Charles Ives
* 20. Oktober 1874
† 19. Mai 1954
Trio (1904/11)
| Komponiert: | New Haven, CT, 28. Juni 1904 | 
| Uraufführung: | 24. Mai 1948 Berea, Ohio  
Baldwin-Wallace College Faculty Trio  
George Poinar, Klavier  
Esther Pierce, Violine  
John Wolaver, Violoncello  
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| Erstausgabe: | Peer-Southern, New York, 1955 | 
Dieses Werk, das fast ein halbes Jahrhundert auf seine „Entdeckung“  warten mußte, heute aber zu den außergewöhnlichsten Erscheinungen der  Kammermusik unseres Jahrhunderts gezählt wird, ist eine durch und durch  erstaunliche und verblüffende Schöpfung. Wohl selten zuvor hat ein  junger Komponist Formenkanon und Gestaltungskonventionen einer ganzen  Gattung mit so radikaler Nichtachtung gestraft und seinen eigenen Weg  mit ähnlicher, an Tollkühnheit grenzender Sorglosigkeit verfolgt wie  Ives in seinem einzigen erhaltenen Klaviertrio. 
 
 Dieser Mut hat bei Ives Methode: kaum eines seiner zahlreichen Werke,  das nicht Neuland betritt, geheiligte Regeln verletzt und Tabus bricht.  Der revolutionäre Impetus seiner Musik ist noch lange nicht verraucht,  und das mag einer der Gründe dafür sein, daß man seine Werke nicht so  oft gespielt wie seinen Namen zitiert hört. Vier Symphonien, zwei  Orchestersuiten, vier Violinsonaten, drei Klaviersonaten, zwei  Streichquartette und mehr als einhundertfünfzig Lieder bilden nur das  Kernstück eines riesigen Oeuvres, dessen Entstehung uns ein Rätsel  bleiben muß. Denn dieses nahezu unüberschaubare Lebenswerk entstand im  wesentlichen im Laufe von nur etwas mehr als zwanzig Jahren  ausschließlich in der karg bemessenen Freizeit, die Ives neben Aufbau  und Leitung eines erfolgreichen Unternehmens (einer Lebensversicherung)  blieb. 
 
 Warum ein musikalischer Kopf von solcher Eigenart und Unabhängigkeit die  Musik nicht zu seinem Beruf machte, ist eine schwer zu beantwortende  Frage. Wahrscheinlich aber gab gerade seine Unabhängigkeit und sein  unbändigerer Freiheitsdrang den Ausschlag für diese Entscheidung: Am  Beispiel seines Vaters, George Edward Ives (1845-1894), auf dessen  überragende Bedeutung für seine Entwicklung er nie müde wurde  hinzuweisen, konnte der junge Ives in seiner Kindheit hautnah erleben,  unter welchen Beschränkungen das Leben eines Musikers in einer sich  stürmisch entwickelnden, jungen Industrienation, die den Künsten  insgesamt bestenfalls dekorative Bedeutung beimaß, ablaufen mußte.  George Ives war gegen die Traditionen der Familie, die fast  ausschließlich aus geschickten Geschäftsleuten und brillanten Juristen  bestand, Musiker geworden und wirkte in Danbury als Regens Chori,  Kapellmeister, Organist und Musiklehrer. Trotz dieser vielfältigen  Tätigkeit mußte er gegen Ende seines Lebens einen Posten in der von  seinem Vater mitgegründeten örtlichen Bank annehmen, um seine Familie  ernähren zu können. Charles, das jüngste von vier Kindern der Familie,  muß das Schicksal des geliebten und bewunderten Vaters als ein  schreiendes Unrecht empfunden haben. Als er selbst schließlich zu spätem  und unerwartetem Ruhm als Komponist gelangte, war er rührend darauf  bedacht, seinen Vater daran teilhaben zu lassen. Und in der Tat muß  George Ives ein außergewöhnlicher Mensch gewesen sein: seinen Kindern  versuchte er mithilfe eines selbstgebastelten Instrumentes, die  Vierteltonmusik vertraut zu machen – daß das Singen von  Vierteltonmelodien zuletzt nur mehr als Züchtigungsmittel eingesetzt  wurde, zeigt, mit welch unvorhersehbaren Schwierigkeiten die akustische  Bewußtseinserweiterung manchmal zu kämpfen hat. Unermüdlich war er  bemüht, die Klänge, die ihn im Alltag umgaben – Kleinstadtlärm,  Glockengeläute, Donner und Regen – in Musik zu übersetzen, wobei er zu  ganz unerhörten Harmonien und Klängen vordrang, ohne allerdings je das  Gebiet wirklicher Komposition zu betreten. Man hätte ihn einen Sammler  und Erforscher von Klangphänomenen nennen können. Viel beredet und  bestaunt wurden die Experimente, die er mit seinem Blasorchester  anstellte (bewußte Einbeziehung von Raum und Entfernung, simultanes  Spiel verschiedener Stücke etc.). Es ist dem jungen Charles nicht zu  verdenken, daß er Horatio W. Parker, den in München bei Josef  Rheinberger ausgebildeten Kompositionslehrer der Yale University, (auch  wenn er ihm damit unrecht tat) im Vergleich zu seinem Vater für einen  phantasielosen Reaktionär hielt und sich umso entschlossener von der von  Parker verkörperten „akademischen“ Tradition nach deutschen Mustern  abwandte. 
 
