Zemlinsky: Trio d-moll op.3 [pf/cl/vlc]

Alexander Zemlinsky

* 14. Oktober 1871
† 15. März 1942

Trio d-moll op.3 [pf/cl/vlc]

Komponiert:Wien, 1896
Widmung:Johann Nepomuk Fuchs
Uraufführung:Wien, Festsaal des Wiener kaufmännischen Vereins
(I., Johannesgasse 4),11. Dezember 1896
Hugo Reinhold (1854-1935), Klavier
Fr. Blümel, Klarinette (1878-?), Klarinette
Friedrich Buxbaum (1869-1948), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1897

Prosaisches Vorspiel: Brahms als Juror

Zemlinskys Jugendjahre fallen mit dem Höhepunkt des für die Intrigenseligkeit des Wiener Kulturlebens so bezeichnenden Streites zwischen „Wagnerianern“ und „Brahmsianern“ zusammen. Wie tief und nachhaltig der durch diese mit den abstrusesten Mitteln geführte Auseinandersetzung war, kann man bei der Lektüre von Karl Kraus´ „Der Fall Kalbeck“ (Die Fackel Nr.158, 30. März 1904) erahnen. Obgleich Zemlinsky durch Herkunft und Ausbildung zum Anhänger der Brahms-Partei bestimmt war und auch an den Aktivitäten des „Wiener Tonkünstlervereins“, der in diesem ebenso erbitterten wie eigentlich sinnlosen Kampf das Bollwerk der Wagner-Gegner darstellte, regen Anteil nahm, so hatte er sich doch einen genügend unabhängigen und freien Blick auf die Dinge bewahrt und war alles andere als ein blinder Fanatiker. Arnold Schönberg, der mit Zemlinsky 1895 im Dilettantenorchester „Polyhymnia“ zusammentraf, berichtet:

„Als ich Zemlinsky kennenlernte, war ich ausschließlich Brahmsianer. Er aber liebte Brahms und Wagner gleichermaßen, wodurch ich bald darauf ebenfalls ein glühender Anhänger beider wurde…“
(Arnold Schönberg: My evolution)

Daß der Brahms-Biograph Max Kalbeck Zemlinsky totschweigt, kann man auch als Strafe für diese undogmatische Haltung betrachten.

Auch die „Polyhymnia“, deren Proben allwöchentlich im Augustinerbräukeller „Zur Tabakspfeife“ (Am Graben 29) stattfanden, war für die Animosität und Radikalität, mit der in diesen Jahren musikästhetische Fragen diskutiert wurden, anfällig: Bald nachdem Schönberg zu der Gruppe gestoßen war, bildete sich eine heftige Opposition gegen ihn, und nur dem energischen Eingreifen Zemlinskys war es zu danken, daß sich die Wogen glätteten – Schönberg sollte von der „Polyhymnia“ wenig später für sein Schilflied (nach Nikolaus Lenau) sogar den ersten Kompositionspreis seiner jungen Laufbahn erhalten.

Etwa zur gleichen Zeit, als Zemlinsky seinen zukünftigen Schwager Schönberg kennenlernte, kam es auch zu einer ersten „offiziellen“ Begegnung mit Brahms. Daß dieses Zusammentreffen im Musikverein stattfand, ist alles andere als ein Zufall – schon immer kreuzten sich die Wege der österreichischen Musikgeschichte an dieser Stelle. Am 18. März 1895 veranstaltete das damals noch im Musikvereinsgebäude untergebrachte Konservatorium im Großen Musikvereinssaal ein Festkonzert zur Erinnerung an die Eröffnung des neuen Hauses vor fünfundzwanzig Jahren. Brahms dirigierte dabei seine Akademische Festouverture op.80 – es sollte sein letzter Wiener Auftritt als Dirigent sein. Dem dreiundzwanzigjährigen Zemlinsky fiel bei diesem Konzert die ehrenvolle Aufgabe zu, die Uraufführung seiner Orchestersuite zu dirigieren. Diese Auszeichnung war nicht willkürlich: Zemlinsky hatte, nachdem er schon 1890 die Klasse des Brahms-Intimus Anton Door als bester Pianist des Jahrganges absolviert hatte, im Sommer 1892 auch sein Kompositionsstudium bei Hofkapellmeister Johann Nepomuk Fuchs mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossen und konnte spätestens seit der Uraufführung seiner d-moll-Symphonie (10. Februar 1893) als die herausragende Erscheinung unter den jungen Konservatoriumsabsolventen gelten. Der glänzende Festakt bot aber nicht das richtige Ambiente, zu einer wirklichen Begegnung. Dazu kam es erst im folgenden Jahr. Am 5. März 1896

„wurden ein Streichquintett und eine Violin-Klaviersuite vom Quartett Hellmesberger aufgeführt. Bei dieser Gelegenheit wurde ich Brahms vorgestellt, und von dieser Zeit an war ich in näherem Verkehr mit ihm…“
(Brief an Emil Hertzka, November 1910)

Richard Heuberger berichtet in seinen Erinnerungen an Johannes Brahms, daß Brahms Zemlinskys Quintett gut gefallen habe: „Er äußerte sich ein ums andere Mal: »Sieht überall Talent heraus.« Als ich meinte, es sei vieles Anderes auch sehr hübsch gemacht, sagte er halb traurig und halb grantig: »Ach Gott, wer kann denn heute etwas Ordentliches schreiben?!«…“

Der nähere Verkehr bestand unter anderem, wie sich Zemlinsky 1922 erinnerte, in einer Besprechung von Zemlinskys Streichquintett, zu der Brahms den jungen Komponisten „mit der kurz und etwas ironisch hingeworfenen Bemerkung: »Natürlich, falls es Sie interessiert, mit mir darüber zu sprechen!«“ einlud.

„Mit Brahms zu reden war keine so einfache Sache. Frage und Antwort war kurz, schroff, scheinbar kalt und oft sehr ironisch. Am Klavier nahm er mit mir mein Quintett durch. Anfangs schonungsvoll, korrigierend, die eine oder andere Stelle sorgfältiger betrachtend, niemals eigentlich lobend oder nur aufmunternd, schließlich immer heftiger werdend. Und als ich eine Stelle der Durchführung, die mir in Brahmsischem Sinne als ziemlich gelungen erschien, schüchtern zu verteidigen suchte, schlug er das Mozartsche Streichquintett auf, erklärte mir die Vollendung dieser »noch nicht übertroffenen Formengestaltung«, und es klang ganz sachlich und selbstverständlich, als er dazu sagte: »So macht man´s von Bach bis zu mir!«…“

Im März 1896, als diese Szene sich höchstwahrscheinlich zutrug, muß Zemlinsky mitten in der Arbeit an einer neuen Komposition gewesen sein, die wie das Streichquintett in d-moll stand, und die der junge Komponist dem großen Meister nicht persönlich, sondern anonym zur Beurteilung übergeben wollte: Zemlinsky schrieb an einem Klarinettentrio, mit dem er am Wettbewerb des Tonkünstlervereines teilnehmen wollte.

Wenn Industrie und Handwerk, Handel und Gewerbe sich auf Weltausstellungen, Mustermessen und Leistungsschauen präsentierten, so durfte auch die Kunst nicht beiseite stehen: Preisausschreiben und Wettbewerbe aller Art hatten Hochkonjunktur. Brahms, der gleich im Gründungsjahr 1885 Mitglied des Wiener Tonkünstlervereins geworden war, wurde schon 1886 bei der Ausrichtung des ersten Kompositionswettbewerbs in Anspruch genommen. (Noch im selben Jahr wurde er dann auf Antrag Theodor Leschetitzkys zum Ehrenpräsidenten auf Lebenszeit ernannt.) Die Wettbewerbe des Tonkünstlervereins wurden schon bald zu einer vertrauten Einrichtung des Wiener Musiklebens. Und wenn wir auch versucht sind, mit der allwissenden Arroganz der Nachgeborenen darüber zu lächeln, daß die Preisträger nicht Hugo Wolf, Gustav Mahler und Arnold Schönberg, sondern Julius Zellner, Hans Kössler und Walter Rabl hießen, so kann doch nicht geleugnet werden, daß von diesen Veranstaltungen recht wertvolle Impulse für die jüngere Komponistengeneration ausgingen.

Der Zielsetzung des Vereins entsprechend wurden vor allem jene Genres gefördert, die den Bestrebungen der „Neudeutschen“ und der „Wagnerianer“ ferne lagen oder geradewegs zuwiderliefen (Kammermusik, A-capella-Komposition etc.).

Auch 1896 trug die Aufgabenstellung des Wettbewerbs deutlich „ideologische“ Züge: Diesmal ging es um die Komposition eines Kammermusikwerkes mit einem Blasinstrument – eine Werkkategorie, zu der Brahms selbst gerade erst mit seinen Opera 114 (Klarinettentrio, 1891), 115 (Klarinettenquintett, 1891) und 120 (zwei Klarinettensonaten, 1894) Meisterwerke beigesteuert hatte. Im Jänner 1896 erschien also folgende Ausschreibung:

„Der Wiener Tonkünstlerverein schreibt zur Förderung der Kammermusik-Literatur für Blasinstrumente zwei Preise aus für die besten Kammermusikstücke, bei denen mindestens ein Blasinstrument verwendet wird. Die Zusammenstellung der übrigen Instrumente bleibt den Componisten überlassen.
Die Preise betragen 300 und 200 Kronen.
Zur Einsendung concurrirender Arbeiten sind berechtigt:
1. alle in Österreich-Ungarn lebenden Componisten
2. alle österreichisch-ungarischen Staatsangehörigen ohne Rücksicht auf ihren Wohnort…“

In den Tagen nach dieser Veröffentlichung trug sich auch ein Schüler Zemlinskys mit Plänen für ein Klarinettentrio, das er allerdings nach 16 Takten liegenließ – das von Arnold Schönberg am 9. Februar 1896 zu Papier gebrachte Fragment folgt ganz offensichtlich den Spuren seines Lehrers.

Wenn das erklärte Wettbewerbsziel der „Produktionsförderung“ schon vollkommen dem unternehmerischen Geist einer zukunftsgläubigen Industriegesellschaft entspricht, für die eben auch die Kunst ein umsichtig zu entwickelnder Produktionszweig ist, so findet man in der Abwicklung des Wettbewerbes selbst ein getreues Miniaturbild der damaligen politischen Realität: Ganz wie in der konstitutionellen Monarchie erscheinen auch hier „autoritäre“ und „demokratische“ Züge in engster Nachbarschaft. Die anonym eingesendeten Werke, die durch ein frei gewähltes Motto gekennzeichnet waren, sollten von einem Comité gesichtet und beurteilt werden; über die einer Aufführung für würdig befundenen Werke durften dann alle ordentlichen Vereinsmitglieder abstimmen.

In der Zusammensetzung der Jury dokumentiert sich die enge Bindung des Tonkünstlervereins an die Gesellschaft der Musikfreunde, in deren Gebäude ja auch die Vereinsabende stattfanden. Neben Johannes Brahms gehörten Eusebius Mandyczewski und Richard von Perger diesem Gremium an. Richard von Perger (1854-1911) war erst 1895 aus Rotterdam in seine Heimatstadt zurückgekehrt, um hier die Direktion des Musikvereins zu übernehmen; sein erstes Saisonprogramm hatte er sogleich seinem mittelbaren Amtsvorgänger Brahms (artistischer Direktor 1872-1875) zur Korrektur vorgelegt. Auch Eusebius Mandyczewski (1857-1929), der seit 1879 zum allerengsten Brahmskreis gehörte, war Amtsnachfolger des Meisters: Er war 1881 zum Leiter der Wiener Singakademie ernannt worden, der ja auch Brahms in seiner ersten Wiener Zeit (1863/64) vorgestanden hatte. Seit 1887 leitete Mandyczewski das Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde.

