Schubert: Trio B-Dur op.99/D 898

Franz Schubert

* 31. Jänner 1797
† 19. November 1828

Trio B-Dur op.99/D 898

Komponiert:Wien, (Wien I., Tuchlauben 14), Ende 1827/Anfang 1828
Uraufführung:Wien, 28. Jänner 1828 Privat-Konzert bei Joseph von Spaun
(Wien I., Teinfaltstraße 8)
Carl Maria Bocklet (1801-1881), Klavier
Ignaz Schuppanzigh (1776-1830), Violine
Joseph Lincke (1783-1837), Violoncello
Erstausgabe:Anton Diabelli, Wien, 1836

Die Entstehung der beiden großen Klaviertrios Schuberts, die von vielen als die Gipfelleistung der gesamten Klaviertrioliteratur betrachtet werden, hängt wahrscheinlich unmittelbar mit einem für die Geschichte des Genres bedeutsamen Datum zusammen: 1827, im Todesjahr Beethovens, fanden sich die Beethoven-Freunde Ignaz Schuppanzigh und Joseph Lincke mit einem jungen Schubert-Freund, dem Pianisten Carl Maria von Bocklet zu einem Ensemble zusammen – eine kurzlebige Unternehmung (Schuppanzigh starb schon 1830), die aber dennoch, wenn man von einigen zaghaften Vorläufern absieht, als das erste „professionelle“ Klaviertrio der Geschichte bezeichnet werden darf. Bocklet, Schuppanzigh und Lincke waren es dann auch, die (wie schon einige Wochen zuvor das Es-Dur Trio) das B-Dur-Trio kurz nach seiner Vollendung, am 28.Jänner 1828 in der letzten Schubertiade bei Joseph von Spaun (in den „Klepperställen“, an Stelle des heutigen Hauses Teinfaltstraße 8/8A) vor etwa fünfzig geladenen Gästen aus der Taufe hoben. Die öffentliche Uraufführung fand erst nach Schuberts Tod statt und ist nicht dokumentiert.

Die hymnischen Reflexionen und Exkurse, die diesem Werk in der gesamten Schubertliteratur seit jeher gewidmet wurden und werden, bezeugen, mit welcher Einhelligkeit diese Schöpfung zu den Höhepunkten der Instrumentalmusik überhaupt gerechnet wird. Dutzende Anklänge an Schubert-Lieder wurden in der Partitur ausfindig gemacht, und manche haben versucht über den Umweg der wortgebundenen Musik zu einem vermeintlich „präziseren“, „sagbarerem“ Verständnis des Werkes vorzudringen. Unleugbar ist jedenfalls, daß Schubert mit diesem Werk einen musikalischen Organismus geschaffen hat, der das klassischen Postulat von der „Einheit im Vielfältigen“ nicht nur in beispielhafter Weise erfüllt, sondern aus dieser Erfüllung auch seine unzerstörbare, Zeit und Interpreten gleichermaßen überdauernde Vitalität bezieht.

Einer (gleichwohl verlockenden und für den einzelnen wohl auch sinnvollen und fruchtbaren) Analyse oder deutenden Beschreibung von Werken dieser Art hat sich der Reger-Schüler Alexander Berrsche (1883-1940) mit zeitlos gültigen Worten entzogen, die hier die Stelle einer solchen Einführung einnehmen mögen:

„Daß man über Dinge nicht schreiben kann, denen man zu ferne steht, ist klar. Begreifen Sie aber, daß man einer Sache auch zu nahe stehen kann? Daß das lebendige Wissen um den Reichtum eines Werkes ein Hindernis ist für jegliches abstrahierende und deskribierende Verhalten? Darstellen heißt vereinfachen, weglassen, unter Mannigfaltigkeiten und Gegensätzen Gemeinsames herausfinden, das Einmalige, Inkommensurable nicht sehen wollen, oder gar versuchen, es kommensurabel zu machen. Probieren Sie das einmal bei Schubert! Auch wenn Sie alles Vergleichbare kennen, immer werden Sie bemerken, daß gerade die Besonderheiten, die Sie auslassen müssen, das Wesentliche sind, das, was das Werk zu dem macht, was es ist. Sie können mir erwidern: gut, dann halten Sie sich eben an das Einzelne und Einmalige. Aber damit sieht’s noch schlimmer aus. Ich fürchte, es hieße an dem Wunder des Schönen Grammatik treiben, Harmonisches und Rhythmisches analysieren, Stufengänge verfolgen, indessen das musikalische Gebilde unantastbar und hoheitsvoll abweisend zurückweicht. Versuchen Sie doch, Auge in Auge mit dem „Lindenbaum“ ihn zu beschreiben! Oder vor dem langsamen Satz des B-Dur-Trios einiges Lichtvolle über desses Thematik zu äußern, während gleichzeitig eben diese Kantilene beglückend, beschämend und Schweigen gebietend in Ihrem Inneren erklingt! Es geht nicht…“

© by Claus-Christian Schuster

Schubert: Adagio Es-Dur („Notturno“) op.posth.148/D 897

Franz Schubert

* 31. Jänner 1797
† 19. November 1828

Adagio Es-Dur („Notturno“) op.posth.148/D 897

Komponiert:Wien, (I., Tuchlauben 14), wahrscheinlich Frühjahr 1828
Uraufführung:nicht dokumentiert
Erstausgabe:Diabelli, Wien, 1846

Der aus Schuberts Nachlaß 1846 veröffentlichte Einzelsatz, den der Verleger Diabelli in Anlehnung an den dem Autograph von fremder Hand vorangestellten Titel „Notturno“ als „Nocturne“ erscheinen ließ, entstand höchstwahrscheinlich gleichzeitig mit den beiden „großen“ Klaviertrios und könnte recht gut den ursprünglichen 2.Satz des Klaviertrios B-Dur op.99/D 898 darstellen – eine Vermutung, die schon in der Einreihung des Werkes im Deutsch-Verzeichnis ausgedrückt und durch etliche Indizien gestützt wird. Namentlich die tonale Anlage des Satzes weist einige sehr auffällige Parallelen zu derjenigen des „Andante un poco mosso“ in D 898 auf. Wenn diese Vermutung zutreffen sollte, darf man annehmen, daß es nicht Unzufriedenheit mit dem Stück als solchem, sondern eher Überlegungen dramaturgischer und struktureller Art waren, die Schubert dazu bewogen haben mögen, es durch einen anderen Satz zu ersetzen. In der Tat scheint das „Adagio“ den Rahmen eines langsamen Satzes in mehr als einer Hinsicht zu sprengen – wenn man auch festhalten muß, daß solche „Grenzüberschreitungen“ bei Schubert etliche Male vorkommen. Der großräumige Bogen des Werkes mit seinen traumhaft ineinander verwobenen beiden Gesichtern hat Bezüge zu einem Typus, der auch in der romantischen Lyrik nicht unbekannt ist und etwa als „Berceuse heroique“ beschrieben werden könnte: bei Lord Byron und Victor Hugo findet er sich ebenso wie etwa bei Adam Mickiewicz, von dem es ein fast zeitgleich mit Schuberts „Adagio“ entstandenes Gedicht gibt, das man (wenn man solche Parallelen überhaupt zulassen möchte) für eine getreue Übersetzung von Schuberts Tongedicht halten könnte. – Solchen „elitären“ Bezügen stehen freilich auch schlichtere – und nicht weniger berührende – gegenüber. In den Erinnerungen von Schuberts Freunden taucht die Vermutung auf, er habe sich auch hier auf ein Volkslied gestützt, das er auf seiner Sommerreise 1825 kennengelernt habe. Das „Lied der Rammpfahlarbeiter“ (Pilotenschlägerlied) aus Gmunden, von dem traditionellerweise behauptet wird, es sei von Schubert hier verwendet worden, konnte allerdings bis jetzt nicht aufgefunden werden. Wenn Schubert, was anzunehmen ist, mit diesem Vorbild (so es denn wirklich existiert) ähnlich frei verfahren ist, wie mit dem schwedischen Volkslied, das ihn im langsamen Satz des Es-Dur-Trios op.100/D 929 inspiriert hat, wird es allerdings auch recht schwer sein, diese Derivation nachzuweisen.

© by Claus-Christian Schuster

Schubert: Sonate B-Dur D 28

Franz Schubert

* 31. Jänner 1797
† 19. November 1828

Sonate B-Dur D 28

Komponiert:Wien, 27. Juli – 28. August 1812
Uraufführung:nicht dokumentiert
Erstausgabe:Philharmonischer Verlag, Wien, 1923

Was der fünfzehnjährige Schubert hier, wohl für gemeinsames Musizieren mit seinen Schulfreunden im Stadtkonvikt, konzipiert und nur zum Teil ausgeführt hat ( – der autographe Titel „Sonate“ verrät recht unmißverständlich den Plan eines mehrsätzigen Werkes – ), ist bei aller entwaffnenden Naivität doch auch ein Stück Prophetie: mit ihrer, für ein Werk so offensichtlich „häuslichen“ Zuschnitts ungewöhnlichen Großflächigkeit nimmt schon die Exposition einen wesentlichen Zug des „richtigen“ B-Dur-Trios voraus. Und während man von einer Durchführung fast nicht sprechen kann – sie ist, wie in manchen Werken der Frühklassik, durch einige wenige Überleitungs- und Rückführungstakte kaum mehr als angedeutet – überrascht uns die Reprise durch nochmalige Dehnung des ohnehin schon weitgespannten Bogens. Wenn also auch der Inhalt noch recht deutlich an Haydn gemahnt, so ist doch das Gefäß schon rechter Schubert. Daß die gewählteTonart ( – unter Haydns 45 Klaviertrios finden sich gerade drei in B-Dur – ) für das Genre Klaviertrio gerade in diesem Moment seiner Entwicklung fast symbolhafte Bedeutung gewinnt – Beethoven hatte eben im Vorjahr das „Erzherzog-Trio“ (B-Dur, op.97) komponiert, dem er wenige Wochen vor Schuberts erster Triokomposition mit dem für Maximiliane Brentano geschriebenen B-Dur-Allegretto (WoO 39) seine letzte folgen hatte lassen – läßt das Werk noch deutlicher im Lichte eines fünfzehn Jahre später eingelösten Versprechens erscheinen.

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Schönberg: Sonett CCXVII von Petrarca (op.24/IV, arr. von Felix Greissle)

Arnold Schönberg

* 13. September 1874
† 13. Juli 1951

Sonett CCXVII von Petrarca (op.24/IV, arr. von Felix Greissle)

Komponiert:Mödling (Bernhardgasse 6), vor dem 8.Oktober 1922 bis 29. März 1923
Uraufführung:Original:
privat: Wien (Krugerstraße 17), 2. Mai 1924
öffentlich: Donaueschingen, Musikfest der IGNM, 20. Juni 1924

Bearbeitung:
nicht dokumentiert
Erstausgabe:Wilhelm Hansen, Kobenhavn, 1925 (Original und Bearbeitung)

Sonett CCVVII von Petrarca
(IV. Satz aus der Serenade für Klarinette, Baßklarinette, Mandoline, Gitarre, Geige, Bratsche, Violoncell und eine tiefe Männerstimme;
autorisierte Übertragung für Violoncell solo, Geige und Klavier von Felix Greissle)


Am kompositorischen Weg Schönbergs ist die Serenade op.24 ein Meilenstein, und innerhalb dieses siebensätzigen Werkes kommt wieder dem Sonett ganz besondere Bedeutung zu: Es nimmt nicht nur formal die Mitte des Werkganzen ein, sondern ist auch inhaltlich dessen „Herzstück“, ein Umstand, der nicht zuletzt durch die Instrumentation (das Erscheinen der Singstimme) zur Geltung gebracht wird. Schönberg hat diesen Satz oft als Paradigma seiner kompositorischen Prinzipien zitiert und auf die außergewöhnliche Stellung dieser Komposition innerhalb seines Lebenswerkes hingewiesen. Eines dieser Selbstzeugnisse ist besonders gut geeignet, uns in die Problematik des Sonetts einzuführen:

„Dieser Satz ist spätestens 1920 komponiert, ich glaube aber, er dürfte 1919 konzipiert sein. Er ist eines der ersten Stücke, in denen sich die 12 Ton-Technik als x-Technik ankündigt. Hier handelt es sich um 14 Töne. Die Arbeitsweise aber ist die der 12 Ton-Technik. Das Interessante an diesem Stück sind nur die Zahlenverhältnisse, die hier durchaus bewußt als Konstruktion zugrundegelegt wurden.“
(Arnold Schönberg, September 1928)

Dieser letzte Satz, der ganz offensichtlich „romantische“ Opposition provozieren möchte, stellt eine Verbindung zwischen dem Sonett und einer aus dessen Entstehungszeit stammenden Prosaskizze Schönbergs her, die den Titel Kunst-Golem trägt:

„…Würde ein Denker (ohne Zuhilfenahme der Phantasie) ein gedanklich wirklich gut erdachtes Tonstück herstellen, das alle aus einer richtigen Erkenntnis der künstlerischen Bedingungen sich ergebenden Gesetze gut berücksichtigt, so müßten sich in uns dafür die Gefühle ebenso finden, wie für solche Gebilde, die auf dem rein gefühlsmäßigen Wege der Phantasie hergestellt werden. Es ist unwahrscheinlich, daß ein solcher Kunst-Golem herstellbar ist; wäre er es aber, so wäre gegen seine künstliche, gedanklich-trockene Herkunft kein Einwand stichhältig.“
(Arnold Schönberg, Traunkirchen 15. August 1922.)

