr bezeichnend für Foersters Art, wie er – gleichzeitig mit dem Verlassen des für diesen Topos so charakeristischen G-moll-Terrains – die spielerische Verve des Anfangs schon nach wenigen Takten verebben läßt, und sich die Szenerie in „Böhmens Hain und Flur“ verwandelt.

Ganz rezitativisch ist der Schlußsatz (Adagio, d-moll) angelegt, in dem schon die Wahl der Tonart Teil der Aussage ist: Ein mehrsätziges Werk mit einem langsamen Satz in der destabilisierenden Molldominante zu beenden, ist jedenfalls eine Entscheidung, die sehr weitreichende hermeneutische Konsequenzen hat. Jeder einigermaßen aufmerksame Zuhörer wird – sofern er nicht etwa durch willkürliche Extravaganzen schon gänzlich abgebrüht ist – das Ende des Werkes (trotz des scheinbar versöhnlichen Durakkordes am Schluß des Satzes) als vorläufig betrachten und in Erwartung eines „richtigen“ Finalsatzes verharren. Dem Trio wird dadurch rückblickend die Aura des „Unvollendeten“ verliehen, und auch hierin manifestiert sich – jenseits des offensichtlichen Bezuges auf die Schlußstrophe des Munchschen Gedichtes – die symbolische Ebene des musikalischen Geschehens, das den unterbrochenen, unvollendeten Lebesnweg der Schwester evoziert.

Daß es trotz intensiver Recherchen nicht möglich war, die Uraufführungsdaten des Werkes zu eruieren, ist ebenso symptomatisch wie der Umstand, daß das Trio – genau wie Smetanas op. 15 – ein Vierteljahrhundert lang ungedruckt blieb. Mahler, der 1895 Foersters III. Symphonie in Hamburg uraufgeführt hatte, wirkte seit 1897 in Wien; Berta Lautererová-Foerstrová, die er vor allem als beeindruckende Wagner-Sängerin schätzte, gehörte hier seit 1901 dem Ensemble der Hofoper an. Ihr Mann folgte ihr 1903 nach und wirkte bis zum Zusammenbruch der Donaumonarchie in Wien als angesehener Lehrer und Kritiker. Die Verbindung zur jungen Universal Edition, der die Drucklegung einer ganzen Reihe von Werken Foersters, darunter auch des Trios op. 38, zu danken ist, geht auf diese Wiener Jahre zurück. Ab 1919 wirkte Foerster dann am Prager Konservatorium als Professor für Komposition, mehrere Jahre hindurch auch als Direktor dieser Anstalt, seit 1931 zusätzlich auch als Präsident der Tschechischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Nach Bertas Tod (1936) lebte er mit seiner zweiten Frau zurückgezogen in Staré Strašnice und während der Sommermonate in seinem Landhaus in Vestec bei Stará Boleslav, wo er in seinem 92. Lebensjahr starb. Der letzte Teil seines ungewöhnlich umfangreichen und nur teilweise erschlossenen Nachlasses, der neben Foersters Kompositionen auch 670 Gemälde und Zeichnungen sowie zahlreiche literarische Werke von seiner Hand umfaßt, wurde erst vor kurzem vom Èeské Muzeum Hudby (Tschechischen Musikmuseum) erworben, das dem Komponisten 2004 in Zusammenhang mit der Eröffnung des neuadaptierten Museumsgebäudes in der Karmelitská eine Sonderausstellung widmen will.

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Fauré: Trio d-moll op.120

Gabriel Fauré

* 12. Mai 1845
† 03. November 1924

Trio d-moll op.120

Komponiert:Paris, Mai 1922 – Februar 1923
Widmung:Mme. Maurice Rouvier
Uraufführung:Paris, Société Nationale de Musique, 12. Mai 1923
Tatiana Sanzévitch, Klavier
Robert Krettly (1891-), Violine
Jacques Patté, Violoncello
Erstausgabe:Durand, Paris, 1923

Wenige Wochen nach seinem 75. Geburtstag war Fauré nach fünfzehnjähriger Amtszeit als Direktor des Pariser Conservatoire pensioniert worden. Die ihn schon seit 1903 quälende Erkrankung des inneren Ohres hatte im Laufe der Jahre zu fast völliger Taubheit geführt, zu der sich nun ein fortschreitendes Nachlassen der Sehkraft gesellte. „So nimmt man Abschied, Stück um Stück…“ schreibt er seinem Sohn. Die meiste Zeit verbringt er jetzt bei Freunden in Savoyen und an der Côte-d’Azur. Er leidet unter seiner eigenen Untätigkeit, die immer seltener von den erlösenden Momenten wiederaufflammender Schaffenskraft unterbrochen wird.

In Nizza erreicht ihn im Jänner 1922 ein Brief seines Verlegers Durand, in dem ihn dieser um die Komposition eines Klaviertrios bittet. Fauré macht sich an die Arbeit, aber etliche Wochen später muß er resignierend feststellen:

„Ich habe in all der Zeit hier noch keine zwei brauchbaren Noten geschrieben… ich tue nichts als ein wenig lesen, Besuche empfangen – und von früh bis spät meine schöne Nachbarin, das Mittelmeer betrachten.“

Erst im Mai, schon wieder in Paris, beginnt der Kopfsatz des Trios Gestalt anzunehmen; doch bald gerät die Arbeit wieder ins Stocken. Um der bedrückenden Lethargie zu entfliehen, faßt Fauré den Entschluß, noch einmal in das Land seiner Kindheit zu reisen. Aus Gesundheitsrücksichten kann er zwar nicht nach Pamiers fahren, aber in Argelès, südlich von Lourdes, wo er den ganzen Juli verbringt, hat er auch Tag für Tag die geliebten Pyrenäen vor Augen. Und wirklich: hier endlich löst sich der Bann. Als er im August zu seinen Freunden nach Savoyen abreist, hat er schon einen Teil des Andantino im Kopf konzipiert. In Annecy-le-Vieux, in der Villa „Charmilles“, die er zusammen mit seinen Freunden Fernand und Louise Maillot bewohnt, schreibt er dann innerhalb weniger Tage dieses Herzstück des Werkes nieder, das zu diesem Zeitpunkt übrigens noch als Trio für Klarinette, Violoncello und Klavier konzipiert war und die Violine nur als Alternativbesetzung vorsah.

Aus Furcht, an der Côte-d’Azur wieder in Untätigkeit zu versinken, entschließt sich Fauré, den Winter diesmal in Paris zu verbringen. In der Einsamkeit seiner Wohnung, 32, rue des Vignes, schreibt der taube und halbblinde Meister in diesen Wintermonaten die Ecksätze des Trios, das schließlich im Februar 1923 vollendet wird. An Faurés 78. Geburtstag wird das Trio in einem Konzert der Société Nationale de Musique uraufgeführt; doch die eigentliche Wirkungsgeschichte des Werkes beginnt erst einige Wochen später, am 19. Juni 1923: an diesem Tag findet in der Salle Pleyel ein denkwürdiges Konzert statt, in dessen Mittelpunkt das neue Trio steht. Alfred Cortot, Jacques Thibaud und Pablo Casals sind diesmal die Interpreten.

Das eröffnende Allegro ma non troppo ist ein klassisch gebauter Sonatensatz, dessen Wirkung (wie im Kopfsatz des Trios von Ravel, das Fauré sehr bewunderte) auf der subtilen Balance von formgebend- „bildhauerischen“ und stimmungsbildenden, „malerischen“ Mitteln beruht: während die Ökonomie und Kohärenz des motivischen Materials das Gefühl größter Geschlossenheit vermittelt, erweckt die Harmonik und melodisch-rhythmische Gestik des Satzes den Eindruck schwebender und unbegrenzter Freiheit.

Das Andantino (F-Dur) ist einer der glücklichsten Momente der französischen Kammermusik überhaupt; die durchführungslose zweiteilige Form bietet Raum für zwei sehr gegensätzliche Gedanken, die aber schließlich in der Coda mühelos ineinander aufgehen. In harmonischer Hinsicht hält der Satz einige der kostbarsten Trouvaillen bereit, und man ist Fauré dafür dankbar, daß er uns durch die großzügige Verwendung von Sequenzen ermöglicht, einigen dieser unfaßbaren Schritte mehr als einmal folgen zu dürfen.

Das Kopfmotiv des Finalsatzes (Allegro vivo) erinnert oberflächliche Hörer immer nur an eine Allerweltswendung aus Leoncavallos „Pagliacci“, einer Musik, mit deren äußerlich-effektvollem Pathos Faurés Idiom nun wirklich gar nichts zu schaffen hat. Die Allure ist die eines von rhapsodischen und rezitativischen Momenten unterbrochenen französischen Tanzes mit seinen typisch gallischen Dreitaktgruppen. Die Endfassung unterstreicht diese Herkunft durch die Verwendung des im französischen Volkstanz beliebten Dreiachteltaktes ( – in der Urfassung, deren Autograph sich heute in Chicago befindet, stand der Satz noch im „klassischen“ Dreivierteltakt.). An einigen Stellen scheint sich der Tanz in recht beängstigendes harmonisches Gestrüpp zu verirren oder in unberechenbare rhythmische Stromschnellen zu geraten, aber all diese Hindernisse können die strahlende D-Dur-Apotheose nicht gefährden.

Über alle Maßen bewundernswert ist, wie Fauré es versteht, weder die Cellostimme noch den Klavierbaß mit den üblichen Baßfunktionen zu belasten, ohne deswegen die traditionelle Klaviertriotextur in Unordnung zu bringen; das sich daraus ergebende feine Wechselspiel zwischen weiten, „baßlosen“, also sozusagen schwerelosen Teilen einerseits und den sorgfältig plazierten Momenten, wo Funktionsbässe den entscheidenden Punkten Tiefe und Gewicht geben, gehört zu den unnachahmlichen Eigenheiten von Faurés Spätstil.

Am 20. Juni 1923, gerade einen Tag nach der zweiten „Uraufführung“ des Trios durch Cortot/Thibaud/Casals, findet in der Sorbonne ein feierlicher nationaler Festakt unter dem Motto „Hommage à Fauré“ statt. Doch dieses Bild des schon zu Lebzeiten kanonisierten Nationalheiligen der französischen Musik ist trügerisch. Es gibt unter den wirklich großen Meistern der Musik vielleicht keinen zweiten, dessen Musik so beharrlich verkannt und so wenig wirklich gekannt wird. Ganz ohne Groll und etwas belustigt berichtet Fauré 1922, man habe ihn in der Öffentlichkeit zur Aufführung seiner „neuen“ Ballade für Klavier und Orchester herzlich beglückwünscht – Entstehung und Uraufführung dieses Werkes lagen damals immerhin schon rund vierzig Jahre zurück. Ein Jahrzehnt nach Faurés Tod schreibt Wilhelm Altmann über das Trio, es sei dürftig, langweilig und weitschweifig. Wenn das nun nicht gerade jener selbe (durch seine sorgfältigen Bibliographien im übrigen sehr verdienstvolle) Wilhelm Altmann, langjähriger Direktor der Musiksammlung der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin, wäre, der im gleichen Atemzug harmlose Epigonen großzügig zu „Meistern“ ernennt, der aber gleichwohl nicht mutig genug ist, um eine recht wohlwollende Beurteilung der Klaviertrios Anton Rubinsteins stehen zu lassen, ohne sich durch die kühne Behauptung abzusichern, Rubinstein sei „arischer Sibirier“ gewesen, könnte man sich die Mühe machen, ihm das Urteil zurückzugeben; das Werk selbst verteidigt sich aber wohl am besten.

Und heute? Seit Jahren sind wichtige Werke Faurés im Notenhandel vergriffen. Nur einige wenige „Schlager“ der frühen und mittleren Schaffensperiode haben es zu unangefochtener Popularität gebracht. Die harmonisch und kontrapunktisch viel kompliziertere und sprödere Sprache der Spätwerke hat dagegen nur wenige Freunde gefunden; und doch ist es gerade dieser Fauré, über den ein Kritiker nach der Uraufführung des Trios halb bewundernd, halb besorgt meinte: „Wohin wird er wohl noch gehen, wenn er hundert Jahre alt wird?“

© by Claus-Christian Schuster

Dvořák: Dumky (Trio Nr.4), e-moll, op.90 [B 166]

Antonín Dvořák

* 08. September 1841
† 01. Mai 1904

Dumky (Trio Nr.4), e-moll, op.90 [B 166]

Komponiert:Prag, November 1890 – 12. Februar 1891
Uraufführung:Prag, Mestanská beseda, 11. April 1891
Antonín Dvorák, Klavier
Ferdinand Lachner (1856-1910), Violine
Hanus Wihan (1855-1920), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1894

Schon eine Woche nach Beendigung des zweiten Klavierquartetts (op.87) finden wir Dvorák in Vysoká über der VIII. Symphonie (G-Dur, op.88). Die Prager Uraufführung dieses Werkes (2. Februar 1890), die der Komponist selbst leitete, markiert den Ausgangspunkt eines ausgedehnten und unerfreulichen Briefwechsels mit Fritz Simrock, an dessen Ende der vorläufige Abbruch der Beziehungen steht (11. Oktober 1890). In der furiosen Stretta dieser Auseinandersetzung schreibt Dvorák:

„Nachdem Sie also für gut befunden haben, meine Sinfonie abermals abzulehnen, werde ich Ihnen künftig keine großen kostspieligen Werke anbieten, weil ich von vorne weiß, daß Sie solche Werke, wie Sie sagen, nicht edieren können.
Sie raten mir, ich soll kleine Werke schreiben; das ist recht schwer, denn was kann ich dafür, daß mir gerade nicht ein Motiv für ein Lied oder sonst für ein Klavierstück einfällt? Und ich habe gerade jetzt lauter große Ideen im Kopfe, ich werde tun, was mir der liebe Gott beschert. Das wird wohl das Beste sein.„
(9. Oktober 1890)

