Zykan: g-kettet (1996)

Otto M. Zykan

* 29. April 1935

g-kettet (1996)

Komponiert:Wien, September 1995 bis Februar 1996
Widmung:Altenberg Trio Wien
Uraufführung:Wien, Musikverein/Brahms-Saal, 2. Dezember 1997, Altenberg Trio Wien
Claus-Christian Schuster, Klavier
Amiram Ganz, Violine
Martin Hornstein, Violoncello
Erstausgabe:Manuskript

Zykans viersätziges Klaviertrio ist eine Art Kompendium kammermusikalischer Kompositionshaltungen: es gibt hier die skizzenhafte Miniatur, den monumentalen Sonatensatz, das ensemblistisch begleitete Solostück und zuletzt den großräumigen, aber leichtgefügten Tanzsatz. Für die nicht verbindlich festgelegte Satzfolge des Werkes ist die (sich in den Proportionen des Werkes ebenso wie in seiner Benennung widerspiegelnde) Hegemonialstellung des zentralen „Sonatenhauptsatzes“ von entscheidender Bedeutung. Die von uns gemeinsam mit dem Komponisten für die Uraufführung gewählte Dramaturgie nimmt Bezug auf die umgebenden Werke.

Abschied ist ein impressonistischen Techniken verpflichtetes, verletzliches Klanggewebe, ein musikalischer Aphorismus. Die Seidentücher wehen im Fahrtwind, während der Zug sich langsam in Bewegung setzt – das Bild würde recht gut in das Musée d´Orsay passen.

In einer völlig anderen Welt finden wir uns „G“-kettet wieder. Das namengebende Herz- oder vielmehr Hauptstück des Werkes ist ein kompositorischer Kraftakt von beeindruckenden Dimensionen und Ambitionen. Der Fin-de-siècle-Duft ist längst verweht, wir sind im Maschinenhaus einer auf Hochtouren laufenden Denk- und Konstruktionsmaschine. Der Komponist, der als sein charakteristischstes Stilmittel einmal die „gestische, theatralische Verbosität“ nannte, hat diesen Satz selbst erläutert.
Da die Bevorzugung der „Verbosität“ eine gewisses Mißtrauen gegenüber dem in der schriftlichen Fixierung erstarrten Text miteinschließt, eine Äußerung dieser Art bei Zykan also eine ganz seltene Ausnahme darstellt, haben wir uns entschlossen, diese Selbstanalyse in extenso abzudrucken.
Eine Besonderheit dieses Kommentars ist, daß er das musikalische Geschehen von zwei weit auseinander liegenden Gesichtspunkten aus betrachtet: einmal aus einem technisch-analytischen, und dann aus einem gestisch-dramatischen Blickwinkel. (Der Paralleldruck im Programmheft soll das Verständnis soweit erleichtern, wie es bei einer auf eine ungedruckte Partitur bezugnehmenden Analyse nur möglich ist.)
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Otto M. Zykan
„G“-kettet
(Die Analyse)


Eine 7-Tonreihe, gebildet aus der Intervallreihe, die den Eröffnungsakkord formuliert, liegt dem Motivcharakter 1 zu Grunde, der bis T. 64 reicht. Das Auftreten der restlichen 5 Töne (die in T. 64 eine neue Struktur zu etablieren versuchen) wird quasi vorangekündigt ab T. 54, da die parallel verlaufenden Stimmen im Terz- und Quintabstand zwingend alle Töne benötigen. Tatsächlich aber haben sie in diesem Gefüge kaum einen Eigenwert, sind nur Teil eines Klangfarbenregisters.
Nach dem Eröffnungsschlag klingt „G“ weiter. „G“ ist die bestimmende Achse dieses Satzes („G“-kettet). Immer wieder gruppiert, spiegelt sich der Tonhöhenverlauf um diesen Ton. Er ist aber auch (Schein-) Dominante zu „C“, da sich für den Zuhörer auch ein diatonisch simuliertes Spannungsfeld assoziativ ergeben soll.
Die im weiteren Verlauf erkennbare Gewichtigkeit von „C“ ist in diesem Anfangsabschnitt auch daran ablesbar, daß der jeweils dem C nachfolgende Ton des Klavierparts im Sinne der 7-Tonreihe geordnet ist, während die übrigen Tonfolgen „frei“ gewählt sind, was also auch bedeutet, daß durchaus Töne wiederholt werden, noch ehe die Reihe „abgespult“ ist.