Wendet man sich aber dem ersten Teil der Aussage von 1928 zu, so entdeckt man zwei ganz erstaunliche Ungenauigkeiten. Zunächst das Kompositionsdatum: Die erste Spur der Arbeit am Sonett, die dreitaktige Keimzelle der zugrundeliegenden Reihe, findet sich in einem Arbeitsheft (Kleines Skizzenbuch IV, Skizze 811) zwischen Eintragungen vom 31. Mai und vom 8. Oktober 1922. Dieses letztere Datum trägt auch die geänderte Endfassung der Reihe auf einem Einzelblatt (Nr. 860 a/b). (Auf die zeitliche Nähe zu den Kunst-Golem-Gedanken sei hier noch einmal hingewiesen.) Die Erstniederschrift des ganzen Satzes in Particellform entstand einige Monate danach (16.-29. März 1923), und die Reinschrift trägt das Schlußdatum 19. April 1923. Aufgrund dieser Quellenlage läßt sich unschwer ableiten, daß Schönbergs Datierung von 1928 schlicht unrichtig ist. Sollte es sich nicht einfach um einen Gedächtnisfehler des Komponisten handeln, so könnte der – 1928 schon lange an die Öffentlichkeit gedrungene – unselige „Wiener Prioritätsstreit“ um die „Erfindung“ der Zwöftontechnik zwischen Arnold Schönberg und Josef Matthias Hauer eine Erklärung für die Fehldatierung bieten. Auch das Auftauchen der ominösen Jahreszahl „1919“ ließe sich mit dieser Hypothese recht leicht in Einklang bringen: 1919 ist das Entstehungsjahr von Hauers Klavierstück Nomos op.19 (25.-29. August 1919), in dem dessen „Zwölftonregel“ das erste Mal in Erscheinung tritt.
Ließe sich also diese erste Ungenauigkeit noch einigermaßen schlüssig erklären, so ist die zweite schon weit kryptischer: Schönberg spricht 1928 von „14 Tönen“, obwohl schon die oberflächlichste Betrachtung des Satzes klarstellt, daß es sich tatsächlich um 12 Töne handelt. Ob es sich hier um einen Flüchtigkeitsfehler (etwa in Zusammenhang mit den 14 Verszeilen des Sonetts) oder aber um eine absichtsvolle Mystifikation handelt, wird nicht leicht zu entscheiden sein.
Auf die konstruktiven Zahlenverhältnisse, die der Architektur des Stücks zugrundeliegen, kommt Schönberg auch in einem Brief an Josef Matthias Hauer zu sprechen, dessen kollegialer Ton übrigens zeigt, daß Schönberg in Hauer noch 1925 weder einen Rivalen noch einen Plagiator sah:

„Ich wollte gerne über manches mit Ihnen sprechen. Z. Bsp. über ein Buch von Wilhelm Werker […] »Studien über die Symmetrie der Bachfugen«. Mich interessiert das Buch sehr. […] Ich glaube, wir arbeiten am selben Gegenstand: ich meine, Sie, er und ich, und er dürfte in gewisser Hinsicht – in der Anschauungsart – in der Mitte zwischen uns beiden stehen. […] Auch ich habe bereits in ähnlicher Richtung gedacht und gesucht. Auch gefunden. Aber anderes. Z. B. habe ich auch in meinen eigenen Werken bereits Zahlensymmetrien betrachtet. Etwa im I. Quartett, wo sovieles durch 5 teilbares unbewußt vorkommt. Oder in der Serenade, wo in den Variationen 2 x 14 Töne in 11 Takten das Thema bilden und der ganze Satz – bewußt 77 Takte lang ist. […] Oder im Sonnet mit seinen 14 elftaktigen [recte: elfsilbigen] Verszeilen. Vielleicht haben Sie einmal Zeit, mich zu besuchen.“
(Arnold Schönberg an Josef Matthias Hauer, Mödling, 5. Jänner 1925)

Jedenfalls stellt das Sonett einen Sonderfall der „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ dar. Schönberg verzichtet hier auf die Verwendung von Modi (Krebs, Umkehrung, Krebsumkehrung) und Transpositionen. Das 12-tönige Thema erscheint in der Singstimme (die Greissle in der Bearbeitung dem Violoncello anvertraut) als Melodie, in den Begleitstimmen motivisch fragmentiert und in vertikaler Schichtung („harmonisch“) als Akkordfolge. Dabei ergibt sich aufgrund der metrischen Konfiguration des Sonetts (14 elfsilbige Verszeilen, gegliedert in je zwei Vier- und Dreizeiler) und der rein syllabischen Vertonung, daß der zwölfte Ton der Singstimme (also der Abschlußton der Zwölftonreihe) mit der ersten Silbe des zweiten Verses zusammenfällt, und auf diese Weise jede Verszeile der Reihe nach mit einem anderen Ton beginnt: die Anfangstöne der Verse 2-13 bilden also akrostichisch den Krebs der Zwöftonfolge. Die aus der gewählten Organisationsform des Ganzen resultierende Dominanz der Reihe in ihrer Urgestalt erfordert, daß die Intervallverhältnisse dieser Reihe besonders ausgewogen seien. Aus diesem Grund hat Schönberg seinen ursprünglichen „Einfall“, in dem nicht weniger als fünf der elf Intervallschritte ident waren, in einem zweiten Arbeitsgang modifiziert:

ursprüngliche Gestalt – E D Es Des C H Fis F A Gis G B
endgültige Gestalt – E D Es Ces C Des As Ges A F G B

In dieser Form bot die Reihe nun jene Flexibilität, die Schönberg für die Umsetzung der exaltierten Rhetorik des Gedichtes in eine entsprechend dramatische musikalische Gestik brauchte. (Daß für den „naiven“, also nicht anhand der Partitur analysierenden Hörer der Unterschied zwischen den beiden Versionen kaum wahrnehmbar wäre, sei nur am Rande vermerkt.)

Felix Greissle (1894-1982), Schüler und seit 1921 Schwiegersohn Schönbergs, dessen Famile damals zusammen mit dem Komponisten das Haus in der Bernhardgasse bewohnte, machte sich unmittelbar nach der Vollendung der Serenade an die Herstellung einer Triofassung, die spätestens im April 1924 abgeschlossen gewesen sein muß; während die anderen Sätze ungedruckt geblieben zu sein scheinen (und als verschollen gelten müssen), wurde die Bearbeitung des Petrarca-Sonetts gleichzeitig mit dem Original veröffentlicht. Da hier das Arrangement durch die erzwungene Weglassung des Textes eine wesentliche Dimension und Wirkungsebene des Werkes vermissen läßt, erscheint es notwendig, auf das zugrundeliegende Gedicht etwas näher einzugehen.

Es ist das sechste und letzte Mal, daß Schönberg einen Petrarca-Text als Vorlage wählt. Die fünf unserem Sonett vorangehenden Vertonungen entstanden sämtlich 1904/05: neben den vollendeten drei Sonetten (op.8 Nr.4-6, 1904) haben sich Skizzen zu zwei weiteren erhalten (Nr.116 – Was thust, was denkst du, Geist, 1904; Nr.214 – O süße Blick´, 1905).
Wahrscheinlich gaben die Feiern aus Anlaß von Petrarcas 600. Geburtstag (1904) den unmittelbaren Anstoß zu diesen Kompositionen. Der tiefere Grund für Schönbergs Interesse an Petrarcas Lyrik liegt aber wohl in der ausgeprägten Künstlichkeit des hier zur Hochblüte gebrachten Stils, der einerseits zu raffinierten Mataphern, Chiffren und Abstraktionen neigt und andererseits ein streng rationales, ja geradezu mathematisch prädestiniertes Formschema verwirklicht.
In allen Fällen bediente sich Schönberg der 1818/19 erschienenen Übersetzung von Karl August Förster (1784-1841), eines von Ludwig Tieck besonders geschätzten Lyrikers aus dem Dresdener Kreis, der auch Dante und Tasso formvollendet übertragen hat – und es ist wohl kein Zufall, daß auch Hans Pfitzner in seiner Petrarca-Komposition (op.24 Nr.3, 1909) auf diese Übertragung zurückgreift. An deutschen Nachdichtungen dieser Texte herrschte wahrlich kein Mangel: Das zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts plötzlich wiedererwachende Interesse an Petrarca ist ja vor allem auf die bahnbrechende Übersetzertätigkeit August Wilhelm Schlegels (1767-1845) zurückzuführen, dessen 1804 erschienenen Blumensträuße italienischer, spanischer und portugiesischer Poesie eine Renaissance der romanischen Sonettdichtung einleiteten – Ende 1818 vertonte auch Schubert zwei der von Schlegel übersetzten Petrarca-Sonette (D 628-D 629) zusammen mit einem von Johann Diederich Gries (1775-1842) übertragenen (D 630). Die Petrarca-Begeisterung der Romantik klingt dann auch in den drei Petrarca-Sonetten (R 578) für Gesang und Klavier und für Klavier solo (Années de Pèlerinage II, R 10b) von Franz Liszt nach.
Schönberg steht also mit seiner Vorliebe für Petrarcas Lyrik in einer wohlgegründeten Tradition – und daß der Komponist für seinen entscheidenden Schritt in kompositorisches Neuland sich gerade diesen literarischen Weggefährten erkor, kommt gewiß nicht von ungefähr: denn wie groß auch immer seine Sehnsucht nach den unentdeckten Kontinenten der Musik (und sein Ehrgeiz, als ihr Entdecker in die Geschichte einzugehen) gewesen sein mag, so unmöglich war es ihm, zu vergessen, von welchen Küsten er aufgebrochen war. Symptomatisch für diesen gleichermaßen forschend in die Zukunft wie andächtig in die Vergangenheit gerichteten Blick des Komponisten sind zwei Details aus der für die Ausprägung der dodekaphonen Technik kritischen Schaffensphase des Komponisten: Unmittelbar vor dem Beginn der Arbeit am Sonett vollendete Schönberg die Orchestrierung zweier Bachscher Choralvorspiele („Schmücke dich, o liebe Seele“, BWV 654, und „Komm Gott Schöpfer, heiliger Geist“, BWV 667); und in das Autograph das bald nach der Serenade in Angriff genommenen Bläserquintetts op.26 schreibt er:

„Ich glaube, Goethe müßte ganz zufrieden mit mir sein.“

Francesco Petrarca
(Arezzo 1304 – 1374 Arquà)

aus: Il Canzoniere (Rerum Vulgarium Fragmenta
Nr.256 (Sonetto CCXVII)

Far potess´io vendetta di colei
Che guardando et parlando mi distrugge
Et, per più doglia, poi s´asconde et fugge,
Celando li occhi a me sì dolci et rei!
Così li affitti e stanchi spirti mei
A poco a poco consumando sugge,
E ´n sul cor quasi fiero leon rugge
La notte, allor quand´io posar devrei.
L´alma, cui Morte del suo albergo caccia,
Da me si parte; et di tal nodo sciolta
Vassene pur a lei che la minaccia.
Meravigliomi ben s´alcuna volta,
Mentre le parla et piange et poi l´abbraccia,
Non rompe il sonno suo, s´ella l´ascolta.


Sonett CCXVII
(übersetzt von Karl August Förster)

O, könnt´ ich je der Rach´ an ihr genesen,
Die mich durch Blick und Rede gleich zerstöret,
Und dann zu größerm Leid sich von mir kehret,
Die Augen bergend mir, die süßen, bösen!
So meiner Geister matt bekümmert Wesen
Sauget mir aus allmählich und verzehret
Und brüllend wie ein Leu ans Herz mir fähret
Die Nacht, die ich zur Ruhe mir erlesen!
Die Seele, die sonst nur der Tod verdränget,
Trennt sich von mir, und, ihrer Haft entkommen,
Fliegt sie zu ihr, die drohend sie empfänget.
Wohl hat es manchmal Wunder mich genommen,
Wenn die nun spricht und weint und sie umfänget,
Daß fort sie schläft, wenn solches sie vernommen.

© by Claus-Christian Schuster

Schönberg: Verklärte Nacht

Arnold Schönberg

* 13. September 1874
† 13. Juli 1951

Verklärte Nacht. Gedicht von Richard Dehmel (aus „Weib und Welt“) für sechs Streich-Instrumente. Op.4 (autorisierte Übertragung für Klavier, Violine und Violoncello von Eduard Steuermann)

Komponiert:Payerbach und Wien, September – 1. Dezember 1899
Widmung:Bearbeitung: Alice Moller (1871-1962)
Uraufführung:Original:
Wien, Musikverein/Kleiner Saal(Brahms-Saal), 18. März 1902
Arnold Rosé (1863-1946), Violine
Albert Bachrich (1874-1924), Violine
Anton Ruzitska (1872-1933), Viola
Franz Jelinek (1868-1945), Viola
Friedrich Buxbaum (1869-1948), Violoncello
Franz Schmidt (1874-1939), Violoncello

Bearbeitung:
nicht dokumentiert
Erstausgabe:Original: Dreililien-Verlag, Berlin, 1905; Bearbeitung: Margun Music, Newton Centre, 1979

Nach seinem freudigen Ausscheiden aus dem ungeliebten Bankdienst, den Schönberg nach dem vorzeitigen Tod seines Vaters (1. Jänner 1891) antreten hatte müssen, wirkte er einige Jahre hindurch als Dirigent von Arbeiterchören in Stockerau (1895/96), Mödling (1896-1898) und Wien. Schon im ersten Jahr dieser Tätigkeit lernte er den um drei Jahre älteren Alexander von Zemlinsky kennen, mit dem ihn bald eine enge Freundschaft verband. Zemlinsky wurde Schönbergs einziger Kompositionslehrer – „derjenige, dem ich fast all mein Wissen um die Technik und die Probleme des Komponierens verdanke“, wie Schönberg in dem 1949 niedergeschriebenen Lebensrückblick My evolution festhält.

„Als ich Zemlinsky kennenlernte, war ich ausschließlich Brahmsianer. Er aber liebte Brahms und Wagner gleichermaßen, wodurch ich bald darauf ebenfalls ein glühender Anhänger beider wurde. Kein Wunder, daß die Musik aus dieser Zeit deutlich die Einflüsse dieser beiden Meister zeigte, mit einem gelegentlichen Zusatz von Liszt, Bruckner und vielleicht auch Hugo Wolf.“
(Schönberg, My evolution)

In seiner kompositorischen Entwicklung war Zemlinsky als brillanter Schüler der beiden „Füchse“ (Robert Fuchs und Johann Nepomuk Fuchs) seinem jungen Freunde, der nach eigenem Zeugnis bis dahin seine theoretischen Kenntnisse vor allem dem Studium der einschlägigen Artikel in Meyers Konversationslexikon verdankte, weit voraus. Neben zahlreichen Liedern und einigen Kammermusikwerken hatte Zemlinsky schon drei Orchesterwerke und eine Oper vollendet. Diese Oper, Sarema (nach Rudolf von Gottschalls Die Rose vom Kaukasus) wurde am 10. Oktober 1897 in München uraufgeführt, und aus diesem Anlaß bat Zemlinsky Schönberg, ihm bei der Herstellung des Klavierauszuges behilflich zu sein. Zu diesem Zwecke begleitete Schönberg seinen Freund nach Payerbach auf Sommerfrische. Dort schrieb Schönberg in jenem Sommer 1897 nicht nur sein erstes vollständig erhaltenes Streichquartett (D-Dur), das – nach gründlicher Revision unter Zemlinskys Anleitung und auf dessen Vermittlung hin – am 17. März 1898 im Wiener Tonkünstlerverein uraufgeführt wurde, sondern auch zwei Lieder, deren Texte er dem 1893 erschienenen Gedichtband Aber die Liebe von Richard Dehmel (1863-1920) entnommen hatte.