 Mit dieser brüsken Abkehr vollzog Ives einen Schritt, den Emerson schon  zwei Generationen zuvor fast im Tone einer Kriegserklärung gefordert  hatte: 
 
 „Our day of dependence, our long apprenticeship to the learning of other  lands, draws to a close. We have listened too long to the courtly muses  of Europe. […] We will walk on our own feet; we will work with our  own hands; we will speak our own minds.“ 
 
 
 (Ralph Waldo Emerson, The American Scholar, 1837)
 
 Die (sich auch in seinen Kompositionen manifestierende) Verehrung, die  Ives dem Dreigestirn der großen Neuengländer Emerson, Thoreau und  Hawthorne entgegenbrachte, beruht vor allem darauf, daß er sich mit  ihnen in diesem Punkte eines Sinnes wußte. Daß die Erfüllung der von  Emerson erhobenen Forderung angesichts der zahllosen Verflechtungen und  Bindungen, die die Neue Welt an die alte ketteten, nicht eben leicht  war, hatte auch die zwischen Emerson und Ives liegende Generation  erfahren müssen: Henry James machte diesen Konflikt zum Hauptthema  seines Werkes. Doch die rasante wirtschaftliche und gesellschaftliche  Entwicklung der USA einerseits und die sich abzeichnenden revolutionären  Umwälzungen in der europäischen Kulturlandschaft andererseits gaben  diesem alten Konflikt für die Generation von Charles Ives eine ganz neue  Brisanz. Die großen Amerikaner der Generation von 1870 (übrigens alle  Neuengländer wie Ives) müssen ihn jeder für sich austragen – Isolation  im eigenen Land oder Europäisierung heißt die Wahl, vor die sich viele  von ihnen gestellt sehen. Ives wählt den Weg der totalen Isolation:  selbst gute Bekannte haben oft keine Ahnung davon, daß der erfolgreiche  Geschäftsmann Charles Ives auch komponiert. Der von Ives unter seinen  Zeitgenossen am meisten verehrte Musiker, Carl Ruggles (1876-1971),  ändert als junger Mann seinen Vornamen Charles aus purer Germanophilie;  der Weg zu seiner eigenen Sprache ist so schwierig, daß seine Oeuvre am  Ende eines fünfundneunzigjährigen Lebens gerade zehn Kompositionen  umfaßt. Die Biographie des großen Lyrikers Wallace Stevens (1879-1955)  liest sich wie eine Replik der Ivesschen – auch er flüchtet sich in die  Mimikry seines Juristenberufes und wird Präsident einer  Versicherungsgesellschaft. Robert Frost (1875-1963) führt nach  Lehrjahren in England das zurückgezogene Leben eines neuenglischen  Farmers. Nur der Maler Lyonel Feininger (1871-1956) wählt den Weg zurück  in die Heimat seiner Eltern und wäre ohne den Terror des Dritten  Reiches wohl nie mehr nach Amerika gekommen. 
 