Nach Ablauf der Einsendefrist am 31. Juli 1896 lagen dem Comité achtzehn Kompositionen vor. Die Entscheidung der Jury trägt ganz unverkennbar die Handschrift des alternden Meisters: Nicht weniger als zwölf der eingesandten Werke wurden zur Aufführung empfohlen, und „dieses verhältnismäßig günstige Ergebnis bewog einen ungenannt sein wollenden Gönner des Vereins – zur Spende von 400 Kronen, wodurch der Verein in den Stand gesetzt wurde, die Preise zu 400, 300 und 200 Kronen für diesmal festzusetzen.“ Keinem Kenner der Brahms-Biographie dürfte es schwerfallen, das Incognito dieses Mäzens zu lüften. (Für Steuerfahnder, Skeptiker und andere kritische Geister: Ein Londoner Verehrer hatte kurz zuvor Brahms eine größere Summe vermacht, und Brahms konnte seinem Verleger Fritz Simrock daher am 3. Dezember 1896 schreiben: „Falls in Berlin Geld für mich liegt, kann es in den Reichskeller kommen, die englische Erbschaft reicht noch – trotzdem ich die Preisarbeiten königlich protegiere.“)

Wenn man aber weiß, wie kritisch Brahms auch (und vor allem) gegenüber seinen eigenen Werken war, und wie selten er sich zu wirklichem Lob oder ehrlicher Anerkennung hinreißen ließ, dann wird man in dem „verhältnismäßig günstigen Ergebnis“ des Wettbewerbs weniger zukunftsgläubigen Enthusiasmus, sondern vielmehr resignative Milde widerspiegelt sehen. Brahmsens Unbehagen an der Situation des Wettbewerbes drückte sich diesmal nicht in bärbeißiger Grobheit, sondern in großväterlicher Nachsicht aus. Das beweist auch seine Antwort an Fritz Simrock, der sich anläßlich eines Kurzbesuches in Wien für die Wettbewerbsstücke sehr interessiert hatte:

„…Die Konkurrenzarbeiten sind Eigentum der Komponisten; ich werde schon in Deinem Interesse Deiner nicht vergessen, Du brauchst Dich um gar nichts zu bekümmern. Ich muß mich nur hüten, weil ich zu geneigt bin, passable Werke zu überschätzen (im ersten Augenblick) – man sehnt sich gar so sehr nach etwas Erfreulichem!“
(Brief vom 30. Oktober 1896)

Ist es zu spekulativ, hier die Sehnsucht nach einem ähnlichen Erlebnis mitschwingen zu hören, wie es Brahms selbst 1853 Schumann in Düsseldorf bereitet hatte?

Die Nachsicht des Meisters bescherte den Vereinsmitgliedern immerhin eine ganze Reihe interessanter Konzerte: an fünf Abenden wurden die von der Jury ausgewählten Werke aufgeführt. Da die sonst benutzten Räume im Musikvereinsgebäude gerade neu adaptiert werden mußten, wich man in den Festsaal des Wiener kaufmännischen Vereins aus (Johannesgasse 4, heute Ballettabteilung des Konservatoriums der Stadt Wien) – diese erzwungene Symbiose von Kaufmannschaft und Künstlertum muß den Hanseaten Brahms heimatlich angemutet haben.

Gleich am ersten dieser Abende (20. November 1896) konnten die Zuhörer Zemlinsky als Pianisten erleben – er wirkte an der Aufführung einer unter dem Motto „Per aspera ad astra“ eingereichten Hornsonate mit. Einen Tag später konnte er übrigens abseits des Wettbewerbs einen kleinen Triumph feiern: die junge Pianistin Hedwig Ulmann hatte auf das Programm ihres Konzertes im Bösendorfersaal zwei der Ländlichen Tänze op.1 „des jungen begabten Wiener Componisten“ gesetzt, „von denen eines stürmisch zur Wiederholung begehrt wurde.“ (Neue musikalische Presse, 13. Dezember 1896).

Drei Wochen später, im vierten Konzert der Reihe (11. Dezember 1896), stand dann Zemlinskys Opus 3 auf dem Programm, das er unter dem Motto „Beethoven“ eingereicht hatte. (Dieses lakonische Motto, dem nur böswillige Deutung einen megalomanen Nebensinn hätte geben können, stand jedenfalls in wohltuendem Gegensatz zu den poetischen Ergüssen einiger Mitkonkurrenten. Zwischen den Mottos zweier der ausgeschiedenen Kompositionen ergab sich etwa folgender ideologischer Disput: Bläseroktett, Motto: „Von des Lebens Gütern allen bleibt der Ruhm das höchste doch!“ – Andante für Klarinette und Streichquartett, Motto: „Nicht Ehr und Ruhm will ich erringen / Ein einfach herzlich Lied nur singen!“)

Der letzte Abend (22. Dezember 1896) wurde mit dem Septett Z mého zivota (Aus meinem Leben) von Josef Miroslaw Weber (Prag 1854–1906 München) beendet. Ein unvoreingenommener Betrachter wäre versucht, an eine vorausgeplante Dramaturgie denken; jedenfalls scheint dieses Werk auf den von der Jury veröffentlichten Werklisten immer an erster Stelle auf. Auch der Kritiker der Neuen musikalischen Presse scheint von dieser sehr bekenntnishaften und eigenwilligen Komposition ganz besonders angetan – natürlich ist ihm auch die bewußte Anlehnung an Smetana nicht entgangen.

In Wahrheit war freilich – wie es bei Wettbewerben eben schon vor hundert Jahren zu gehen pflegte – alles schon lange vor diesem Abend so gut wie entschieden. Auch mit der „Anonymität“ der Bewerber war es nicht sehr weit her, denn bereits am 3. Dezember hatte Brahms seinem Verleger (in dem schon oben zitierten Schreiben) mitteilen können:

„…Das Beste ist jedenfalls ein Pianofortequartett mit Klarinette. Es soll von Rabl, einem Schüler Nawratils, sein. Ich kenne den jungen Mann und seine Sachen wenig, da er mir persönlich nicht sympathisch war. Natürlich behalte ich ihn und sein Stück jetzt im Auge…“

Wenige Tage später war dann die Sache noch klarer:

„…Über unsern Preiskomponisten Walter Rabl werde ich immer Erfreulicheres melden. Ein ganzer Stoß Sachen von ihm liegt bei mir. Er selbst kommt der Tage zum Fest, ist im Begriff, in Prag seinen Doktor zu machen. Die Abstimmung ist am 22sten; ich glaube, daß er den ersten Preis kriegt – das ist aber ganz Nebensache. Alles wird bestens besorgt von Deinem J. Br.“
(An Fritz Simrock, 17. Dezember 1896)

So konnte also an jenem 22. Dezember 1896 nach der programmgemäß verlaufenen Abstimmung durch die anwesenden Vereinsmitglieder Walter Rabl (1873-1940) den ersten Preis in Empfang nehmen, während das Septett Miroslaw Webers auf dem zweiten Platz landete; der dritte Preis ging an Zemlinskys Klarinettentrio – und so gesehen hat Zemlinsky diesen Erfolg allein dem „ungenannt sein wollenden Gönner“ zu verdanken, der ja mit seiner Spende die Vergabe von drei Preisen erst ermöglicht hatte.

Seinem Simrock gegebenen Versprechen blieb Brahms treu – am letzten Silvesterabend seines Lebens konnte er seinem Freunde melden:

„…Das Quartett von Rabl und das Trio von Zemlinsky gehören Dir. Bei beiden kann ich eben auch den Menschen und das Talent empfehlen. Wenn Rabl zögert, Dir das Quartett zu schicken, so ist das wohl meine Schuld, er meint warten zu sollen, bis er Gleichwertiges beilegen oder gleich folgen lassen kann…“

In eben diesem Sinne hatte 1853 Schumann den jungen Brahms instruiert. Rabl zögerte nicht lange: Simrock druckte gleich nach dem Klarinettenquartett noch ein Klaviertrio und Lieder; Zemlinsky konnte bei Simrock zusätzlich zu dem Trio op.3 noch sein Streichquartett op.4 unterbringen. Brahms erlebte die Drucklegung der von ihm protegierten Werke nicht mehr.


Das Werk

Nur zwei der beim Kompositionswettbewerb des Tonkünstlervereins eingereichten Kompositionen bedienten sich der von Brahms verwendeten Instrumentenkombinationen: ein nicht zur Aufführung zugelassenes Andante für Klarinette und Streichquartett und Zemlinskys Trio. Obwohl manches darauf hindeutet, daß Zemlinsky schon während der Komposition die Herstellung einer Alternativfassung für die „klassische“ Klaviertrioformation miterwog, so ist die Wahl gerade dieser instrumentalen Gestalt durchaus emblematisch zu verstehen.

Das Genre „Klarinettentrio“ in der Kombination Klavier – Klarinette – Violoncello zeichnet sich unter den „Nebenformen“ der Kammermusik dadurch aus, daß es Instrumente aus drei wesensverschiedenen Familien verbindet, denen allen ein besonders großer Stimmumfang gemeinsam ist. Die klangfarblichen und kontrapunktischen Möglichkeiten, die sich dadurch ergeben, sind besonders reizvoll. Es erstaunt daher nicht, daß diese Gattung vor allem im Umfeld von Beethoven und Brahms anzutreffen ist. Im Gegensatz zur nahe verwandten Form des Trios Klavier – Violine – Klarinette, die einen noch „folkloristischeren“ (und von Komponisten wie Bartók, Stravinskij und vielen anderen auch mit großem Effekt eingesetzten) Unterton provoziert, läßt die von Beethoven und Brahms gewählte Kombination ein reicheres Feld an Möglichkeiten offen. Zwar zeigt Beethovens berühmtes „Gassenhauer-Trio“ (B-Dur, op.11), der paradigmatische Ursprung der gesamten Gattung, daß sich auch diese Zusammenstellung für explizit „volkstümliches“ Material hervorragend eignet (und Brahms schließt sich mit dem Mittelteil des dritten Satzes seines Klarinettentrios diesem Beweis an), aber die Festlegung ist viel weniger eindeutig. Beethovens unmittelbare Nachfolger, Anton Eberl (op.36 und op.44), Heinrich Eduard Josef von Lannoy (op.15) und Ferdinand Ries (op.28), schenken diesen folkloristischen Möglichkeiten auch kaum Beachtung.

Das einzige „prominentere“ Beispiel einer Komposition für unsere Besetzung zwischen Beethoven und Brahms ist das Klarinettentrio op.29 von Vincent d’Indy (1887). Unter den unmittelbar von Brahms angeregten Werken ist Zemlinskys Trio op.3 wohl das früheste – in den Folgejahren erscheinen dann Kompositionen der Brahmsianer Wilhelm Berger (der ab 1893 als Leiter der Meininger Hofkapelle wohl auch von Richard Mühlfelds beseeltem Klarinettenspiel inspiriert wurde), Robert Kahn und Carl Frühling.