1899 finden wir die beiden Dioskuren wieder in Payerbach auf Sommerfrische; in Schönbergs Gepäck findet sich auch diesmal ein Dehmel-Band, Weib und Welt, aus dem er schon im Frühling vier Gedichte vertont hatte. Das Buch, dessen explizit erotischer Ton schon bei seiner Veröffentlichung (1896) für erhebliches Aufsehen gesorgt hatte, findet in diesen Monaten in Arnold Schönberg einen besonders empfänglichen Leser: seit einiger Zeit wirbt er um die vierundzwanzigjährige Schwester seines Freundes, Mathilde Zemlinsky, die den beiden jungen Männern in Payerbach Gesellschaft leistet. Der leidenschaftliche und zunehmend kühne Ton der Dehmel-Kompositionen dieser Monate verrät mehr über die Gefühle und Erlebnisse der jungen Liebenden, als es ein noch so offenherziges Tagebuch je vermöchte.

Schon in dem Lied Warnung (op.3 Nr.3), am 7. Mai 1899 noch in Wien komponiert, hat Schönberg für Dehmels drastische Behandlung des Motives der Eifersucht eine kühn zupackende und wirkungsvolle musikalische Gestalt gefunden. Kurz danach entsteht das später als op.2 Nr.2 veröffentlichte Schenk´ mir deinen goldenen Kamm (Jesus bettelt). Hier schwelgt Dehmel in der Liebesbeziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena, einem Thema, das er ein Jahrzehnt später in den Verwandlungen der Venus (1907) so breit ausführen wird, daß Borries von Münchhausen eine (erfolgreiche) Anklage wegen Blasphemie gegen ihn anstrengen kann. Am 9. August folgt dann Schönbergs Vertonung des Dehmel-Gedichtes Erwartung (op.2 Nr.1): Die preziöse Jugendstilerotik der Vorlage inspiriert den Komponisten zu einer sehr subtilen harmonischen Gestaltung, deren raffinierte Vorhaltshäufungen die weitere Entwicklung des Schönbergschen Idioms schon erahnen lassen.

Wahrscheinlich im September begann Schönberg dann die Arbeit an der Verklärten Nacht, die den eigentümlichen poetischen Zauber der vorangegangenen Dehmel-Vertonungen fortsetzt und vertieft, sich aber aus der unmittelbaren Abhängigkeit von den doch sehr zeitbedingten Versen löst. Dazu schrieb der Komponist rückblickend:

„Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren Detlev von Liliencron, Hugo von Hofmannsthal und Richard Dehmel die bedeutendsten Vertreter des »Zeitgeistes« in der Lyrik. In der Musik aber folgten nach Brahms´ Tod viele junge Komponisten dem Vorbild von Richard Strauss, indem sie Programmusik schrieben. Dies erklärt die Komposition der »Verklärten Nacht«: sie ist Programmusik, weil sie die Dichtung Richard Dehmels beschreibt und auszudrücken versucht.
Mein Werk zeigt aber vielleicht doch einige Unterschiede von anderen Werken dieser Art. Erstens wurde es nicht für Orchester geschrieben, sondern für Kammerbesetzung, und zweitens, weil sie nicht irgendeine Handlung oder ein Drama schildert, sondern sich darauf beschränkt, die Natur zu zeichnen und menschliche Empfindungen auszudrücken. Es scheint, daß meine Komposition aufgrund dieser Haltung Qualitäten gewonnen hat, die auch befriedigen, wenn man nicht weiß, was sie schildert, oder, mit anderen Worten, sie bietet die Möglichkeit, als »reine« Musik geschätzt zu werden. Daher vermag sie einen vielleicht das Gedicht vergessen zu lassen, das mancher heutzutage als ziemlich abstoßend bezeichnen könnte.
Dessenungeachtet verdient vieles von dem Gedicht Anerkennung wegen seiner in höchstem Maße poetischen Darstellung der Gefühlsregungen, die durch die Schönheit der Natur hervorgerufen werden, und wegen seiner bemerkenswerten moralischen Haltung bei der Behandlung eines erschütternd schwierigen Problems.“
(Programm-Anmerkungen zur Verklärten Nacht, 20. August 1950)

Ein weiteres halbes Jahrhundert später ist es für uns noch viel schwieriger geworden, die Faszination nachzuempfinden, die Dehmels Verse zur Zeit ihrer Entstehung ausgeübt haben müssen; daß ihr aber nicht nur Komponisten scharenweise erlagen, zeigen die bewundernden Urteile Wedekinds, Liliencrons und vieler anderer, die Dehmel neidlos für den bedeutendsten Lyriker ihrer Generation hielten. Niemand konnte damals ahnen, daß die erotische Exaltation Dehmels noch viel rascher verwelken würde als das hohepriesterliche Pathos seines unversöhnlichen Rivalen Stefan George, der auf die zeitgenössischen Komponisten – und besonders auf Schönberg – eine ebenso unwiderstehliche Wirkung ausübte. (Im Schnittpunkt dieser einander ausschließenden und doch ergänzenden Lebensentwürfe steht – cherchez la femme – Georges Freundin und Dehmels spätere Ehefrau Ida Coblenz.) Schönbergs Entscheidung, das Gedicht unter Aussparung der Worte zu vertonen, hat jedenfalls die Überlebensfähigkeit des Werkes nicht unwesentlich erhöht.

Zur Komposition des Werkes brauchte Schönberg nur etwa drei Wochen, während ihn die zahlreichen – in erster Linie den formalen Verlauf betreffenden – Korrekturen bis tief in den Herbst beschäftigten. Die wohl schon in Wien beendete Reinschrift trägt das Abschlußdatum 1. Dezember 1899.

In der an Entwicklungsschüben und -sprüngen reichen Biographie Schönbergs wird die Zielstrebigkeit und Rasanz seiner künstlerischen Entwicklung vielleicht nirgendwo so faßbar wie im direkten Vergleich des D-Dur-Streichquartetts von 1897 mit der Verklärten Nacht von 1899: Stringenz der motivischen Arbeit, kontrapunktische Meisterschaft und ein sehr persönlicher Umgang mit der nachwagnerschen Harmonik heben das neue Werk weit über die durchaus respektable Talentprobe, die Schönberg mit jenem Streichquartett erbracht hatte, hinaus. Die Prägnanz der Motive und die dramatische Plastizität der musikalischen Gestik eröffnen schon hier einen Ausblick auf den schicksalhaften Weg, den Schönberg in den folgenden Jahrzehnten beschreiten wird müssen – und unwillkürlich wird man an jene Worte von Adolf Loos erinnert, die er auf die (im wesentlichen zwei Jahre nach der Verklärten Nacht beendeten) Gurrelieder gemünzt hat:

„In diesem ersten Werk ist für den, der Ohren hat zu hören und Augen hat zu sehen, das ganze Lebenswerk des Künstlers enthalten. Die Krokodile sehen einen menschlichen Embryo und sagen: Es ist ein Krokodil. Die Menschen sehen denselben Embryo und sagen: Es ist ein Mensch. Von den Gurreliedern sagen die Krokodile, es wäre Richard Wagner. Aber die Menschen fühlen nach den ersten drei Takten das unerhört Neue und sagen: Das ist Arnold Schönberg!“
(Adolf Loos, Arnold Schönberg zum 50. Geburtstage, 1924)

Die Übernahme konkreter literarischer Programme war auch vor Schönberg nicht auf die symphonische Musik beschränkt (Liszts drei Petrarca-Sonette aus den Années de Pèlerinage z.B. gehen bis auf das Jahr 1837 zurück), die konsequente Anwendung der in der symphonischen Dichtung ausgeprägten Gestaltungsprinzipien auf ein kammermusikalisches Gebiet, das bis dahin als die klassische Domaine „absoluter“ Musik schlechthin gegolten hatte, darf aber durchaus als eine selbständige Errungenschaft des jungen Schönberg betrachtet werden:

„Bei der Komposition von Richard Dehmels Gedicht Verklärte Nacht leitete mich die Absicht, in der Kammermusik jene neuen Formen zu versuchen, welche in der Orchestermusik durch Zugrundelegen einer poetischen Idee entstanden sind. Zeigt das Orchester die gleichsam episch-dramatischen Gebilde tondichterischen Schaffens, so kann die Kammermusik die lyrischen oder lyrisch-epischen darstellen. Stehen nun auch die Mittel der letzteren hinsichtlich der tonmalerischen Ausdrucksfähigkeit hinter denen des Orchesters zurück, – ein Mangel, der nur beim Vergleich bemerkbar ist, der aber doch auch, wenn er wirklich einer ist, mit Rücksicht auf das Kolorit zu Gunsten der Sinfonie gegen das Streichquartett überhaupt spräche – so bleibt doch als Gemeinsames das formenbildende Prinzip. Dieses ist ein uraltes und leitet seinen Ursprung von jenen alten Meistern her, die in den – heute endlos scheinenden – Textwiederholungen solange über einen poetischen Gedanken musikalisch phantasierten, bis sie ihm alle möglichen Stimmungen und Bedeutungen abgewonnen – fast möchte ich sagen: bis sie ihn analysiert hatten.“
(Arnold Schönberg in „Deutsche Tonkünstler-Zeitung“)

Nicht nur wegen der ganz ungewohnten Verquickung von Programm- und Kammermusik, sondern auch aufgrund der stellenweise unerhört komplexen Harmonik des Werkes stieß es schon vor seiner Uraufführung auf Widerstände. Zemlinsky, der Schönbergs D-Dur-Quartett den Weg geebnet hatte, versuchte auch diesmal seinen Einfluß geltend zu machen:

„Im Sommer 1899 (während eines gemeinsamen Aufenthaltes in Payerbach) schrieb Schönberg ein Streichsextett nach einem Gedicht von Richard Dehmel. Soviel ich weiß, war es die erste Programmusik für Kammermusik. Ich versuchte abermals, den Vorstand des Tonkünstlervereins zu einer Aufführung dieses Werkes zu bestimmen. Aber diesmal hatte ich kein Glück. Das Stück wurde »geprüft«, und das Ergebnis war absolut negativ. Ein Mitglied der Jury gab sein Urteil mit den Worten ab: »Das klingt ja, als ob man über die noch nasse Tristan-Partitur darübergewischt hätte!« – Nun, dieses Sextett, »Verklärte Nacht«, ist eines der am meisten aufgeführten Werke von Schönberg und der modernen Kammermusikliteratur überhaupt geworden. Schönberg ließ sich durch diesen scheinbaren Mißerfolg nicht beirren; ein paar kräftige, launige Worte auf seine Kritiker – und damit hatte seine damals noch ungemein heitere, optimistische Natur die ganze Angelegenheit erledigt.“
(Alexander von Zemlinsky, Jugenderinnerungen)

Wer dieser harsche und verständnislose Kritiker war, ist nicht überliefert. Die oft geäußerte Vermutung, es sei Richard Heuberger (1850-1914) gewesen, läßt sich jedenfalls dokumentarisch nicht belegen. Heuberger, der zu Brahms´ engerem Freundeskreis gehört hatte, allerdings schon ein Jahr nach dem Tod des Meisters eine ganz unbrahmsische Karriere als Operettenkomponist begonnen hatte (Der Opernball, 1898), soll (nach dem Zeugnis von Schönbergs Jugendfreund David Josef Bach) dem jungen Schönberg nachdrücklich zur Komponistenlaufbahn geraten haben; und seit dem 27. Oktober 1899 waren Schönberg und Heuberger (als neugewählter Präsident) sogar Kollegen im Vorstand des Tonkünstlervereines. Daß Zemlinsky und Schönberg, wie dessen Schwester Ottilie zu erzählen wußte, Heubergers Opernball instrumentieren mußten, mag einer der Gründe sein, warum der harmlose Erfolgskomponist von dem jungen Freundespaar mit besonderer Inbrunst verachtet wurde.

Da Schönberg wenige Wochen, nachdem er Mathilde von Zemlinsky zu seiner Frau gemacht hatte (18. Oktober 1901), seinen Wohnsitz nach Berlin verlegte, wo er als Kapellmeister an Ernst von Wolzogens Buntem Theater („Überbrettl“) wirkte, mußte Zemlinsky seinen Schwager über die skandalumwitterte Uraufführung, die das erweiterte Rosé-Quartett am 18. März 1902 – ganz ohne Mitwirkung des gestrengen Tonkünstlervereines – spielte, brieflich berichten. Auch aus diesem Dokument ist ersichtlich, daß man in Heuberger einen Hauptgegner sah:

„Lieber Freund, unser Telegramm hat Dir bereits einen Vorgeschmack meines Eindrucks über den Erfolg deiner „verkl. Nacht“ gegeben. Nun ein wenig Ausführlicheres. Mit Ausnahme einiger grossen Längen u. Gespreiztheiten in der Mitte des Werkes, habe ich einen grossen Eindruck empfangen. Es sind Stellen von wirklicher Schönheit u. tiefster Empfindung, sowie von echter grosser ungewöhnlicher Kunst darin! Du musst unbedingt die Sache noch einmal redigiren, herausgeben u. Verbreitung suchen. Es ist sehr viel Tristan noch zu hören – aber du weißt, wie ich darüber denke. Wir, unsere wirklichen Freunde, waren begeistert. Ich habe auch [Heinrich] Reinhard[t], Robert [recte: Gustav?] Schönaich gesprochen, sie alle haben den Eindruck eines Werkes von Bedeutung „wenn auch mit starken Auswüchsen“ gehabt. Wie Heuberger darüber denkt, weiss ich bis jetzt nicht. Wahrscheinlich nicht anders als damals. Das wäre ja zu „beschämend“ für ihn.
Der Erfolg war so wie du ihn wünschtest. Starke oftmalige Hervorrufe mit Opposition gemischt. Wir haben die paar tüchtig niedergestunken. […] Es kommt für uns Alle die Zeit!! U. die Heubergers u. Genossen seh ich doch noch am Schindanger umkommen.
(Zemlinsky an Schönberg, 19. März 1902)

Der Lieblingsfeind äußerte sich einige Tage später in der Neuen Freien Presse:

…Da es noch genug „ungebildete“ Leute zu geben scheint, welche das Gedicht nicht kennen, so stiess diese Programm-Kammermusik (Gott schütze uns in Zukunft vor dieser Species!) auf das Unverständnis aller nicht secessionistisch angehauchten Zuhörer. Das Eine fühlte aber ein Jeder, dass diese verklärte Nacht erschrecklich lange gewährt haben muss, und nicht einmal durch allerhand Finessen, wie Pizzicati, Flageolet-Töne, Sordinen etc. war einiges Licht in sie zu bringen. Es ist nicht wegzuleugnen, dass Herr Schönberg es versteht, für Streichinstrumente wirkungsvoll zu schreiben; möge er diese Gabe bei einem gediegenen Kammermusikwerk auszunützen versuchen! Die durch die Novität aufgeregte Zuhörerschaft, welche applaudirte, zischte und schrie, wurde erst durch das herrlich schön gespielte Quintett in F-Dur von Brahms beruhigt.
(R[ichard] h[euberger], Neue Freie Presse, 24. März 1902)

Sogar diese minimalen und gönnerhaften Konzessionen des strengen Kritikers an die Fähigkeiten Schönbergs sorgten bei den Freunden schon für ein ungläubig-spöttisches Staunen:

Rudolf Hoffmann u. Carl Weigl sind plötzlich deine Verehrer geworden seit R. Heuaff dich lobt. Ich muss aus demselben Grunde an deinem Talent zweifeln u. darauf erhebe ich mein (Augen)-glas…
(Zemlinsky an Schönberg, 26. März 1902)

Allem kritischen Gebell zum Trotz wurde die Verklärte Nacht in den nächsten Jahren zu einem der meistgespielten Werke Schönbergs; über das absolute Ausmaß dieser „Popularität“ sollte man sich freilich keine falschen Illusionen machen: Als Schönberg vom Berliner Dreililienverlag zur Wiener Universal-Edition überwechselte, schickte Max Marschalk am 13. März 1911 eine Abrechnung nach Wien, aus der hervorgeht, daß die Verklärte Nacht mit 57 (!) zwischen 1905 und 1911 verkauften Partituren die kommerziell erfolgreichste Komposition Schönbergs war…

Alice Moller (1870-1962), die zwischen 1918 und 1920 bei Schönberg studierte, hatte eine ganz besondere Vorliebe für das Werk; als Geburtstagsgeschenk für sie fertigte Eduard Steuermann (1892-1962), der auf Vermittlung Busonis schon 1912 in Berlin Schönbergs Schüler geworden war, 1931/32 die vorliegende Bearbeitung für Klaviertrio an. Sie liegt seit 1979 gedruckt vor.


Richard Dehmel (1863-1920)
Verklärte Nacht
(aus „Weib und Welt“, 1896)

Zwei Menschen gehen durch kahlen, kalten Hain;
Der Mond läuft mit, sie schaun hinein.
Der Mond läuft über hohe Eichen,
kein Wölkchen trübt das Himmelslicht,
in das die schwarzen Zacken reichen.
Die Stimme eines Weibes spricht:

Ich trag ein Kind, und nit von Dir,
ich geh in Sünde neben Dir.
Ich hab mich schwer an mir vergangen.
Ich glaubte nicht mehr an ein Glück,
und hatte doch ein schwer Verlangen
nach Lebensinhalt, nach Mutterglück
und Pflicht; da hab ich mich erfrecht,
da ließ ich schaudernd mein Geschlecht
von einem fremden Mann umfangen,
und hab mich noch dafür gesegnet.
Nun hat das Leben sich gerächt:
Nun bin ich Dir, o Dir begegnet.

Sie geht mit ungelenkem Schritt.
Sie schaut empor; der Mond läuft mit.
Ihr dunkler Blick ertrinkt in Licht.
Die Stimme eines Mannes spricht:

Das Kind, das Du empfangen hast,
sei Deiner Seele keine Last,
o sieh, wie klar das Weltall schimmert!
Es ist ein Glanz um alles her,
Du treibst mit mir auf kaltem Meer,
doch eine eigne Wärme flimmert
von Dir in mich, von mir in Dich.
Die wird das fremde Kind verklären,
Du wirst es mir, von mir gebären;
Du hast den Glanz in mich gebracht,
Du hast mich selbst zum Kind gemacht.

Er faßt sie um die starken Hüften.
Ihr Atem küßt sich in den Lüften.
Zwei Menschen gehen durch hohe, helle Nacht.

© by Claus-Christian Schuster

Schiske: Sonatine op.34 (1952)

Karl Schiske

* 12. Februar 1916
† 16. Juni 1969

Sonatine op.34 (1952)

Komponiert:Wien, (Skizze), St. Johann/Pongau, Salzburg, Mai 1951, August – 17. September 1952
Widmung:Ilse Leeb
Uraufführung:Wien, Musikverein, Brahms-Saal, 19. März 1953
Roubicek-Trio [II]
Erich Roubicek, Klavier
Mario Beyer, Violine
Ernst Knava, Violoncello
Erstausgabe:Doblinger, Wien, 1956

Karl Schiske, dessen 25. Todestages wir heuer gedenken, ist unstreitig einer der Großen der österreichischen Musik des XX. Jahrhunderts – doch auch unbestrittene Größe schützt nicht vor Vernachlässigung, wenn keine einflußreiche und mächtige Lobby die Werkpflege betreibt. So kommt es, daß Schiskes Werk – 5 großangelegte Symphonien, das ergreifende Oratorium „Vom Tode“ (1946), ein Violin- und ein Klavierkonzert, hervorragende Klavier- und Kammermusik – im Musikbetrieb bei weitem nicht so präsent ist, wie es sein Rang und Gewicht erwarten ließen. Trotzdem ist Schiskes Vermächtnis auch ein Vierteljahrhundert nach seinem Tode im österreichischen Musikleben auf dezente Weise omnipräsent – nämlich im Werk seiner zahlreichen Schüler, einer ganzen Plejade namhafter österreichischer Komponisten: Eröd, Grünauer, Kaufmann, Kahowez, Neuwirth, Schwertsik, Urbanner, Zykan…

Schiske hatte schon unmittelbar nach Kriegsende die Arbeit an einem Klaviertrio begonnen; eine Skizze in der Musiksammlung der österreichischen Nationalbibliothek zeigt, daß aus diesem Trioentwurf schließlich das Oratorium „Vom Tode“ hervorwuchs – übrigens ein weiterer Hinweis auf das Fortwirken der Tradition, dem Klaviertrio Totenklage anzuvertrauen (Smetana, Dvorak, Tschaikovskij, Rachmaninov, Schosta-kowitsch etc.). Als der Komponist aber einige Jahre später sich wieder dem Genre zuwandte, verfolgte er ganz andere Ziele. Er schreibt dazu:

„Die Sonatine für Violine, Violoncello und Klavier op.34 ist in den Jahren 1951/52 gleichzeitig mit dem Violinkonzert entstanden. Neben diesem Konzert und nach meiner klanglich und formal groß angelegten III.Symphonie hatte ich das Bedürfnis, mit sparsamen Mitteln wieder eine richtige Kammermusik zu schreiben, die auch formal knapp und übersichtlich sein sollte. Außerdem trug ich mich schon lange mit dem Plan, nach der Komposition von zwei Streichquartetten, einem Bläserquintett, einem Sextett, einem Trio für Klarinette, Trompete und Bratsche und verschiedenen Duos auch einmal die Möglichkeit des Klaviertrios zu nützen – und zwar unter möglichst gleichmäßiger Ausnützung aller drei Instrumente, ohne klangliche Vorherrschaft des Klaviers durch Vollgriffigkeit des Satzes und ohne Degradierung des Cellos zum Baß-Instrument.
Aus diesen Prinzipien resultiert die diesem Werk eigene Verschmelzung von polyphonen Formen mit der Sonatenform; sie wird von allen drei Sätzen gemeinsam gebildet:
Der 1. Satz (Andante), eine Invention, bildet die Sonaten-Exposition.
Der 2. Satz (Allegro), ein Scherzo, ist die Sonaten-Durchführung.
Und der 3. Satz (Adagio), eine neuartige „Variationenfuge“ – in der das Thema immer gleich in allen seinen vier Gestalten (Thema, Krebs, Umkehrung, Krebs-Umkehrung) durchgeführt wird und die vom Höhepunkt in der Mitte an pyramidenförmig im Spiegel zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt – erfüllt die Funktion der Sonaten-Reprise.
Aber die ganze Konstruktion ist nicht Selbstzweck, sondern dem Musiker eine ordnende formale Basis für sein Musizieren und dem Hörer ein Bogen, der die Vielfalt der Details zu einer höheren Einheit binden soll.“

Die kristalline Klarheit dieser Architektur hätte bei einem Geringeren vielleicht ein musikalisch anämisches und rein spekulatives Gebilde ergeben – doch bei Schiske ist jeder Takt so sehr von lebendigem Klangsinn und musikantischer Vitalität erfüllt, daß sogar die gleichsam verborgenen „Sinnspiele“ zwingend und natürlich erscheinen. So ist etwa der Bau des letzten Satzes durch Zahlensymbolik mitbestimmt, indem seine 81 Takte in der durch Takt 41 verlaufenden Spiegelachse ihren Höhepunkt erreichen (81 steht hiebei gemäß einem schon im Barock angewendeten Verschlüsselungssystem für „K.SCHISKE“: 10+18+3+8+9+18+10+5=81, 41 für „I.S.BACH“: 9+18+2+1+3+9=41). Die konsequente Ableitung des gesamten Materials aus dem dreitaktigen Inventionsthema des ersten Satzes mit seinen charakteristischen Septimen und Quarten erschließt sich dem Hörer in ihrem ganzen konstruktiven Raffinement zwar erst beim genauen Studium, vermittelt aber schon beim ersten Anhören das bestimmte Gefühl zwingender Logik. Ähnlich wie Luigi Dallapiccola mit seinem (im selben Jahr enstandenen) „Quaderno musicale per Annalibera“ hat Schiske in seiner Sonatine in zeitlos gültiger Form dargelegt, daß Kalkül und Inspiration in solchen Glücksfällen einander zu steigern vermögen.

© by Claus-Christian Schuster

Scharwenka: Trio Nr.1, cis-moll, op.100

Philipp Scharwenka

* 16. Februar 1847
† 16. Juli 1917

Trio Nr.1, cis-moll, op.100

Komponiert:Berlin, 1896/97
Uraufführung:Mainz, 1898
(Tonkünstlerfest d. Allgem. Deutschen Musikvereins)
Moritz Mayer-Mahr, Klavier
Willy Burmester, Violine
Hugo Becker, Violoncello
Erstausgabe:Breitkopf & Härtel, Leipzig, 1897

Philipp Scharwenka wurde als Sohn eines Architekten in einer kleinen Kreisstadt der Provinz Posen geboren; der Vater entstammte einer seit vielen Generationen in der Mark Brandenburg ansäßigen tschechischen Familie, die Mutter war Polin. Philipp wurde zusammen mit seinem um drei Jahre jüngeren Bruder Xaver zuerst in Samter, dann in Posen und ab 1865 in Berlin musikalisch ausgebildet. Während Xaver als Schüler Kullaks die Virtuosenlaufbahn einschlug, widmete sich Philipp ganz der Komposition. Seine Lehrer an der von Kullak gegründeten „Neuen Akademie der Tonkunst“ waren Richard Wüerst und Heinrich Dorn. 1874 trat er das erste Mal in einem eigenen Konzert an die Öffentlichkeit. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich seit 1868 als Lehrer für Theorie und Komposition, zuerst an der Akademie Kullaks, dann an dem von Xaver 1881 ins Leben gerufenen „Scharwenka-Konservatorium“. 1891 begleitete er seinen Bruder nach New York, wo sie gemeinsam ein Konservatorium gründeten, das Xaver bis 1898 leitete. Philipp kehrte schon 1892 wieder nach Berlin zurück, um die Direktion ihres dortigen Konservatoriums zu übernehmen, das er im Jahr darauf mit der Klavierschule Karl Klindworths (zu deren Lehrern Hans von Bülow zählte) zum „Klindworth-Scharwenka-Konservatorium“ vereinigte und so eine Institution schuf, die im Berliner Musikleben mehrere Jahrzehnte hindurch eine hervorragende Rolle spielte.«Seit 1904 teilte Philipp Scharwenka die Direktion mit dem Dvorák-Schüler Robert Robitschek; dieser führte die Anstalt nach Philipp Scharwenkas Tod bis zu seiner zwangsweisen Pensionierung als „Nichtarier“ 1937. Danach übernahm Philipp Scharwenkas Sohn Walter (1881-1960) die Leitung. – In der Glanzzeit des Instituts unter Scharwenka und Robitschek gehörten u.a. José Vianna da Motta und Alexander Kipnis zu seinen Schülern.»

Philipp Scharwenka, der ein wenig im Schatten seines berühmteren Bruders stand, ist als Komponist zu Unrecht völlig in Vergessenheit geraten; seine ernst-verhaltene, oft umdüsterte Kammermusik ist eine wesentliche und oft übersehene Facette im Gesamtbild der Musikkultur des wilhelminischen Deutschlands.

Über die Entstehungsgeschichte seines ersten Klaviertrios op.100 ist nichts überliefert. Der das ganze Werk prägende tragische Ton legt wohl eine tiefe seelische Erschütterung als Anlaß nahe; in diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, daß das Werk bei der Gedächtnisfeier für den Komponisten am 28. Oktober 1917 den Abschluß des Programms bildete.«Hugo Leichtentritt, Das Konservatorium der Musik Klindworth-Scharwenka…, Berlin 1931, S.32. Der Cellist dieser Aufführung, Hugo Dechert, hatte übrigens 20 Jahre zuvor an der denkwürdigen Berliner Erstaufführung von Pfitzners Klaviertrio op.8 mitgewirkt.»

Der erste Satz (Lento e tranquillo, cis-moll) ist eine Elegie, deren slawischer Unterton zwar weit entfernt von jeder folkloristischen Stilisierung, aber dennoch unüberhörbar ist. (Die Metamorphose, die das Kopfmotiv im letzten Satz erfährt, bringt seinen Volksliedcharakter dann klar zum Vorschein.)

Im zweiten Satz (Allegro, fis-moll) werden schon allein durch die Tonart mendelssohnsche Geister wachgerufen; das fast schon walzerselige Trio ist der einzig wirklich entspannte Moment des ganzen Werkes.