Mit den „großen Ideen„ übertrieb Dvorák wirklich nicht: Seit Jahresbeginn beschäftigte ihn ein Werk, das den Gipfel der 1876 mit dem Stabat Mater begonnenen Reihe geistlicher Chor-Orchesterwerke bilden wird – das Requiem (op.89/B 165), eine Komposition von ehrfurchtgebietender Tiefe und Ausdehnung. Dvorák mußte nach den Erfahrungen, die er mit Simrock in den vorangegangenen Jahren gemacht hatte, recht genau wissen, daß dieser ein derart anspruchsvolles und aufwendiges Werk niemals akzeptieren würde, und es ist wahrscheinlich, daß dieses Bewußtsein Dvoráks Entschluß, die für ihn zunehmend unerquickliche Geschäftsbeziehung mit Simrock zu beenden, beschleunigte. Ein neuer Verleger für Symphonie und Requiem stand schon bereit: Der traditionsreiche Londoner Verlag Novello, der 1887 schon Dvoráks für England komponiertes Oratorium Svatá Ludmila übernommen hatte, ergriff entschlossen die sich ihm hier bietende Gelegenheit. Auch wenn der Komponist sich schon in den nächsten Wochen davon überzeugen konnte, daß man auch mit Alfred Littleton, dem geschäftstüchtigen Leiter des englischen Verlagshauses, um jedes Pfund feilschen mußte, fühlte er sich nach dem klärenden Gewitter, das einen so lange schwelenden Konflikt beendet hatte, befreit und erleichtert.
Dvorák ist nicht nur im Zenit seines Ruhmes (1891 werden ihm in Prag und Cambridge Ehrendoktorate verliehen), er ist auch in Aufbruchsstimmung: Er revidiert alte Entscheidungen – im Jänner 1891, während der Komposition der Dumky, beginnt er am Prager Konservatorium zu unterrichten, eine Tätigkeit, gegen die er sich lange gesträubt hat; und er faßt ganz neue und unerwartete Entschlüsse – im Dezember 1891 wird er einen Vertrag unterzeichnen, der ihn zunächst auf zwei Jahre an New York bindet, wo er als Direktor des National Conservatory wirken soll. Es ist, ganz im Sinne jenes Briefes an Simrock – „Ich werde tun, was mir der liebe Gott beschert„ -, ein beflügelndes Gefühl neugewonnener oder neuerkannter Freiheit, das sich in diesen äußeren Vorgängen, noch viel mehr aber in Dvoráks kompositorischem Werk manifestiert. Das Bewußtsein, ohne bange Seitenblicke auf die Erwartungen von Verlegern und die Gewohnheiten des Publikums einfach nur die „Bahnen, welche uns zum höchsten Ziele der herrlichen Kunst führen„ (Brief an Hans Richter, 16. Oktober 1890) gehen zu dürfen (und zu können!), ist jedenfalls eine der Quellen, aus denen das nächste Werk Dvoráks seine überwältigende Lebenskraft bezieht: die Dumky.

Dumka ist das seit dem XIX. Jahrhundert weitere Verbreitung findende Diminutiv des uns heute in ganz anderem Zusammenhang wieder geläufig gewordenen Wortes Duma. Dieses steht mit dem fast allen slavischen Sprachen gemeinsamen Verb dumati (denken, nachdenken, sinnen) in Zusammenhang. Spätestens seit dem XVI. Jahrhundert wird in Polen und der Ukraine mit Duma eine besondere Form des erzählenden Volksliedes bezeichnet. Die Systematiker unter den Folkloristen haben lange versucht, die – offensichtlich immer wieder synonym gebrauchten – Termini Duma und Dumka säuberlich voneinander zu scheiden. Demnach wäre die Duma ein episches Lied von rezitativischer, häufig auch orientalisierender Melodik und mit ungleich langen Verszeilen, das meist von blinden, umherziehenden Rhapsoden vorgetragen wurde, wobei sich der Sänger mit Kobza oder Bandura (einer zwölfsaitige Laute) selbst begleitete. Mit Dumka würde hingegen ein elegisches Lied von schlichterer und ruhiger Melodik und mit regelmäßigerem Strophenbau bezeichnet, das üblicherweise von Frauen und Mädchen im Chor gesungen wurde.
Dvorák, von dem die Fama wissen will, er habe sich eines Tages, nachdem er die Bezeichnung Dumka schon etliche Male in seinem Werk verwendet hatte, im Kaffeehaus bei einem Spezialisten ganz nebenbei nach der eigentlichen Bedeutung des Wortes erkundigt, hat jedenfalls dem Begriff einen neuen, gleichzeitig weiteren und spezifischeren Inhalt gegeben: Er warf in genialer Unbekümmertheit all diese sorgfältig konstruierten Unterscheidungen über den Haufen, erfaßte dabei aber das eigentliche Wesen der hier zusammenfließenden musikalischen Formen und Traditionen so prägnant, daß sich erst durch seine Neuschöpfung der ursprüngliche Zauber des volkstümlichen Urbildes auch in der Kunstmusik entfalten konnte. Dvoráks Rolle gleicht hierin der eines eigenschöpferischen Übersetzers, der für ein schwer verständliches Dialektwort eine hochsprachliche Entsprechung von kristalliner Klarheit findet, in der alle Poesie des Originals lebendig bleibt.
Das heißt aber nun durchaus nicht, erst Dvorák habe das Genre „salonfähig„ und für die Kunstmusik verwendbar gemacht: Schon die Komponisten der polnischen Renaissance haben stilisierte Dumy geschaffen, und seit man in ganz Europa den unverbrauchten Reiz nationalen Kolorits zu schätzen beginnt, finden natürlich auch Dumy und Dumky in die gesamteuropäische Kunstmusik Eingang. Die beiden populärsten Dumky (die im deutschen Sprachraum mit dem Text „Schöne Minka, ich muß scheiden„ bekannt gewordene und Hrycio) kamen so schon bald zu internationalem Ruhm: Die erstere hat schon Beethoven in seinem Variationenzyklus op.107 (1817/18), später dann auch Henryk Wieniawski (1853) verwendet, während Hrycio in Liszt (1847) einen dankbaren und geschickten Verwerter fand – die Reihe ließe sich beliebig lange fortsetzen. In unserem Zusammenhang ist vielleicht noch erwähnenswert, daß auch Tschaikovskij eine Dumka (für Klavier solo, op.59, 1886) geschrieben hat, die sich in Bau und Eigenart von den Dvorákschen Dumkas ganz deutlich unterscheidet.
Dvoráks Neuschöpfung der Dumka setzt mit einem einzeln als Klavierstück enstandenen Werk ein (op.35/B 64, 1876) – hier findet man schon die für die späteren Dumky charakteristische tonartliche Bipolarität, aber noch nicht das Wechselspiel zwischen ruhigen und bewegten Abschnitten, ein Wesenszug, der in der ukrainischen Volksmusik als Folge von elegischer Dumka und tänzerischer Sumka präformiert ist. In der zwei Jahre später entstandenen nächsten Dvorákschen Dumka, dem zweiten Satz des A-Dur-Streichsextetts (op.48/B 80) liegen die Dinge ähnlich – die tonale Dramaturgie ist noch entfalteter, die Bewegung freier (Poco allegretto – Andante – Adagio), aber nicht bipolar; dafür folgt dieser Dumka (sozusagen als Sumka-Ersatz) ein Furiant. Erst mit der im Folgejahr als zweiter Satz des Streichquartetts Es-Dur (op.51/B 92) komponierten Dumka etabliert Dvorák jenen paradigmatischen Typus, der zum Ausgangspunkt für die Dumky-Metamorphosen unseres Klaviertrios werden sollte: hier findet sich die tonartliche (G-moll/B-Dur/G-Dur) und charakterliche (Andante con moto – Vivace/Presto) Mehrschichtigkeit in einem Satz vereint.
Es ist bezeichnend, daß auf diesen entscheidenden Entwicklungsschritt eine Zäsur folgt: Mehr als fünf Jahre vergehen, bis Dvorák wieder auf die Dumka zurückkommt. 1884 schreibt er ein unter der irreführenden Opusnummer 12 veröffentlichtes Diptychon (Dumka – Furiant, B 136/137). Dieses schon im Streichsextett op.48 erprobte Schema greift er dann 1887 in den Mittelsätzen des Klavierquintetts op.81 noch einmal auf, wobei er aber dem „entwickelten„, durchgängig bipolaren Typus der Dumka treu bleibt.
Wie man sieht, hat Dvorák die dramaturgischen und formalen Möglichkeiten dieses seinem Naturell sehr entgegenkommenden Genres zielstrebig entwickelt und in den verschiedensten instrumentalen Kombinationen angewendet – mit Ausnahme der beiden Klavierdumky op.35 und op.12 erscheint jede Instrumentationsvariante auch nur ein einziges Mal. Die Idee, ein kompositorisches Konzept, das ihn über einen so langen Zeitraum hinweg immer wieder inspiriert hat, nun in einem zyklischen Werk nicht eben systematisch, aber doch umfassender und tiefer auszuloten, ist ein mit aller Selbstsicherheit und Ungebundenheit unternommenes Experiment, wie es gar nicht besser zur Aufbruchsstimmung Dvoráks passen hätte können.

Wie immer, wenn ein lang vertrautes Schema durchbrochen wird, liegt auch bei Dvoráks Dumky die Versuchung nahe, die Neuschöpfung mit den altgewohnten Modellen zu vergleichen und, wenn irgend möglich, in Verbindung zu bringen. Dvorák legt diesem allzu menschlichen Bedürfnis keine großen Hindernisse in den Weg – er ist frei genug, sich nicht als Revolutionär gebärden zu müssen. Da die ersten drei Sätze des Werkes schon durch die Spielanweisung attacca subito, mehr aber noch aufgrund ihrer tonartlichen Verwandtschaft (E-moll/Dur – Cis-moll – A-Dur) eine untrennbare Einheit bilden, ist es ein leichtes, in ihnen gewissermaßen einen großflächigen Kopfsatz zu sehen. Dann wird der vierte Satz (D-moll) mit seinem toposhaften Violoncello-Solo zu einem ganz typischen „langsamen Satz„; der fünfte (Es-Dur/moll), der als einziger die Tempoabfolge Rasch-Langsamer aufweist und noch dazu im Sechsachteltakt steht, nimmt ganz ohne Sträuben die Stelle eines „Scherzos„ ein, und der letzte Satz (C-moll/Dur) kann dann unser liebgewordenes viersätziges Schema vervollständigen.
So verlockend diese Sichtweise auch sein mag, so geht sie doch, für sich allein genommen, völlig an der Eigenart dieses Werkes vorbei. Natürlich ist es kein Zufall, daß sich diese Deutung gewissermaßen von selbst anbietet: aber es ist eben nur eine, und wahrscheinlich die am wenigsten erhellende Lesart der Großform dieses Werkes.
Der Reiz der Dumky liegt ja unter anderem darin, daß Dvorák das Modell der Dumka, so wie er es zwischen 1876 und 1887 neugeprägt hatte, gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen variiert: je nachdem, welchen Aspekt der Dramaturgie – formaler Ablauf, Tonarten- oder Tempoabfolge – man in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, ergibt sich beim Blick auf das Werkganze ein jeweils anderes und neues Bild. Der spielerische Rückbezug auf das traditionelle viersätzige Modell wirkt nur im Hintergrund dieser kaleidoskopartig synchronen Vielgesichtigkeit, als verborgene, zusätzliche Dimension. Die Hierarchie zwischen diesen Ebenen ergibt sich aus einem simplen empirischen Umstand: Rückt man die epimetheische Perspektive der Viersätzigkeit in den Mittelpunkt, so wird das subtilere Wechselspiel der anderen Parameter übertönt; geht man aber von diesem aus, so bleibt jener robustere Aspekt immer noch erhalten.
Aus dem Blickwinkel des formalen Ablaufs betrachtet, stellen sich die sechs Sätze des Werkes als eine Abfolge von drei Satzpaaren dar. Dvorák verwendet dabei zwei formale Grundmodelle: ein lineares (AB) und ein zyklisches (ABA). Die beiden Satzpaare I & II und V & VI repräsentieren verschiedene Varianten des linearen Typs, während das zentrale Satzpaar III & IV zwei Spielarten des zyklischen Verlaufs realisiert. Dabei führt der Weg immer von den einfacheren zu den verwickelteren Formen: Während die Sätze I und II das Grundschema einfach verdoppeln (AB/AB), erscheint es in den Sätzen V und VI in erweiterter Form (ABC/ABC, bzw. ABC/AB Coda). Analog dazu verläuft die formale Entfaltung im zyklisch gebauten mittleren Satzpaar: III exponiert das einfache Ausgangsmodell (ABA), während IV diese Form zu einem vollständigen vierstrophigen Lied mit Zwischenstrophen (ABABACA Coda) erweitert. Bei all diesen Varianten ist anzumerken, daß die Formglieder jedes Satzes immer auf einem einzigen Motiv basieren, wodurch Dvorák in all dieser Vielfalt ein Höchstmaß an innerem Zusammenhalt erreicht.
Die innere tonartliche Dramaturgie der Sätze zeigt uns ein völlig anderes Bild: auch hier sind drei Satzpaare erkennbar, durch die das Werk aber in ganz anderer Weise gegliedert wird (II & VI: eine Tonart, I & III: eine Tonart mit ihrer Moll- bzw. Durvariante; IV & V: durchgehend modulierend). Der äußere tonartliche Verlauf bindet hingegen die Sätze I-IV (mit dem A-Dur der dritten Dumka als „Zentraltonart“) und V-VI (Es-Dur/C-moll) enger aneinander.
Bei der Tempoabfolge innerhalb der Sätze war der vorgegebene Spielraum enger: Wie wir gesehen haben, gehörte die Kontrastierung der Tempi seit op.51 ja zu den unverzichtbaren Prämissen der Dvorákschen Dumka. Folgerichtig weisen alle Sätze des Werkes diesen Kontrast auf. Nur der fünfte Satz, der auch durch seine ganz besonders ausgeprägte motivische Kohärenz und modulatorische Mobilität heraussticht, kehrt die für die Dumka bei Dvorák sonst a priori geltende Tempoabfolge Langsam-Rasch in ihr Gegenteil um, minimiert dabei aber gleichzeitig das Ausmaß des Kontrastes.
Die Bipolarität, die sich in der Abfolge kontrastierender Tempi am sinnfälligsten manifestiert, ist auch – ganz unabhängig von der von jedem Zuhörer frei zu wählenden Perspektive – die alle Sätze einigende Konstante des Werkes. Und es ist daher kein Zufall, daß diese Doppelgesichtigkeit im rhapsodischen Schlußsatz in eindruchsvoller Weise übersteigert wird: Dvorák verabschiedet sich vom Genre des Klaviertrios, dem er einige seiner inspiriertesten Momente geschenkt hat, mit einem großartigen Gemälde aus heroischer Trauer und übermütigem Trotz, in das wie aus der Ferne Töne einer kindlich-reinen Erinnerung herüberklingen.