Das von Zemlinsky gewählte Motto „Beethoven“ bezieht sich vor dem Hintergrund der hier kurz skizzierten Entwicklung des Genres natürlich vor allem auf den Stammvater der Gattung – eine bewußte stilistische Anlehnung konnte eigentlich nur ein Kritiker erwarten. Anton Krtsmáry, Rezensent für die „Neue musikalische Presse“ und selbst Mitglied des Tonkünstlervereins, macht denn auch prompt das Motto zum Ausgangspunkt seiner betont kühlen Kritik:

„Das mit dem dritten Preis gekrönte Trio (in D-moll) von Alex. Zemlinszky scheint trotz des Mottos „Beethoven“ von Brahms abhängig zu sein. Der erste Satz, wenngleich wenig selbständig, ist doch recht interessant gearbeitet. Am besten gefiel mir der zweite Satz (D-Dur), Andante quasi Adagio.“

Daß das Werk wirklich von Brahms abhängig ist, bedarf wohl weder einer Rechtfertigung noch einer Begründung. Wie weit diese Abhängigkeit im einzelnen geht, oder vielmehr: mit wie wachen Sinnen Zemlinsky das Brahmssche Vorbild aufgenommen und analytisch verwertet hat, ist in der Sekundärliteratur schon eingehend besprochen worden (zuletzt von Werner Loll, Kassel 1990).

Der erste Satz (Allegro ma non troppo) ist – wie so oft bei Jugendwerken – der kompositorisch bei weitem anspuchsvollste und ambitionierteste Teil des Werkes. In der Ökonomie der thematischen Arbeit an Brahms, in der Art des melodischen Materials ein wenig an Dvorák orientiert, entbehrt der Satz durchaus nicht persönlicher Züge, so zum Beispiel in der eigenwilligen Kombination der verschiedenen rhythmischen Keimzellen oder in den ganz deutlich eine individuelle Handschrift verratenden harmonischen Fortschreitungen (beides besonders ausgeprägt in der souverän gestalteten Durchführung).

Im zweiten Satz (Andante, D-Dur) lassen sich unschwer Reminiszenzen an das Brahmssche Klarinettenquintett op.115 ausnehmen, obwohl gerade das Hauptthema mit seiner fast süßlichen Fin-de-siècle-Koloristik in auffälligem Gegensatz zur viel herberen Tonsprache des Meisters steht. Aber auch an diesem Hauptthema ist das vertiefte Brahms-Studium des jungen Zemlinsky nicht spurlos vorübergegangen – man beachte etwa, wie unaufdringlich und doch konsequent der Themenkopf aus der Schlußwendung des vorhergehenden Satzes entwickelt wurde.

Der letzte Satz (Allegro) scheint das so ernst und bekenntnishaft begonnene Werk auf ganz andere Bahnen führen und in einem sorglosen, ja fast koketten Ton beschließen zu wollen. Am Schluß der Reprise aber tritt als Höhepunkt einer fiebrigen Steigerung das rhapsodische Hauptthema des ersten Satzes in all seiner schicksalshaften Bedeutungsschwere noch einmal wie der steinerne Gast auf; doch schon ist auch Puck zur Stelle, der den nächtlichen Spuk mit einer übermütigen Kapriole verscheucht – offensichtlich sind wir mit diesem Schlußsatz in das Hofoperndepot geraten.

Wenn dieses Finale und sein Verhältnis zu allem Vorhergehenden also auch Anlaß zu einigem kritischen Stirnrunzeln geben mag (uns entlockt es freilich viel eher ein beifälliges Schmunzeln), so führt es den Komponisten doch mit unbezwingbarer Logik in sein ureigenstes Gebiet, auf das Theater, wo Zemlinsky sich als einer der bezauberndsten und fesselndsten Märchenerzähler der Musikgeschichte bewähren sollte.

© by Claus-Christian Schuster

Brahms: Trio (A moll) für Pianoforte, Clarinette (oder Bratsche) und Violoncell. Op.114

Johannes Brahms

* 7. Mai 1833
† 3. April 1897

Trio (A moll) für Pianoforte, Clarinette (oder Bratsche) und Violoncell. Op.114

Komponiert:(Bad) Ischl, Mai – 13. Juli 1891
Uraufführung:Berlin, Saal der Singakademie, 12. Dezember 1891
Johannes Brahms, Klavier
Richard Mühlfeld (1856-1907), Klarinette
Robert Hausmann (1852-1909), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, März 1892

Daß sich die Geschichte wiederholt, ist ein allzuoft bemühter Gemeinplatz. Wie sie sich bei der Entstehung der bedeutendsten Werke der Klarinettenliteratur wiederholte, ist aber durchaus bemerkenswert. Es war Mozarts Begegnung mit seinem Logenbruder Anton Stadler (1753-1812), die uns die herrliche Triade seiner Klarinettenwerke („Kegelstatt-Trio“ KV 498, Quintett KV 481, Konzert KV 622) bescherte. Zwanzig Jahre nach Mozarts Tod traf Carl Maria von Weber in München Heinrich Baermann (1784-1847) und begann unmittelbar darauf mit der Komposition seiner beiden Klarinetten-Trilogien (Concertino op.26, Konzerte op.73 und op.74; Kammermusik: Variationen op.33, Quintett op.34, Duo op.48). Und ganz am Ende seines Schaffens sehen wir nun Brahms, der sein kompositorisches Werk schon beendet glaubte, mit drei Opera beschäftigt, die er seinem „Fräulein Klarinette“, wie er den unvergleichlichen Richard Mühlfeld nennt, zugedacht hat. Es scheint, als läge bei der Klarinette, ganz wie bei der menschlichen Stimme, in der Kraft der persönlichen Ausstrahlung noch eine ganz besondere Macht, ein unmittelbarer Zauber, dem diese Großen dankbar nachträumen.

Von Mühlfeld, schrieb Max Kalbeck, gehe „die Sage, daß er eine Kollektion unsterblicher Rohrblättchen besitze, die aus dem Schilfrohr der von Pan geliebten, von Gäa verwandelten Nymphe Syrinx geschnitten sein sollen. Ein Stück der Hirtenflöte, mit welcher der Waldgott auf seiner Geliebten oder auf seine Geliebte gepfiffen hat – die Lesarten lassen sich beide verteidigen – steckt jedenfalls in dem Blasinstrument des Herrn Mühlfeld; sonst könnte er nicht so zauberische Klänge daraus hervorbringen.“

Nicht zufällig entführt uns Kalbecks Phantasie in die Antike – auch Brahms war in seinen Gedanken jetzt oft in der Magna Graecia zu Gast. Zehn Jahre war es nun her, daß auch ihm in Taormina, Syrakus und Agrigent die Sonne Homers gelächelt hatte, und seine Sehnsucht dorthin war ungestillt. So hatte er für den Frühling 1891 eine Reise nach Sizilien geplant, die aber dann durch den Tod der Frau seines Freundes Friedrich Hegar vereitelt wurde. Hatte ihm in den vergangenen Jahren die gastliche Villa Carlotta des Herzogs Georg II. von Meiningen (in Cadenobbia am Lago di Como) immer wieder als Ausgangs- und Ruhepunkt seiner italienischen Reisen gedient, so nahm Brahms diesmal mit Meiningen selbst als Ersatz für die versäumten südlichen Wonnen vorlieb. Dabei mußte er gar nicht auf die Antike verzichten: auf seine Veranlassung hatte der Herzog für den 15. März 1891 die Uraufführung der Tragödie Oenone von Joseph Viktor Widmann (1842-1911) angesetzt. Das war ein umso größerer Anreiz, als Brahms sich nur allzu gern daran delektieren wollte, wie sein Freund Widmann, wegen dessen republikanischer Gesinnung es zwischen den beiden schon manchmal zum Streit gekommen war, sich in der ihm ungewohnten Hofluft bewegen würde.

So wurde Meiningen für eine Woche zu Brahmsens Tusculum: Auf der Bühne konnte er die schöne Nymphe Oenone und den armen Paris bewundern, der Darsteller des Thersites, Ludwig Wüllner, brillierte anderen Tages als Sänger der Magelone-Lieder, und in dem zum Konzertsaal gewordenen Theater, in dem die „Säulenhalle des Pompeius“ aus Shakespeares Julius Caesar als Schallwand diente, folgte ein Kunstgenuß dem anderen. Für Brahms aber war der eindeutige Höhepunkt dieser überreichen Woche der Vortrag von Mozarts Klarinettenquintett durch Richard Mühlfeld, gefolgt von einem Privatissimum, in dem der Klarinettist Brahms die Eigentümlichkeiten seines Instrumentes vorführte.

Nachdem Brahms anschließend an die Meininger Tage eine von Dissonanzen überschattete Woche bei Clara Schumann in Frankfurt am Main zugebracht hatte, kehrte er zu Ostern für einige Wochen nach Wien zurück, von wo er am 11. Mai auf Sommerfrische nach Ischl reiste. Wenig später schreibt er dem in Wien gebliebenen Freund Eusebius Mandyczewski am Schluß eines Briefes den lakonischen Satz: „…und denken Sie nicht schlecht von mir, wenn ich Sie bitte, 12 Bogen Notenpapier quer 16 Systeme beizulegen.“

Schon im Juni hatte Mandyczewski bei einem Besuch in Ischl Gelegenheit zu hören, wozu Brahms das von ihm besorgte Notenpapier verwendet hatte: der erste Satz des Klarinettentrios war vollendet.

„Ich hatte in der letzten Zeit Verschiedenes angefangen, auch Symphonien und Anderes, aber nichts wollte recht werden; da dachte ich, ich wäre schon zu alt, und beschloß energisch, nichts mehr zu schreiben. Ich überlegte bei mir, ich sei doch mein Lebtag fleißig genug gewesen, hätte genug erreicht, hätte ein sorgenloses Alter und könne es nun ruhig genießen. Und das machte mich so froh, so zufrieden, so vergnügt, daß es auf einmal wieder ging.“

vertraute Brahms seinem getreuen Mandyczewski an. Am 14. Juli kann Brahms ihm das fertige Trio mit der Bitte um ein Urteil übersenden, bestellt aber schon eine Woche später neues Notenpapier und meint bei dieser Gelegenheit:

„Ich kann Lob und Trio umsomehr auf sich beruhen lassen, als dieses der Zwilling einer viel größeren Dummheit ist, die ich jetzt versucht bin herauszupäppeln.“

Welches von beiden Opera, nämlich das Trio op.114 oder das Quintett op.115, nun die „größere Dummheit“ ist, darüber sind nun seit mehr als hundert Jahren die Meinungen recht geteilt. Mandyczewski, der, wie wir gesehen haben, gewissermaßen bei der Geburt dieses Zwillingspaares Hebamme gespielt hatte, war überzeugt davon, das Trio werde es zu großer Popularität bringen, während das Quintett wohl nur einem engen Kreis von Kennern zugänglich sein werde. Auch Hans von Bülow, Franz Wüllner und, allem Anschein nach, Brahms selbst, teilten diese Meinung. Die Aufführungsstatistik des letzten Jahrhunderts belegt das gerade Gegenteil: an Popularität kann es das Trio mit dem Quintett jedenfalls nicht aufnehmen.

Hanslick, der das Quintett für „ungleich bedeutender“ hielt, bemäkelte, Teile des Trios seien mehr „das Werk tonkünstlerischer Kombination als des freudigen Schaffens.“ Und Florence May „scheint die Eingebung bei diesem Werke zu erlahmen: es fehlt dem Geiste an Geschmeidigkeit.“

An dieser Kritik läßt sich recht gut nachvollziehen, wie die Gralshüter der Brahms-Partei oft weder willens noch fähig waren, das letzte Stück des Weges mit Brahms zu gehen, das sie eben zu jener Wegkreuzung geführt hätte, von der aus Schönberg, Berg und Webern den ihren weitergingen. Jener Berliner Komponist, der Brahms mit dem Dictum „Ich bewundere Wagner, den Fortschrittlichen, den Neuerer, und Brahms, den Akademischen, den Klassizisten“ zu verständlicher Weißglut brachte, hätte bei diesen Siegelbewahrern wohl nur wegen seiner ästhetischen Promiskuität Widerspruch erregt, kaum in der Sache. Es ist ein Glücksfall der Musikgeschichte, daß kein Geringerer als Arnold Schönberg mit seinem Essay Brahms the progressive dafür gesorgt hat, daß die schiefe Optik, die als unseliges Erbe der mit der atavistischen Mentalität des Kampfes zwischen Welfen und Staufern geführten Auseinandersetzung Brahms – Wagner über Jahrzehnte hinweg den Blick auf den Gang der Musikgeschichte verzerrt hatte, korrigiert werden konnte.