 Schon wenige Wochen nach Abschluß seiner Studien an der Yale University  (1894-1898) beginnt Ives seine Arbeit für die Mutual Life Insurance  Company in New York. Zusammen mit einer Gruppe von Studienkameraden  bezieht er „Poverty Flat“, die traditionelle New Yorker Unterkunft der  Yale-Absolventen. Von seinen musikalischen Ambitionen und Fähigkeiten  erfährt die New Yorker Öffentlichkeit nur am Rande: von 1900 bis 1903  wirkt er als Organist an der Central Presbyterian Church (57th Street). 
 
 Ende Juni 1904 kommt Ives zum Klassentreffen der Yale-Absolventen nach  New Haven. Er sieht das altvertraute Treiben auf dem Campus, hört und  singt die alten Lieder, Erinnerungen werden wach… Auf einem Blatt  notiert er den Titel eines neuen Werkes: 
 
 
 Trio Yalensia et Americana (Fancy Names) Real name: Yankee jaws at Mr. Yale’s School for nice bad boys!! 
 Er beginnt die Komposition noch in New Haven mit dem Mittelsatz, dem  Fence Medley, dem im darauffolgenden Herbst und Winter der erste Satz  und wahrscheinlich eine erste Fassung des Finales folgen. Erst 1911  (Ives hat in der Zwischenzeit geheiratet und bewohnt jetzt in den  Sommermonaten eine Villa in Hartsdale im Norden von New York) revidiert  er das Werk und gibt ihm seine definitive Gestalt, in der es dann noch  fast vier Jahrzehnte auf seine erste Aufführung wartete. 
 
 Der erste Satz (Moderato) führt uns zu einer Gruppe älterer Studenten,  die auf der Umzäunung des Campus sitzen – „sitting on the Yale fence“  war ein Vorrecht, das den Freshmen verwehrt war. Ein alter  Philosophieprofessor (nach der Meinung von Ives‘ Freund Edwards Park muß  der Komponist an George T. Ladd gedacht haben) spricht sie an und führt  mit ihnen ein kurzes und ernstes Gespräch. Diese Situation, die für  eine musikalische Darstellung nicht eben prädestiniert erscheint, nimmt  Ives zum Anlaß für ein originelles Experiment. Der musikalische Diskurs  verläuft in vier unabhängigen Ebenen, zwischen denen weitverzweigte,  aber relativ entfernte Beziehungen bestehen. Diese vier Schichten  erklingen zuerst in zwei aufeinanderfolgenden Paaren:  Klavierdiskant/Violoncello und Violine/Klavierbaß. Erst dann werden die  vier Stränge zu einer Einheit verwoben, wobei nur ganz am Schluß zur  Stärkung der Wirkung des Orgelpunktes auf C, der sich wider alles  Erwarten am Ende doch noch in einen reinen C-Dur-Akkord fügt, drei Takte  verdoppelt werden. Die Linearität dieses Vorganges kennt keine  Kompromisse. Das Resultat sind komplizierteste rhythmische, harmonische  und motivische Überlagerungen, die dem Gehör eine nicht leicht zu  bewältigende, aber fesselnde und lohnende Aufgabe stellen – eine  durchaus adäquate musikalische Beschreibung einer philosophischen  Fragestellung. 
 