Das abschließende Allegro appassionato (cis-moll), der einzige Satz des Werkes in Sonaten-Hauptsatzform, stellt im Hauptthema eine aus dem Material des ersten Satzes gewonnene, für das slawische Volkslied typische Wendung in den Mittelpunkt, verfremdet diesen Bezug aber durch die nahezu allgegenwärtige Stimmung leidenschaftlichen Aufruhrs und fliehender Atemlosigkeit. Die erregte Spannung wird den ganzen Satz über aufrechterhalten, erst mit der Coda verebbt das Stück in hoffnungsloser Ermattung.

© by Claus-Christian Schuster

Saint-Saëns: Trio Nr.2, e-moll, op.92

Camille Saint-Saëns

* 09. Oktober 1835
† 16. Dezember 1921

Trio Nr.2, e-moll, op.92

Komponiert:Pointe-Pescade, Saint-Eugène d´Alger (Bab-el-Oued, El Djezaïr), Februar-Mai 1892
Widmung:Anna de Guitaut, geb. Hoskier
Uraufführung:7. Dezember 1892, Paris, Salle Erard
Camille Saint-Saëns, Klavier
Henri Berthelier (1856-1918), Violine
Jules Léopold Loeb (1852-1933), Violoncello
Erstausgabe:Durand, Paris 1892

Daß zwischen den beiden Klaviertrios von Camille Saint-Saëns (1863/64 und 1892) genau der gleiche zeitliche Abstand liegt, der die ersten beiden Klaviertrios von Johannes Brahms (1853/54 und 1880/82) voneinander trennt, ist natürlich nur ein Zufall; aber es ist ein Zufall, der unseren Blick unwillkürlich auf die markanten Divergenzen zwischen den Lebenslinien und Schaffenswegen der beiden Meister lenkt. Brahms ließ seinem Jugendwerk, das er mit „Johannes Kreisler jun.“ signiert hatte, fast drei Jahrzehnte später ein Trio folgen, in dem Überschwang, Exzentrik und Unmaß des Erstlings vollkommen und spurlos überwunden erscheinen – ein Paradigma an gestalterischer Klarheit und Ökonomie; Saint-Saëns hingegen, dem in seinem Opus 18 ein Wunderwerk an kristalliner Eleganz geglückt war, kehrt nach ebenso vielen Jahren als ein Experimentator zum Genre des Klaviertrios zurück: Der fast plakativen „Inhaltslosigkeit“ seines ersten Trios stellt er in Opus 92 einen ganzen Mikrokosmos einander widersprechender Bilder und Stimmungen gegenüber – ein Werk, das der „klassischen“ Perfektion seines Vorgängers bedenkenlos entsagt und in vieler Hinsicht ein Wagnis darstellt.
Am Schicksal, das diesen vier Werken in den Konzertsälen zuteil geworden ist, läßt sich auch die „normative“ Kraft jener Pauschal- und Vorurteile studieren, welche die Rezeption des Gesamtwerkes eines Komponisten weit mehr bestimmen als die Eigenart und Besonderheit jedes einzelnen Werkes: Brahms, der auch heute noch vielen als „Nachklassiker“ gilt, hat selbst – durch die bewußte interpretatorische Vernachlässigung des Werkes und schließlich durch die Komposition einer Neufassung seines Trioerstlings (1889) – dafür gesorgt, daß das beunruhigende Zeugnis romantischer Wirrnis und Maßlosigkeit, jene schicksalsschwere Erstfassung des Opus 8, heute kaum mehr zu hören ist – allein schon die Existenz dieses rätselhaften Findlings in seinem Œuvre ist ja geeignet, alle gängigen Etikettierungen seiner musikhistorischen Position in Frage zu stellen; das C-Dur-Trio aber, in dem das „Typische“ von Brahms´ Kompositionsstil exemplifiziert erscheint, ist im Triorepertoire unverzichtbar und allgegenwärtig. Für Saint-Saëns, der neben seinen vielen beneidenswerten Fähigkeiten und Talenten auch die weniger glückliche Gabe hatte, sich mit unbeirrbarem Eigensinn in allen widerstreitenden ästhetischen, ideologischen, nationalen und politischen Lagern unversöhnliche Feinde zu schaffen, wurde schon bald das Cliché des unverbindlich-formgewandten Kompositionsvirtuosen reserviert, das bis zum heutigen Tag die Sicht auf seine wahren Qualitäten verdeckt. Da sein erstes Trio diesem Bild so viel mehr entspricht als das Opus 92, wurde es bald ein Standardwerk der Trioliteratur, während das jüngere Schwesterwerk am Rande der Unbekanntheit dahindämmert – ein klassisches Beispiel dafür, wie Aufführungspraxis und Cliché einander bedingen.

Wollte man versuchen, dieses annähernd spiegelbildliche Verhältnis der beiden Werkpaare biographisch zu begründen, so würde man eine ganze Menge verwertbarer Anhaltspunkte finden: In der Tat verläuft auch der äußere Lebensweg der beiden Komponisten fast diametral entgegengesetzt – bei Brahms folgen den sehr bewegten Lehr- und Wanderjahren Jahrzehnte bürgerlicher Beständigkeit, als deren sichtbares Symbol die berühmte Wohnung in der Karlsgasse, Brahms´ Heimathafen für mehr als ein Vierteljahrhundert (1871-1897), gelten mag; Saint-Saëns erhält schon mit dreiundzwanzig Jahren das prestigereiche Organistenamt an der Pariser Église de la Madeleine, das er fast zwanzig Jahre lang (1858-1877) getreulich verwaltet, während er, von seiner Mutter und seiner Großtante umsorgt und gefesselt, in der noblen Rue du Faubourg Saint-Honoré residiert. Das Drama seiner zu spät und unter ungünstigsten Vorbedingungen 1875 geschlossenen Ehe, das im tragischen Tod seiner beiden kleinen Söhne (1878) kulminiert und im Sommer 1881 mit der Flucht vor seiner um einundzwanzig Jahren jüngeren Frau jäh endet, markiert den Wendepunkt in der Biographie des Komponisten. Der Tod seiner dominanten Mutter (1888) löst schließlich die letzten Bande, die ihn an Paris und an die Konventionen einer bürgerlichen Existenz fesseln: Am letzten Tag des Jahres 1888 verläßt Saint-Saëns Paris; im Sommer 1889 kommt er wieder, um seinen Haushalt aufzulösen, und an seinem 54. Geburtstag beginnt er jenes legendäre Vagabundenleben, das ihn in den folgenden fünfzehn Jahren in allen erdenklichen Richtungen über den Erdball führen wird. Erst 1904 wird er wieder eine Wohnung in Paris beziehen, ohne jedoch sein Wanderleben aufzugeben.

Die abenteuerlichen Reisen des Camille Saint Saëns, von denen Louis Laloy sagt, sie wären zeitweise berühmter gewesen als seine Kompositionen, kannten einige wenige Fixpunkte: einer davon war Las Palmas auf Gran Canaria, wo der Komponist schon im Dezember 1889 ein Haus mietete, ein anderer die Umgebung von Algier. Hier, in einer Lanschaft die ihm schon viele Jahre zuvor ans Herz gewachsen war, entstand auch der größte Teil unseres Trios.

Algerien, das gegen den heftigen und hartnäckigen Widerstand seiner Bevölkerung, zwischen 1830 und 1847 von Frankreich gewaltsam annektiert worden war, konnte auch damals nicht einmal nach kolonialistischen Maßstäben als „befriedet“ gelten: Während der Wirren des preußisch-französischen Krieges und der Pariser Commune (1870/71) wurde nahezu das gesamte Territorium von den einheimischen Freiheitskämpfern kontrolliert, und als Saint-Saëns im Oktober 1873 das erste Mal nach Algerien kam, war die Lage der französischen Besatzungsmacht noch immer recht prekär. Für den – nach dem Tod seiner „zweiten Mutter“, der Großtante Charlotte Masson (1872), und einer Reihe schmerzlicher Mißerfolge – sehr angegriffenen Komponisten war aber schon diese erste Begegnung zu einem befreienden und beglückenden Erlebnis geworden: Innerhalb weniger Wochen hatte er hier den dritten Akt seiner Oper Samson et Dalila beendet. Von einer neuerlichen Algerienreise mußte er im Frühling 1883 wegen einer akuten Erkrankung vorzeitig nach Paris zurückkehren. Im Winter 1887/88 zog sich Saint-Saëns zur Komposition seines Ascanio wieder nach Algerien zurück. Schon bald nach dem Tod der Mutter finden wir ihn wieder hier (März bis Mai 1889), und von nun an werden seine Aufenthalte in Nordafrika immer häufiger und länger: Noch kurz vor der Eröffnung des Saint-Saëns-Museums in Dieppe, dem er das Inventar seines aufgelösten Pariser Haushaltes übergeben hat, zieht er sich hierher zurück (Juni 1890), und auch im darauffolgenden Jahr macht er auf der Rückreise von Ceylon hier Station (Mai – Juni 1891). Saint-Saëns längster zusammenhängender Aufenthalt in der Umgebung Algiers dauert dann von November 1891 bis Mai 1892.

In diesen Monaten besinnt sich der Komponist einer alten Schuld: Sein Studienfreund und Verleger, Auguste Durand (1830-1909), der schon seit langem bedauerte, daß eines der erfolgreichsten Werke des Komponisten, das Klaviertrio op.18, bei seinem Konkurrenten Julien Hamelle erschienen war, hatte schon mehrere Jahre hindurch um ein neues Werk dieser Gattung gebeten. Obwohl Saint-Saëns schon etliche Male – zuletzt in einem Brief aus Cádiz vom 30. November 1889 – die Komposition dieses erbetenen zweiten Trios angekündigt hatte, war es bisher beim Plan geblieben. Jetzt, in der majestätischen Ruhe einer maurischen Villa am Meer vor den Toren Algiers, findet er endlich die Muße, sein Versprechen einzulösen. Zunächst versucht er sich freilich an einem anderen Werk, das ihm schon seit langem am Herzen liegt: einem Streichquartett. Vor dieser seiner Überzeugung nach „höchsten und schwierigsten Gattung der Kammermusik“ hat Saint-Saëns noch länger gezögert als Brahms – und auch in dieser neuerliche Anlauf sollte im Sande verlaufen; ein Teil des schließlich verworfenen Streichquartetts fand dann seinen Weg in den Schlußsatz des neuen Klaviertrios. (Erst sieben Jahre später wird Saint-Saëns sein erstes Streichquartett beenden – und es wird in der Tonart des zweiten Klaviertrios stehen.)
Anfang März erfährt er aus Paris, daß die Société des Concerts du Conservatoire für ihr Karfreitags-Konzert (15. April 1892) das ursprünglich vorgesehene Deutsche Requiem von Brahms durch seine Messe de Requiem (op.54, 1878) ersetzt habe. Seine Genugtuung darüber kann und will er gar nicht verbergen: „Ein wahres Glück für das Publikum – denn das Requiem von Brahms ist ein Knüppel allerersten Ranges.“, schreibt er am 11. März an Émile Lemoine. Eine andere als diese Haltung gegenüber Brahms wäre sicher der Niederschrift eines Klaviertrios, wie es Saint-Saëns vorschwebte, nur hinderlich gewesen…
Fünf Tage später, am 16. März 1892 teilt Saint-Saëns Auguste Durand mit, daß er die Arbeit an seinem neuen Trio endlich begonnen habe. Als er aber Ende Mai Pointe-Pescade verläßt und nach Europa zurückkehrt, ist das Werk immer noch nicht beendet. Das Finale entsteht schließlich im Juli in Genf; letzte Revisionen und Korrekturen beschäftigen den Komponisten dann noch im September in Paris – Durand wartet unterdessen schon ungeduldig auf die Druckvorlage.

Das noch vor der Uraufführung im Druck erschienene Werk trägt eine Widmung an die Vicomtesse de Guitaut, die Gattin eines ranghohen Militärs. Unter ihrem Mädchennamen Anna Hoskier war sie eine der begabtesten Schülerinnen des Komponisten gewesen; sie war die Tochter von Saint-Saëns´ Bankier, und obwohl sie, den gesellschaftlichen Konventionen der Zeit folgend, als Ehefrau und Mutter nicht mehr öffentlich auftrat, gehörte sie in privatem Rahmen (neben Caroline de Serres) auch weiterhin zu den bevorzugten Duopartnerinnen des Meisters.

Zwei Wochen nach der triumphalen Pariser Premiere von Samson et Dalila (23. November 1892) – fünfzehn Jahre nach der Weimarer Uraufführung der Oper war endlich auch die französische Hauptstadt für das Meisterwerk ihres Sohnes reif geworden – wurde das Trio aus der Taufe gehoben: Henri Berthelier und Jules Loeb, wie Saint-Saëns selbst Mitglieder der 1867 gegründeten Kammermusikgesellschaft „La Trompette“, waren an diesem 7. Dezember 1892 die Mitstreiter des Komponisten. Einen Monat später wurde das Werk in einem Klubkonzert der „Trompette“ wiederholt – diesmal spielten die Saint-Saëns-Freunde Louis Diémer (Widmungsträger der Rapsodie d´Auvergne, später auch des 5. Klavierkonzertes) und Joseph Marsick (Adressat und erster Interpret der von Marcel Proust verherrlichten ersten Violinsonate des Meisters) zusammen mit Jules Loeb. In den Wochen darauf war das Werk dann in verschiedenen Besetzungen in fast allen Pariser Kammermusikgesellschaften und –sälen zu hören: Es war, als hätte die „Flucht“ des Komponisten und seine geheimnisumwitterte Unbehaustheit das Interesse an seinem Werk angefacht. Auch die ebenfalls in Algerien komponierte Oper Phryné hatte – mit Massenets Thaïs, der Kalifornierin Sybil Sanderson in der Titelrolle – bei ihrer Premiere am 24. Mai 1893 ungewöhnlichen Erfolg, ja geriet in den Augen der Saint-Saëns so lange feindlich gesinnten Presse sogar zu einer veritablen „Rache der französischen an der deutschen Musik“: eine dümmere und amusischere Feststellung ist wohl kaum denkbar…

Saint-Saëns´ zweites Klaviertrio wurde schon von den Kritikern der Uraufführung als „monumental“ empfunden – und wahrscheinlich ist dieser Umstand eines der Haupthindernisse für seine Verbreitung gewesen: Von einem Saint-Saëns glaubt der Durchschnittshörer eben, andere Kost erwarten zu dürfen…
Schon die eigenwillige Gesamtarchitektur des Werkes verdient Beachtung. Vielleicht hat der schon seit frühester Kindheit für Altphilologie, Astronomie und Algebra ebenso begabte wie begeisterte Komponist hier einen ganzen Strauß von Symbolen und Chiffren Musik werden lassen – die Hommage an die Fünfzahl, die Ravel mehr als zwei Jahrzehnte später im Finale seines Klaviertrios in konzentrierter Form wiederholen wird, ist nur der offensichtlichste dieser konstruktiv-hermeneutischen Aspekte. (Ravels berühmte, auf sein eigenes Trio bezogene Diagnose „C´est du Saint-Saëns“ spielt also mit Sicherheit nicht nur auf die Durchsichtigkeit und Klarheit der Textur an.)