Die Natur der von ihm gewählten Werkgattung mit drei unverwechselbaren und letztlich unverschmelzbaren Klangindividualitäten, gab Brahms die Möglichkeit, mit genau jenen Konstellationen zu operieren, die die musikalische Avantgarde des 20. Jahrhunderts faszinieren sollten. Daß er dabei die Grenzen dessen überschreiten mußte, was als „freudiges Schaffen“ die dringend benötigte Behübschung eines immer brutaler werdenden Überlebenskampfes hätte abgeben können, lag in der Sache selbst begründet. Doch bei näherer Betrachtung findet man leicht heraus, daß im musikalischen Denken von Brahms diese Grenzen von allem Anfang an inexistent waren (so sehr sie auch sonst sein bürgerliches Selbstgefühl bestimmt haben mögen); daß also die kulinarische und dekorative Verwertung seiner Musik ein zumindest ebenso großes Unrecht am innersten Geist dieser Kunst ist wie der Mißbrauch der Musik Wagners und Bruckners durch den Nationalsozialismus.

Die Verdichtung des musikalischen Ausdruckes geht im Klarinettentrio einen entscheidenden Schritt über das noch im letzten Klaviertrio (op.101, 1886) angewandte Verfahren hinaus. Der Verknappungsprozeß beschränkt sich jetzt nicht mehr auf die Behandlung des thematischen Materials und der formalen Strukturen, er betrifft jetzt unmittelbar die Themen und die Form selbst. In besonderer Weise trifft das auf die Ecksätze zu. Im ersten Satz (Allegro) erscheint die auch in op.101 noch herrschende Dialektik von Haupt- und Seitensatz völlig aufgegeben; alle „Themen“ sind als Metamorphosen einer einzigen motivischen Keimzelle angelegt. Dieses Verfahren ist seinem Wesen nach nichts anderes als eine permanente Durchführung – daher ist das, was man bei traditioneller Deutung der Form als „Durchführung“ bezeichnen müßte, kürzer als in jedem anderen vergleichbaren Satz des Brahmsschen Œuvres. Noch augenfälliger wird diese neue Technik in jenem Abschnitt, der die traditionelle Reprise vertritt. Durch Umstellungen und tiefgreifende variative Eingriffe ist der „Wiederholungscharakter“ nahezu völlig verschleiert – die Unumkehrbarkeit des zeitlichen Ablaufes hat hier ihren adäquaten musikalischen Ausdruck gefunden. Da aber alle diese Neuerungen von Brahms Schritt für Schritt aus den klassischen Modellen entwickelt wurden, entsteht trotz aller konsequenter Kühnheit nie der Eindruck eines radikalen Bruches mit den gestalterischen Traditionen – der Satz läßt sich, mit einiger Anstrengung und Phantasie, durchaus auch noch mit der Terminologie der klassischen Sonatenhauptsatzform beschreiben und gliedern, wenngleich diese Betrachtungsweise der Einzigartigkeit der hier von Brahms verwirklichten Konzeption nicht wirklich gerecht wird.

Hat der erste Satz den zeitlichen Ablauf als Motor für permanente Durchführung verwendet, so eröffnet uns das Adagio (D-Dur) ein vielleicht noch faszinierenderes Mysterium: es hält die Zeit an. Wie Brahms das erreicht, das ist zwar zur Not technisch-analytisch nachvollziehbar, bleibt aber als eines der größten Wunder der Musikgeschichte unerklärlich. Von einem nüchtern handwerklichen Standpunkt aus kann man nur feststellen, daß Brahms, in völliger Umkehr der „natürlichen“ Gegebenheiten, das Thema als ein Echo seiner Begleitung behandelt, also den zeitlichen Bezug zwischen Kommentar und Kommentiertem auf den Kopf stellt. Aber was sagt das über den rätselhaften Zauber, der von dieser Musik ausgeht?

Nicht von ungefähr hat Eduard Hanslick in seiner Rezension des Werkes das „erquickend kleine Gedicht des dritten Satzes“ (Andantino grazioso, A-Dur) gegen das angeblich erklügelte Finale ausgespielt. Dieser dritte Satz ist jener unverzichtbare Rückblick, der uns alles Umgebende erst als die schicksalhaft zukunftsweisende Leistung des Genies erkennen läßt.

….. Wie er auf
dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal
noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt –
(Rilke, Achte Duineser Elegie)

– und daß ihm aus diesem Tal von ferne noch ein Ländler nachschallt, wohl ein steirischer, aus Mürzzuschlag, wo die letzte Symphonie entstanden ist, der nun keine nachfolgen möchte, so daß alle dafür vorgesehenen Themen sich im Klarinettentrio niederlassen mußten!

Und wirklich – im Finale (Allegro) lassen sich entfernte Spuren des ersten Satzes der Mürzzuschlager Vierten wiederfinden. Das Feiertags-Mysterium des zweiten Satzes hat nun aber wieder dem tätigen Alltag Platz gemacht, Thema und begleitende Imitation sind diesmal an der „richtigen“ Stelle: Man ist bei all dieser unverdrossenen Betriebsamkeit fast versucht, die Bibelworte, die Brahms fünf Jahre später dem ersten der Vier ernsten Gesänge unterlegen wird, mitzudenken: „Darum sahe ich, daß nichts bessers ist, denn daß der Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Teil.“ Zwischendurch klingt aber immer noch ein älplerischer Tanz nach.

Auch dieser Satz ließe sich, ähnlich dem ersten, wieder als Sonatensatz verstehen: der Platz für die in dieser neuen Schreibweise von der Last ihrer Aufgaben befreite Durchführung findet sich diesmal in der Reprise. Aber solche sophistischen Verrenkungen zeigen nur allzu deutlich, daß dieser Rock unserem Meister nun wirklich viel zu eng geworden ist. Wie lange hätte er ihn doch noch tragen können, wenn er nur etwas geschmeidiger gewesen wäre! Liebe Miss May: Welchem Geiste fehlt es hier an Geschmeidigkeit?

© by Claus-Christian Schuster

Beethoven: Trio B-Dur op.11 („Gassenhauer-Trio“) [pf/cl/vlc]

Ludwig van Beethoven

* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827

Trio B-Dur op.11 („Gassenhauer-Trio“) [pf/cl/vlc]

Komponiert:Wien, erste Hälfte 1798
Widmung:Gräfin Maria Wilhelmine von Thun und Hohenstein, geb. von Uhlefeld (1744-1800)
Uraufführung:Uraufführung: nicht dokumentiert;
Die früheste belegte Aufführung fand um 1800 im Palais des Reichsgrafen Moritz von Fries (Josefsplatz 5, heute Palais Pallavicini) statt; Pianist dieser Aufführung war Daniel Gottlieb Steibelt (1765-1823).
Erstausgabe:Mollo & Co., Wien, Oktober 1798

Mit diesem Werk hat Beethoven ein Genre begründet, das sich bis in die Gegenwart als legitime Seitenlinie des „klassischen“ Klaviertrios behauptet und bewährt hat. Die aparte Besetzungsidee trägt der in der Entstehungszeit des Werkes stetig wachsenden kammermusikalischen Bedeutung der Klarinette Rechnung, die sich ja auch im Mozartschen Spätwerk niederschlägt (Quintett KV 452, Trio KV 498, Quintett KV 581). Es besteht einiger Grund zu der Annahme, daß auch Beethoven – ähnlich wie Mozart, Weber und Brahms – erst durch die Bekanntschaft mit einem Klarinettisten zur Komposition jener drei Kammermusikwerke angeregt wurde, in denen er mithalf, diesem Instrument den Weg aus der Orchester- und Blasmusik in die Klavier- und Streicherkammermusik zu bahnen: Jedenfalls fällt im Zusammenhang mit den frühesten dokumentierten Aufführungen dieser Werke – des 1797 beendeten Quintetts op.16, unseres Trios und des Septetts op.20 (1799/1800) – immer wieder der Name des Klarinettisten Joseph Beer. Hierbei handelt es sich aber nicht, wie oft angenommen, um den in Paris, St.Petersburg und Berlin erfolgreichen böhmischen Virtuosen Johann Joseph Beer (1744-1812), der 1791 auf der Durchreise in Wien mit Mozart musiziert hatte, sondern um dessen jüngeren (Beinahe-) Namensvetter, der, im selben Jahr wie Beethoven geboren, vielleicht bis 1794 in Wallerstein und danach als Mitglied der Fürstlich Liechtensteinschen Hofkapelle in Wien wirkte (wo er 1819 starb).

In kaum einer Besprechung des Beethovenschen Opus 11, dem der anbiedernde Beinamen „Gassenhauer-Trio“ anhaftet, wird auf Worte wie „Gelegenheitskomposition“ oder „Gebrauchsmusik“ verzichtet. Es scheint, als würden viele Zuhörer schon allein aus Beethovens Abweichen von der Instrumentationsnorm des Klaviertrios einen – gegenüber der programmatischen Emblematik der Trios op.1 – reduzierten Anspruch ableiten. In Wahrheit bezeichnet aber dieses Werk einen weiteren Schritt auf Beethovens singulärem Entwicklungsweg und verdient nicht nur wegen seiner auch nach mehr als zweihundert Jahren noch immer ungebrochen andauernden Popularität (die vielleicht die Zurückhaltung der Musikwissenschaft herausfordert) besondere Beachtung.

Am Kopfsatz (Allegro con brio) läßt sich beispielhaft verfolgen, mit welcher Akribie und Präzision Beethoven die Hörgewohnheiten und Erwartungen seines Publikums zu irritieren und so die Aufmerksamkeit beständig wachzuhalten versteht. Die Kritik des anonymen Rezensenten der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung, Beethoven „würde… viel Gutes liefern…, wenn er immer mehr natürlich als gesucht schreiben wollte“, zielt genau auf diesen Umstand ab. Daß sie den meisten heutigen Hörern nur schwer nachvollziehbar sein wird, hat wohl in erster Linie mit der Patina einer zweihundertjährigen Rezeptions- und Interpretationsgeschichte zu tun. Aber „wörtlich genommen“ hat Beethovens Text auch heute nichts von seiner pointierten und von den Zeitgenossen gerügten „Gesuchtheit“ eingebüßt. Daß wir uns dabei nicht mehr auf das (verschollene) Autograph berufen können, sondern uns mit dem sicher fehlerhaften Erstdruck begnügen müssen, ist in diesem Falle besonders schmerzlich; denn eine solche Häufung „unnatürlicher“ und „unmusikalischer“, also dem liebgewordenen Herkommen entgegenlaufender Details ist selbst bei Beethoven nicht alltäglich, und man kann fast sicher sein, daß manches kostbare Detail der Routine des Stechers zum Opfer gefallen ist. (Man sollte vielleicht daran erinnern, daß die Erstausgabe in der Offizin jenes Tranquillo Mollo entstand, über dessen Arbeit Beethoven anläßlich des Erscheinens der Streichquartette op.18 klagen wird: „das heiß ich stechen, in Wahrheit meine Haut ist ganz voller Stiche und Rize – von dieser schönen Auflage…“ [an Hoffmeister & Kühnel, 8. April 1802].)