 Der zweite Satz (TSIAJ. Presto – Allegro moderato) trägt in der Skizze  den Untertitel Medley on the Campus Fence – der Schauplatz ist also  derselbe wie im ersten Satz. Der introvertierten und fast spekulativen  Schau des Eröffnungssatzes steht aber hier ein Blick auf die  überbordende Vitalität des Studentenlebens gegenüber. Die kryptisch  erscheinende Abkürzung „TSIAJ“ bedeutet nichts anderes als „This Scherzo  Is A Joke“. Obwohl die Essenz dieses „Spasses“ sich wohl nicht jedem  Zuhörer gleich beim ersten Mal erschließt, wird man zugeben müssen, daß  schon allein die Unbekümmertheit und Verwegenheit der Anlage geeignet  ist, Vergnügen zu bereiten. Zum Thema des musikalischen Spasses bemerkt  Ives bei anderer Gelegenheit in seiner ruppig-lakonischen Art: 
 
 „…It may not be a good joke, (but) the joke of it is: if it isn’t a joke, it isn’t anything.“ 
 
 
 (Ives, Memos, m34v)
 
 Nicht weniger als dreiundzwanzig Zitate bilden das Rohmaterial dieses  Satzes; vier davon konnten bis jetzt noch nicht identifiziert werden,  und es ist durchaus möglich, daß Ives, erfinderisch und schelmisch wie  er war, einige weitere so gut versteckt hat, daß wir sie bis jetzt noch  nicht gefunden haben. Um den nicht nur musikalischen Humor dieses  Pasticcios würdigen zu können, ist es vielleicht hilfreich, die  zitierten Melodien (in der Reihenfolge ihres jeweils ersten Erscheinens)  aufzulisten: 
 
 I (Takt 16-42 Vl.) : A band of brothers in DKE / We march along tonight (DKE-Song)
 II (Takt 43-47 Vl. & 107-111 Vlc.): Henry Clay Work – Marching Through Georgia
 III (Takt 47-63 Vl.): Few Days (Psi-U-Song)
 IV (Takt 64-67 Vl.): (Portrait eines hinkenden Mannes)
 V (Takt 68-83 Klav., rechte Hand): Stephen Collins Foster – My Old Kentucky Home („The sun shines bright…“, 1853)
 VI (Takt 68-83 Vlc.): That Old Cabin Home Upon The Hill (Verszeile: Far away in the South)
 VII (Takt 84-85 & 200-201 Klav.): Joseph Philbrick Webster – In the  sweet by and by („There’s a land that is fairer than day…“)
 VIII (Takt 88-91 Vlc.): David W. Reeves – Second Regiment Connecticut National Guard March (Quickstep)
 IX (Takt 89-92 Vl.): Sailor’s Hornpipe
 X (Takt 93-106 Vl.): unidentifiziert
 XI (Takt 93-107 & 114-120 Klav., rechte Hand; 107-114 Vl.): unidentifiziert
 XII (Takt 107-114 Vlc.): unidentifiziert
 XIII (Takt 118-119 & 149-153 Vl.): Pig-Town Fling
 XIV (Takt 119-120 Vlc.): The Campbells Are Coming
 XV (Takt 120-124c Vl.): Thomas Haynes Bayly – Long, long ago… [Lang,  lang ist’s her („Sag‘ mir das Wort, das so gern ich gehört…“), Gedicht  von Robert Burns]
 XVI (Takt 124c-129 Vl. & Vlc., kanonisch): How Dry I Am (Parodie auf die Revival-Hymne „O Happy Day“)
 XVII (Takt 130 Vl. & Vlc., bitonal): Ta-ra-ra-boom-de-ay
 XVIII (Takt 145-147 Vl.): Daniel D. Emmet – Dixie Land (1859)
 XIX (Takt 163-168 Klav., rechte Hand): unidentifiziert
 XX (Takt 169-175 Klav., linke Hand): Hold The Fort
 XXI (Takt 173 Vlc.): Reuben and Rachel
 XXII (Takt 178-187 Klav.): unidentifiziert (Wolf’s Head Song)
 XXIII (Takt 188 Klav.): Lowell Mason (?) – Cleansing Fountain („There is a fountain filled with blood…“, Wolf’s Head Song)
 