Mit dem Einsatz einer Gegenstimme in T.12 wird eine 7/8-Episode „eingetanzt“ (3/8 und 4/8 Abstände alternierend), die sich dann in T.16 – die 7-Tonreihe „ordnungsgemäß“ und ganztaktig phrasierend – einstellt. Sie bringt kurzfristig ein wenig Bewegung in die Streicherstimmen, die bis dato noch nicht wirklich in das Geschehen eingegriffen haben.
Das „stolpernde“ Metrum wir auch in T.23 aufrechterhalten. Die aus dem Continuum ausbrechende Oberstimme des Klaviers signalisiert die Terzen- und Dreiklangsdominanz als wesentlichen Baustein des gesamten Stückes.
In T.33 „emanzipieren“ sich Violine und Cello von untergeordneten Pedalton-Funktionen und gliedernder Akzentuierung. Die 7/8-Gliederung aufrechterhaltend täuscht die Violine ein DUR/MOLL-Szenario vor, während das Cello aus einer Dreiklangsreihe zitiert, die sich aus der 7-Tonreihe bildet, aber auch der technischen Ausführbarkeit am Cello verpflichtet ist.
Der in T.43 einsetzende 7/8-Abschnitt gibt dem Cello Gelegenheit zu einem (strukturverändernden) „Melodieansatz“, dessen Töne sich in jene sich stetig verlängernden Pausen der Violinstimme zwängen (wie das später noch öfter vorkommen wird), die dadurch entstehen, daß die Violine die 7-Tonreihe in sich verkleinernden Gruppen in Richtung „G“ (über c, e, g) ausfiltert, um sie dann (ab T.49) zum „B“ hin (das als Leitton zum wiederkehrenden „C“-Teil fungiert) auszufiltern.
Dieser anschließende Teil nimmt den Anfang des Stückes wieder auf: Unterstimme im Klavier. Hinzugefügt werden parallel verlaufende Stimmen im Terz- und Quintabstand (Durdreiklänge), die, wie erwähnt, nur eine Klangfarbenanreicherung darstellen. Das Cello nimmt seine Akkordreihe wieder auf, die die 7/8-Metrik nachklingen läßt (s. unterschiedliche Einsatzabstände).
In T.64 stehen die (erstmals prominent exponierten) restlichen 5 Töne im Dienste eines weiteren Versuchs, die (be)herrschende Motorik zu durchbrechen, was nicht wirklich gelingt. Der selbstgefällige Achtelnoten-Spielfluß ist aber doch so weit gebrochen, daß in T.73 eine andere Struktur sichtbar wird. Die Tonfolgen sind nicht mehr von den beiden Tonreihen bestimmt, sondern von (alle 12 Töne umfassenden) Entsprechungspaaren, wie sie sich durch Spiegelung um einen Ton zwingend ergeben: so spiegelt sich das Geschehen ab T.74 um die Achse „G“. (Das sind in diesem Falle die Paare: cis/cis, d/c, dis/h, e/b, f/a, fis/gis).
Anschließend wird um die Achse „B“ (T.80), „E“ (T.83), „C“ (T.85) und „D“ (T.87) gespiegelt. Der Achsenwechsel ist gekoppelt mit Veränderungen der Tonraumweite.
Darüber hinaus verengen sich die (Ton-)Einsatzabstände im Abschnit TT.73-87. So trennt die Töne des Abschnitts TT.74-80 (wie sich an der Cellostimme leicht ablesen läßt) die Dauernfolge 1,2,3,2,1-Achtel. Ab T.80: 2,1,0,1,2-Achtel. Ab T.83: 1,0,1-Achtel. Ab T.85: 0-Achtel-Abstand. Das bricht neuerlich die Stereotypie der Motorik, simuliert einen Beschleunigungseffekt und nimmt (TT.83-85) „rhythmische Gestalt“ an.
Noch einmal drängt sich (in T.89) das 7-Tonreihen-Ostinato (Unterstimme des Klaviers) ins Geschehen, während die Violine mit den (neu erworbenen) Entsprechungspaaren kontrapunktiert.