Das folgende Adagio con espressione (Es-Dur) mutet wie eine seelenvolle und gedankentiefe Schwester des leutseligen Es-Dur-Menuetts aus Beethovens Septett op.20 an – das diesem zugrundeliegende G-Dur-Klavierstück, das 1805 als Schlußsatz der Sonate facile op.49 Nr.2 erschien, ist jedenfalls vor unserem Trio entstanden. Der in schlichter dreiteiliger Liedform gehaltene Satz entführt uns mit den wenigen Takten seines Mittelteils in eine zutiefst romantische Klangwelt: Die durchaus nicht unerhörte „neapolitanische“ Wendung (über Es-moll nach E-Dur) bildet nur die harmonische Folie für einen Moment prophetischer Poesie, deren Zauber auch noch in die reich umspielte Reprise nachwirkt.

Namengebendes Glanz- und Kabinettstück des Werkes sind die abschließenden Variationen (Tema con variazioni. Allegretto) über die Arie Pria ch´io l´impegno aus Joseph Weigls Oper L´amor marinaro, die am 15. Oktober 1797 in Wien uraufgeführt worden war. Beethoven macht das Thema, das in jenen Monaten wirklich ein omnipräsenter Gassenhauer in Wiens Straßen war, zum Ausgangspunkt einer kompakten, überaus kunstvollen und in seinem Œuvre einzigartigen Variationenfolge. Denn wie sich bei näherer Betrachtung herausstellt, hat der Komponist hier das uns von Haydn her so wohlvertraute Prinzip der klassischen Doppelvariation um eine monothematische Variante bereichert – auf den ersten Blick ein wahres Paradoxon. Beethoven läßt hier in regelmäßiger Folge jeweils eine lyrisch-besinnliche auf eine dramatisch-zupackende Variation folgen, ein Verfahren, daß logischerweise auch die – innerhalb der Beethovenschen Klaviertrios sonst nur in den Dittersdorf-Variationen op.44 anzutreffende – Verdoppelung der traditionellen Minore-Variation zur Folge hat: die erste (Variation IV) entlockt dem biederen Thema völlig unerwartete elegische, ja tragische Töne, während in der zweiten (Variation VII) das Motiv des punktierten Rhythmus, das in der Vorlage nur eine völlig untergeordnete und ornamentale Rolle spielt, seine Krallen zeigt – es wird hier zum uneingeschränkten Alleinherrscher, dessen wildentschlossene Drohgebärden auf keiner italienischen Opernbühne ihre Wirkung verfehlen würden. Das dualistische Bauprinzip des Satzes bedingt auch den Verzicht auf das sonst (z.B. in op.44 und op.121a) mit gutem Effekt eingesetzte Mittel der drei „Solovariationen“; Beethoven ersetzt es hier durch die eröffnende Gegenüberstellung des Klaviers (Variation I), das sich mit komischer Ungeduld – nämlich ein ganzes Viertel zu früh! – auf das Thema stürzt, und der beiden Melodieinstrumente, die in Variation II ein von solchem Tatendrang völlig unberührtes, still-verträumtes Zwiegespräch halten. Das folgende Variationenpaar übersteigert diesen Kontrast noch, indem hier auf den tatendurstigen Optimismus der Variation III der entsagungsvolle Weltschmerz der schon erwähnten ersten Mollvariation folgt. Erst im dritten Anlauf gelingt es dem gipfelstürmenden Übermut Florestans (Variation V) Eusebius wenigstens ein Lächeln zu entlocken – mit der verspielten Variation VI scheint sich der Konflikt zwischen den beiden Welten zu entschärfen, eine Illusion, die das zweite Minore (Variation VII) mit monomanischer Radikalität zerstört. Die Antwort darauf ist ein Musterbeispiel Beethovenschen Humors und gleichzeitig der Wendepunkt des Satzes: Im nachfolgenden Maggiore (Variation VIII) erscheinen die beiden antagonistischen Charaktere das erste Mal gleichzeitig, wenn auch durchaus nicht vereint – der schwärmerische Belcanto wird von einem dynamisch völlig disproportionierten Klavierbaß (sempre forte) „begleitet“, und man hört förmlich das ob solcher skandalösen Messalliance indignierte Getuschel des P.T. Publikums. Die letzte Variation (IX) greift ein erstes und einziges Mal das Weiglsche Thema selbst auf, dem Beethoven bisher ja nur das harmonische und formale Gerüst entlehnt hatte; und ganz so, als wollte uns der Komponist nachträglich noch auf die Janusköpfigkeit des Satzes hinweisen, handelt es sich dabei um einen zweistimmigen Kanon. Den Übergang zum Finale bildet einer jener urkomischen und überlangen Diskanttriller, die der junge Beethoven mit Vorliebe zur Verblüffung seiner Zuhörer einsetzt (und die noch nichts davon erahnen lassen, in welche Regionen er uns ganz zuletzt, im Schlußsatz der Klaviersonate op.111, mit äußerlich ganz gleichen Mitteln entführen wird). Die kurze Verirrung des Klaviers in das entfernte G-Dur wird von den beiden Partnern souverän korrigiert, und dem traditionellen Sechsachtel-Schluß, dessen pikante Synkopen an das Finale des (gleichzeitig abgeschlossenen) Klavierkonzertes op.19 denken lassen, scheint nichts mehr im Weg zu stehen. Aber mit einer virtuosen Geste auftrumpfender Bescheidenheit holt Beethoven für die allerletzten vier Takte noch einmal den braven Joseph Weigl und sein tapferes Vierviertel-Thema vor den Vorhang.

Dieser Schlußsatz ist Gegenstand einer ganzen Reihe von Erzählungen, deren Wahrheitsgehalt nur mehr schwer nachzuprüfen ist. Philip Cipriani Potter (1792-1871), der ab 1818 in Wien studierte und mit Beethoven Kontakt hatte, will vom Verleger Artaria gehört haben, dieser selbst habe Beethoven das Thema mit der Bitte um Verwendung in einem Trio übergeben; Beethoven habe nicht gewußt, daß es sich um eine Komposition Weigls handle, und sei sehr ungehalten gewesen, als er es später erfahren habe. Wie wahrscheinlich das angesichts der ganz außerordentlichen Popularität des Liedes ist, das von Johann Nepomuk Hummel, Joseph Eybler, Abt Josef Jelínek, Friedrich Wilhelm Berner, sowie von Beethovens Konkurrenten Joseph Wölfl und Daniel Steibelt, ja zuletzt sogar noch im Jahre 1828 von Niccolò Paganini variiert wurde, sei dahingestellt. Daß aber Beethoven wirklich die Absicht gehabt hat, den Variationensatz durch ein anderes Finale zu ersetzen, wird uns auch von Carl Czerny bestätigt, der wiederum berichtet, Joseph Beer habe um die Verwendung des Themas gebeten. Diese Absicht läßt aber durchaus nicht den Schluß zu, Beethoven habe den Satz geringgeschätzt – Czerny betont ausdrücklich, der Komponist habe vielmehr daran gedacht, ihn als separates Werk erscheinen zu lassen. In der Tat ist das Auftreten so eigengewichtiger und selbständiger Variationen in der Funktion eines Finales ungewöhnlich; in Beethovens Klavierkammermusik finden wir überhaupt nur noch in zwei anderen Fällen Variationssätze an den Schluß gestellt, und beide Male (in den Violinsonaten op.30 Nr.1 und op.96) handelt es sich um wesentlich „homogenere“ und „linearere“, also den tektonischen Anforderungen eines Schlußsatzes eher entsprechende Stücke.
Der frühesten dokumentierten Aufführung des Stückes anläßlich eines der damals so beliebten „Wettspiele“, bei dem Beethoven auf Einladung von Reichsgraf Moritz von Fries mit dem überaus beliebten und erfolgreichen Scharlatan Daniel Steibelt konkurrieren sollte, der sich in Beethovens Opus 11 und in einem Klavierquintett eigener Komposition produzierte, folgte der uns von Ferdinand Ries anschaulich geschilderte Eklat zwischen den beiden Kontrahenten:

„Acht Tage später war wieder Concert beim Grafen Fries. Steibelt spielte abermals ein Quintett mit vielem Erfolg, hatte überdies (was man fühlen konnte) sich eine brillante Phantasie einstudiert und sich das nämliche Thema gewählt, worüber die Variationen in Beethovens Trio geschrieben sind, dieses empörte die Verehrer Beethovens und ihn selbst; er mußte nun ans Clavier, um zu phantasieren. Er ging auf seine gewöhnliche, ich möchte sagen, ungezogene Art ans Instrument wie halb hingestoßen, nahm im Vorbeigehen die Violoncellstimme von Steibelts Quintett mit, legte sie (absichtlich?) verkehrt aufs Pult und trommelte sich mit einem Finger von den ersten Takten ein Thema heraus. Allein, nun einmal beleidigt und gereizt, phantasierte er so, daß Steibelt den Saal verließ, ehe Beethoven aufgehört hatte, nie mehr mit ihm zusammenkommen wollte, ja es sogar zur Bedingung machte, daß Beethoven nicht eingeladen werde, wenn man ihn haben wolle.“

Da dieser letzte Bericht geeignet sein könnte, die verbreitete Vorstellung zu untermauern, Beethoven habe die Variationenform mit Vorliebe dazu benützt, seine Verachtung des vorgegebenen Themas auszudrücken, so muß dieser These an dieser Stelle noch einmal nachdrücklich widersprochen werden: Wer sich auch nur einmal in ein Beethovensches Skizzenbuch vertieft hat, weiß, welch lapidare, ja banale Gestalt Beethovens eigene Gedanken bei ihrem ersten Auftreten zu haben pflegen. Niemand war daher berufener als Beethoven, die unausgeschöpften Möglichkeiten auch des allerbiedersten Themas zu erkennen und sie variierend zu entwickeln. Das Bild des Titanen, der sich am Entsetzen des ihm zwischen die Finger geratenen Zwerges weidet, paßt zwar gut zum Mythos Beethoven (der sich gerne auf Ausbrüche von Jähzorn und Hochmut wie den oben geschilderten beruft), ist aber kaum mehr als eine Karikatur. Ein Komponist, der es nicht verschmähte, eines seiner bedeutendsten und gedankentiefsten Werke mit einem Finale zu krönen, dessen Thema dem Kinderlied „Hopp, hopp, hopp, Pferdchen, lauf´ Galopp“ zum Verwechseln ähnlich sieht (V. Symphonie, op.67), hat gewiß auch noch das geringste der ihm in den Weg laufenden Themen geachtet. Was er mit Joseph Weigls Pria ch´io l´impegno schon bei der Vorstellung des Themas durch die Hinzufügung der frechen synkopischen Akzente anstellte, ist also nicht notwendigerweise als selbstbewußte Verspottung der Vorlage zu werten, denn Beethoven wußte sehr wohl, daß das Weiglsche Thema in all seiner Einfalt den dramaturgischen Anforderungen des Originals (eines Terzetts über den Text „Pria chi´io l´impegno magistral prenda, far vuó merenda“, also etwa: „Bevor ich mich ans große Werk mache, will ich noch tüchtig essen“) hervorragend entsprach. Man täte als gut daran, die Bewunderung für die Beethovenschen Variationskünste nicht untrennbar mit der Verächtlichmachung seiner Vorlagen zu verbinden; und daß auch der heute so gründlich vergessene Joseph Weigl über mehr Nuancen gebot als nur den Ton tölpelhafter Biederkeit, darf als gesichert gelten – immerhin hat kein geringerer als Joseph Haydn, Weigls Taufpate, in einem Brief an sein Patenkind bekannt: „Schon seit langer Zeit habe ich keine Musik mit solchem Enthusiasmus empfunden, als Ihre… Sie ist gedankenneu, erhaben, ausdrucksvoll, kurz ein Meisterstück.“ (11. Jänner 1794)