 
 Es ist der Nachmittag eines Festes, und auf dem Campus tummeln sich  Horden ausgelassener Studenten. Ihre Lieder und Spiele sind nicht alle  von der vornehmsten Art. Ives hat den rauhen und burschikosen Umgangston  in entwaffnend „realistischer“ Weise Musik werden lassen: auch  musikalisch herrscht hier das Recht des Stärkeren. Eine Melodie  verdrängt die andere, Rhythmen und Tonarten verwirren sich zu chaotisch  anmutenden Gebilden, dröhnendes Schlagzeug, schmetterndes Blech und  frenetisches Gefiedel wollen einander übertrumpfen. Aber obwohl der  erste Höreindruck vielleicht Willkür und Zufälligkeit suggeriert,  herrscht in diesem Tohuwabohu eine recht genau kalkulierte Ordnung. Denn  wenn auch die verwendete Collagetechnik die Verwendung eines  traditionellen Formschemas unmöglich macht, so gelingt es Ives doch,  erkennbare Gliederungselemente einzuführen, ohne der Musik ihre  elementare Unmittelbarkeit und ihren bissigen Humor zu rauben. Dem  Pasticciocharakter des Satzes entsprechend konnten diese  strukturierenden Elemente natürlich nicht vorwiegend thematischer Art  sein; Ives verwendet daher andere gliedernde Parameter, wie Tempo,  Dynamik und Textur. Sparsam eingesetzte thematische Querbezüge geben der  so gewonnenen Gestalt nur noch zusätzliches Relief. 
 
 Die Großgliederung wird durch markante Tempowechsel erzielt: Anfang und  Ende des Satzes werden von zwei kurzen Prestoabschnitten gebildet (der  abschließende klingt in etwa wie eine von George Grosz gezeichnete  Karikatur des Trios aus dem Scherzo der VII. Symphonie von Beethoven).  Der dazwischen liegende Hauptteil des Satzes (Allegro moderato) wird an  zwei Stellen von einem kurzen Adagio-Passus (Zitat VII) unterbrochen,  der das zweite Mal (unmittelbar vor dem Schluß-Presto) in eine  Klavierkadenz mündet. Das hier in einer Aura bedeutungstiefer  Hintergründigkeit zitierte Lied, Websters „In the sweet by and by“, ist  kurioserweise Gegenstand einer Begebenheit, die Ives etliche Jahre nach  der Komposition des Trios tief beeindruckte: Als sich in New York die  Kunde von der Versenkung der Lusitania (7. Mai 1915) verbreitete, wurde  Ives Zeuge, wie die Passagiere eines U-Bahn-Zuges als Ausdruck ihrer  Betroffenheit spontan dieses Lied anstimmten – nicht laut und  demonstrativ, sondern still und nachdenklich, genauso, wie es auch  inmitten des lärmenden Übermutes unseres Satzes erscheint. (Ives hat  dieses spätere Erlebnis dann im letzten Satz seiner Zweiten  Orchestersuite musikalisch nacherzählt.) 
 
 In den beiden durch das Webster-Zitat voneinander getrennten Hauptteilen  des Satzes verzichtet Ives im wesentlichen auf dynamische und agogische  Gliederung. Die Binnenstruktur dieser Teile ergibt sich in erster Linie  durch die Art des Umganges mit den gewählten Zitaten. In beiden Teilen  werden nämlich vollständig zitierte Melodien (im ersten Teil: Zitate I,  V/VI; im zweiten Teil: Zitate XXII und XXIII) kaleidoskopartigen  Abschnitten mit einer Vielzahl ineinander greifender Melodiefragmente  gegenübergestellt. Während Ives für die vollständigen Zitate  großflächige, rhythmisch stabile und klangmalerische Begleittexturen  verwendet, greift er in den „fragmentierten“ Passagen, der Instabilität  und Flüchtigkeit des thematischen Materials entsprechend, zu  polyrhythmischen und polytonalen Formulierungen. Es sind vor allem diese  Momente mit ihrer Überfülle an widersprüchlichen Klangreizen und  Irritationen, die dem Satz auch hundert Jahre nach seinem Entstehen  seine provokante Brisanz und unbekümmerte Frische bewahrt haben. 
 