Der Kopfsatz (Allegro non troppo) trägt so deutliche Spuren seiner Entstehung im Angesicht des Meeres, daß keine Kritik und Besprechung des Werkes ohne das entsprechende maritime Vokabular auskommt. Die Eindringlichkeit dieses Naturbildes ist so stark, daß das thematische Material selbst kaum Beachtung gefunden hat: Nur so läßt sich erklären, daß die ganz auffällige melodische Übereinstimmung des Themenkopfes mit dem Incipit des ersten Satzes des (ein Jahrzehnt früher entstandenen) Trios von Tschaikovskij unbemerkt geblieben ist. Die dem ganzen Werk immanenten Irritationen widerspiegeln sich hier in einigen sehr charakteristischen Unregelmäßigkeiten. Der von Saint-Saëns gewählte Zwölfachteltakt hat mit dem von Brahms mit Vorliebe verwendeten Sechsvierteltakt eine latente metrische Vieldeutigkeit gemeinsam – und Saint-Saëns nützt die sich hier eröffnenden Möglichkeiten ebenso subtil wie konsequent: So suggeriert die Begleitung im Vordersatz des Hauptthemas eine Unterteilung des Langtaktes in jeweils einen Sechsachtel- und einen Dreivierteltakt, ein metrisches Muster, das sich etwa bei Saint-Saëns´ Enkelschüler Isaac Albéniz (Rondena, Almeria) als ein unverzichtbares Gewürz spanischer Musik zu erkennen gibt. (Daß dieses Muster, scheinbar zufällig, genau fünf metrische Impulse pro Langtakt aufweist, sei nur am Rande erwähnt.) Das Hauptthema ist als epische Periode aus zweimal elf Takten gebaut – und diesem ungewöhnlichen architektonischen Maß von 22 Takten begegnen wir gleich darauf in dem von ruhig fließender Achtelbewegung bestimmten pastoralen Nebengedanken wieder. Erst in der Durchführung wächst dieses Motiv zu einem richtigen Seitenthema heran – ohne allerdings die einmal gewählte Proportion (22 Takte) zu sprengen. In der Reprise finden wir die geheimnisvolle, ferne Brandung des Anfangs zu mächtigen Sturmwogen gesteigert; die metrische Gestalt ist in ihr Spiegelbild (Dreiviertel + Sechsachtel) umgeschlagen, und das Ebenmaß des Verhältnisses von Vorder- und Nachsatz ist einer emphatischen Asymmetrie (9+12 statt 11+11 Takte) gewichen. Wer meint, daß solche Variationen belanglos seien und mit der gestalterischen Planung des Komponisten nichts zu tun haben, könnte durch einen Blick auf die Reprise des Nebengedankens eines anderen belehrt werden: hier wird eben dieses neu etablierte „Maß“ (21 Takte) getreulich wiederholt. Erst in der Coda, die einem Zitat aus der Durchführung eine abschließende Hauptthemenreminiszenz gegenüberstellt, wird die „Normalität“ gerader Taktanzahlen wiederhergestellt: Es dürfte nicht leicht sein, in Saint-Saëns´ Schaffen einen Satz zu finden, in dem Leidenschaftlichkeit des Ausdrucks und Klarheit des mathematisch-organisatorischen Kalküls einander so sehr die Waage halten.

Daß diesem monumentalen Kopfsatz gleich drei Binnensätze folgen, unter denen sich noch dazu weder ein „richtiges Scherzo“ noch ein „richtiger langsamer Satz“ findet, hat Zeitgenossen wie nachgeborene Kritiker nachhaltig irritiert. Der – Saint-Saëns übrigens sehr verehrende – russisch-schweizerische Organist und Musikwissenschaftler Jacques Samuel Handschin (1889-1955) ging sogar so weit, den Interpreten die Auslassung des dritten und vierten Satzes nahezulegen. Die Gnade, die er gegenüber dem zweiten Satz (Allegretto, E-Dur) walten läßt, kommt nicht von ungefähr: Schon seit der Uraufführung des Werkes erfreut sich dieses Stück ganz besonderen Interesses. Wenn in einem fünfsätzigen Werk ein Satz aufscheint, dessen fünf Abschnitte abwechselnd im Fünfachtel- und im Fünfvierteltakt stehen, dann liegt der Verdacht kabbalistischer Hintergedanken nicht ferne – auch bevor man entdeckt hat, daß seine Taktanzahl (wie könnte es anders sein) durch fünf teilbar ist. Jedenfalls hat schon allein die Tatsache der Verwendung des zur Zeit der Entstehung als ungewöhnlich und „piquant“ empfundenen Metrums für Aufsehen gesorgt. Anders als jene metrischen Experimente, die sich etwa in den Kompositionen des lange in Paris wirkenden Tschechen Antonín Rejcha (1770-1836) finden, ist hier die noch ungewohnte Taktart mit überzeugender Natürlichkeit und ganz ungesucht eingesetzt. (Ohne Zweifel war die Zeit reif für diese Erweiterung des metrischen Repertoires: Brahms hatte diesen Weg 1886 im dritten Satz des Klaviertrios op.101 beschritten, Hugo Wolf 1888 mit Mörikes Jägerlied [„Zierlich ist des Vogels Tritt im Schnee…“] gezeigt, wie leicht sich der Fünfertakt den klassischen Versmodellen anpassen läßt, und Tschaikovskij sollte nur wenige Monate nach der Entstehung von Saint-Saëns´ Klaviertrio im zweiten Satz der Symphonie pathétique das bis heute unübertroffene Beispiel eines jenseits aller Piquanterie und Folkloristik ganz selbstverständlichen Fünfvierteltaktes liefern.) Ob man die Rhythmik des Satzes eher als „prickelnd“ oder als „nonchalant“ empfindet, ist wohl eine Temperaments- und Interpretationsfrage. Bemerkenswert ist, daß der Mittelteil (Allegro) bei seinem ersten Auftreten in der Mollmediante gis-moll, bei seiner Wiederkehr aber in der Mollsubdominante a-moll steht – um einen Halbton versetzte Reprisen spielen in der Tonartendramaturgie der Spätromantik, vor allem bei Reger, eine wichtige Rolle; ein kleines, aber nicht unbedeutendes Indiz dafür, daß Saint-Saëns alles andere als ein „Reaktionär“ war.

Das folgende Andante con moto (As-Dur), der bei weitem kürzeste Satz des Werkes, weckt unweigerlich Schumann-Reminiszenzen, die freilich sehr oberflächlich sind. Es ist eine monothematische Miniatur von schlichtestem Aufbau und exemplarisch ausgewogener Instrumentation; außerdem belegt dieser Satz sehr überzeugend, daß Saint-Saëns weder idiomatische noch stilistische Berührungsängste kannte.

Als letztes der drei Intermezzi des Werkes erscheint ein Grazioso, poco allegro (G-Dur), das unverkennbar österreichische Züge trägt. Anfang 1886, auf dem Höhepunkt einer gegen den Komponisten gerichteten Pressecampagne, in deren Verlauf fast alle Deutschlandauftritte Saint-Saëns´ storniert wurden, hatte man ihm in Österreich die Treue gehalten – wohl mit ein Verdienst von Eduard Hanslick, der eine besondere Vorliebe für Saint-Saëns hatte und diesen einige Male sogar gegen seinen Abgott Brahms ausspielte. Und Saint-Saëns´ populärstes Werk, der unverwüstliche Carnaval des animaux, wurde in eben jenem Februar 1886 in Österreich geschrieben. Es erscheint also gar nicht so abwegig, daß Saint-Saëns diesen stilisierten Ländler als eine Hommage an die Heimat Schuberts gedacht hat – auch wenn die originale Metronomisierung des Satzes eine recht unösterreichische Interpretation zu suggerieren scheint. Die Fünfteiligkeit ist hier bei weitem nicht so offensichtlich wie im zweiten Satz, aber genau so wie dort erscheint der Mittelteil auch hier in zwei chromatisch benachbarten Tonarten (Es-Dur und E-Dur).

Ganz wie der erste Satz (und in programmatischem Widerspruch zu der Schlichtheit der Binnensätze) ist auch das Finale (Allegro), in das der Komponist Material des aufgegebenen Streichquartetts integriert hat, ein höchst komplexes Gebilde. Michel Faure hat in seiner großangelegten und ideenreichen Studie zur französischen Musik zwischen 1851 und 1930 darauf hingewiesen, wie nahtlos dieser Satz in eine lange Ahnenreihe von Werken paßt, die ein neues Stadium in der französischen Bachrezeption illustrieren – César Francks Prélude, Choral et Fugue von 1884 gehört genauso hierher wie Vincent d´Indys Tableaux de Voyage (über BACH, op.33, 1888). Saint-Saëns selbst wird kurze Zeit später (1894/95) sechs Préludes et fugues für Orgel schreiben (op.99 und op.109). Gerade der Vergleich mit den oben zitierten Werken von Brahms (op.8 Erstfassung) und Tschaikovskij (op.50) macht deutlich, daß Saint-Saëns dem Fugato durchaus keine hermeneutische Sonderrolle zuweist, sondern es als eine der möglichen „Sprechhaltungen“ in seinen Stil integriert, was die stilgeschichtliche Diagnose Michel Faures bestätigt. Trotzdem ist dieser Satz aber weit mehr als ein Dokument einer konkreten musik- und geistesgeschichtlichen Konstellation.
Das Stück basiert auf der Gegenüberstellung zweier „historisierender“ Themen, die hochgespannte kontrapunktische Erwartungen wecken. Die Suggestion dieser neobarocken Themen ist so stark, daß man kaum merkt, auf welch raffinierte Weise Saint-Saëns an den geweckten Erwartungen vorbei und über sie hinaus komponiert. Der besondere Reiz des Satzes liegt in der Ungezwungenheit, mit der hier verschiedene Sprachebenen vermischt werden: Man fühlt sich an die Unbekümmertheit jener mittelalterlichen Lyrik erinnert, in der lateinische und landessprachliche Verszeilen einander ganz selbstverständlich und kampflos ablösen.
Hat schon der erste Gedanke – ein zwöftaktiges Thema, in dem uns von den zwölf Tönen nur das durtypische Gis vorenthalten wird – seine Fugentauglichkeit ganz demonstrativ zur Schau gestellt, so erscheint gleich in seiner Weiterspinnung der Themenkopf eines zweiten Gedankens, aus dem sich wenig später auch wirklich die Exposition einer vierstimmigen Fuge entwickelt. Die weiteren Ingredienzien einer veritablen Fuge (Engführung, Umkehrung) werden nur spielerisch angedeutet, und der Abschnitt verebbt in einer chromatischen Geste, die vor dem archaisierenden Hintergrund eigentümlich fremd anmutet – um so mehr, als ihr die Reexposition des ersten Themas auf dem Fuße folgt. An diese schließt sich nun, als Knotenpunkt des ganzen Satzes, der Beginn einer Doppelfuge, in der die beiden Hauptthemen aufeinander treffen. Die dramatische Verdichtung, die sich daraus ergibt, währt aber nur kurz und löst sich ganz unerwartet auf: Ein bukolisches E-Dur-Motiv trägt als friedlicher Strom noch einige Fugenfragmente an uns vorüber, und man erwartet, daß das Maskenspiel in einen versöhnlichen Hymnus ausklingt – doch das erste Thema verstellt plötzlich mit herrischer Geste den Weg und beschließt das Werk mit einem Unisono von einer Strenge und unerbittlichen Zielstrebigkeit, die jede noch so ferne Erinnerung an Spiel und Lächeln spurlos auslöschen.

© by Claus-Christian Schuster

Saint-Saëns: Trio Nr.1, F-Dur, op.18

Camille Saint-Saëns

* 09. Oktober 1835
† 16. Dezember 1921

Trio Nr.1, F-Dur, op.18

Komponiert:Pyrenäen, Auvergne – Paris, Sommer 1863 – Oktober 1964
Widmung:Alfred Lamarche
Uraufführung:29. Dezember 1867 Paris,
Salons Kriegelstein (11, rue Drouot)
Johann-Heinrich Bonawitz (1839-1917), Klavier
Joseph Tylesinski (1833-1876), Violine
Emile-Alphonse Norblin (1821-?), Violoncello
Erstausgabe:Hamelle, Paris, 1869

Das Wunderkind Saint-Saëns, das seit seinem vierten Lebensjahr komponiert, hatte sich schon mit dreizehn Jahren an einem Klaviertrio versucht, das aber unvollendet blieb. 1852 war das Genie (wie viele andere vor und nach ihm) beim Wettbewerb um den begehrten Prix de Rome gescheitert und hatte sich in der Folge wieder dem im Frankreich dieser Jahre völlig abseitigen Gebiet der Kammermusik zugewandt: So beendete Saint-Saëns 1853 ein (erst 1992 veröffentlichtes) Klavierquartett, und zwei Jahre später entstand das Klavierquintett a-moll op.14. Angesichts der überaus kühlen Aufnahme dieses letzteren Werkes durch Kritik und Publikum verwundert es nicht, daß der junge Komponist in den nächsten Jahren seine Energien lieber auf das Orchester konzentrierte. Hier war ihm auch schon 1856 mit einer in den Concerts Pasdeloup uraufgeführten (und von der Société Sainte-Cécile in Bordeaux preisgekrönten) Symphonie in F-Dur, der er trotzig den Namen Urbs Roma gab, ein beachtlicher Erfolg beschieden. Erst nachdem er sich auch im vergleichsweise populären Genre des Instrumentalkonzertes bestätigt und behauptet hat — dem vom Naturerlebnis in den Wäldern von Fontainebleau angeregten ersten Klavierkonzert (D-Dur, op.17, 1858) und dem von Pablo de Sarasate aus der Taufe gehobenen ersten Violinkonzert (A-Dur, op.20, 1859) — kehrt er zu Beginn der 1860er Jahre wieder zur Kammermusik zurück.