© by Claus-Christian Schuster

Beethoven: Trio Nr. 3, c-moll, op. 1 Nr. 3

Ludwig van Beethoven

* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827

Trio Nr. 3, c-moll, op. 1 Nr. 3

Komponiert:Wien, etwa 1793
Widmung:Fürst Carl von Lichnowsky (1761-1814)
Uraufführung:Wien, bei Fürst Carl von Lichnowsky (Schauflergasse 6), vor dem 19. Jänner 1794 (wahrscheinlich Ende 1793)
Ludwig van Beethoven, Klavier
(?) Ignaz Schuppanzigh (1776-1830), Violine
(?) Anton Kraft (1749-1820), Violoncello
Erstausgabe:Artaria, Wien, Oktober 1795

Von den drei Trios des emblematischen Opus 1, mit dem Beethoven in beispielloser Selbstsicherheit die Bühne der Musikgeschichte betritt, ist das dritte wahrscheinlich das populärste und zweifellos das am meisten gespielte. Beethoven selbst hielt es für das beste Stück der Reihe und war daher über die Skepsis, mit der Haydn bei der Uraufführung gerade diesem Werk begegnete, gekränkt. Es ist nicht zu leugnen, daß dieses Trio sich von seinen beiden Schwesterwerken auf ganz bezeichnende Weise unterscheidet: Es ist noch reicher an einprägsamen motivischen Details und instrumentatorischen Effekten, klanglich noch raffinierter und noch dichter übersät mit Überraschungen aller Art. Gerade diese qualitativen Unterschiede könnten aber vielleicht Haydns Reaktion verständlich machen ( – Haydns in diesem Zusammenhang oft ins Spiel gebrachte „Eifersucht“ ist ein so abstruses Motiv, daß es sich gar nicht erst lohnt, darauf näher einzugehen). Beethoven hat mit diesem Werk nämlich ganz offensichtlich ein Ziel verfolgt, das weit außerhalb der Lebens- und Erfahrungssphäre Haydns lag: Während die beiden vorausgehenden Trios der musikalischen Naturpoesie Haydns mit ihrem organischen Ablauf gar nicht ferne stehen, ist dieses abschließende – und nach Beethovens unmißverständlicher Absicht auch krönende – Werk ein zutiefst subjektives, von erschütternder Tragik geprägtes Bekenntniswerk, in dem der Tondichter rückhalt- und schonungslos bis an die Grenzen des Mitteilbaren vordringt. Das lebensspendende Gottvertrauen, unter dessen mildem Klima der ganze überreiche Kosmos der Haydnschen Kammermusik gedeiht und einen so unerschöpflichen Reichtum an originellen Organismen hervorbingt, hier scheint es in einem aussichtslosen Überlebenskampf verdunkelt, ja verloren – und die beiden Momente, wo dieses kindliche und bedingungslose Vertrauen als ferne Ahnung oder wehmütige Erinnerung wieder auftauchen möchte, wirken vor der Folie dieses existenziellen Kampfes als idyllische, ephemere Selbsttäuschung (der zweite Satz) oder gar als dadaistischer Ulk (das Trio des Menuetts), der die schicksalhafte Ausweglosigkeit nur noch schmerzlicher hervortreten läßt. Daß ein Werk von so kompromißloser Radikalität und bestürzender Gedrängtheit Fassungslosigkeit, ja Entsetzen hervorrufen mußte, erscheint ganz unausweichlich. Weit erstaunlicher und bedenklicher dünkt mich, daß heute dieses Grauen im Regelfall genießerischem Fußwippen und einer allwissenden Kennermiene gewichen ist; jedenfalls scheint die Popularität des Werkes zu einem nicht geringen Teil auf einem fundamentalen und verharmlosenden Mißverständnis zu beruhen. Denn wenn man erst einmal die tragische Heterogenität und die dramatische Spannung der hier verarbeiteten Ideen und Klangbilder erkennt, wird man nicht so sehr die Sicherheit und Kühnheit, mit der Beethoven alle diese widersprüchlichen Elemente zu einem zwingenden und überzeugenden (wenn auch bestürzenden) Ganzen zu einen weiß, bewundernd bestaunen, sondern viel eher vor der Erschütterung, die ein so schonungsloses Bekenntnis hervorruft, jede wertende und „wissende“ Attitude aufgeben.

Schon die Exposition des ersten Satzes (Allegro con brio, c-moll) bietet uns ein Schauspiel widersprüchlichster Gefühle und Regungen: Verirrung und banges Zögern, atemloses Drängen und zorniges Zupacken, seliges Schweben und frenetisches Stürmen – alles ist hier zu finden und auf die originellste Weise miteinander verwoben. So verwandelt sich etwa der beklemmt fragende Doppelschlag des Kopfmotivs unvermutet zu einem nervig dahinstürmenden Motiv, während andererseits das nervöse Agitato des Hauptthemas bei seiner überraschenden Wiederaufnahme in der Coda plötzlich als gutgelauntes Scherzando erscheint. Gerade dieser Kontrast bildet den Kern der Durchführung, die durch eine Reihe frappanter Modulationen eingeleitet wird. Höchst beeindruckend ist auch der dramatische Umgang mit dem traditionellen Orgelpunkt auf der Dominante vor der Reprise: zweimal versucht das Cello allein die Erstarrung zu durchbrechen und wird jedesmal mit einer herrischen Geste zurückgedrängt. Die Reprise ist gegenüber der Exposition tiefgreifend verändert, auffälligstes Detail ist eine auf den Beginn der Durchführung zurückgreifende harmonische Ausweitung, die das Kopfthema für wenige Augenblicke in Durbeleuchtung erscheinen läßt; der Schluß nimmt noch einmal das wirkungsvolle Szenario der Reprisenvorbereitung auf und entläßt uns in mit grimmigen Dissonanzen durchsetzten c-moll.

In größtem Kontrast zu diesem Satz steht das folgende Andante cantabile con Variazioni (Es-Dur). Rein äußerlich entspricht es einem bei Beethovens Vorgängern sehr beliebten Muster (Thema, fünf Variationen, Coda). Das Thema selbst ist von größter Schlichtheit; es besteht aus zwei Achttaktern, die zuerst jeweils vom Klavier alleine und dann unter Führung der Geige von allen drei Instrumenten vorgestellt werden. Da in den Klaviersoli die Baßlinie zunächst ausgespart bleibt, entsteht der Eindruck, als sei die erste Variation gewissermaßen schon im Thema selbst enthalten. In der Folge wechselt immer eine vom Klavier und eine von den Streichern dominierte Variation ab, so daß der ganze Satz von großer Klangfarbenausgewogenheit ist. Das sukzessive Fortschreiten zu immer kleineren Notenwerten (Variationen I-III) hat Beethoven bis hin zu den späten Klaviersonaten beibehalten und weiterentwickelt; die Technik erscheint aber schon hier mit großem Raffinement angewendet, da Beethoven – im Unterschied zu seinen Vorgängern – die Beschleunigung der Bewegungsart nicht mit den Anfängen der Variationen zusammen fallen läßt, sondern mit gleitenden Übergängen und Vorwegnahmen arbeitet. Das Hauptaugenmerk gilt jedoch der metrischen Interpretation des Themas – das Spiel mit abwechselnd betonten und fallengelassenen, vorgezogenen und verspäteten Auftakten ist nicht nur überaus kunstreich, es steht auch in einer sehr aparten Spannung zu der scheinbaren Simplizität des Themas. Erst die innige Minore-Variation (IV) rekapituliert die metrische Urgestalt des Themas, die dann in der letzten Variation (Un poco più Andante) von zierlicher Chromatik umspielt wird. Das Ende dieser Variation und die Coda sind vielleicht der berührendste Moment des Satzes: viermal mündet die Kadenz in einen Trugschluß, um schließlich den Weg zu einer wundervoll ausgekosteten Rückkehr in das heimatliche Es-Dur freizugeben. (Die allerletzten Takte dieser Coda hat Beethoven übrigens in seiner Bagatelle C-Dur op. 119 Nr. 2 zu einem eigenen kleinen Stück ausgeweitet.)

Wer gemeint hätte, daß Beethoven mit zwei so antithetischen Sätzen seine Möglichkeiten zu dramaturgischen Überraschungen erschöpft habe, wird in den folgenden beiden Sätzen eines Besseren belehrt: der dritte Satz erstaunt zunächst schon einmal durch seine Bezeichnung (Menuetto. Quasi allegro, c-moll). Die beiden Schwesterwerke bringen an dieser Stelle ein Scherzo – und der kulturgeschichtliche Hintersinn der Verdrängung des Menuetts durch das Scherzo wird ja gemeinhin als konstitutiv für die „nachrevolutionäre“ Musik angesehen. Warum finden wir also gerade in diesem Werk, das den Zeitgenossen so besonders revolutionär erschien, einen solchen Rückgriff? Nun, schon die relativierende Tempobezeichnung macht klar, daß der Rückgriff nur ein scheinbarer ist. Vom bärbeißigen Humor der Haydnschen oder der tänzerischen Eleganz der Mozartschen Menuette ist keine Spur mehr zu finden, die Stimmung ist unruhig, verunsichert, mit jähen Stimmungsbrüchen, die sich auch in der zerklüfteten Dynamik des Satzes widerspiegeln: jähe Fortissimoschläge durchzucken das verhaltene Piano, das zwischen nervöser Beklemmung und scheinbarem Frohsinn irisiert. Nur das Trio entläßt uns auf einige Takte in eine verspielte C-Dur-Rokokowelt – es tut dies aber mit soviel Witz, daß der ironische (oder bitter-wehmütige?) Unterton gar nicht zu überhören ist.

Der Beethoven-Liebhaber, der beim Erscheinen der Tonart c-moll sofort an die Pathétique und die V. Symphonie denkt, kann im letzten Satz (Finale. Prestissimo, c-moll) in Assoziationen schwelgen. Ein „typischerer“ Beethoven-Satz läßt sich auch wirklich schwer denken. Die Metamorphose, die das Ausgangsmaterial dieses Satzes durchgemacht hat – das Thema erscheint zuerst in einer Skizze zum Menuett des Bläseroktetts op. 103 (1792) – ist, wie so oft bei Beethoven, von unglaublicher Radikalität. Der zupackende Elan, die leidenschaftliche Unruhe und das hymnische Feuer – alle zentralen Topoi der Beethovenschen Musik sind in diesem Satz vereint. Die Sonatenhauptsatzform ist hier etwas regelmäßiger, doch um nichts weniger phantasievoll behandelt als im ersten Satz. Wirklich erschütternd ist die ausgedehnte Coda, die alle Finalerwartungen enttäuscht: das Thema wird seiner Motorik beraubt, stockt, fällt kraftlos um einen Halbton nach h-moll und mündet schließlich in den wie in tiefer Betäubung endlos wiederholten Vorhalt des-c. Das abschließende C-Dur ist fahl und erschöpft – von konventioneller Versöhnlichkeit findet sich auch nicht die leiseste Spur. Es gibt in der ganzen Musikliteratur nur ganz wenige Mollsätze, die auf so hoffnungslos tragische Weise in Dur schließen, und den wenigen Fällen scheint oft gerade dieser paradigmatische Satz Modell gestanden zu haben (so etwa im Finalsatz des dritten Klavierquartetts, op. 60, c-moll, von Johannes Brahms).