Nachdem es über ein Jahr lang keinen brieflichen Kontakt mehr zwischen Dvorák und Simrock gegeben hatte, sind es eben die Dumky, um die zur Jahreswende 1891/92 ein zögernder und von beiden Seiten mit distanzierter Vorsicht betriebener Neubeginn der Korrespondenz kreist. Da aber keiner der beiden Eile hatte, die alten Beziehungen wiederherzustellen, bleibt dieser Kontakt Episode, und Dvorák verhandelt noch Anfang 1893 auch mit Alfred Littleton über die Herausgabe des neuen Trios. Von seinem halbtschechischen Sommerdomizil Spillville (Iowa) aus beantwortet der Meister dann einen etwas entschlosseneren Vorstoß seines ehemaligen Verlegers in behaglich-selbstsicherem Ton:

„Mein lieber Freund, ich komponiere, Gott sei Dank, nur mehr zu meinem Vergnügen, und bin ziemlich unabhängig. Ich habe hier 15 000 Dollars (oder 60 000 Mark) salary – und so bin ich in der Lage, meine Mußestunden der Komposition zu widmen und bin glücklich. Ich kann also mit der Veröffentlichung meiner Werke warten.„
(um den 2. Juli 1893)

Da sich Simrock diesmal aber als etwas diplomatischer und großzügiger als drei Jahre zuvor erweist, wird man im Herbst 1893 schließlich doch handelseins, und so kehrt Dvorák mit den Dumky nach vierjähriger Abwesenheit 1894 wieder in den Verlag Simrock zurück. Auch Brahms, der 1877 die erste Verbindung zwischen Dvorák und Simrock angebahnt hat, wirkt im Hintergrund an dieser Versöhnung mit – da Dvorák noch immer in Amerika ist, übernimmt er zuletzt auch das mühsame und undankbare Geschäft der Korrekturarbeit (und hinterläßt in der vierten Dumka en passant ein diskretes, aber unüberhörbares Unterpfand seines Wirkens). Die Freiheit, die Dvorák sich in der Zwischenzeit erkämpft hat, kann ihm jedenfalls kein Verleger der Welt mehr nehmen – und in den Dumky ist diese Freiheit Musik geworden.

© by Claus-Christian Schuster

Dvořák: III. Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell, f-Moll, op. 65 [B 130]

Antonín Dvořák

* 08. September 1841
† 01. Mai 1904

III. Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell, f-Moll, op. 65 [B 130]

Komponiert:Prag, 4. Februar – 31. März 1883; Neufassung Sommer 1883
Uraufführung:Mladá Boleslav (Jungbunzlau), 27. Oktober 1883
Antonín Dvorák, Klavier
Ferdinand Lachner (1856–1910), Violine
Alois Neruda (1837–1899), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1883

Von Dvoráks F-Moll-Trio ist oft gesagt worden, es sprenge die Grenzen des eigentlich „Kammermusikalischen“. Sicher ist es das dramatischste der Dvorákschen Klaviertrios, und der bekenntnishafte Ton des ganzen Werkes, dessen Trauer und Trotz, Innigkeit und Ingrimm jeden zugänglichen Hörer unmittelbar berühren, läßt keinen Zweifel daran zu, daß hier ein innerster Bezirk der Seele des Komponisten zum Klingen gebracht wurde.
Man hat die Einzigartigkeit dieses Trios auf jene seelische Erschütterung zurückgeführt, dem es seine Entstehung verdanken soll – den Tod der Mutter (15. Dezember 1882). So schlüssig diese Mutmaßung auch erscheint, sollte man doch nicht übersehen, daß es nie der Anlaß ist, der das Werk schafft. Und in diesem konkreten Falle haben wir einigen Grund, neben der Trauer des verwaisten Sohnes auch den Trotz des in seinem höchsten Streben von vielen unverstandenen Künstlers zu hören.
Schon die sich in allen Teilen des Werkes unüberhörbar manifestierende Intensität der dramatischen Geste setzt das F-Moll-Trio in enge Beziehung zu Dvoráks Opernschaffen; und vielleicht führt uns ein Blick auf diese Beziehung einen Schritt näher an das Werk heran.

Das Ringen um die Oper – oder doch wenigstens die Sehnsucht nach ihr – ist eine fast schon tragisch zu nennende Konstante der Musikgeschichte des XIX. Jahrhunderts. Seit Beethovens schwerem und langwierigem Kampf um die endgültige Gestalt seines Fidelio (1803–1814) waren die meisten der großen Komponisten des Jahrhunderts mit ihren Opern und Opernprojekten gescheitert – und die Biographien von Schubert, Schumann, Mendelssohn und Brahms lassen erahnen, welch geistiger Reichtum der Oper auf diese Weise verloren gegangen ist. (Wer solchen Ahnungen und Mutmaßungen mißtraut, findet vielleicht in den letzten Werken Carl Maria von Webers eine weniger spekulative Andeutung des Weges, den die Oper gehen hätte können.) Andererseits blieben die Triumphatoren der Opernbühne – von Rossini und Donizetti über Verdi und Wagner bis hin zu Gounod und Bizet – in ihrem Wirken fast immer auch nur auf die Oper beschränkt; ein Werk wie etwa Verdis Streichquartett (1872/73) bleibt eine exotische Einzelerscheinung. Dieses Phänomen scheint auf den ersten Blick nahezulegen, daß die „erhabene“ Welt der Kammermusik und die „populäre“ Welt der Oper in dieser Phase der Musikgeschichte – und in unübersehbarem Gegensatz zu den Zeitaltern Mozarts und Brittens – einander abstoßen und ausschließen.
Wie grundfalsch eine solche schematisch vereinfachende Beurteilung wäre, läßt sich am besten an der Entwicklung der slawischen Musikkulturen zeigen, wo wir gleich bei Smetana ein Musterbeispiel für Gleichgewichtung und -wertigkeit des Opern- und Kammermusikschaffens vorfinden. Doch wohl nirgendwo ist diese Möglichkeit so überzeugend und eindrucksvoll realisiert worden wie im Lebenswerk der beiden befreundeten (und fast gleichaltrigen) Komponisten Tschaikovskij und Dvorák. Daß es beide auf je ein rundes Dutzend vollendeter Opern gebracht haben, ist zwar nur eine ganz äußerliche und zufällige Übereinstimmung, zeigt aber immerhin, wie lebenswichtig ihnen dieses Ausdrucksmittel gewesen sein muß. Weit bemerkenswerter ist jedoch – und das ist der Fluchtpunkt dieses Exkurses –, daß zwischen dem Opern- und dem Kammermusikstil dieser beiden Meister nicht nur kein Widerspruch besteht, sondern hier diese im XIX. Jahrhundert scheinbar so antagonistischen Schaffenssphären einander auf die glücklichste Weise befruchten. Die Innigkeit dieser Wechselwirkung erscheint in den beiden zeitlich benachbarten Klaviertrios der zwei Meister (Tschaikowskijs op. 50 [1882] und Dvoráks op.65 [1883]) ganz besonders stark ausgeprägt.
Es gehört zu den Hauptsünden der „Brahmsianer“ (wie wir die Wagner-Gegner im Unterschied zu den „Brahminen“, den Brahms-Getreuen, nennen wollen), daß sie für das auf diesem Wege für die Oper Erreichte und Erreichbare gleichermaßen taub und blind waren. Ein besonders charakteristisches Beispiel dieses Defektes finden wir bei Eduard Hanslick, dessen bis in die Gegenwart reichender Einfluß wesentlichen Anteil an der recht einseitigen und das Opernschaffen nahezu völlig ausklammernden Dvorák-Rezeption im deutschen Sprachraum hat. (Hanslicks Unvermögen, das Genie Tschaikowskijs auch nur zu erahnen, wollen wir hier gar nicht erst berühren.) Auch in der Verlagspolitik Fritz Simrocks drückt sich dieses Mißtrauen gegenüber der Oper aus: von Dvořáks zwölf musikdramatischen Werken veröffentlichte Simrock nur zwei (die komischen Opern Selma sedlák und Tvrdé palice).

Am 8. Oktober 1882 wurde in Prag Dvoráks Oper Dimitrij (op. 64/B 127) uraufgeführt. Die Arbeit an diesem Werk war im Frühling 1881 im Hinblick auf die für September geplante Eröffnung des langersehnten Nationaltheaters begonnen worden. Ein Besuch von Kronprinz Rudolph hatte dann Anlaß geboten, das knapp vor der Fertigstellung stehende Gebäude doch schon am 11. Juni 1881 mit Smetanas Libussa inoffiziell einzuweihen, und während der fieberhaft vorangetriebenen Abschlußarbeiten hatte schließlich am 12. August ein Brand das Theater bis auf die Grundmauern zerstört – das Ergebnis von dreizehn Jahren Bauarbeit und noch viel weiter zurückreichenden Träumen war innerhalb weniger Stunden vernichtet. (Dieses für das tschechische Kulturleben so tragische Ereignis mutet fast wie eine Ouverture zur Katastrophe des Wiener Ringtheaterbrandes im Dezember des selben Jahres an.) Die trotz der durch den Brand bedingten Verzögerungen schließlich doch noch unter größtem Zeitdruck fertiggestellte Partitur ist ohne Zweifel der erste Höhepunkt in Dvoráks Opernschaffen – und die Premiere auf der Ausweichbühne des „Neuen Tschechischen Theaters“ wurde ein großer Triumph für den Komponisten. Aber Hanslick berichtete seinen Wiener Lesern in einer väterlich wohlwollenden Kritik von „ermüdenden Längen“ und den Schwächen des Librettos, in dem er Einzelnes sogar „empörend und unnötig“ fand. Dvoráks Verleger Fritz Simrock, der auch unter den Premierengästen war, stieß in das gleiche Horn – und der unverblümt schulmeisterliche Ton seines (am Tage nach dem Erscheinen der Hanslick-Kritik geschriebenen) Briefes an den Komponisten hat mehr als nur einen Anflug nationalistischer Überheblichkeit:

„Kürzungen allein werden dem ‚Demetrius‘ nicht helfen! Es müssen 3 anstatt 4 Akte werden und die ganze Szene im 4. Akt muß anders gestaltet und umkomponiert werden. Die Ermordung der Xenia muß durchaus fortfallen, überhaupt ist diese ganze Szene weder motiviert, noch in ihren daraus entstehenden Folgen irgendwie logisch oder vernünftig! Wenn Sie nach Wien gehen und sich mit Hanslick tagelang über die Änderungen verständigen und seinem Rate folgen, so tun Sie ein gutes Werk im Interesse Ihrer Oper, die so, wie sie jetzt ist, für deutsche Ansprüche nicht genügt.
Sie lassen sich zu sehr durch die Freude Ihrer böhmischen Brüder beeinflussen, lieber Freund! Aber bedenken Sie, daß das alles nur Äußerlichkeiten sind und daß nur Deutschland Ihnen geholfen hat und auch nur weiter helfen kann und wird.“
(Bonn, 18. Oktober 1882)

Dvorák, dessen Bescheidenheit und Demut den Leser seines Briefwechsels immer wieder in Erstaunen versetzt, war durchaus bereit, sich „mit Hanslick tagelang über die Änderungen“ zu unterhalten, und daß er es nicht gleich bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit, nämlich der Wiener Erstaufführung der VI. Symphonie (im Musikverein unter Wilhelm Gericke, am 18. Februar 1883), tun konnte, führt uns wieder zu unserem Hauptgegenstand zurück; denn als Hanslick sich auch im Namen Simrocks besorgt nach dem Grunde für Dvoráks Fernbleiben erkundigt, antwortet ihm dieser:

… daß Freund Simrock in Wien war und mir nicht ein Wort darüber schrieb! Der böse Mensch! Wie gerne wäre ich bei der Aufführung gewesen!
Ich bin Gott sei Dank gesund, froh und munter, und arbeite fleißig an einem neuen Trio, und das dürfte auch der einzige Grund sein, warum ich nicht kam …
Hoffentlich werde ich bald in der Lage sein nach Wien zu kommen; mein erster Weg führt mich immer zu Ihnen und Brahms und soll es auch für alle Zukunft, so Gott will, so bleiben …
(Prag, 23. Februar 1883)