In T.98 etabliert sich nun eine neue Struktur: Eine von der Violine vorgetragene Melodie stützt sich wesentlich auf das Intervallreihenprinzip (Intervallschritte wiederholen sich erst, wenn alle Intervalle durchlaufen sind), das schon den Eröffnungsschlag bestimmt hat (z.B.: T.102 – kleine Sekunde, Tritonus, große terz, große Sekunde, Quart, kleine Terz).
Cello und Klavier agieren unverkennbar in Begleitfunktion. Das Cello hat in seiner Akkordreihe inzwischen jene Position erreicht, die am Baßton „Cis“ aufgebaut wird. Das vermittelt zusätzlich den Eindruck einer harmonischen Rückung (im Verhältnis zum vorangegangenen Teil auf „C“), die den teil mitbestimmend prägt.
Kurze Sechzehnteleinwürfe (sie zitieren die 7-Tonreihengruppen der Cello-Akkordreihe) stehen für Rückerinnerung an Motivstruktur 1, die noch nicht überwunden scheint und sich anschließend tatsächlich wieder (als aufschiebender Unterbrecher) zwischen TT.130-160 schiebt.
Die „brutale Penetranz“ dieses Abschnitts fußt darauf, daß sich die Klavierpartgruppen – sie sind bis T.144 durch sich vergrößernde und anschließend wieder rückläufig durch sich verkleinernde Pausenabstände getrennt – akkumulierend auftürmen (1 / 1,2 / 1,2,1,2,3 / usw.)
In T.160 endlich hat man nicht nur den Anschluß an die Seitensatz-Struktur (TT.98-130) gefunden, sondern darf annehmen, daß der hämmernde Hauptdarsteller vorerst ausgedient hat.
Anders als im Abschnitt TT.98-130 emanzipiert sich nun auch das Cello zum anteiligen Melodieträger, während das Klavier eher gestaltlos – in der Intervallreihe ge- und befangen – das Feld als dominierende Kraft verläßt.
Spätestens in T.173 ist die neue Allianz Violine/Cello unter anderem daran erkennbar, daß die Violine (sich in ein labiles Begleitgefüge begebend, in dem eine gleichförmige rhythmische Gestalt ihr verfügbares ungleichzähliges Tonmaterial – auf der Achse „D“ – in einer Art Stafette weitergibt) wieder Schlupflöcher läßt, die das Cello zum langsamen Aufbau einer sentimentalen Melodie nützt. Die anfängliche Ähnlichkeit zum 3. Satz ist unverkennbar. So fügt sich langsam auch das Klavier (die beiden Töne „H“ und „D“ aus der Begleitfigur des 3. Satzes zitierend) in das neue Geschehen. Unüberhörbar ist aber die nervöse Unruhe, die sich in einer eckenden, unrunden rhythmischen Abfolge äußert: die sich stetig verkürzende 6/8-Sequenz der Klavieroberstimme landet in T.182 zwingend wieder in Sechzehntelbewegung. Das im Pizzicato begleitende Cello (in T.184 über 5 verschieden Töne, in T.185 über 6 Töne, in T.186 wieder über die ganze 7-Tonreihe verfügend), bricht mit den „restlichen 5“ in jene reihenfreie Melodie von Saint-Saëns auf, die das Klavier übrigens in der Unterstimme ab T.173, versteckt bezugnehmend auf die Struktur in T.12, antizipiert hatte.
Das Klavier spinnt (wenn auch in begleitender Funktion zum führenden Cello) die Sechzehntelbewegung weiter.
Ausgehend von der Halb-/Ganztonreihe in T.190 der Klavieroberstimme (sie artikuliert wieder vorwegnehmend ein Motiv aus dem Schwan-Zitat, nämlich T.202 und T.212 der Cellostimme), die das Vorhergehende eher gestaltlos auslaufend abzuschließen scheint, setzt ein organisierter Zerfallsprozeß in der Form ein, daß sich in jeder der (durch organisierte Pausenzeiten getrennten) Gruppen die Anzahl der Anschläge zwar vergrößert (von 10 Anschlägen in T.191 bis zu 17 Anschlägen in T.199/200), sich aber gleichzeitig je ein Zweiklang pro Gruppe einschleicht (das Pferd von hinten aufzäumend), der die doppelte Zeiteinheit beansprucht. Die sich so ausbreitende Blockierung der Sechzehntelgeschwätzigkeit lähmt diese unüberhörbar. Ab T.197/198 vergrößern die Sechzehntel freiwillig ihren Zeitwert (Achteltriolen statt Sechzehntel). In T.200 hat der inzwischen zum Viertelwert angewachsene Zweiklang alle möglichen Positionen besetzt. Motivstruktur 1 ist auch als Nostalgie endgültig ausgedünnt.