 Doch auch die Zitate selbst folgen einer – wenn auch alles anderen als  klaren und strengen – inneren Dramaturgie. Die Umrahmung des Pasticcios  bilden ausgesprochenen Yale-Lieder: Das erste (I) ist die „inoffizielle  Hymne“ der sophomore society DKE (einer Art Geheimverbindung von  siebzehn durch Wahl bestimmten Studenten des zweiten Studienjahres); die  letzten beiden (XXII, XXIII) sind Erkennungslieder der senior society  „Wolf’s Head“, deren Mitglied Ives war. (Die Zugehörigkeit zu einer der  drei senior societies erscheint vielen Yale-Studenten erstrebenswerter  als ein noch so brillanter Studienerfolg; die Wahl in diese  Verbindungen, in die nur je fünfzehn Studenten des vierten Studienjahres  aufgenommen werden, gilt als besondere Auszeichnung.) Zitat VIII, mit  dem der zweite Hauptteil eröffnet wird, war die traditionelle  „Schlachthymne“ Yales bei sportlichen Wettbewerben. Fosters berühmtes  „Old Kentucky Home“ (Zitat V) bildet schließlich das Herzstück des  Medleys: Das ihm gleichsam dienend unterlegte „Old Cabin Home“ (Zitat  VI) unterstreicht seine besondere Bedeutung ebenso wie die fast sakral  anmutende Wiederaufnahme seiner Schlußwendung in den beiden  Adagio-Momenten. Diese auszeichnende Behandlung von Fosters wohl  berühmtestem Lied kommt nicht von ungefähr: Der Autodidakt Stephen  Collins Foster (1826-1864) war für Ives eine wichtige  Identifikationsfigur, in der sich Möglichkeiten und Aufgaben einer  eigenen amerikanischen Musikkultur kristallisierten. In seinen Schriften  nennt Ives ihn an mehreren Stellen in einem Atemzug mit Bach und  Schubert – eine Wertschätzung, die vielleicht auch gleich das  entrüstet-mißbilligende Kopfschütteln der von Ives mit unermüdlicher  Inbrunst verachteten „nice ladies“ mit einkalkuliert. 
 
 Während der zweite Satz, der ja den Ausgangspunkt des ganzen Werkes  darstellt, (mit Grabbe zu reden) ganz Scherz, Satire und Ironie zu sein  scheint, kommt im Schlußsatz (Moderato con moto) wieder die tiefere  Bedeutung zu ihrem Recht. Die Erinnerung an einen Sonntagsgottesdienst  in Dwight Hall gab Ives den Anstoß zur Komposition dieses Satzes.  Folgerichtig bilden zwei Zitate geistlicher Musik die Angelpunkte des  Stückes. 
 
 Eines davon ist ein Selbstzitat: 1896 hatte Ives für den Yale Glee Club  eine großangelegte geistliche Kantate unter dem Titel The All-Enduring  geschrieben. Der Chor, der anspruchslosere Werke des jungen Komponisten  (wie etwa The Bells of Yale) schon in sein Repertoire aufgenommen hatte,  zeigte aber kein Interesse an einer Aufführung. Wie so oft bei Ives  gelangten daraufhin einzelne Teile dieses Werkes nach mehreren  Metamorphosen in andere Kompositionen, und so findet sich an zentraler  Stelle des Schlußsatzes unseres Trios ein 35 Takte langer Passus der  Solostimme von The All-Enduring als Kanon zwischen Geige und Violoncello  wieder. (Reminiszenzenjäger dürfen sich hier an einer grotesken und  hintergründigen Vorausahnung erfreuen: der Komponist der ehemaligen  sowjetischen Nationalhymne hätte jedenfalls Mühe gehabt, die  unüberhörbare Nähe seines Themas zu dem religiösen Werk eines  amerikanischen Kapitalisten zu rechtfertigen… – aber auch diese  Notwendigkeit gehört ja, Gott sie Dank, inzwischen der Vergangenheit  an.) 
 