Simrock wird in den nächsten Tagen und Wochen mit ungewöhnlicher Genauigkeit über den Fortschritt der Arbeit am Trio unterrichtet. Selbst für Dvorák war das Schaffensfieber, das ihn bei der Niederschrift des Trios erfaßt hatte, fast schon beängstigend – nach Budapest meldet er wenige Tage vor Beendigung des Manuskripts:

Seit 8 Wochen schreibe ich nur an einem neuen Trio, welches meine ganze Zeit so in Anspruch nimmt, daß ich kaum etwas anderes denken und fühlen kann…
(an Max Schütz, Prag, 28. März 1883)

Und der am selben Tag nach Berlin abgesandte Brief ist ein rührendes Dokument jenes natürlichen Vaterstolzes, der sich so gut mit Dvořáks angeborener Bescheidenheit vertrug:

Ich unterbreche nur auf einen Moment meine Arbeit (soeben bin ich am Schlußsatz des letzten Satzes), um Ihnen mitzuteilen, daß ich nächste Tage nach Berlin komme und bringe das Trio fertig mit. Das heißt, wenn Sie in Berlin sind, wo wir dann das Trio bei Ihnen nochmals durchspielen könnten.
Heute abends ist bei mir bereits die dritte Probe. Es klingt famos – kein Takt zuviel oder wenig!
(an Fritz Simrock, Prag, 28. März 1883)

Gleich nach dem Abschluß des Trios wandte sich Dvořák wieder seinem geschmähten Dimitrij zu. Die Aussprache mit Hanslick führte in Zusammenarbeit mit Dvoráks junger Librettistin Marie Cervinková-Riegrová zu einer weniger „empörenden“ Wendung im Schicksal Xenias, der Tochter Boris Godunovs und tragischen Heldin der Oper: In der von Hofrat Hanslick sanktionierten Fassung nimmt sie den Schleier und versöhnt sich mit ihrer Rivalin – das ist aus der Sicht eines friedliebenden Katholiken zwar sehr erfreulich, daß es aber für die Oper, mit Brahms zu reden, nur eine Verböserung ist, darüber herrscht heute weitgehend Einigkeit. (Eine Rekonstruktion der ursprünglichen Fassung, die Milan Pospišil nach minutiösem und langjährigem Quellenstudium erstellte, wurde 1989 unter der Leitung Gerd Albrechts in Prag aufgeführt.) Obwohl Dvorák zunächst recht optimistisch an die Änderungen heranging, scheint er zuletzt doch, in aller Bescheidenheit, am Sinn des Unterfangens ein wenig gezweifelt zu haben – die im Juli in Prag neukomponierte Passage trägt jedenfalls am Ende den recht vielsagenden handschriftlichen Vermerk: „Bis hierher überarbeitet auf Wunsch von Dr. Hanslick in Wien.“

Wie nahe Dvorák in Wahrheit die Kritik an seinem Werk ging, wird aus dem Brief deutlich, mit dem er Jahre später eine sich auf die Oper beziehende Anfrage Simrocks beantwortete:

Die Oper „Dimitrij“ ist gewiß ein Werk, das ich gern habe, und es ist mir doppelt leid, daß sie bis jetzt keine Anerkennung gefunden hat. Nach dem Ausspruch Hanslicks, den Sie mir einmal mitteilten, die Oper wäre nicht genug theaterfähig und nicht dramatisch, was mir sehr leid war, bin ich selbst mißtrauisch gegen mein eigenes Werk geworden …
Aber auch jetzt fühle ich gar kein Verlangen, mit einer Oper aufzutreten, weil ich weiß, daß es vergebene Mühe ist. In Wien, schrieb mir Hanslick, wollen sie den „Dim[itrij]“ aus politischen Rücksichten nicht …

Diese letzte Andeutung sollte übrigens in ihrer Tragweite nicht unterschätzt werden; denn in der Tat hatte sich zu Beginn der achtziger Jahre das politische Klima dramatisch verschlechtert. Straßenschlachten zwischen tschechischen und deutschsprachigen Studenten (Juli 1881), die schließlich zur Sezession der Tschechen und Spaltung der Universität (1882) führten, die brüske Ablehnung der Errichtung eines deutschen Theaters durch den Landtag und ein Boykottaufruf gegen nicht-tschechische Kaufleute und Handwerker (1882) auf der einen, die anti-slawische Hysterie und der immer militanter werdende Nationalismus der sich durch die Taaffe-Stremayrsche Sprachverordnung (April 1880) bedroht fühlenden Deutschnationalen auf der anderen Seite – das alles mußte Dvorák, der sein Leben lang auf Ausgleich und Versöhnung bedacht war, ein Greuel sein. Es war wohl nicht, wie manche Kommentatoren meinen, politische Instinktlosigkeit oder undiplomatische Tolpatschigkeit, die Dvorák dazu bewog, in der bald nach Abschluß des Trios für die endlich doch anstehende Eröffnung des Nationaltheaters geschriebenen Husistská dramatická ouvertura (op. 67/B 132) den Hussiten-Choral „Die ihr Gottes Streiter seid“ – der in Tábor und Blaník, den letzten beiden Sätzen von Smetanas Má vlast (1878/79), die musikalische Chiffre für den Sieg des tschechischen Volkes über die Bevormundung durch Rom und Wien ist – mit dem alten katholischen Wenzels-Choral zu kombinieren: In solchen demonstrativen Gesten äußert sich eine zutiefst politische Botschaft des (auch seiner Selbsteinschätzung nach) vermeintlich „apolitischen“ Künstlers Dvorák.

Ein äußeres, aber doch sehr aussagekräftiges Zeichen der Verletzung, die dem Komponisten die nationalen Spannungen und, noch konkreter, die davon nicht unberührten kritischen Dissonanzen rund um seinen Dimitrij zufügten, betrifft zuerst unser Klaviertrio: es ist seit Dvoráks Opus 2 (1862) das erste Werk, dessen Autograph er nicht mit seinem obligaten „Bohu díky“ (dem tschechischen Äquivalent des Haydnschen Laus Deo) abschließt – dieser frommen Formel werden wir erst 1885 (VII. Symphonie, op. 70) wieder begegnen.

Auch die weitere Geschichte des Opus 65 ist eng mit den Schicksalen des Dimitrij verwoben: Fast zur selben Zeit, als Dvorák ergeben und vertrauensvoll die gewünschten Änderungen an der Oper vornimmt, macht er sich, und zwar ganz aus eigenem Antrieb – und mit wieviel mehr Lust und Überzeugung! – an eine gründliche Überarbeitung des neuen Trios. Die Korrekturen, Abänderungen, Kürzungen und Retuschen, die Dvořák hier vornahm, sind so weitgehend, daß kaum ein Takt des Werkes davon unberührt blieb. (Der Vergleich der beiden Fassungen gewährt einen einzigartigen Einblick in Dvoráks Arbeitsweise und Ästhetik – leider ist die seit Jahrzehnten angekündigte Veröffentlichung der erhaltenen Urfassung im Rahmen der Dvorák-Gesamtausgabe noch immer nicht zustande gekommen.) Der dramaturgisch gravierendste Eingriff war dabei die Umreihung der beiden Mittelsätze, wodurch das vor dem Allegretto komponierte und in der Urfassung an zweiter Stelle stehende Adagio zum dritten Satz wurde.
Erst in dieser gestrafften und geschliffenen Fassung stellte Dvorák das Werk der Öffentlichkeit vor – und zwar zunächst in einem aus Anlaß der Ernennung Dvořáks zum Ehrenmitglied ganz dessen Werken gewidmeten Sonderkonzert des Gesangsvereines „Boleslav“, das Frantisek Hruska in Mladá Boleslav organisiert hatte (und an dessen Ende dem Komponisten feierlich ein silberner Ehrenpokal überreicht wurde), erst danach auch in der Hauptstadt (am 13. November 1883 in einem Konzert der Umelecká beseda). Beide Male waren Ferdinand Lachner und Alois Neruda, die Solisten im Orchester des Nationaltheaters, die schon die Uraufführung des Klaviertrios op. 26 mit ihm bestritten hatten, seine Partner.

Als Dvorák zu dem Festkonzert nach Mladá Boleslav reiste, stand er noch ganz unter dem Eindruck seiner jüngsten Begegnung mit Brahms, über die er Simrock gleich nach seiner Rückkehr aus Wien berichtet hatte:

… Das erste ist, daß ich diese Tage in Wien war, wo ich gar schöne Tage mit Dr. Brahms, der soeben von Wiesbaden kam, erlebt habe. In so heiterer Stimmung habe ich ihn noch nie gefunden. Wir waren jeden Mittag und Abend beisammen, wo wir über manches geplaudert haben. Der Umgang mit mir scheint ihn gefreut zu haben und ich bin wahrhaftig durch seine Liebenswürdigkeit als Künstler und Mensch so entzückt, daß ich ihn lieben kann! Welch ein Gemüt und Seele in dem Manne steckt!
Sie wissen ja, wie er selbst gegen seine liebsten Freunde und Musiker sehr zurückhaltend ist, was nämlich sein Schaffen anbelangt, aber mir gegenüber war er es nicht …
(Prag, 10. Oktober 1883)

Tatsächlich hatte sich in den Jahren der Komposition des Dimitrij und des F-Moll-Trios die Beziehung zwischen Brahms und Dvorák bedeutend vertieft, und aus dem Verhältnis Gönner-Protegé, das den Beginn ihrer Bekanntschaft bestimmt hatte, war inzwischen eine wirkliche Künstlerfreundschaft herangereift.
Zu Silvester 1882 hatte Simrock auf Dvoráks Ersuchen diesem die Partituren der eben erschienenen Brahmsschen Opera 87 (Klaviertrio C-Dur), 88 (Streichquintett F-Dur) und 89 (Gesang der Parzen) zugesandt. Daß Brahms´ C-Dur-Trio nicht ohne Wirkung auf das Dvoráksche Opus 65 geblieben ist, wurde schon oft konstatiert. Bemerkenswert ist an diesem naheliegenden Umstand aber vor allem eines: Daß diese Wirkung nur bestärkende und ermutigende Anregung blieb, daß Dvorák also auch nicht einen Takt lang Gefahr läuft, nachahmender „Epigone“ zu werden. Nur ein ebenbürtiger, seiner Möglichkeiten und Eigenart sicherer Meister durfte es wagen, sich in so mächtige und zwingende Nähe zu begeben, ohne sich selbst zu verlieren.

Im episch angelegten eröffnenden Allegro ma non troppo ist diese eigenständige Nähe zu Brahms besonders frappant: Kaum eine Wendung dieses Satzes könnte von Brahms sein – und doch ist unleugbar, daß Dvorák sich in vielen Details von den meisterlichen Lösungen des Brahmsschen Opus 87 anregen ließ. Gleich zu Beginn entspricht der Weg des Hauptthemas vom verhaltenen, unbegleiteten Streicherunisono zur emphatisch-affirmativen, akkordisch untermauerten „eigentlichen“ Hauptthemenexposition durchaus der von Brahms gewählten Strategie; aber welche Welten liegen zwischen diesen beiden Expositionen! Als Überleitung zwischen Haupt- und Seitensatz, die der epischen Anlage des Satzganzen entsprechend jeweils mehrgliedrig angelegt sind, verwendet Dvorák ein Zitat aus seinem Opus 7 (Pisne z rukopisu Kralovedvorskeho / Lieder aus der Königinhofer Handschrift, B 30, 1872): das mottoartige Kopfthema des ersten Liedes (Zezhulice / Der Kuckuck), in dem der Kuckuck keine Frühlingsbotschaft, sondern eine wehmütige Warnung überbringt. (Bekanntlich war der „Entdecker“ der „Königinhofer Handschrift“, Václav Hanka, ganz dem genialischen Ossian-Rezept von James Macpherson folgend, gleichzeitig auch ihr Autor; und der von Dvorák hier gefundene Volkston ist ebenso eine einfühlsame Anverwandlung „echter“ Volkslieder.) Der emblematische Charakter dieses Zitats wird dadurch betont, daß es – als einziges Formglied – in der Reprise seinen Platz wechselt und sich dort zwischen die beiden Themen des Hauptsatzes drängt. Die Fülle der andrängenden motivischen Gestalten wird durch eine meisterlich eingesetzte Kunst assoziativer Derivation beherrscht und gebändigt – so ist etwa der Seitensatz ganz unüberhörbar aus dem zweiten Hauptthema abgeleitet. Auffallend knapp (nur 70 von 342 Takten) ist die ausschließlich von den beiden Motivgruppen des Hauptsatzes getragene Durchführung geraten, aber es fehlt ihr dabei durchaus nicht an Weite und Spannung. In der Coda (Poco più mosso, quasi vivace) entzündet sich die schwermütige Leidenschaft des Satzes kurz zu fiebriger Intensität, die sich unvermittelt an einer chromatisch entstellten Wiederkehr des ersten Hauptthemas bricht.