Wie hoch Beethoven selbst dieses Trio schätzte, läßt sich daran ersehen, daß er noch im August 1817 eine – übrigens sehr gelungene – Bearbeitung des Werkes für Streichquintett vornahm und diese zwei Jahre später als op.104 veröffentlichen ließ.

© by Claus-Christian Schuster

Beethoven: Trio G-Dur op.1 Nr.2

Ludwig van Beethoven

* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827

Trio G-Dur op.1 Nr.2

Komponiert:Wien
Widmung:Fürst Carl von Lichnowsky
Uraufführung:Wien, bei Fürst Carl von Lichnowsky (Schauflergasse 6)
vor dem 19. Jänner 1794 (wahrscheinlich Ende 1793)
Ludwig van Beethoven, Klavier
Ignaz Schuppanzigh (?), Violine
Anton Kraft (?), Violoncello
Erstausgabe:Artaria, Wien, 1795

Unter den drei Werken von Beethovens Opus 1 nimmt das G-Dur-Trio nicht nur formal die zentrale Stellung ein: es ist das Herzstück des ganzen Zyklus. Das schlägt sich rein äußerlich darin nieder, daß es länger ist als seine beiden Schwesterwerke, und daß
Beethoven hier das einzige Mal die epische Eröffnungsform der langsamen Einleitung wählt. Darüber hinaus aber spiegelt sich die Zentralstellung dieses Werkes auch in der dramaturgischen und stilistischen Gesamtanlage des Opus: wenn man in Nr.1 (Es-Dur) die transzendierende Zusammenfassung der Erfahrungen Haydns und in Nr.3 (c-moll) die Quintessenz der Charakteristika
des frühen Beethoven sehen kann, so mutet einen das G-Dur-Trio wie ein träumerisches Spiel mit den Möglichkeiten der Zukunft an. Nicht zufällig gehören zu den Assoziationen, die sich beim Anhören dieses Werkes fast zwangsläufig einstellen, so weit auseinanderliegende
Phänomene wie Schubert und Rossini – beides Komponisten, die zur Zeit der Niederschrift dieses Trios entweder noch nicht geboren waren oder gerade erst in den Windeln lagen, und deren Werk exemplarisch die ganze Amplitude der Musik des ersten Drittels des XIX. Jahrhunderts repräsentiert.
Der Beginn des ersten Satzes (Adagio, G-Dur) ist nichts anderes als eine Metamorphose des Inzipits von op.1 Nr.1 (die ersten beiden Takte sind, transponiert und rhythmisch modifiziert, notenident mit der analogen Stelle des Es-Dur-Trios). Es ist eine Metamorphose ins traumhaft Spielerische, versonnen Graziöse. Das Motto des folgenden Hauptteils (Allegro vivace) durchzieht diese Einleitung ebenso wie dessen charakteristische Verzierungen, sodaß trotz des großen Stimmungs- und Tempokontrastes die Einheit zwischen den beiden
Teilen niemals gefährdet ist. Der Hauptteil selbst ist ein sehr ausgedehntes und vielgliedriges Sonaten-Allegro, das die Sphäre des übermütig Neckischen und spielerisch Anmutigen ganz auskostet und fast nie verläßt. Es ist, als würde – mit einem Unterton romantischer Ironie – aller galanter Zauber des vorrevolutionären XVIII. Jahrhunderts noch ein letztes Mal zusammenfassend und beschließend aufgeboten.
Doch schon der zweite Satz (Largo con espressione, E-Dur) entführt uns in eine völlig andere Welt: Es ist sicher kein Zufall, daß Beethoven hier das einzige Mal in seinem Opus 1 das „klassische“ Muster der Tonartenbeziehungen in mehrsätzigen Werken aufgibt und eine fernliegende, „romantische“, „schubertische“ Tonart aufsucht.
Wenn man weiß, wie bewußt Beethoven mit Tonartencharakteristik umgeht, und welche klangsinnliche Realität vor der Etablierung der „modernen“, gleichschwebenden Temperatur (deren erklärter Gegner Beethoven zeitlebens geblieben ist) mit dieser Charakteristik verbunden war, so wird man diesem Detail mehr Gewicht geben müssen, als es gemeinhin geschieht.
Jedenfalls ist dieser Satz auch in dem an Höhepunkten nicht eben armen Oeuvre Beethovens eine Sternstunde: was hier an Innigkeit, Tiefe und Sammlung erreicht ist, entzieht sich weit über das normale Maß hinaus der Be- und Umschreibung.
Das Scherzo (Allegro, G-Dur) gehört zu einem Satztypus, den der frühe Beethoven besonders liebte und um immer neue Varianten bereicherte: das Scherzo von op.1 Nr.1 gehört ebenso hierher wie etwa das Scherzo der Klaviersonate C-Dur op. 2 Nr. 3. Gemeinsam ist all diesen Sätzen die Entwicklung aus einem prägnanten, einstimmigen Motto, das Anlaß und Ausgangspunkt für kontrapunktische
Kabinettstücke ist, wobei sich der gute Humor, der all diesen Sätzen eigen ist, oft in derben und eigensinnigen Akzentuierungen niederschlägt; die „Flächigkeit“ der Trios gehört ebenso zum Erscheinungsbild dieses Satztypus wie die in die Stille zurückführende, das Motto „rückentwickelnde“ Coda, die oft (so auch hier) mit einer Rücknahme des Tempos verbunden ist.
Das Finale (Presto, G-Dur) greift die ersterbenden Schlußakkorde dieser Coda mit mutwilligem Elan auf: Dieser Satz hätte mit seinem leutseligen Übermut und seiner ansteckenden Gutgelauntheit auch für den Buffo-Großmeister Rossini ein inspirierendes Vorbild sein können, und es ist nicht zu überhören, daß der volkstümliche und absichtsvoll naive (aber nie primitive) Witz dieser
Musik auch noch in manchen Geschwindmärschen der Strauß-Dynastie nachklingt. Wieviele solcher Sätze hätte Beethoven eigentlich schreiben müssen, um das monochrome Devotionalienbild des finster dahinschreitenden Titanen als verflachende Fiktion bloßzustellen?

© by Claus-Christian Schuster

Batik: Vier Intermezzi

Roland Batik

* 19. August 1951

Vier Intermezzi

Komponiert:Seibersdorf, Jänner-März 2001
Widmung:Altenberg Trio Wien
Uraufführung:Wien, Musikverein, Brahmssaal, 3. April 2001
Altenberg Trio Wien
Claus-Christian Schuster, Klavier
Amiram Ganz, Violine
Martin Hornstein, Violoncello
Erstausgabe:Manuskript

Die Krise der Darmstädter Ästhetik (deren zeitliche Nähe zum ominösen Jahr 1968 wohl nicht ganz zufällig ist) ging Hand in Hand mit einer ganzen Reihe von Phänomenen, deren Nachwirkungen bis heute spür- und hörbar geblieben sind. Die österreichischen „Darmstädter“ Otto M. Zykan (*1935), Kurt Schwertsik (*1935) und H. K. Gruber (*1943) kreierten 1968 mit „MOB art & tone ART“ einen spielerischen Gegenentwurf zu den aufwendigen Architekturen und angestrengten Konstruktionen, mit deren Unterstützung die „ernste“ Musik dieser Zeit verbissen darum kämpfte, auch wirklich ernst genommen zu werden. Die Verschiedenartigkeit der seit damals von diesen Komponisten beschrittenen Wege und die bis heute andauernde Strahlkraft ihres Gedankenansatzes, beweist die organische Notwendigkeit und Richtigkeit dieser Entwicklung.
Obwohl Roland Batik von dieser Strömung völlig unbeeinflußt blieb, ist sein musikalischer Werdegang für das durch sie mitgeprägte Ambiente geradezu exemplarisch. Schon lange bevor das Zauberwort „Crossover“ zum verbalen Amulett und Köder einer hektisch nach Verkaufsstrategien suchenden Musikindustrie wurde, hat Roland Batik all das, was dieser Begriff vergeblich vorzuspiegeln versucht, wirklich gelebt. Als Teenager hatte er sich Rockgruppen wie Queen, The Who und Iron Butterfly zu Idolen erkoren, was ihn aber durchaus nicht daran hinderte, eine „klassische“ Musikausbildung zu durchlaufen. Das Jahr 1971, ein Schlüsseljahr seiner Laufbahn, spiegelt die Dualität dieser Neigungen exemplarisch wieder: In diesem Jahr erlebt er die Uraufführung von Friedrich Guldas Concertino for Players and Singers mit, das ihn tief und nachhaltig beeindruckt; wird als Pianist Student von Walter Fleischmann an der Wiener Musikhochschule; und wird selber Lehrer von Friedrich Guldas Sohn Paul (*1961). An dem kurz zuvor von Erich Kleinschuster und den Mitgliedern seines Sextetts gegründeten Jazz-Institut (Abteilung X) des Konservatoriums der Stadt Wien ist er einer der ersten Schüler – Fritz Pauer gibt ihm dort entscheidende Impulse. Als Komponist tritt er ab 1972 mit stimmungsvollen Bühnenmusiken für mehrere Märchenproduktionen des Wiener Burgtheaters in Erscheinung.
Was ihm 1971 noch ein kaum erfüllbarer Wunschtraum erschien, wird schon 1974 Realität: Unter der Leitung des Komponisten, der ihn für diese Aufgabe prädestiniert hält, führt er in Salzburg (und im Folgejahr auch in Wien) Guldas Concertino auf. Von da an ist Roland Batik (der zwischen 1976 und 1978 mit Friedrich Gulda intensiv auch an seinem klassischen Repertoire arbeitet) für eine ganze Generation junger Musikfreunde der ideale Wegbegleiter bei der Entdeckung des grenzenlosen Reichtums musikalischer Idiome. Obwohl er sich hier vor allem als Solist profiliert, zieht ihn auch die Kammermusik in besonderer Weise an: 1977 begründet er mit Heinrich Werkl (Kontrabaß) und Walter Grassmann (Schlagzeug) ein noch immer bestehendes Jazz-Trio, 1982 mit seinem ehemaligen Schüler Paul Gulda ein bis 1988 konzertierendes klassisches Klavierduo, das auch international größte Anerkennung findet. Zwischen 1987 und 1991 ist Batik Mitglied der Wiener Instrumentalsolisten, für die er auch mehrere Werke schreibt. Mit dem 1996 ins Leben gerufenen Jazz-Trio „Bridges“, bei der Woody Schabata (Marimba/Vibraphon) die Stelle von Walter Grassmann einnimmt, gewinnt Batiks kammermusikalische Vorliebe eine zusätzliche Dimension.
Schon seit 1977 ist Batik auch erfolgreicher Lehrer am Konservatorium der Stadt Wien, wo er bis 1994 parallel Jazz und Konzertfach Klavier unterrichtete; seit 1994 beschränkt er sich hier auf das klassische Fach. Die Realisierung diskographischer Großprojekte, wie die vielfach ausgezeichnete Einspielung sämtlicher Mozart- und Haydn-Klaviersonaten (1989/90 und 1995/99), belegt eindrucksvoll, daß Batik seinen ganz eigenen Interpretationsstil gefunden hat.
Unter seinen Kompositionen erfreuen sich etliche Klavierwerke (Bagatelle, Pannonische Romanze, Impressionen) besonderer Popularität. Er selbst betrachtet das 1993 im Auftrag der Jeunesse musicale entstandene (und erst jüngst wieder in Wien zu hörende) Erste Klavierkonzert als sein Hauptwerk; an einem zweiten Klavierkonzert, das er im Herbst 2003 mit dem Linzer Bruckner-Orchester uraufführen wird, arbeitet Batik gerade.
Die heute uraufgeführten Vier Intermezzi übernehmen von der Popularmusik die Vorliebe für Ostinati und kleinräumige Gliederungen: Das erste (Introduktion) definiert den spielerisch-gelösten Charakter des ganzen Zyklus und folgt einem additiven Formschema, das folgerichtig auf ein abruptes Ende zusteuert. Das rhapsodische zweite Stücke (Quasi improvvisando) versucht, die im Klaviertrio aufeinander treffenden Klangwelten auszuloten; im weiteren Verlauf sind die von der „Minimal music“ kommenden Anregungen nicht zu überhören. Die symmetrische Form öffnet sich mit dem Schluß-Pizzicato zum Folgestück (Blues-Intermezzo). Hier werden die formalen Konventionen des Blues (zwölftaktige Perioden, Blues-Kadenz) auf parodistische Weise mit „klassischen“ Elementen kombiniert. In zwei eingeschobenen Episoden erscheinen Tangoreminiszenzen sowie eine Nänie über spannungsreichen Akkorden. Mit dem im phrygischen Modus stehenden (und unüberhörbar „hispanisierenden“) Finale beschließt Batik den kleinen Zyklus ganz in der Art eines klassischen „Kehraus“.