 Das zweite Zitat des Satzes ist ein Klassiker der amerikanischen  Kirchenmusik: Rock of ages, cleft for me von Thomas Hastings auf die  Verse von Augustus M. Toplady (1830). Dieses Zitat bildet den  vieldeutigen Abschluß des Werkes; der von Ives dazu erfundene  Kontrapunkt ist in variierter Gestalt schon an mehreren Stellen der  vorangehenden Sätze erschienen und stellt also ein werkübergreifendes  Leitmotiv dar, das erst am Schluß seine wahre Funktion offenbart. Schon  daraus kann man ersehen, daß diesem Rock of ages besondere Bedeutung  zukommt – es ist übrigens das einzige Zitat des ganzen Werkes, das Ives  selbst expressis verbis als solches gekennzeichnet hat. Der auf diese  Weise geehrte Komponist, Thomas Hastings (1784-1872), stammte ebenso wie  Ives aus Connecticut, und auch er verbrachte den größten Teil seines  Lebens in New York – im Gegensatz zu seinem gleichzeitig kühneren und  unentschlosseneren Landsmann allerdings als professioneller Musiker. 
 
 Das Gewicht der beiden Zitate wird durch ihre Stellung im formalen  Ablauf des Satzes betont: The All-Enduring definiert genau die Mitte  dieser komplizierten Architektur, während Rock of ages durch die  suggestive und wiederholte Vorwegnahme des dazugehörigen Kontrapunktes  sich als ihr vieldeutiger Fluchtpunkt (in der perspektivischen und der  metaphysischen Bedeutung des Wortes) zu erkennen gibt. Hinter dem  Reichtum des verwendeten thematischen Materials und seinen vielfachen  Verschränkungen kann man die zugrundeliegende „Urform“ ABCAB kaum noch  erkennen; sie ist aber an der genau kalkulierten Proportionierung der  Eckteile A und B (je 45 Takte) nachweisbar. Diese Teile sind in sich  reich gegliedert: A umfaßt eine Quinten-Fanfare als Eröffnungsmotiv und  ein inniges Gebet, das in der Mitte von B, umrahmt von einem (den  folkloristisch-heiteren Charakter des Scherzos in gezähmter Form  wiederaufnehmenden) bitonalen Kanon, wiederkehrt. Am Ende von B steht  jeweils der Rock of ages-Kontrapunkt, dem zuletzt dann das eigentliche  Zitat folgt. Der Mittelteil (The All-Enduring) stellt mit seiner fast  opernhaften Rhetorik eine unerwartete Verbindung zu Wagner und Strauss  her – es ist, trotz aller verfremdenden Elemente, der einzige Passus des  Werkes, den man „spätromantisch“ nennen könnte. Gerade solche Momente  lassen das Innovative an Ives‘ „eigener“ Tonsprache noch kostbarer und  noch zwingender erscheinen. 
 
 Ein deutscher Geiger, dem Ives im August 1914 seine Musik zeigte, hielt  sich nach einer Weile die Ohren zu und rief verzweifelt aus: „Wenn man  unverdauliches Zeug in den Magen bekommen hat, so kann man es wieder  loswerden – aber ich bekomme diese schrecklichen Klänge nicht mehr aus  meinen Ohren!“ An Reaktionen dieser Art mußte Ives sich im Laufe seines  Lebens gewöhnen. Er wollte mit seiner Musik die erschlafften Muskeln  einer betulich schöngeistigen Zuhörerschaft zu neuer Tätigkeit anregen,  die Ohrenmuskeln, die Kopfmuskeln, die Herzmuskeln und die  Seelenmuskeln. Diese Art geistiger Gymnastik ist auch nach einem  Jahrhundert der Experimente noch nicht überflüssig. Ives selbst ist  jedenfalls auf diese Weise jung geblieben. Sein Mut und Witz, seine  Naivität und Neugier sind für offene und unvoreingenommene Ohren noch  immer frisch und ansteckend. „This may not be a nice way to write music,  but it’s one way! – and who knows the only real nice way?“ 
© by Claus-Christian Schuster