Der zweite Satz, Allegretto grazioso (cis-Moll), hat nicht die Absicht, uns das Drama des vorangegangenen Satzes vergessen zu lassen. Die Satzbezeichnung hätte Beethoven, der am Ende seines Lebens zu der Einsicht gelangt war, daß ein schematisch verwendetes italienisches Vokabular eine wahre Barbarei darstelle, wohl zu berechtigtem Widerspruch herausgefordert, denn das vorangestellte Epitheton grazioso steht über weiteste Strecken in eklatantem Gegensatz zu den Dvorákschen Vortragsbezeichnungen; vielleicht darf man aber in der Verwendung dieses Wörtchens auch eine unscheinbare Reverenz an Brahms sehen, der eine ganz besondere Vorliebe dafür hatte. Gerne überlesen (und überspielt) wird aber vor allem das Allegretto – oder sollte die verblüffende Tatsache, daß fast alle gängigen Kammermusikführer diesen Satz als Allegro grazioso zu kennen glauben, nur ein Indiz dafür sein, zu welch intuitiver Virtuosität die Kunst des Abschreibens schon gediehen ist? Der Reiz der Eckteile des Satzes liegt in seiner rhythmischen Textur: Das Thema (im Zweivierteltakt) ist aus Zweitaktern zusammengesetzt, wobei der jeweils zweite Takt die rhythmische Inversion des ersten ist (Achtel – Achtel – Viertel | Viertel – Achtel – Achtel). Durch die systematische Betonung der Viertel entsteht nun ein Betonungsschema, das beim ersten Anhören etwas verwirrend wirken kann – ein offenbar durchaus beabsichtigter Effekt, der durch die Begleitung in Achteltriolen, die ihrerseits wieder fast unvermeidlich als gebrochene Vierteltriolen gehört werden, noch verstärkt wird. Das Resultat ist eine raffinierte Doppeldeutigkeit, in der bald das scheu-leichtfüßige Grazioso, bald das derb-bäurische Marcato den Ton angibt. Das Trio (Meno mosso, Des-Dur) führt mit seinen frei ausschwingenden und weit gespannten Melodiebögen in ganz andere, sehnsüchtigere Stimmungen – der eigensinnige Dualismus des Hauptteiles erscheint hier verinnerlicht als klangfarbliches Changieren zwischen zwei verschiedenen Instrumentationsmodellen.

Die in der Überarbeitung des Trios vorgenommene Versetzung des langsamen Satzes (Poco adagio, As-Dur) an die dritte Stelle unterstützt seine Wirkung als Herzstück des Werkganzen. Der Satz ist von so überwältigender Eindringlichkeit, daß sich über ihn – innerhalb der Grenzen nichtmusikalischer Mitteilung – wohl nur Handwerkliches sagen ließe. Die traditionelle dreiteilige Form erscheint hier in einer recht eigenwilligen Variante (ABA|CD|BA|Coda: DB). Wie schon in den entsprechenden Sätzen der beiden vorangegangenen Klaviertrios, als deren gesteigerte Vollendung dieses Adagio gelten darf, überläßt Dvorák das erste Wort dem Violoncello – die tonpsychologische Wirkung der „Tiefe“ im Doppelsinn des Wortes war ihm ebenso intuitiv vertraut wie seinem Vorgänger Schubert. Auffällig ist das starke Übergewicht der Mollvariante (as-Moll/gis-Moll) im ganzen Satz – schon in der eröffnenden zehntaktigen Periode münden Vorder- und Nachsatz (ein an sich schon singulärer Vorgang) dorthin; und wenn sich die tiefe Trauer dieses Beginns im Mittelteil (C) zu trotziger Auflehnung wandelt, geraten wir wieder in den Bannkreis dieser düster drohenden Tonart. Die Formteile B und D (die ja auch in der Coda zueinander finden) lindern den Schmerz und besänftigen den Aufruhr, und sie tun das mit so gläubiger Inbrunst und hoffender Zuversicht, daß dieser vielleicht schmerzlichste aller Dvořákschen Sätze am Ende doch noch Friede und Trost findet.

Wie notwendig und richtig die Umreihung der Mittelsätze war, kann man eigentlich erst an dieser Stelle ermessen; das irisierende Spiel des Allegretto hätte nach diesem Schluß abschwächend und verzögernd gewirkt – der entschlossene Mut des jetzt folgenden Allegro con brio setzt den schweren Weg, den wir im Adagio gegangen sind, ohne Umschweife und geradlinig fort: Kraft ist in diesem Satz, und eine bittere Fröhlichkeit, die deswegen nicht weniger ansteckend ist. Das Stück gibt sich nicht als Furiant zu erkennen, trägt aber recht deutlich dessen Züge; vor allem die immer wiederkehrenden, fast neckischen Hemiolen, die sich dem grimmigen Dreivierteltakt furchtlos in den Weg stellen, verraten die tänzerische Abstammung des Satzes. Formal haben wir es wieder mit einem jener charakteristischen Sonatensätze zu tun, die mit einem Rondo schwanger gehen. Aber, wie so oft in solchen Fällen, ist es weder möglich noch auch wichtig, zu entscheiden, ob es sich hier um ein Rondo oder um einen Sonatensatz handelt: Denn in beiden „Lesarten“ liegt der architektonische Reiz des Satzes in den phantasievollen Abweichungen von der normativen Grundgestalt. Mit jedem Schritt, den wir auf dem Wege dieses Finales voranschreiten, verändert sich die Landschaft der hinter uns liegenden Sätze: Die fragende Sext aus dem ersten Hauptthema des Kopfsatzes ist hier – notengleich – eine kecke Herausforderung geworden. Das Cis-Moll des zweiten Satzes erscheint jetzt als Folie des wehmütig-wiegenden Seitensatzes (das hieße für die „Rondisten“: der ersten Episode), der übrigens – wie Reminiszenzenjäger befriedigt vermerken werden – entfernte Ähnlichkeit mit dem ersten der Walzer aus Opus 54 (B 101) aufweist; und das bedeutungsschwere As-Moll, aus dessen Bann sich das Adagio nur so schwer lösen konnte, wird nun (am Beginn der Durchführung, bzw. der Überleitung zur zweiten Episode) zur Bühne, auf der das Hauptthema (Ritornell) ein wenig „Fuge“ spielen darf. Im Zentrum der ungewöhnlich großräumigen Coda (die übrigens, gleichgültig aus welchem formalen Blickwinkel, schon in Takt 392 und nicht erst mit dem Meno mosso beginnt) steht dann, als letzte dieser Metamorphosen, die rhythmisch und harmonisch veränderte Wiederkehr des Kopfthemas aus dem ersten Satz. Eine still verebbende Reminiszenz an das „Walzer“-Thema und eine das endlich erreichte F-Dur wie triumphierend festhaltende Furiant-Kadenz beschließen das Werk.

© by Claus-Christian Schuster

Dvořák: Trio Nr.2, g-moll, op.26 [B 56]

Antonín Dvořák

* 08. September 1841
† 01. Mai 1904

Trio Nr.2, g-moll, op.26 [B 56]

Komponiert:Prag, 4.-20. Jänner 1876
Uraufführung:Turnov (Turnau an der Iser, Nordböhmen), 29. Juni 1879
Antonín Dvorák, Klavier
Ferdinand Lachner (1856-1910), Violine
Alois Neruda (1837-1899), Violoncello
Erstausgabe:Bote & Bock, Berlin, 1879

Knappe acht Monate trennen die ersten beiden erhaltenen Klaviertrios Dvoráks voneinander. Nach der Triade der kammermusikalischen Werke des Frühlings 1875 (Klaviertrio Nr.1, Streicherserenade, Klavierquartett Nr.1, B 51 – B 53) hatte der Rest des Jahres ganz den „großen“ Genres gehört: Die V. Symphonie (F-Dur, op.76, B 54), die früheste der zu Dvoráks Lebzeiten erschienenen fünf Symphonien, war nach nur fünf Wochen am 23. Juli beendet worden – sie mußte dann allerdings ganze zwölf Jahre auf ihre Veröffentlichung warten. Viel schlimmer noch erging es der Oper, auf die Dvorák die zweite Jahreshälfte verwendete: Die vielleicht als ein Gegenstück zu Smetanas Libussa konzipierte tragische Oper Vanda (op.25, B 55) verschwand schon bald nach ihrer Prager Uraufführung (17. April 1876) endgültig vom Spielplan – ein Schicksal, das wohl zum Großteil auf das an allzu vielen Stellen unfreiwillig komische Libretto zurückzuführen ist, an dem aber die durch das Sujet nahegelegten Meyerbeer- und Wagner-Reminiszenzen der Vertonung sicher nicht schuldlos sind.

Dvoráks Rückkehr zur Kammermusik zu Beginn des Jahres 1876 war daher gewissermaßen auch eine Rückkehr zu sich selbst und stand vielleicht schon deshalb unter einem weit besseren Stern: Die beiden Werke, mit denen er das neue Jahr eröffnet, unser Klaviertrio und das Streichquartett E-Dur (op.80, B 57) gehören ganz ohne Zweifel schon zum Kanon der Dvorákschen Meisterwerke – auch wenn sie in der heutigen Konzertpraxis zu sehr im Schatten ihrer jüngeren Schwestern stehen.

Ein tragischer Grundton, der im G-moll-Trio unüberhörbar vorherrscht, wirft seine Schatten auch auf das E-Dur-Quartett, dessen Komposition gleich am Tage der Vollendung des Trios begonnen wurde. Der Umstand, daß unmittelbar nach diesen beiden Kammermusikwerken das ergreifende Stabat Mater (op.58, B 71, vollendet 1877) skizziert wurde, hat dazu geführt, daß man alle drei Werke mit dem Tod von Dvoráks erster Tochter Josefina in Zusammenhang gebracht hat. Es drängt sich aber der Verdacht auf, daß zumindest im Falle des Klaviertrios hier nur ein simpler Analogieschluß vorliegt: Tonart und einige thematische Details des Werkes erinnern nämlich an Smetanas Klaviertrio op.15 (1855/57), das ein Epitaph für des Komponisten Tochter Bedriska (1853-1855) ist. Dvoráks Tochter Josefina war schon am 21. September 1875, zwei Tage nach ihrer Geburt, gestorben – ein Schicksalsschlag, der bis vor wenigen Generationen auch in Mitteleuropa nur wenigen Familien erspart blieb. (Dvorák hatte zu diesem Zeitpunkt gerade den ersten der fünf Akte seiner unglücklichen Vanda beendet.) Fast auf den Tag genau ein Jahr später, am 18. September 1876, wurde die zweite Tochter, Ruzena, geboren – deren früher Tod, dicht gefolgt von dem des erstgeborenen Sohnes Otakar (1874-1877), dann sicher der unmittelbare Anlaß für die Vollendung des Stabat Mater war. Obwohl es sehr leicht möglich ist, daß ein engerer Zusammenhang zwischen dem Tod Josefinas und der überwiegend dunklen, verhaltenen Stimmung der ersten Werke des Jahres 1876 besteht, sollte man sich jedenfalls davor hüten, unser Klaviertrio nur aus diesem Blickwinkel betrachten zu wollen. Vielleicht wäre, abseits der sich hier stellenden konkreten Frage, auch einmal das Phänomen zu untersuchen, daß – nicht nur bei Komponisten, die dem Publikum schon a priori als „naïv-musikantisch“ gelten – fast jeder schmerzliche Unterton in der Musik auf biographisch belegbare Schicksalsschläge zurückgeführt wird, während sich kaum jemand bemüßigt fühlt, den unmittelbaren „Anlaß“ musikalischer Freudenausbrüche ergründen zu wollen. Am Schluß aller Überlegungen, die durch solche Fragen ausgelöst werden könnten, steht dann wohl meist die Einsicht, daß wie jedes andere so auch das musikalische Kunstwerk letztlich nur einer in ihm selbst gründenden Logik gehorcht – zu deren Verständnis oder teilweisen Entschlüsselung historische, soziologische, biographische und sogar anekdotische Fakten freilich oft genug beitragen mögen.

Im vorangegangenen Klaviertrio (B-Dur, op. 21, B 51) haben wir Dvorák auf der Suche nach dramaturgischer Stringenz und handwerklicher Ökonomie gesehen. Das G-moll-Trio zeigt in beeindruckender Weise, wie rasch er auf diesem Wege vorankam – oder besser: in welch kurzer Zeit er sein hochgestecktes Ziel erreicht hatte. Denn obwohl die Musikwissenschaft diesem Werk ihre (freilich durchaus verzichtbare) Anerkennung beharrlich verweigert, ist es in des Wortes ursprünglichster Bedeutung ein Meisterstück. In seiner Textur ist bis in die Ornamentik der letzten Nebenstimme hinein alles mit motivischer Bedeutung durchwirkt. Die Form erscheint auf allen Ebenen – vom Periodenbau über die Satztektonik bis hin zur Gesamtarchitektur – als Ausdruck einer organischen Entwicklung.

Der Eindruck organischer, man ist versucht zu sagen: vegetativer Entfaltung der musikalischen Ideen wird im ersten Satz (Allegro moderato) noch durch eine außergewöhnliche Flexibilität des rhythmischen und agogischen Verlaufes verstärkt. So wird etwa das für Begleitfiguren konstitutive „motorische“ Element ständig relativiert und modifiziert – das hier immer wiederkehrende Changieren zwischen Sechzehntel- und Achteltriolenbewegung, die einander abwechseln und überlagern, hat fast schon den Charakter eines rhythmischen Leitmotivs, ist aber gleichzeitig auch eine überaus raffinierte und wirkungsvolle Art, „improvisatorische“ Rubatoeffekte auszuschreiben. Außerdem verwendet Dvorák in diesem Satz zwei nicht eben kontrastierende, aber doch deutlich unterschiedene Grundtempi, die einerseits auf subtile Weise die Klarheit des formalen Ablaufes erhöhen, andererseits aber auch interpretatorische Ungezwungenheit suggerieren. Das Zusammenwirken all dieser Elemente gibt dem Ganzen jene atmende Freiheit, vor deren Hintergrund die strenge motivische Arbeit und die präzis gezeichnete formale Kontur des Satzes umso wirkungsvoller zur Geltung kommen können.