Die Unterstimme des Klavierparts, in T.190 noch mit auftrumpfenden Triolensforzati Unabhängigkeit signalisierend, fügt sich dem Machtwechsel schneller und geschmeidiger. Schritt für Schritt wird sie sogar zum tragenden Fundament der beiden anderen Stimmen entwickelt.
Der anschließende, zart gewebte (sich auf „G“ spiegelnde) Abschnitt artikuliert sich über Zeitwertreihen. Die Notenwerte ordnen sich in 3 Gruppen, wobei die Sechzehntel für einen „zeitlosen“ Vorschlag steht: beginnend in T.219 der Klavieroberstimme – I) 4,6,2,6,4 Achtel II) 2,4,6,4,2 Achtel III) 6,2,4,2,6 Achtel. Die Unterstimme (ebenfalls Zeitwertreihen einsetzend) verwendet die Reihe der auf „G“ gespiegelten Entsprechungspaare. Ab T.232 verkürzen sich die Gruppen. (Der 6/8-Wert wird durch den Wert 1 ersetzt.) Der in T.238 einsetzende Nachsatz summiert drei Achsenpaare („G“, „A“, „F“).
In T.244 setzt ein abschließender Teil ein, der (– gäbe es eine sich klar abzeichnende Exposition, einer Reprise nicht unähnlich – ) die Motive und Strukturen des gesamten Stückes über- und nebeneinander stellt. Kein Takt gleicht dem anderen, die drei Instrumente agieren eher gegen- als miteinander. Die Violine (vorerst die „restlichen 5 Töne“ einsetzend) bemüht sich mit wenig Erfolg um eine Hauptstimme, die dem Chaos Orientierung geben sollte.
Das Klavier (nachdem es vorerst unüberhörbar und plakativ die 7-Tonreihe aufgerufen hat und dann, ab T.249, auf die Cello-Akkordreihe umgesetzt hat) befleißigt sich zusammen mit dem Cello einer reihenmäßig angeordneten Anschlagsdichte pro Takt. So reduziert sich z.B. die Anschlagszahl im Klavier von 7 in T.258 auf 1 in T.264, um sich dann wieder von 1 in T.265 auf 7 in T.271 zu steigern. Immer dann, wenn sich der Baßton der verwendeten Reihe im Klavier ändert, wird eine Oktaven-Sechzehntelpassage eingeschoben, die jene Reihengruppen verwendet, die den Cellosaiten zugeordnet sind; der Einfluß dieser Sechzehntelpassagen auf die Anschlagdichte bleibt unberücksichtigt.
In der Coda (ab T.273) saugt die Klavierunterstimme Akkordkonstellationen zu Ungunsten der Achtelbewegung an, während die Cellostimme umgekehrt Achtelbewegung zu Ungunsten ihrer Akkordkonstellationen anzieht. Das Cello, in T.281 endlich in voller, akkordfreier, fließender Bewegung, stürmt, seinen Tonraum stetig verengend, auf das abschließende „G“ zu, das die Violine schon vorher erreicht hat und in einer vielfältigen rhythmischen Anordnung zu halten versucht, während das Klavier in wechselnden Konstellationen einen Schlußakkord mit den Tönen der 7-Tonreihe anpeilt.

„G“-kettet
(Die Geschichte)


Zu schnell für die längere Einschwingzeit der Streichertöne hat das Klavier nach dem Eröffnungsschlag die Initiative an sich gerissen. Lauernd auf der Suche nach einer Einstiegsmöglichkeit verharren die Streicher auf dem „G“. Der Umstieg auf „C“ in T.12. läßt nur kurze Hoffnung aufkommen. Zu wenig originell ist die vorgetäuschte Dominant/Tonika-Wirkung, zu ablenkend das Angebot der neu auftretenden Gegenstimme im Klavier. Mit ihr wird eine 7/8-Metrik eingetanzt, die ab T.16 für kurze Zeit tatsächlich in Erscheinung tritt und den Streichern ein wenig Bewegungsfreiheit gewährt. Auch dieses Glück ist kurz! Der simple Rückzug der Violine auf einen anderen ausgehaltenen Ton und das beschämend entscheidungslose Tritonusgetorkel des Cellos lassen keinen Zweifel, daß das Klavier vorerst nicht geneigt scheint, das Stück als TRIO zu betrachten.