Er ist jetzt nicht mehr ein nach Erfolg und Anerkennung dürstender Student: Schon 1858 war dem Dreiundzwanzigjährigen das prestigeträchtige und hochdotierte Organistenamt an der Pariser Nobelkirche La Madeleine anvertraut worden, und seit 1861 leitet er an der École Niedermeyer als Nachfolger des Schulgründers, des Schweizers Louis Niedermeyer, eine eigene Klasse. Dort sind manche seiner Schüler, wie der später sehr erfolgreiche André Messager, um einige Jahre älter als ihr Lehrer; mit dem Benjamin der Klasse — dem um zehn Jahre jüngeren Gabriel Fauré — verbindet Saint-Saëns bald eine wirkliche Freundschaft, und schon im Sommer 1862 ist er zu Gast bei der Familie seines Schülers in Pamiers. In Paris lebt er ganz im Stil des Deuxième Empire: In seiner Luxuswohnung im vierten Stock des Hauses Rue du Faubourg Saint-Honoré Nr.168, deren freier Ausblick auch seinen astronomischen Interessen allen nötigen Spielraum gewährt, empfängt der von seiner Mutter und seiner Großtante umsorgte und verwöhnte Komponist jeden Montagabend eine erlesene Gesellschaft, unter der nicht selten seine Freunde und Bewunderer Georges Bizet, Franz Liszt, Anton Rubinstein, Hans von Bülow, Clara Schumann oder Pablo de Sarasate zu finden sind. Der kosmopolitische Geist des Gastgebers, der sich in dieser Besucherliste ebenso widerspiegelt wie in seinem beharrlichen Eintreten für das damals in Frankreich noch nahezu unbekannte Werk Richard Wagners, prägt auch die Konzertprogramme des Pianisten: dort nehmen —sehr zum Mißfallen der „tonangebenden“ Kritiker — neben Mozart und Beethoven Schumann und Liszt die Plätze ein, die in der Konzertpraxis jener Tage lokalen Mode- und Salonkomponisten zustehen.
Aber Saint-Saëns wäre kein französischer Komponist, hätte seine frühe Niederlage beim Kampf um den Prix de Rome keine schmerzende Wunde hinterlassen. Und so finden wir den arrivierten Meister beim Concours des Jahres 1864 neben den meist erheblich jüngeren Konservatoriumseleven unter den Wettbewerbsteilnehmern wieder. Der zu vertonende Text stand in der schlechtesten Concours-Tradition; aber für einen Komponisten, der — wie ein gerne zitierter Saint-Saëns-Ausspruch bestätigt — in der gleichen Weise komponiert, wie ein Apfelbaum Äpfel trägt, hätten die sprachlichen und dramaturgischen Schwächen der Kantate Ivanhoé keine wirkliche Hürde bedeutet, zumal er mit der jungen Célestine Galli-Marié (die später die erste Carmen seines Freundes Bizet werden sollte) eine hervorragende Solistin an seiner Seite hatte. Hector Berlioz, der an diesem 15. Juli 1864 wahrscheinlich das einzige Saint-Saëns wohlgesonnene Mitglied der von dem zweiundachtzigjährigen Auber geleiteten Jury ist, kann dem Komponisten später die raffinierte Intrige, an der er diesmal scheitert, detailliert schildern; sein eigenes Urteil über Saint-Saëns faßt er aber beim Verlassen des Saales in das unseren Meister seither begleitende Bonmot zusammen: „Il sait tout, mais il manque d´inexpérience.“

Wieder ist es die Kammermusik, zu der Saint-Saëns nach dieser spektakulären (und diesmal definitiven) Niederlage im Kampf um den Prix de Rome zurückkehrt. Schon im vorangegangenen Sommer hat er auf einer Reise, die ihn in die Pyrenäen und durch die Auvergne geführt hat, ein Klaviertrio skizziert. Diese Skizzen holt Saint-Saëns nun hervor, und schon im Oktober 1864 schließt er die Ausarbeitung des Werkes ab. Aber erst drei Jahre später wird das Werk uraufgeführt und mit einer Widmung an den mit Saint-Saëns eng befreundeten Cellisten Alfred Lamarche auch gedruckt — eine Verzögerung, die angesichts der schütteren Kammermusikproduktion dieser Jahre nur ein weiteres Indiz für das laue Interesse der Öffentlichkeit an Werken dieser Gattung ist.

Zu behaupten, daß das Genre Klaviertrio in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts in Frankreich nicht existierte, wäre allerdings eine Übertreibung — wenn auch eine nicht ganz unbegründete. Denn obwohl Pariser Komponisten in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts eine hervorragende Rolle bei der Ausprägung und Verbreitung des Genres gespielt hatten, war das Klaviertrio schon in napoleonischer Zeit allmählich aus dem Musikleben der Hauptstadt verschwunden. Mit einiger Ausdauer wurde es fast nur noch von ausländischen Komponisten gepflegt, etwa dem Niederösterreicher Ignaz Pleyel oder dem tschechischen Konservatoriumsdirektor Antonín Reicha. Der einzige in Frankreich geborene Komponist, der sich in diesen Jahrzehnten ganz der Kammermusik verschrieben hatte (und in dessen Œuvre sich auch zehn Klaviertrios finden), ist der von einem englischen Vater abstammende George Onslow, dessen Wirken in der provinziellen Abgeschiedenheit von Clermont-Ferrand freilich so gut wie folgenlos bleiben mußte. Manchmal verirrte sich wohl auch ein Opernkomponist auf das entlegene Terrain des Klaviertrios — so hatte Daniel-François-Esprit Auber, der strenge Jurypräsident von 1864, in seiner Jugend (1806) ebenso ein Trio publiziert wie der ältere (aus Italien stammende) Ferdinand Paër (1812) oder der jüngere Ambroise Thomas aus Lothringen (1833). Im Entstehungsjahr dieses letzteren Werkes hatte auch Chopin sein (1828/29 noch in Polen komponiertes) Klaviertrio op.8 veröffentlicht — bei weitem der wertvollste und vitalste Beitrag zur Trioliteratur, der in der ersten Jahrhunderthälfte in Paris gedruckt wurde. Die vier zwischen 1838 und 1842 entstandenen Klaviertrios des Belgiers César Franck, die Saint-Saëns wahrscheinlich kannte, sind Dokumente einer jugendlich unausgegorenen Lisztomanie und konnten einem Komponisten, dem es „an Unerfahrenheit mangelte“ unmöglich Vorbild sein. Vielleicht hat Saint-Saëns auch das 1841 veröffentlichte Trio (op.30, g-moll) von Charles-Valentin Alkan kennengelernt, in dem manche Musikhistoriker sozusagen das missing link in der Evolution des französischen Klaviertrios sehen wollen. Wer aber die bei aller Brillanz etwas biedere und unbeholfene Textur dieses Werkes betrachtet, wird es wohl bald als möglichen Vorläufer des Saint-Saënsschen Werkes ausscheiden. Unter allen in Frankreich vor 1863 entstandenen Klaviertrios kommen eigentlich nur die von Édouard Lalo 1850 (op.7, c-moll) und 1852 (op.21, h-moll) herausgegebenen Werke als denkbare Anknüpfungspunkte für Saint-Saëns in Betracht — und es ist für das musikalische Klima Frankreichs bezeichnend, daß Lalo, der seit 1855 mit dem Quatuor Armingaud auch als Interpret an der Wiederbelebung französischer Kammermusiktraditionen Anteil hat, als Komponist erst nach 1870 Anerkennung findet, als er sich schon lange von der Kammermusik abgewendet hat.

Erst vor diesem geschichtlichen Hintergrund wird man ermessen können, welch ein Wurf Saint-Saëns mit seinem Trioerstling geglückt ist. Das Werk ist ein faszinierender Beleg für die nicht ganz leicht zu begreifende Tatsache, daß der Wert eines musikalischen Kunstwerkes nicht zwingend von der unverwechselbaren Prägnanz des verwendeten thematischen Materials (dem „Was?“) und der Originalität der formalen Gestaltung (dem „Wie?“) abhängt. Denn in beiderlei Hinsicht bietet dieses Trio kaum etwas wirklich Außergewöhnliches; und dennoch steht ganz außer Zweifel, daß Saint-Saëns mit dieser Komposition ein absolutes Meisterwerk geschaffen hat. Die Lösung der sich im Klaviertrio stellenden Textur- und Balanceprobleme ist ihm hier jedenfalls in einer Weise geglückt, die das Werk auch für die nachfolgenden Generationen französischer Komponisten zum paradigmatischen Ideal machten. (Ravels uneingeschränkte Bewunderung für dieses Trio war eingestandenermaßen eine der Triebfedern bei der Komposition seines eigenen.)

Man könnte sogar mit einigem Recht behaupten, daß, wer für die zeitlose Qualität dieser Partitur unempfänglich ist, zu einem großen (und vielleicht dem wesentlichsten) Teil der französischen Musik keinen Zugang finden wird können. Es soll dabei gar nicht geleugnet werden, daß etliche der frappanten Züge dieses Werkes, die dazu angetan sind, das vor allem im deutschen Sprachraum verbreitete Vorurteil, Saint-Saëns sei ein Klassizist von marmorner Glätte und Kälte, zu bestärken, sich aus dem konkreten historischen Kontext der Entstehungszeit erklären lassen: So hat Michel Faure die auffällige „Entdramatisierung“ der Musik, für die unser Trio ein kaum mehr überbietbares Musterbeispiel darstellt, als logische Folge der sich nach 1848 rasant beschleunigenden Verbürgerlichung der französischen Gesellschaft gedeutet. Hinter solchen durchaus schlüssig (und wohl mitunter allzu leicht) zu begründenden Phänomenen werden aber eben jene archetypischen Konstanten der französischen Musikkultur erkennbar, die sich — fast unberührt von dem beständig wechselnden geschichtlichen Hintergrund — in den Werken Rameaus und Couperins ebenso manifestieren wie in denen Saint-Saëns´ und Ravels.

Die Komposition von Kammermusik war im XIX. Jahrhundert, sofern sie ein über den Tagesanlaß hinausgehendes Ziel verfolgte, zwangsläufig auch eine Auseinandersetzung mit Beethoven. Unter den französischen Komponisten des Jahrhunderts war wohl keiner so gründlich auf diese Auseinandersetzung vorbereitet — und keiner so bis ins Innerste seines Wesens gegen den Beethovenschen Bazillus resistent — wie Saint-Saëns. Er erspart uns die unsäglichen Peinlichkeiten, die die Nachahmung der Beethovenschen Geste in Hunderten Streichquartetten und Klaviertrios der Zeit verbreitet, aber er bedient sich selbstsicher und ohne alle stilistischen Konsequenzen des Beethovenschen Vokabulars, dem er ungeahnte französische Nebenbedeutungen entlockt. Anders als viele seiner älteren Zeitgenossen verfährt er dabei nicht mit jener sich genialisch gebärdenden frechen Unverschämtheit, die von jeher das Markenzeichen grabräuberischer Epigonen ist, sondern mit der nonchalanten Selbstverständlichkeit eines weitschichtigen Verwandten, dem ein bedeutendes und durchaus nicht als Last empfundenes Erbe zugefallen ist. Es ist zwar nur eine Äußerlichkeit: Aber auch, daß Saint-Saëns dem angestrengten Stirnrunzeln der Molltrios seiner unnmittelbaren Vorgänger das nicht olympische, aber elysäische Lächeln eines Werkes in der „Pastorale“-Tonart F-Dur entgegenstellt, ist Programm. Von hier aus betrachtet ist die „Entdramatisierung“ der Musik bei Saint-Saëns weit mehr als ein Reflex geschichtlicher Entwicklungen — es ist die, sehr verspätete Inbesitznahme des Beethovenschen Erbes durch den französischen Geist, der es sich erst hier wirklich anverwandelt.

Schon dem ersten Satz (Allegro vivace) fehlt nahezu alles, was man gemeinhin, und vor allem nach Beethoven, als unverzichtbare Ingredienzien eines fesselnden Musikstückes betrachtet: Es gibt keine dramatischen Konflikte, keine verblüffenden harmonischen Wendungen, keine überraschenden metrischen oder formalen Unregelmäßigkeiten — und vor allem: keine dialektische Entwicklung. Die allgegenwärtige Viertatktigkeit, auf die uns schon die „leeren“ Einleitungstakte unüberhörbar hinweisen, bildet die Folie für eine ebenso einfaches wie zündendes rhythmisches Motiv, das die Physiognomie des jugendlich-federnden Hauptthemas prägt. Als eigentliches Agens des Satzes erweist sich die unbeirrbare Beharrlichkeit, mit der sich der Dreivierteltakt gegen die hämiolische Gestalt dieses Motivs durchsetzt. Das kleingliedrige Seitenthema ist organisch aus dem Hauptthema entwickelt und steht zu diesem in keinerlei Spannungsverhältnis. Folgerichtig verbinden sich beide Ideen, einander bestärkend, in der Schlußgruppe der Exposition zu einem untrennbaren Ganzen.
Nun würde man meinen, daß ein solcherart konfliktarmes Material eine recht kurzatmige Durchführung nach sich ziehen müßte. Doch Saint-Saëns gelingt es scheinbar mühelos, den Schwung des Satzes sogar über eine ungewöhnlich weiträumige Durchführung aufrechtzuerhalten, ohne neues Material ins Spiel bringen oder das schon bekannte neu deuten zu müssen. Wie das gelingt, ist analytisch nicht leicht nachzuvollziehen: Die Eckteile der Durchführung sind nahezu ident und bieten über weite Strecken kaum mehr als die Bestätigung der schon eingangs etablierten Viertaktigkeit, wobei das rhythmische Kopfmotiv ständig präsent bleibt. Nur im Mittelteil setzt der Komponist mit der Verdichtung der Figuration und dem wirkungsvoll inszenierten Erscheinen einer ins Theatralische gesteigerten Seitenthemenreminiszenz traditionelle Durchführungsstrategien ein.
Die Reprise weist gegenüber der Exposition als wichtigste Abänderung beim Wiedereintritt des Seitenthemas eine auffällige Mediantrückung (nach Des-Dur) auf — eine souverän lakonische Abkürzung der sonst hier benötigten „Einrichtung“, die mich in ihrer Unbekümmertheit an einen spielverkürzenden Zug eines ungeduldig gewordenen Schachgroßmeisters denken läßt. In der Coda kommen dann noch einmal alle Zentralmotive und die Figurationsvarianten der Durchführung kurz zu Wort, wobei diesmal das Seitenthema die führende Rolle spielen zu wollen scheint, bis schließlich doch der Hauptthemenkopf sein älteres und besseres Recht geltend macht.