Melodische Keimzelle des Satzes ist eine diatonisch (in natürlichem Moll) fallende Linie, in der zunächst die Sext ausgespart bleibt. Ihr Fehlen erzeugt eine dynamische und emotionelle Bruchlinie zwischen den beiden entschlossenen Akkorden, die den Satz eröffnen, und der melismatisch klagenden Fortsetzung, die – nach beklemmend langem Verweilen auf der Dominante – zum Ausgangspunkt des „eigentlichen“ Hauptthemas wird. Hier schließt sich dann die Kluft zwischen den beiden Themenhälften: der das Incipit beherrschende Konflikt scheint aufgehoben, und die fehlende Sext darf jetzt erscheinen. Die Hierarchie zwischen den beiden Erscheinungsformen des Themas, der reliefhaft skulpierten Satzeröffnung und seiner elegisch schwärmerischen Fortsetzung, wird zwar an den beiden tektonisch entscheidenden Nahtstellen des Satzes (Rückkehr zur Wiederholung der Exposition und Rückführung zur Reprise) eindeutig festgelegt, trotzdem sind beide Varianten für Verlauf und Physiognomie des Satzes gleich wichtig. Der Seitensatz (Poco più mosso) steht in keinem Kontrast zu der vorangegangenen Entwicklung, sondern ist ihr natürliches Resultat. Gerade deshalb ist die hier vorgenommene Temporückung dramaturgisch ein sehr glücklicher Einfall. (Außerdem läßt die Rücknahme dieses Schrittes am Beginn der Wiederholung das Hauptthema in seiner Funktion noch deutlicher hervortreten.)

Die geschwisterliche Nähe von Haupt- und Seitenthema kommt auch in der Durchführung zur Geltung: So verwendet etwa der diesen Abschnitt eröffnende chromatische Modulationszug (fis-moll – g-moll / As-Dur & as-moll – a-moll) nacheinander ein Seitenthemen- und ein Hauptthemen-Modell; auch hier erfolgt die Konturierung mit agogischen Mitteln (Wiedereintritt des Tempo I gleichzeitig mit der Rückkehr des Hauptthemas, unterstrichen durch die eingefügte Durvariante). Der gleiche Vorgang wiederholt sich am Ende der Durchführung, wobei die Halbierung des Tonraumes (Reduktion auf den Modulationsschritt Ges-Dur/fis-moll – g-moll) durch die melodische Vergrößerung des Incipits aufgewogen wird.

Die Reprise stellt eine ungewöhnlich weitgehende Reinterpretation des Expositionsablaufes dar. Auf dem jetzt viel beschwerlicheren Weg vom Haupt- zum Seitenthema begegnet uns wieder der die Durchführung begrenzende emblematische Modulationsschritt (fis-moll – g-moll). Auch das Seitenthema selbst hat seinen unbefangenen Fluß verloren und erscheint vielfach gebrochen, wie eine bange und nur halb ausgesprochene Frage. Die immer unabweislicher wiederkehrenden Anfangsakkorde verdichten sich zuletzt zu einer ingrimmig verzweifelten Forderung – ein siebenmal wiederholter Es-moll-Akkord evoziert eine in ohnmächtigem Schmerz geballte Faust. In die elegische Resignation der diesem Ausbruch folgenden Coda klingt ein Unterton wehmütiger Erinnerung; mit bitterem Entschluß beendet dann das – erst hier unverhüllt auftretende – Urmotiv des diatonischen Oktavfalls den Satz.

Das Largo (Es-Dur) geht in der Vereinfachung des Materials noch einen Schritt weiter – Dvorák begnügt sich hier mit einem einzigen Thema. Auch der formale Aufbau ist von lapidarer Knappheit: Auf die Exposition des Themas in Gestalt einer asymmetrischen Periode (10 + 16 Takte) folgt ein die Stelle des Vordersatzes einnehmender Durchführungsabschnitt von dramatischer Intensität, an den sich die Reprise des Nachsatzes anschließt. Eine in ihrer Ausdehnung genau der Expositionsperiode entsprechende Coda beschließt diesen ungewöhnlich lakonischen Satz. Die augenscheinliche Sparsamkeit in Form und Material wird allerdings durch die Dichte und das Gewicht des Inhaltes mehr als aufgewogen. An keiner anderen Stelle des Trios zeigt sich die tragische Größe der ideellen Konzeption unmittelbarer und bestürzender als hier. Die Mediantausweichungen im zweiten und vierten Takt des Themas (G-Dur/Ces-Dur) umgrenzen das enge Terrain, das mit schwerem Herzen und schleppenden Schritten mehrmals durchmessen wird. Erst die Coda eröffnet mit ihren bang hoffenden Synkopen den Blick auf eine ferne Region friedlicher Zuversicht.

An eben diese Geste knüpft nun das folgende Scherzo (Presto, g-moll) an; es ist bei all seiner motorischen Energie kein selbstsicher vorwärtsstürmendes Stück, sondern läßt immer wieder die Nähe einer schwerlastenden Frage spüren, die unter der tänzerischen Eleganz seiner Oberfläche auf Antwort harrt. An einer Stelle – vor der Reprise des Hauptteiles – wird sie dann auch ausgesprochen: Die nervige Bewegung des Dreivierteltaktes wird zur bedächtigen Gangart eines an das vorangehende Largo erinnernden Zweivierteltaktes gedehnt, und in dieser Vergrößerung erscheint das Scherzothema plötzlich als Teil einer schwermütigen Volksliedmelodie. Das Trio (Poco meno mosso, G-Dur) will von all diesen Komplikationen nichts wissen: Mit der vertrauensseligen Einfalt und Zuversicht, die hier zu Wort kommt, scheint ein Kind, ohne es selbst auch nur zu ahnen, Trost und Hoffnung zu schenken.

Die Saat dieser Episode bricht im Finale (Allegro non tanto) endlich aus der Erde. Das Incipit ist ganz unüberhörbar eine Paraphrase des Werkanfangs: Wie dort herrscht auch hier der schroffe Gegensatz zwischen den ersten zupackenden Forteakkorden und einer fast scheuen, fallenden Bewegung, die diesmal aber schon von Anfang an einen versteckten Anflug von Übermut in sich birgt. Und, ganz wie im ersten Satz, mündet auch hier die Wiederholung dieses viertaktigen Modells in ein erstaunliche acht Takte langes Innehalten auf der Dominante, von der aus schließlich das „eigentliche“ Hauptthema erreicht wird. Die zögernd tastenden Halbtonschritte dieses Themas suchen den befreienden Ausweg in einen Tanz: Rhythmus und Metrum verraten uns schon, daß es eine Polka werden soll – aber der lange Weg dorthin läßt uns den glatten Modetanz vergessen; vielmehr wird die Erinnerung an Smetanas poetische Polkametamorphosen (etwa das Klavierstück Erinnerung an Böhmen, oder den zweiten Satz des Streichquartetts Aus meinem Leben) geweckt. Erst im zweiten Anlauf – diesmal steht das Eröffnungsmodell schon ganz in vitalem Forte, und der Weg führt jetzt über die Subdominante – wird das erlösende G-Dur und der befreiende Tanz (Poco più mosso) erreicht. Doch schon nach wenigen Takten verebbt der tänzerische Übermut, und unter seinen letzten Ausläufern meldet sich das Einleitungsthema in völlig neuem Gewande als Kontrapunkt. Es fungiert hier zuerst als Seitenthema, aber die motivischen Verflechtungen, die durch sein Erscheinen ausgelöst werden, führen uns geraden Weges in eine Durchführung, in der seine kontrapunktische Disposition bald epidemisch wird. Es bereitet dem Komponisten unüberhörbar Vergnügen, unter den Motiven des Satzes Verwirrung zu stiften – Humor und Poesie dieser ungezwungen originellen Durchführung würden hervorragend in eine nächtliche Intrigen- und Verwechslungsszene einer komischen Oper passen. (Es ist an Stellen wie diesen, daß man besonders lebhaft bedauert, wie unglücklich Dvorák in vielen Fällen bei der Wahl seiner Opernlibretti war.)

Wie im Kopfsatz ist auch hier die Reprise von charakteristischen Veränderungen und weitgehenden Umreihungen gegenüber der Exposition geprägt. Schon das Eröffnungsmodell wird uns jetzt in einer dynamisch-artikulatorischen Variante präsentiert – die Antwort auf die Eröffnungsakkorde ist diesmal diminuendo/legato, was der mittlerweile erreichten, nonchalanten und gelösten Stimmung weit besser entspricht als die beiden Varianten der Exposition. An der Stelle der eigentlichen Polka, die sich Dvorák für die Coda aufspart, steht hier zwischen Haupt- und Seitenthema eine Art zweiter Durchführung, in der sich das schüchterne Hauptthema gar zu einem veritablen Fugato verführen läßt. Die effektvoll erst nach einem Scheinschluß gegen Ende der Coda placierte Polka verliert auch diesmal schon nach wenigen Takten ihre Verve und will in Wehmut enden; aber die janusköpfigen Halbtonschritte des Hauptthemas, die ja den ganzen Satz zwischen Sehnsucht und Übermut in zarter Schwebe gehalten haben, entscheiden sich zuletzt doch für das letztere und bringen das Werk zu einem fröhlich unbeschwerten G-Dur-Ende.

Der mit diesem Werk vollzogenen Entwicklungsschritt ist nicht weniger als ein Durchbruch zur Meisterschaft. Die kleinen (und durch wie viele Schönheiten aufgewogenen!) Schwächen des B-Dur-Trios sind hier alle souverän vermieden. (Ein Vergleich der beiden Finalsätze und ihrer ideellen Verbindung zum Vorangehenden läßt die entscheidenden Elemente dieser Entwicklung besonders deutlich hervortreten.) Ökonomie der thematischen Arbeit und Reichtum der dramaturgischen Konzeption machen dieses Werk zu einem frühen Höhepunkt in Dvoráks Œuvre – nur unsere Kenntnis der beiden nachfolgenden Meistertrios könnte die Vernachlässigung dieses Werkes zur Not erklären, wenn auch nicht rechtfertigen. Völlig unverständlich erscheinen jedenfalls die schulmeisterlich herablassenden Zensuren, die dieses Trio (etwa von dem englischen Dvorák-„Papst“ John Clapham) erhalten hat. Symptomatisch für diese – durchaus nicht auf die „hohe“ Musikwissenschaft beschränkte, sondern von sehr vielen „Praktikern“ geteilte – Einschätzung des Werkes ist Wilhelm Altmanns einschlägiger Artikel in seinem populären Handbuch für Klaviertriospieler (1934). Da kann man innerhalb weniger Zeilen (- ich zitiere nicht aus stilistischer Beckmesserei -) lesen:

„…auf jeden Fall… das am wenigsten starke der Dvorákschen Trios… recht klangschön… recht hübsch… recht anziehend… recht wirkungsvoll…“

Alles, was „recht“ ist: Aber vielleicht litt Dvorák doch nicht an getrübtem Urteilsvermögen, als er vor seiner Abreise nach Amerika für seine Abschiedstournee durch Böhmen und Mähren (mit Ferdinand Lachner und Hanus Wihan, Jänner – Mai 1892) auch dieses Trio wählte, obwohl es immerhin schon das für ein novitätenhungriges Publikum bedenkliche Alter von sechzehn Jahren hatte. Ich jedenfalls zöge es auch dann immer noch vor, mit Dvorák zu irren, als mit Clapham und Altmann „recht“ zu haben.

© by Claus-Christian Schuster

Dvořák: Trio Nr.1, B-Dur op.21 [B 51]

Antonín Dvořák

* 08. September 1841
† 01. Mai 1904

Trio Nr.1, B-Dur op.21 [B 51]

Komponiert:Prag, April-14. Mai? 1875, umgearbeitet 1877 und 1880
Uraufführung:Prag, 17. Februar 1877
Karel Slavkovsky (1846-1919), Klavier
Frantisek Ondricek (1857-1922), Violine
Alois Sladek, Violoncello
Erstausgabe:Schlesinger, Berlin, 1880

Im September 1873 hatte Dvorák die Partitur seiner zur Aufführung beim Prager Interimstheater eingereichten Oper „Král a uhlír“ („König und Köhler“, B 21) zurückerhalten: das Werk sei unspielbar.

Für Dvorák, der seit seinem Ausscheiden aus dem Orchester des Interimstheaters (1871) als freischaffender Komponist in sehr bescheidenen Verhältnissen lebt und gerade seine Hochzeit plant, muß diese Zurückweisung sehr schmerzlich gewesen sein: Denn, anders als für Schubert, dessen Opernprojekte zu nicht geringem Teil ein Zugeständnis an Konvention und Geschmack seiner Zeit waren, ist für Dvorák die Oper das zentrale Ziel seiner künstlerischen Ambitionen. Umso bezeichnender ist seine Reaktion auf diese empfindliche Niederlage: Nichts von gekränkter Eitelkeit, schmollendem Selbstmitleid oder weltverachtendem Stolz – dafür ein gesundes Maß an Selbstkritik, gepaart mit unbeirrbarer Konsequenz. Dvorák kommt zu dem Schluß, daß das Verdikt der Opernleitung nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. (Daß eben diese „unspielbare“ Erstfassung der Oper 1929 anläßlich des 25. Todestages des Komponisten doch noch uraufgeführt werden konnte, belegt ja nur, wie spielbar ein Werk ganz von selbst werden kann, wenn es nur einmal keinen unbekannten jungen, sondern einen hochberühmten verstorbenen Komponisten zum Vater hat.)

Und so macht er sich schon bald nach der Hochzeit mit seiner ehemaligen Schülerin Anna Cermáková (17. November 1873) an eine Neukomposition der verworfenen Oper.