Wie immer: nichts macht lange Lust, und schon gar nichts, das du alleine tust. So, als hätten sie sich abgesprochen, drängen Violine und Cello schlauerweise gleichzeitig ins Geschehen. Loyal (möglicherweise aber auch nur, weil sie noch nichts Eigenständiges anzubieten haben) zitieren sie wechselweise das vom Klavier vorgegebene Material; lassen aber schon erkennen, daß sie nicht weiter gewillt sind, als begleitende Pedaltöne für eine sich langsam erschöpfende Perkussionsmotorik des immer fragwürdiger werdenden Klavierparts zu fungieren.
Die Violine gibt dem Cello Gelegenheit zu einem „Melodie-Ansatz“ (T.43-45). Das Cello nütz die von der Violine zur Verfügung gestellten, sich vergrößernden Pausenabstände für eine sich steigernde und an Anschlägen sich ausweitende Melodielinie, die freilich noch unrund, hektisch und ungelenk das Rampenlicht sucht.
Noch einmal scheint der Klavierpart zu triumphieren, da sich die Violine sogar in einen Parallel-Lauf hineinziehen läßt. Das Cello jedoch verfolgt mit unnachgiebiger Konsequenz die Fortsetzung des eingeschlagenen Weges „seiner“ Akkordreihe und kann Erfolge seiner subversiven Zersetzung verbuchen: das anschließende Abschnitt (T.64) läßt erkennen, daß nun Sand ins Getriebe des allzu unbehinderten Achtellauf-Selbstverständnisses geraten ist. Es zerbricht unter den Schlägen der vom Cello ins Spiel gebrachten Akkordstruktur!
Selbstbewußt tummeln sich Pizzicati und Tremoli, ein deutlich überzeugenderer Melodiebogen als zuletzt in T.43 läßt das Cello aufhorchen machen, ja geradezu subjektiver Gestaltungswille von tänzerischer Anmut (TT.83-89) degradieren den trillernden Klavierpart zum hudelnden Vollzugsorgan nacheilenden Gehorsams. „Ist die Not am größten, ist der Triller am nächsten.“
Der anschließende kurze Teil (TT.89-98) könnte noch einmal als kleine Ehrenrettung für das Klavier gewertet werden, ist aber nicht viel mehr als ein elendes „Sich-aus-dem-Staub-Machen“.
Stolz setzt sich nun die Violine in eine neue Tonalität, in ein neues Tempo, in einen neuen Charakter ab und dominiert uneingeschränkt seine Mitspieler.
Prinzipiell, aber nicht sklavisch der Intervallreihenkonzeption des Komponisten folgend, singt sie in wechselvollem Auf und Ab die Melancholie des um seine Grenzen besorgten Wissenden…
Das Klavier, sich vorerst anbiedernd dem Cello unterwerfend, verliert – im weiteren Verlauf auch dazu außer Stande – zunehmend jede Orientierung und Selbstachtung.
Ein Abbild des zu spät seine Grenzen erkennenden Ahnungslosen? Mitnichten! Gerade als der Klavierpart den Eindruck von völliger Beliebigkeit zu machen scheint, und jede Berechenbarkeit der rhythmischen Struktur verloren geht, scheint es in T.124 wieder an Kontur zu gewinnen , um sich wieder in jene perkussive Motorik zu flüchten, die für dieses Instrument wohl typisch, für den Zuhörer inzwischen aber wenig ersprießlich ist.
So wäre es an sich auch der Wunsch des Komponisten gewesen, die TT.130-160 zu überspringen. Tatsächlich aber meldete sich, nach überprüfendem Abhören, die Erinnerung an den bisher bestimmenden Charakter des ersten Teiles so deutlich zurück, daß dem Rechnung zu tragen war. So erleidet man eben ab T.130 eine Tunnelfahrt von befremdender Penetranz. In T.160 endlich hat man nicht nur Anschluß an die Seitensatzstruktur von TT.8-130 gefunden, sondern darf annehmen, daß sich der hämmernde Hauptdarsteller endlich ausgetobt hat.