Das folgende Andante (a-moll) ist in Kolorit und Form sicher der extravaganteste Satz des Werkes. Die Einstimmigkeit des Hauptthemas — das ohne Zweifel unter allen Themen des Werkes am ehesten die Forderung nach unverwechselbarer Eigenart erfüllt — ist durch seine melodische Kontur gerechtfertigt, die sich harmonischer Funktionalität zunächst zu entziehen scheint. Wie aus weiter Ferne kommend hebt es sich mit seinen scharfen Punktierungen vor der wie dunstig darüber liegenden leeren Oktave ab. Erst im Näherkommen gewinnt es harmonisches Relief, und der zweite Gedanke führt uns dann vollends aus der lockenden, aber unberechenbaren Ferne in altvertraute Gewässer. Eine kurze Hauptthemenreminiszenz leitet zum Mittelteil über, in dem uns Saint-Saëns kurz einen Vorgeschmack seiner künftigen Opern geben zu wollen scheint. Nach dem zur Rückverwandlung der Szenerie erforderlichen Theaterdonner folgt die stark verkürzte Reprise, in der die vage Atmosphäre des Anfangs unruhig flimmernd wiederkehrt. Danach wird aber das konventionelle Formschema durch die Interpolation eines frei assoziativ aus dem Mittelteil entwickelten bukolischen Intermezzos (A-Dur, Poco più mosso, quasi Allegretto) aufgebrochen. Der motivische Zusammenhang zum Vorhergehenden ist so schwach und der Charakter so losgelöst vom bisherigen Satzverlauf, daß man meinen könnte, ein Relikt eines anderen Werkes habe sich zufällig hierher verirrt. Der gleichsam schlafwandlerische Eindruck der Episode wird durch die ziellos kreisende Melodieführung noch unterstrichen. Schließlich verebbt die Idylle in eine ebenso träumerische Kadenz, an die sich als Coda die in der Reprise zunächst unterdrückten Schlußtakte des Hauptthemas anschließen.
Obwohl man an keiner Stelle des Satzes „wörtliche“ Orientalismen nachweisen könnte, läßt das vom Hauptthema ausgehende Kolorit den Satz als ein Musterbeispiel eines in der französischen Musikgeschichte üblicherweise auf Félicien Davids Orientreise (1833/35) zurückgeführten Topos erscheinen, hinter dem sich in Wahrheit ein alle Bereiche des geistigen Schaffens mehrerer europäischer Völker erfassendes Phänomen verbirgt, das für die Geistesgeschichte des ganzen Jahrhunderts von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.

Das Scherzo (Presto), in der von Beethoven so virtuos gehandhabten fünfteiligen Form, demonstriert vielleicht am schlagendsten, in welcher Weise Saint-Saëns das Beethovensche Vokabular umdeutet. Ganz allgemein war die Versuchung, Scherzi nach Beethoven-Modellen zu bauen, offenbar so gut wie unwiderstehlich: Die vergleichsweise leicht zu beherrschende Form in Verbindung mit einer klar umrissenen Satztypologie ließ hier die Errungenschaften des Genius greifbar nahe erscheinen. Ein Blick auf die Scherzi der Klaviertrios von George Onslow zeigt, wie trügerisch diese Hoffnung war. (Mendelssohns „Elfenscherzi“ boten ein Gegenmodell, an dessen Nachahmung fast ebenso viele Talente kläglich scheiterten.) Saint-Saëns exerziert hingegen mit diesem Musterscherzo vor, wie man das Beethovensche Wasser auf ganz andere Mühlen lenken kann. Eine prägnante Idee — die synkopische Vorwegnahme des Melodietones — war leicht zu finden: Beethoven hatte sie im Scherzo der Cellosonate op.69 ausgeführt. Dieser lapidare Einfall, der gewiß viele Väter hat, gewinnt bei Beethoven durch die nachfolgende Überbindung eine so atemberaubende dramatische Stringenz, daß das Erholung gewährende „gerade“ Maggiore gewissermaßen eine physische Notwendigkeit wird — der nervöse Nachdruck des Satzes (den Beethoven dem Pianisten noch durch seinen charakteristischen Fingersatz aufoktroyiert) wäre sonst unerträglich. Saint-Saëns verwendet diese Idee etwa so, wie ein findiger Theaterausstatter, der sich aus dem Kostümdepot ein Tragödengewand für eine komische Figur holt. Bei ihm wird aus dem doppelbödigen Ernst des Beethovenschen Modells ein formidables Spiel: die synkopierten Klavierstaccati und die nachfolgenden Streicherpizzicati greifen mit der spielerischen Präzision eines Uhrwerkes ineinander — nirgends gibt es Stillstand, und doch führt die Bewegung nirgendwohin. Ravels Begeisterung für mechanische Perfektion, die man seinem Pantoum deutlich anhört, muß sich an Sätzen wie diesem entzündet haben. Das Trio darf hier ruhig die Synkopierung beibehalten — Beklemmung wird in diesem Satz wohl bei niemandem aufkommen. Ironischer Höhepunkt des unbekümmert fröhlichen Spiels mit erhabenen Vorbildern ist der Schluß: Hier wird ein chromatischer Quartfall, jenes altehrwürdigen Tonsymbol der Trauer, zu einer unverhohlen komischen Abschiedsgeste, die mich an eine berühmt-berüchtigte Photographie Albert Einsteins denken läßt.

Die im Scherzo so erfolgreich erprobte Technik der fragmentierten Melodielinie wird im Finale (Allegro) auf die Spitze getrieben. Ein Kompositionsschüler, der sich getrauen würde, seinem Lehrer ein so harmlos „dahinstotterndes“ Thema vorzulegen, hätte sich wohl eine Tapferkeitsmedaille verdient — und ein Lehrer, der das sich unter solch oberflächlicher Unbedarftheit enthüllende Genie gleich erkannt hätte, den Maria-Theresien-Orden. Die Selbstsicherheit, die man braucht, um einen ganzen langen Sonatensatz hindurch konsequent weniger scheinen zu wollen, als man ist, wäre an sich schon bemerkens- und bewundernswert; wenn sie sich mit so unbeschwertem Esprit verbindet wie hier, wird sie ein jede besserwisserische Kritik verstummen lassendes Phänomen. Anders als im ersten Satz ist das Seitenthema hier markant gegen das Hauptthema abgesetzt — ein inhaltlicher Luxus, dem Saint-Saëns auch mit der Wiederholung der Exposition Rechnung trägt. In der Durchführung erscheint das harmlose Jungmädchengeschwätz des Hauptthemas plötzlich in lateinischer Übersetzung (zum Choral vergrößert), was aber die vorlauten Neckereien des Seitenthemas durchaus nicht verstummen läßt. Erst in der Stretta erscheint das Hauptthema endlich in seiner „wirklichen“ Gestalt, und spätestens hier wird sichtbar, daß beide Travestien — das Matrosenkleidchen und das Nonnengewand — eigentlich nur ein Nichts bedeckt haben. Und gerade weil Saint-Saëns das so entwaffnend offenlegt, fühlt sich niemand betrogen — zurück bleibt nur die Bewunderung für ein von keiner Schwere des Inhalts belastetes Meisterwerk und seinen Schöpfer, der mit schon fast gotteslästerlicher Virtuosität die Kunst beherrscht, aus Wasser Wein zu machen.

Auch im Œuvre eines Komponisten, der mit der vegetativen Selbstverständlichkeit eines Saint-Saëns produzierte, mußte ein solches Werk ein besonderer Glücksfall bleiben. Der Autor selbst hatte eine große Vorliebe für das Trio, das immer wieder in seinen Konzertprogrammen aufschien. Als man 1907 in Dieppe (im Gegenwart des Komponisten) ein Saint-Saëns-Denkmal einweihte, stand es ebenso auf dem Programm wie am 7. Jänner 1922, als in Paris ein Gedenkkonzert zu Ehren des kurz davor in Algier verstorbenen Meisters veranstaltet wurde. Und, wenn man das Leben und Werk von Saint-Saëns recht bedenkt, war es dort besser am Platz, als jeder denkbare Trauermarsch.

© by Claus-Christian Schuster

Roger: Trio Es-Dur op.77 (1953)

Kurt Roger

* 03. Mai 1895
† 04. August 1966

Trio Es-Dur op.77 (1953)

Komponiert:Washington, DC, 1953
Uraufführung:1959 College Park, University of Maryland
Gene Akkers, Klavier
Donald Portnoy, Violine
John Engberg, Violoncello
Erstausgabe:Manuskript

Kurt Roger wuchs in Wien auf, wo er bei Arnold Schönberg, Karl Weigl und Guido Adler studierte und 1918 als Musikwissenschaftler promovierte. Von 1923 bis zu seiner Emigration 1938 unterrichtete Roger am Wiener Konservatorium Musiktheorie und Komposition. In dieser Zeit fand Roger als unabhängiger und origineller Geist, der sich von Spätromantik und Dodekaphonik gleich weit entfernt hielt, einige Beachtung. So wurde etwa sein Streichquintett op.7 (in der Schubert-Besetzung) vom Rosé-Quartett (mit O. Stieglitz als zweitem Cellisten) uraufgeführt. Daß seine Äquidistanz zu den beiden bestimmenden Gruppierungen der Zeit nichts mit Isolationismus zu tun hatte, zeigt schon ein Blick auf die Namen seiner Lehrer. 1938 zur Emigration gezwungen, entkam er in die USA, wo er sich 1940 in New York niederließ. Diese Flucht geriet zum großen Trauma seines Lebens. Obwohl ihm die USA zur zweiten Heimat wurden (1945 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft), konnte er dort keinen Ersatz für seinen Wiener Wirkungs- und Freundeskreis finden. Zwar setzten sich auch weiterhin namhafte Interpreten für sein Werk ein (Erich Leinsdorf, Rafael Kubelik, Sir Charles Groves u.a. dirigierten Aufführungen seiner Orchesterkompositionen mit der Chicago Symphony, der National Symphony, dem BBC-Orchestra, den Wiener Symphonikern usw.), doch blieb ihm letztlich weitere und allgemeinere Anerkennung versagt. 1953 übersiedelte Roger nach Washington, wo er an der American University und der George Washington University unterrichtete. Auch im wiederbefreiten Österreich begann man, sich seiner zu erinnern. 1958 wurde er als Dozent der Sommerkurse am Mozarteum nach Salzburg eingeladen, und in der Folge wurden ihm auch jene österreichischen Wiedergutmachungsehren (Verleihung des Professorentitels und des Verdienstkreuzes Erster Klasse) zuteil, deren Haupteffekt wohl die Gewissensberuhigung der Verleiher ist. In seinen letzten drei Lebensjahren war Roger regelmäßig als Professor an der Queen’s University in Belfast (Nordirland) tätig. Er starb während eines Wienbesuchs und wurde in einem Ehrengrab der Stadt Wien auf dem Zentralfriedhof beigesetzt.

Rogers Werkkatalog umfaßt 116 Opusnummern, unter denen man fast alle Genres (mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Kammermusik) vertreten findet. Das kompositorische Credo Rogers, das auf seinem unerschütterlichen Vertrauen auf die Lebens- und Erneuerungsfähigkeit der Tonalität fußte, machte ihn zeitlebens zu einem Außenseiter. Erst die stilistische Entwicklung der letzten Jahre hat deutlich gemacht, daß seine Suche nach freitonaler Linearität auch in einem größeren, musikgeschichtlichen Kontext durchaus kein anachronistischer Irrweg war. 1989 erwarb die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien den musikalischen Nachlaß von Kurt Roger.

Das 1953, im Jahre von Rogers Übersiedlung nach Washington, geschriebene Klaviertrio in Es ist eine knapp formulierte, dreisätzige Komposition, die sich in origineller Weise auf verschiedenste historische Muster bezieht, jedoch nichts mit irgendeinem modischen „Neo-„Stil zu tun hat. Kontrapunktischer Einfallsreichtum und eine erfrischende Vorurteilslosigkeit in der Harmonik sind die allen Sätzen gemeinsamen Züge.

Der erste Satz (Allegretto) bezieht seine Dynamik aus dem extremen Kontrast zwischen einem federnd-optimistischen Es-Dur-Motto, das kanonisch von allen Instrumenten exponiert wird, und dem träumerisch wehmütigen Seitensatz, der seine Poesie nicht zuletzt einer zarten phrygischen Färbung verdankt. Das Streben nach Prägnanz zieht die Verwendung einer extrem verkürzten Abart der Sonatenform nach sich: Durchführung und Reprise werden einander überlagert, wobei der Seitensatz mit seiner aparten Harmonik hier wesentlich breiteren Raum als in der Exposition einnimmt, sodaß die „traditionelle“ Stelle der Reprise von einer kurzen, die Tonika sieghaft bekräftigenden Coda eingenommen werden muß.

Der zweite Satz (Adagio, As-Dur) basiert auf einem großräumigen, recitativischen Thema mit weitgespannten Intervallen. Es wird nach der Art eines Kanons viermal exponiert, wobei schon der zweite Themeneinsatz (Violoncello) die ursprüngliche Gestalt um eine Kadenz nach C-Dur erweitert. In den jeweiligen Gegenstimmen widerspiegeln sich einzelne charakteristische Details des Themas, sodaß sich das ganze Gewebe zu einer schwermütigen Klanglandschaft von meditativer Innigkeit fügt.

Im Finalsatz (Allegro) wird diese Besinnlichkeit übermütig beiseite gefegt. Ein fürwitziges Fis versucht hartnäckig die Herrschaft des Es-Dur zu brechen und schleicht sich sogar mit frechem Spott in das „Hauptthema“, das von einem ausgelassenen Kinderlied inspiriert scheint. Die Auseinandersetzung zwischen der legitimen Tonika und dem ungebetenen Prätendenten führt zu allerlei komischen Capriolen, doch freilich darf sich zum Schluß das biedere Es behaupten – es tut das aber natürlich nicht mit Triumphatorengebärde, sondern wie es sich für einen kleinen Raufbold geziemt: mit herausgestreckter Zunge.

© by Claus-Christian Schuster