In der Musikgeschichte hat es wohl selten einen produktiveren Mißerfolg als die Ablehnung des ersten Vertonungsversuches dieses (nicht eben genialen) Librettos gegeben. Der Vergleich der beiden Werke – es handelt sich wirklich um zwei völlig unabhängige Werke, nicht um verschiedene Fassungen – zeigt, daß Dvorák mit seinem zweiten „Král a uhlir“ (B 42), der schon am 24. November 1874 im Interimstheater uraufgeführt werden kann, eine entschiedene und folgenreiche Wende vollzogen hat. Dvoráks „verrückte Periode“ (so die Selbsteinschätzung des Komponisten gegenüber seinem ersten Biographen Josef Zubaty), in der Wagner und Liszt seine Leitsterne waren, ist damit unwiderruflich zu Ende, und der Weg zu Dvoráks eigenem Selbst frei.

Dieser befreiende Durchbruch war durchaus nicht mit einem Vatermord verbunden – Wagner und Liszt bleiben auch weiterhin Gegenstand von Dvoráks Bewunderung, und das Echo dieser Bewunderung bleibt noch lange in seinen Partituren vernehmbar. Doch von nun an fließen die Quellen seiner immer schon überreichen Schaffenskraft freier, klarer und kräftiger: Noch 1874 beendet er seine erste komische Oper („Tvrdé palice“, „Die Dickschädel“, B 46), und im März 1875 entsteht die erste Serie jener mährischen Duette („Moravské dvojzpevy“/ „Klänge aus Mähren“, B 50), die kurz darauf das Interesse von Johannes Brahms erwecken werden.

Schon im Schaffen der „verrückten Periode“ Dvoráks hatte die Kammermusik einen hervorragenden Platz eingenommen: Zwischen 1862 und 1873 vollendete er nicht weniger als sechs Streichquartette, und etwa gleichzeitig mit der Erstkomposition von „Král a uhlír“ entstanden 1870/71 die heute verschollenen ersten beiden Klaviertrios („op.13″, B 25-26) sowie im Sommer 1872 das erste Klavierquintett (op.5, B 28).

Aber auch auf diesem Gebiet ist erst mit der Neuorientierung von 1874 der Bann gebrochen: Im September schreibt Dvorák innerhalb weniger Tage das Streichquartett a-moll (op.16, B 45), das er als erstes im Druck erscheinen läßt; das neue Jahr wird mit der Komposition eines Streichquintetts mit Kontrabaß (G-Dur, op.77, B 49) begonnen, und im Frühling entstehen in wenigen Wochen unser Klaviertrio und das erste Klavierquartett (D-Dur, op.23, B 53), zwischen die sich, als eine Art erweiterter Kammermusik, die unverwüstliche Streicherserenade (E-Dur, op.22, B 52) – bis heute eines der populärsten Werke des Meisters – drängt.

Eine bis heute nicht endgültig beseitigte Unsicherheit betreffend die genaue Entstehungszeit unseres Klaviertrios hat eben mit dieser eruptiven Produktivität zu tun: Das Ende des letzten Satzes datiert Dvorák im Autograph mit dem 14. Mai 1875 – dem selben Tag also, an dem auch die Streicherserenade op.22 vollendet wurde; es könnte sich dabei um einen (bei Dvorák etliche Male begegnenden) Datierungsfehler handeln – das Trio wäre in seiner ersten Fassung dann vielleicht schon am 14. April 1875 beendet worden.

Dvoráks erstes erhaltenes Klaviertrio steht in der Konzertpraxis ganz im Schatten der Folgewerke – eine verständliche, aber angesichts der großen Qualitäten des Werkes bedauerliche Tatsache. Zwar ist es in Hinblick auf die Beherrschung der Form und die Dramaturgie des Gesamtablaufes noch einen wesentlichen Schritt von dem schon im darauffolgenden Jahr komponierten zweiten Klaviertrio (g-moll, op.26, B 56) entfernt, doch werden diese äußerlichen Mängel durch die entwaffnende Aufrichtigkeit einer unverwechselbaren Diktion wettgemacht, deren Zauber man sich schwer entziehen kann. Besondere Beachtung verdienen die motivischen Verflechtungen und Querbezüge, die praktisch das gesamte thematische Material als verschiedene Manifestationen einer einzigen Grundidee erscheinen lassen; trotzdem fällt es nicht leicht, hier von „motivischer Arbeit“ zu sprechen – wenn es denn wirklich „Arbeit“ gewesen sein sollte, hat Dvorák uns jedenfalls gar nichts davon merken lassen.

Das Allegro molto wird von einem pentatonischen Thema eröffnet, an das sich der Komponist achtzehn Jahre später im Ritornell des Finales seines „Amerikanischen Quartetts“ (F-Dur, op.96, B 179) noch einmal erinnern wird – ein Umstand, der jenen Kommentatoren zu schaffen machen sollte, die das gesamte thematische Material dieses letzteren Werkes aus indianischen Volksliedern und Negro Spirituals ableiten wollen. Die Anfangstöne des Themas werden bald zu einer jener für Dvorák so typischen rhythmischen Ostinato-Begleitfiguren umgedeutet, auf deren Wellen sich ein aller formalen Verpflichtungen enthobenes Nebenthema schaukeln darf. Und eben jene unscheinbare Begleitfloskel wird schon im nächsten Schritt zur Keimzelle des den Satz von hier an beherrschenden Seitenthemas. An diesem Thema, dessen Charakter fortwährend zwischen tänzerischer Anmut und stürmischer Leidenschaft changiert, kann sich Dvorák gar nicht genug tun, und der Zuhörer, der ihm das übel nähme, wäre diesen Einfall nicht wert. Natürlich ist es nicht kindische Selbstverliebtheit, die Dvorák das Seitenthema so breit ausführen läßt: Die Durchführung wird ganz dem Hauptthema in seiner ursprünglichen Gestalt gehören, und dazu bedarf es eines Gegengewichtes. Im Gewoge der überaus farbenreichen Durchführung meint man manchmal, eine der Rheintöchter erspähen zu können, doch bevor uns solche Trugbilder ins Uferlose locken können, hat uns Dvorák schon durch einen wahren Triumphbogen in die Reprise weitergeführt. Hier zeigt sich dann plötzlich auch das stille Nebenthema von modulatorischer Abenteuerlust erfaßt, und es scheint fast, als wolle sich der Komponist die Extravaganz einer zweiten Durchführung leisten. Da etabliert sich aber das Seitenthema wieder als beherrschende Kraft, um auch noch in der Coda das letzte Wort zu behalten: Dieses letzte Wort ist aber keine Behauptung und kein Siegesruf, sondern eine stille Frage, auf die „alle Ratsherrn in der Stadt und alle Weisen der Welt“ stumm bleiben müssen – Dvorák wird aber mit dem zweiten Satz eine ganz unerwartete Antwort zu geben wissen.

Dieses Adagio molto e mesto (g-moll) ist nicht nur das Herzstück des ganzen Trios, sondern auch eine der berührendsten Eingebungen in Dvoráks Kammermusik. Die innige Klage des ersten Themas, die von weinerlicher Sentimentalität und tragischem Pathos gleich weit entfernt ist, strandet zweimal unerlöst an der Dominante, bis die Geige ihr den befreienden Ausweg weist. Es sind Momente wie dieser, an denen man erfahren kann, daß das Klaviertrio keine beliebige, nur durch Herkommen und Konvention legitimierte Instrumentenkombination ist, sondern daß seine Klangrealität einem schon a priori bestehenden Ausdrucksbedürfnis entspricht, das sich nur in dieser konkreten Gestalt manifestieren konnte. (Der hier wirksame Archetypus ist uns allen aus Märchen und Mythen von Kindheit an wohlvertraut.) Der endlich gefundene Ausweg führt uns über B-Dur nach Des-Dur/cis-moll und schließlich in das im Kontext des Satzes ebenso wie in dem des ganzen Werkes „irrationale“ A-Dur – die Tonart des zweiten Themas, dessen hoffendes Sehnen ja auch wirklich alle abwägende Vernunft hinter und unter sich läßt. Auch die andeutungsweise und fragmentarische Wiederkehr des Klagethemas (in fis-moll) kann die Macht dieses neuen Gedankens nicht brechen, der übrigens auf geheimnisvolle Weise mit dem Seitenthema des ersten Satzes verwandt und außerdem auf ähnliche Weise wie jenes aus dem vorangegangenen Thema abgeleitet ist. Auf dem Höhepunkt dieses sehnsüchtigen Drängens erscheint unvermittelt wieder das Nänienthema – und wieder ist der Geige das alles verwandelnde Wort anvertraut. Den Epilog des Satzes bildet die resignativ verdüsterte Vergrößerung dieses Themas, dessen Trauer (- Dvorák bedient sich hier des sehr starken Ausdrucksmittels der tiefalterierten zweiten Stufe -) auch durch die letzten Durakkorde nicht mehr aufgehellt werden kann.

Wie man unschwer erkennen kann, ist der Hauptteil des folgenden Allegretto scherzando (Es-Dur) auf kapriziöse Weise aus dem Klagethema des zweiten Satzes abgeleitet, und überhaupt scheint das ganze Stück keine wichtigere Aufgabe zu kennen, als die Schatten des vorangegangenen Satzes behutsam, aber entschlossen zu verjagen. Die zunächst nur vorsichtig tastenden und dann immer stürmischeren Modulationsschritte, die schließlich auch das letzte G-moll-Wölkchen vom Himmel gefegt haben, gehen Hand in Hand mit einer sehr freien Agogik, deren Verlauf Dvorák im Vertrauen auf seine Interpreten nur andeutet. Das Trio (in der Submediante H-Dur) verzichtet als einziger Teil des Werkes auf prägnante thematische Formulierungen – die in Klavier und Cello parallel falllende Melodielinie gewinnt eigentlich erst als Kontrapunkt des phantasievollen „Überschlags“ der Geige Bedeutung.

Dem Finale des Werkes (Allegro vivace) verdanken wir nicht nur eine ganze Reihe hübscher Einfälle, sondern darüber hinaus noch die Erkenntnis, daß es mitunter auch für Dvorák so etwas wie „das Kreuz mit dem letzten Satz“ gegeben haben muß. Nicht, daß der Satz an Ideenarmut litte – diese Sorge scheint Dvorák wirklich nie gekannt zu haben. Aber es ist nicht zu leugnen, daß die Stringenz der Dramaturgie, die die ersten drei Sätze des Werkes zu einer untrennbaren Einheit zusammenschmiedet, hier sehr viel schwächer wirkt. Dabei war der Komponist ganz offensichtlich um die Herstellung von Zusammenhängen bemüht: Schon die Tonarten des Incipits (c-moll – g-moll) beziehen sich unüberhörbar auf den Beginn des vorigen Satzes, und im Mittelteil des als freies Sonatenrondo konzipierten Finales kehrt das erste Thema des Adagios als Zitat wieder. Dvorák operiert in diesem Satz mit drei voneinander unabhängigen Ideen: Die erste hat den Charakter einer Introduktion und wird von ebenmäßigen Figurationen bestimmt, deren heimatloses Umherirren dem ganzen Abschnitt einen zögernd suchenden Unterton gibt ; das forsche zweite Thema – das als Hauptthema wirkt – scheint aus dem Sechsachteltakt mit aller Gewalt einen Marsch machen zu wollen, ein Bemühen, dem sich der dritte Gedanke – psychologisch das Seitenthema – mit tänzerischem Nachdruck entgegenstellt. Dieses letzte Thema wird als erstes gründlich durchgeführt – und in diese Durchführung schleicht sich dann auch das Nänienthema des zweiten Satzes ein. Der daran anschließenden Reprise der ersten beiden Gedanken folgt dann die Verarbeitung des Einleitungsthemas, bevor mit der Wiederaufnahme des dritten Themas die Reprise zu Ende geführt werden kann. In der Coda triumphiert dann das -unverarbeitet gebliebene – Marschthema, das jetzt seine Ambitionen ungehemmt ausleben darf, wozu Dvorák ihm als Spielfeld sogar einige Takte veritabler Polyrhythmik einräumt (Sechsachtel- versus Zweivierteltakt).

© by Claus-Christian Schuster

Debussy: Trio g-moll L.3

Claude Debussy

* 22. August 1862
† 25. März 1918

Trio g-moll L.3

Komponiert:Fiesole, Oktober 1880
Widmung:Emile Durand
Uraufführung:Fiesole, Villa Oppenheim, Oktober 1880 (privat)
Claude Debussy, Klavier
Vladislav Pachulskij, Violine
Pëtr Daniltschenko, Violoncello
Erstausgabe:Henle, München, 1986

Wer immer ein unreifes Jugendwerk eines großen Komponisten nach Jahrzehnten der vom Autor selbst gewünschten Vergessenheit ans Tageslicht zerrt, darf sich nicht nur des Beifalls novitätenhungriger Gourmets sicher sein (deren Hunger nach Neuem sich aber nur in den seltensten Fällen auf die zeitgenössische Musik erstreckt), sondern er muß sich auch gegen den nicht leicht zu entkräftenden Vorwurf der Pietätlosigkeit wehren. Selten aber ist beides, Neugier und Skepsis, gleichermaßen so plausibel wie im Falle des 1986 veröffentlichten Klaviertrios des achtzehnjährigen Debussy.

Die Neugier beruht zunächst auf dem Umstand, daß es sich hier um die früheste erhaltene Instrumentalkomposition Debussys handelt, wird aber sicher noch geschürt durch die verwickelte und abenteuerliche Geschichte der Wiederauffindung des Autographs; einige Jahre hindurch war nur der 1. Satz des Werkes zugänglich, bis dann völlig unerwartet eine zweite Quelle erschlossen werden konnte, die die Wiederherstellung des gesamten Textes ermöglichte. Das Wiener Schubert Trio brachte gleichzeitig mit dem Erscheinen der Erstausgabe die erste Einspielung des ganzen Trios heraus. Der Vorwurf der Leichenschändung hinwiederum, begangen am Komponisten des „Pélléas“, kann angesichts eines Werkes, das trotz aller musikologisch belegbaren Querverbindungen zu Schumann und César Franck dennoch die meisten Anleihen bei Massenet (und manchmal wohl auch noch eine Etage tiefer) macht, nicht ausbleiben.