© by Claus-Christian Schuster

Aarne: Trio für Violine, Violoncello und Klavier (a-moll), op. 6

Els Aarne

* 30. März 1917
† 14. Juni 1995

Trio für Violine, Violoncello und Klavier (a-moll), op. 6

Komponiert :Tallinn, 1945/46
Uraufführung :Tallinn, Estnischer Komponistenverband, März 1946
Els Aarne (Else Aarmann), Klavier
Herbert Laan (1907-1988), Violine
Mart Paëmurru (Martin Otto, 1908-1972), Violoncello
Erstausgabe :Manuskript

Das Klaviertrio op. 6 entstand ein Jahr nach dem Klavierkonzert op. 5 und diente Els Aarne zusammen mit jenem als Diplomarbeit zum Abschluß ihres Kompositionsstudiums. Mit der Präsentation dieser beiden Werke graduierte sie 1946 cum laude. Im Klavierkonzert trat sie bei der Uraufführung am 8. März 1946 selbst als Solistin auf (Dirigent: L. Saul); das Trio wurde gleich nach seiner ersten Aufführung als „formalistisch“, „zu modern“ und „westlich“ kritisiert und blieb danach ungedruckt und ungespielt liegen. Anfang der Siebzigerjahre zeigte es die Komponistin einmal ganz nebenbei ihrem Sohn, dem diese Kritik völlig unverständlich blieb: Was er da sah, war eine sehr schlichte und ungekünstelte Liebeserklärung an das estnische Volkslied, das im gesamten thematischen Material des Werkes allgegenwärtig ist, sich aber nur im Mittelsatz (über das Lied „Targa rehealune“) zu einem echten Zitat kristallisiert.

Die Stoßrichtung der ideologisch motivierten Einwände gegen Aarnes „folkloristische“ Diplomarbeit ist in der Tat nur aus der konkreten historischen Situation der Entstehungszeit zu begreifen. Obwohl die Rote Armee zwischen Jänner und September 1944 die nationalsozialistischen Besatzer vertrieben und Estland zum zweiten Mal okkupiert hatte, war die Sowjetmacht nämlich durchaus nicht unangefochten, und wie auch in den beiden südlichen baltischen Republiken sollte der Widerstand nahezu ein Jahrzehnt hindurch ungebrochen bleiben. Liest man die linientreue sowjetische Kritik der estnischen Musik dieser ersten Nachkriegsjahre, so stößt man daher immer wieder auf ein peinliches Lavieren zwischen der enthusiastischen Bejahung alles „Volkstümlichen“ (im Gegensatz zum „Elitären“) als Ausdruck der Verbundenheit mit den „Werktätigen“ und einem krankhaften Mißtrauen gegenüber „nationalistischen“ Motiven, hinter denen man separatistische und antikommunistische Tendenzen vermutete. Der reiche Fundus der estnischen Volksmusik erwies sich in diesem Moment als ein sehr zweischneidiger Schatz: Je nach der Disposition des Beurteilers konnte man für die Verwendung estnischer Volksweisen gepriesen oder verdächtigt werden. Els Aarnes Entscheidung, das folkloristische Ausgangsmaterial ihres Trios in betont schmucklosem, linear-polyphonen Gewand darzubieten, brachte sie in einen – wenn auch nicht eklatanten, so doch deutlich vernehmbaren – Gegensatz zu dem pathetisch-dekorativen Stil, der den Traditionen der Sankt-Petersburger Schule entsprochen hätte.

Hinzu kommt, daß das volksmusikalische Erbe der Esten und die Diskussion um seine Verwendung in der Kunstmusik das unangefochtene Hauptthema der estnischen Musikgeschichte sind – so sehr, daß etwa der (nach langen Exiljahren in Wien verstorbene) Nestor der estnischen Musikwissenschaft Elmar Arro (1899-1985) in seiner „Geschichte der estnischen Musik“ (Tartu 1933) sich ausschließlich dem (Volks-)Liedschaffen widmet. Hier findet man auch reiches Belegmaterial für die hitzigen Kontroversen rund um Niederschrift, Auswahl und Bearbeitung des estnischen Volksmusikschatzes. Lydia Koidulas Vater Johann Woldemar Jannsen, einer der Pioniere der estnischen Chormusik, notiert 1857:

„Aidu, raidu, traute Brüder“, „Dorfes Mädchen, jugendschöne“, „Guten Tag, lieb´ Schwiegermutter“ und anderes Ähnliche bezeichnet man bei uns auch als Lieder, doch ist ihnen weder ein rechtes Versmaß noch Melodie eigen, sondern es fehlt ihnen jedweder Sinn. Ein Wort von hier, eines von da, all das zusammengesetzt wie ein geflickter Dudelsack – und das soll ein Lied sein? Ein Jeglicher gebraucht seine Worte, seine eigene Melodie, einer grölt vor, der Andere gackelt nach, oft drei-, viermal ein einziges Wort – solcher Art Lieder sind jetzt bei den Schenkentüren und Dorfschaukeln zu hören; aber sie machen die Ohren gellen und bewirken wie Rauchdunst Kopfschmerzen.

Der hier beklagte ruinöse Zustand war eine Folge der Diskrepanz zwischen dem autochthonen estnischen Erbe und den es in vielen Schichten überlagernden baltendeutschen, russischen und anderen Beimengungen. Jannsens eigene, 1860/62 erschienene Liedersammlung ist denn auch kaum mehr als eine „Blütenlese deutscher kleinbürgerlicher Gesangvereinsliteratur“ (Elmar Arro). Von hier war es noch ein sehr weiter Weg zu bis hin zu den exemplarischen Leistungen der heutigen estnischen Volksmusikforschung (nachzuhören und zu –lesen etwa in der 2003 vom Estnischen Volksmusikarchiv und dem Estnischen Literaturmuseum herausgegebenen Anthologie estnischer Volksmusik). Els Aarnes dreisätziges Jugendwerk ist mit seiner aufrichtigen Suche nach unverfälschter Frische ein Zeugnis dafür, mit welch unbekümmerter Zielstrebigkeit dieser Weg beschritten wurde – unbeirrt und unberührt von den Tendenzen der gleichzeitigen westeuropäischen Musik.
Während im ersten Satz (Allegro moderato, a-moll), einem mustergültigen Sonatenhauptsatz, dessen Exposition in dem schon vom Seitenthema aufgesuchten Es-Dur schließt, von spielerischer Kontrapunktik geprägt ist, wendet sich der Mittelsatz (Andante, C-Dur) mit seinen charakteristischen neuntaktigen Phrasen der Poesie des schlichten Volksliedes „Targa rehealune“ zu, ohne allerdings dabei auf polyphone Kunstgriffe ganz zu verzichten. Den Kehraus macht ein übermütig tänzerisches Allegro vivace (E-Dur), mit dem das Werk kraftvoll und optimistisch endet. (Die Tonartenbezeichnungen können hier, wie sich von selbst versteht, nur unter dem Vorbehalt ihrer folkloristisch-modalen Verwendung gebraucht werden.)

Die ungesuchte, bisweilen kindlich anmutende Schlichtheit, mit der hier Volksmelodien ausgebreitet werden, läßt den Vorwurf des „Westlertums“ und „Modernismus“ so absurd erscheinen, daß man auf unangenehmste Weise an die Hilf- und Beziehungslosigkeit des Wortes im Umgang mit Musik erinnert wird, an welcher Stelle auch der bestgemeinte Einführungstext sein Ende finden muß.

© by Claus-Christian Schuster

Barkauskas: Modus vivendi op. 108 (1996)

Vytautas Barkauskas

* 25. März 1931

Modus vivendi op. 108 (1996)

Komponiert :Vilnius, 25. März bis 23. Juni 1996
Uraufführung :Vilnius, 12. November 1996, Armonai-Trio
Irena Uss-Armoniene, Klavier
Ingrida Armonaite, Violine
Rimantas Armonas, Violoncello
Erstausgabe :Manuskript

Schon ein Jahr vor seinem Studienabschluß in der Kompositionsklasse von Antanas Račiunas hat Vytautas Barkauskas 1958 ein Klaviertrio verfaßt, das er in der Folge – wie alle anderen vor 1964 entstandenen Kompositionen – aus seinem Werkekatalog eliminiert hat. Erst 1990 stellte er sich wieder einer vergleichbaren Aufgabe, als er ein Trio für die von Bartóks Contrasts (1938) geadelte Instrumentenkombination Klavier, Klarinette und Geige vorlegte (op. 92). Die Parallele zu dem großen Ungarn ist kein Zufall: Barkauskas ist auf den Tag genau fünfzig Jahre nach Bartók geboren und hat ihn sich gewissermaßen zum „Namensheiligen“ gewählt. Der skizzierte undogmatische modus creandi unseres Komponisten bewährt sich in dem sechs Jahre später entstandenen Klaviertrio Modus vivendi für die „klassische“ Triobesetzung in besonders überzeugender Weise. Barkauskas begann die Komposition an seinem 65. Geburtstag, und den autobiographischen Unterton des Werkes, das gleichzeitig Rückblick und Bekenntnis ist, kann man nicht überhören. Die verwendeten Zwölftonreihen haben keinerlei Mühe, sich in das von ihnen weitestgehend unabhängige Leben des Werkes einzufügen – nirgendwo entsteht der Eindruck „konstruktiver“ Anstrengung. Wie von selbst fügen sich Reihenfragmente zu flächigen Ostinati, die zu wechselnden tonalen Zentren gravitieren, ohne die Vorherrschaft des „Grundtones“ A (für den Komponisten ein Tonsymbol seiner Frau Svetlana) zu unterminieren. Diesem Ausgangston der Reihe steht mit dem Endton D eine Chiffre für den Komponisten selbst gegenüber. Barkauskas´ Idiom kennt weder historische Berührungsängste (etwa im Zitieren „impressionistischer“ Texturen) noch gekünstelte Scheu vor dem tonalen Substrat – im Gegenteil versteht es, sich die in ihm tradierte Kommunikationskraft (etwa in der leitmotivischen Verwendung des Zusammenklanges eines Dur- und Mollakkordes im Halbtonabstand, der in den Tönen 1-6 der Reihe schon präformiert erscheint) zunutze zu machen. Barkauskas hat mit diesem Werk bewiesen, daß die einander etliche Jahrzehnte hindurch unversöhnlich gegenüberstehenden Idiome der Musik schon längst einen fruchtbaren modus vivendi gefunden haben.

© by Claus-Christian Schuster