Gerade diese offen zutage liegenden Mängel des Werkes aber scheinen eine Beschäftigung oder zumindest eine Bekanntschaft mit ihm zu rechtfertigen. Denn für das tiefere Verständnis der Eigenheiten der Sprache Debussys kann es nun einmal nicht einerlei sein, „auf welchem Mist“ sie gewachsen ist, und aus welchen heterogenen Elementen sie allmählich zu sich selbst gefunden hat. Bei Debussy, der seine ersten vollgültigen Werke in einem Alter schrieb, das etwa Schubert gar nicht mehr erlebte, ist dieser Entwicklungsgang äußerst langdauernd und alles andere als geradlinig. Unter diesem Aspekt ist das wiederaufgefundene Klaviertrio Debussys als verblüffende Markierung des Ausgangspunktes eines einzigartigen Werdeganges sicher von Interesse und hörenswert.

Debussy war am Ende des Studienjahres 1879/80 in den Augen seiner Eltern und Lehrer kaum mehr als ein Versager, ein „verpatztes Wunderkind“, das sich für die angestrebte Laufbahn als Klaviervirtuose eben als ungeeignet erwiesen hatte. Umso erstaunlicher, daß gerade Debussys Klavierlehrer Marmontel, der aus seiner Sicht allen Grund hatte, mit seinem Schüler äußerst unzufrieden zu sein, ihm eine überaus verlockende Einladung zukommen ließ: die russische Millionärin Nadeschda Filaretovna von Meck, die Mäzenin Tschaikovskijs, suchte für ihre alljährliche Europatour einen „Hauspianisten“ und Klavierlehrer für ihre Kinder. Debsussys erste „Saison“ bei der Familie Meck dauerte vom 8. Juli bis zum 14. November 1880. Zunächst reist er der Familie nach Interlaken entgegen. Von dort fährt man nach kurzem Aufenthalt über Paris an die französische Atlantikküste, nach Arcachon, wo man für die Badesaison bleibt. Frau von Meck, die in diesem Sommer mit fünf von ihren elf Kindern unterwegs ist, wird nicht nur von einer beachtlichen Anzahl Bediensteter begleitet; neben Debussy gehören auch der Geiger Vladislav Pachulskij und der Cellist Pëtr Daniltschenko zum Meckschen Hofstaat; dieses „Von-Meck-Trio“ muß zur Erbauung der Familie in nächtelangen Séancen die gesamte verfügbare Klaviertrioliteratur, meist prima vista, zum besten geben. Daneben steht Debussy Frau von Meck als Partner für das Vierhändigspiel zur Verfügung – seine Fertigkeit im Blattlesen, etwa der IV. Symphonie von Tschaikovskij, wird allseits bewundert. Anfang Oktober trifft der Troß in Florenz ein und nimmt kurz darauf in der Villa Oppenheim in Fiesole Quartier. Auch hier werden, neben dem täglichen Klavierunterricht für die Kinder, die Trioabende fortgesetzt. Und so ist es gleichermaßen verständlich und verzeihlich, daß Debussy der Versuchung erliegt, sich in diesem Genre auch als Komponist zu versuchen. Frau von Meck ist von den Triounterhaltungen so entzückt, daß sie bei Tschaikovskij brieflich anfragt, ob er nicht auch so ein Stück schreiben wolle. Mit der ablehnenden Antwort Tschaikovskijs und ihrer nachfolgenden Revision werden wir im letzten Abend unseres Zyklus zu tun haben. Debussy jedenfalls scheint sich in Fiesole wohl gefühlt zu haben, denn am Tag nach seiner Abreise schreibt Frau von Meck an Tschaikovskij:

„Mein kleiner Franzose ist abgereist. Denken Sie nur, Pëtr Iljitsch, der Junge hat geweint, als er uns verließ. Das hat mich tief gerührt; er hat ein so liebevolles Herz. Er hätte uns überhaupt nicht verlassen sollen, aber der Direktor des Konservatoriums war schon sehr ärgerlich, weil er seine Rückkehr um vierzehn Tage verschoben hatte…“

(15.11.1880)

Was das „liebevolle Herz“ Debussys anlangt, sollte Frau von Meck recht behalten: ihre Tochter Sonja, die 1880 gerade 13 Jahre alt gworden war, wurde für den „kleinen Franzosen“ im Laufe der folgenden zwei Sommer, die er mit den Mecks auf Reisen verbrachte (1881 Moskau, Rom, Venedig; 1882 Moskau, Wien) immer anziehender, sodaß er sich 1882 in Wien – man hatte kurz zuvor an der Staatsoper den „Tristan“ unter Hans Richter gehört – dazu verstieg, um Sonjas Hand anzuhalten. Dieser Fauxpas beendete Debussys Gastspiel im Hause Meck.

Ob schon in diesem ersten Sommer etwas von diesen Leiden angeklungen sein mag? Wenn man das flüchtige „Tristan“-Zitat im letzten Satz des Trios hört, ist man fast versucht, daran zu glauben…

Das Manuskript seines Klaviertrios nahm Debussy bei seiner Rückreise nach Paris mit, um es dort – Wunder über Wunder – ausgerechnet seinem verhaßten Harmonielehrer Emile Durand zu verehren:

„Beaucoup de notes accompagnées de beaucoup d’amitié, offert par l’auteur à Son professeur Monsieur Emile Durand“

lautete die blumige Widmung. Angesichts dieser Zeilen darf man sich fragen, ob – neben manchem zweifellos aufrichtig Unbeholfenen – nicht auch einige bewußte (Selbst-)Ironie in dieses erste „große“ Werk des beginnenden Komponisten eingeflossen ist.

Schon die Tempobezeichnungen könnten einem Dogmatiker einiges Kopfzerbrechen verursachen: „Andantino con moto allegro“ (G-Dur) ist der Beginn des ersten Satzes überschrieben; aber das anschließende Allegro appassionato für das zweite Thema rückt die Dinge ganz von selbst ins rechte (Beziehungs-)Lot. Ein drittes, lyrisches Thema schließt sich an – und wenn erst das ganze Material ausgebreitet ist, pflichtet man gerne dem Komponisten bei, der meint, daß man bei einer solchen Fülle von Themen billigerweise die Durchführung unter den Tisch fallen lassen kann. Die Reprise bringt die drei Themen in neuen Tonarten, um den Satz mit einer nochmaligen Reexposition des ersten Themas anstelle einer Coda zu beschließen.

Der zweite Satz trägt die noch kryptischere Überschrift: „Scherzo. Intermezzo. Moderato con allegro“ (h-moll). Debussy scheint also in Fiesole mit seinen russischen Kollegen französisch gesprochen zu haben, wodurch auch sein Italienisch einen unverkennbar russischen Anstrich erhielt. Aber jenseits dieser sprachlichen Fährnisse ist dieser Satz in seiner schlichten dreiteiligen Form ein sehr hübsches Stück Musik (und ganz offensichtlich ein Pendant zu dem gleichzeitig entstandenen Klavierstück „Danse bohémienne“).

Das folgende Andante espressivo (G-Dur) gibt sich keine Mühe, nobler auszusehen als es ist – es ist ein herrlich sentimentales Salonstück, dem man gerade wegen dieses Mangels an Raffinement einiges verzeiht, was in den Händen eines Routiniers wohl unverzeihlich wäre.

Im Finale. Appassionato (g-moll) klaffen Absicht und Ausführung wohl am weitesten auseinander; die Instrumentation wird der offenbar angestrebten „schumannschen“ Dramatik nur sehr unvollkommen gerecht; die Rondoform ist zwar durchaus geschickt gehandhabt, krankt aber daran, daß der sprachliche Duktus der einzelnen Episoden sich nicht mit dem des Ritornells verträgt – es ist ein wenig so, als ob Hochsprache und Dialekt, Sakrales und Vulgäres willkürlich vermischt würden.

Es ist erstaunlich, daß das Werk trotz all dieser unleugbaren Schwächen in seiner Gesamtheit durchaus den Eindruck eines starken und persönlichen Talents entstehen läßt. Seine wirklichen Stärken liegen in einer Vielzahl von originellen Details, die zwar kaum je ein formales Gefüge oder auch nur die Physiognomie eines ganzen Themas retten können, sich in ihrer Summe aber dennoch durchsetzen: eine originelle harmonische Nuance, eine elegante Melodiewendung, ein geglückter Übergang, eine gut plazierte Gegenstimme, eine sympathische Geste. Nicht viel, gemessen an dem Überreichtum und der makellosen Meisterschaft der Trios von Ravel und Fauré – doch wohl mehr als genug für einen ersten mutigen Gehversuch.

© by Claus-Christian Schuster

Czerny: Premier Grand Trio pour Piano, Violon et Violoncelle ou Cor… (Trio Nr. 1, Es-Dur) Oeuvre 105.me

Carl Czerny

* 21. Februar 1791
† 15. Juli 1857

Premier Grand Trio pour Piano, Violon et Violoncelle ou Cor… (Trio Nr. 1, Es-Dur) Oeuvre 105.me

Komponiert:Wien, vor 1827
Uraufführung:nicht dokumentiert
Erstausgabe:Berlin: Schlesinger, 1827

komponiert: Wien, vor 1827
Uraufführung: nicht dokumentiert
Erstausgabe: Schlesinger, Berlin, 1827


Das erste von vier „großen“ und zwei „kleinen“ Klaviertrios in Czernys endlosem Werkkatalog wurde im Schicksalsjahr 1827 – dem Todesjahr von Czernys Mutter und Beethovens – vom Berliner Verleger Adolph Martin Schlesinger, der wenige Jahre zuvor auch Beethovens letzte drei Klaviersonaten veröffentlicht hatte, mit einem gerüttelt Maß an Lieb- und Sorglosigkeit zum Druck befördert: Es wird schwer sein, einen so gründlich von Druck- und Lesefehlern entstellten Text zu finden, und die genaue Reproduktion des abgedruckten Textes wäre ganz gut geeignet gewesen, die Zuhörer auf die abstrusesten Kakophonien damals noch in weiter Ferne liegender Zeiten vorzubereiten. Da das im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde aufbewahrte Exemplar dieser bis in die allerjüngste Vergangenheit einzigen Ausgabe des Werkes keinerlei korrigierende Anmerkungen enthält, darf man getrost annehmen, daß aus ihm niemals ernsthaft gespielt wurde – ein Schicksal, das bis in die jüngste Vergangenheit die allermeisten Drucke der Kammermusikwerke Czernys teilen.

Nicht ganz gewöhnlich – und stilgeschichtlich bezeichnend – ist die Tatsache, daß der Autor als alternative Besetzungsmöglichkeit genau jene Instrumentalkombination angibt, die Johannes Brahms einige Jahrzehnte später für sein Trio op. 40 wählen wird, mit dem Czernys Trioerstling auch die Tonart (sonst aber kaum etwas) gemeinsam hat. Jedenfalls unterstreicht dieser Umstand die ideelle Zugehörigkeit des Werkes zur Welt der Romantik, der ja das Waldhorn geradezu emblematisches Instrument war. (Der Hornklang begleitet etwa den Leser Eichendorffscher Prosa fast ständig.)

Der sehr breit angelegte erste Satz des Trios (Allegro) füllt das sogenannte „klassische Sonatensatzschema“ mit liedhaft erfundenen Themen und überreichen Figurationen aus. Eine ausgeprägte Vorliebe für Trugschlüsse und (sub)mediantische Ausweichungen gibt vor allem der modulatorisch weitschweifigen Durchführung ein durchaus romantisches Gepräge.

Daran, daß Czerny fast auf den Tag genau ein Jahr älter als Rossini war, wird man Mittelsatz des Werkes, einem ganz im Belcanto-Stil ersonnenen Adagio (As-Dur), erinnert. Fiorituren und Cadenzen, cantable Verzierungen und melodisches Rankenwerk bereichern und schmücken den breiten Fluß des schlichten Arienthemas, das übrigens mit dem Hauptthema des Kopfsatzes die auffällige Bevorzugung ansteigender Sext-, Oktav- und Dezimintervalle gemeinsam hat.

Ganz launig und biedermeierlich verspielt gibt sich hingegen das vielgliedrige Finale (Rondo. Allegro scherzando), das deutliche Parallelen zu den analogen Sätzen der etwa gleichzeitig entstandenen Trios von Czernys Kollegen Joseph Mayseder (1789-1863) erkennen läßt. Der Satz kann als ein überaus typisches Beispiel jenes Lebens- und Musizierstils gelten, der in Beethovens Todesjahr in Wien geherrscht haben mag. Die freiere Form des Rondos und die hier gebotene Möglichkeit, eine Vielzahl von Motivsträngen miteinander zu verweben, kamen Czerny entgegen: Denn wie sein großes Vorbild Beethoven pflegte er jeden auch noch so unscheinbaren musikalischen Einfall in ständig mitgeführte Notizbücher einzutragen; in seinen nachgelassenen Skizzenbüchern fanden sich rund 10.000 Themen. Auch in diesem Finalsatz ist spürbar, daß es Czerny an manchem mangelte, was er an Beethoven bewundert haben mag, ganz sicher aber nicht an brauchbaren und eingängigen musikalischen Einfällen – und das ist doch mehr, als man von vielen weit höher geschätzten Komponisten der Vergangenheit und Gegenwart behaupten kann.

© by Claus-Christian Schuster