Ander als im Abschnitt TT.98-130 emanzipiert sich nun auch das Cello zum anteiligen Melodieträger und treibt, in harmonisiertem Duett mit der Violine, das in Forte-Triolen nachpolternde Klavier in die Statistenrolle.
Spätestens in T.173 ist die endgültige Allianz Violine/Cello unter anderem daran erkennbar, daß die Violine (sich in ein labiles Begleitgefüge begebend) wieder Schlupflöcher läßt, die das Cello zum langsamen Aufbau einer sentimentalen Melodie nützt. Die anfängliche Ähnlichkeit zum 3. Satz ist unverkennbar. Die Sehnsucht danach ist verständlich. Auch der Komponist konnte nur mit Mühe der Verlockung widerstehen, hier den 3. Satz einfließen zu lassen. Den bis zu diesem Punkt hin gediehenen 2. Satz nun aber zum Vorspiel des 3. Satzes verkommen zu lassen, stand für ihn schon aus Gründen der Ökonomie nicht zur Diskussion.
So fügt sich langsam auch das Klavier – die exorbitante Tonauswahl jener zwei Töne des 3. Satzes zitierend – in das neue Geschehen. Unüberhörbar ist aber die nervöse Unruhe/Abgeneigtheit, die sich in der eckenden rhythmischen Abfolge äußert, die dem an sich unschuldigen Pianisten Kummer bereiten dürfte.
Ein uneigennütziger Beitrag des Klaviers: in seiner Unterstimme (TT.174-184) ist jenes Motiv antizipierend angedeutet, das wenig später das Geschehen prägend gestalten wird und schon viel früher von jemandem anderen erfunden wurde. Daß auch in diesem Abschnitt das Klavier einen kurzen Sechzehntelrückfall anlaufen läßt, könnte noch nostalgischer Wehmut zugeordnet werden. Die Grenze der Aufdringlichkeit dürfte allerdings schon in T.190 wieder überschritten sein, in dem die Klavierstimme den an sich löblichen Versuch einer Verschränkung des Vorangehenden mit dem Nachfolgenden letztlich dazu mißbraucht, in einer Situation auf Selbstdarstellung zu pochen, in der es gelten sollte, die ungebrochene Schönheit von Saint-Saëns´ „Schwan“, den nun das Cello vorzutragen sich anschickt, begleitend zu dekorieren.
Wie immer: die Art und Weise, wie sich die Sechzehntelbewegung schließlich der Übermacht der Mit-Stimmen beugt und sich verlegen aus der Szene verabschiedet, hat etwas Rührendes und Respektables und sollte in der beiliegenden genaueren Analyse nachvollzogen werden.
Die in T.190 vorerst noch mit auftrumpfenden Triolensforzati Ignoranz signalisierende Baßlinie der Klavierstimme fügt sich dem Machtwechsel schneller und geschmeidiger, als man annehmen sollte. Die Deplaziertheit der nachpolternden Sforzati kann verziehen werden angesichts der Geschmeidigkeit, mit der die Baßlinie sich Schritt für Schritt zum tragenden Fundament der beiden anderen Stimmen emanzipiert.
Mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit muß allerdings der Wiedereinsatz der Klavieroberstimme in T.212 als eine Anpassung gewertet werden, die – mit dem anschließenden Abschlußchoral den guten Geschmack verlassend – verletzt.
Der nachfolgende zart gewebte Abschnitt könnte Wehmut, Versunkenheit oder sogar Resignation bedeuten, wozu wie Klavierstimme jede Menge Gründe böte. Darüber, ob es sich um ein Zwischenspiel, einen zentralen Achsenpunkt und Mittelteil, ein Vorspiel zur unvermeidlichen Reprise oder gar nur um ein Gastspiel eines irrtümlichen Computer-Einfügevorganges handelt, konnte der Komponist sich nicht zwingend klar werden. Üblicherweise ist es ein Teil, in dem das Publikum zu husten beginnt, und zumindest dadurch funktional gerechtfertigt.
Die auf den Beginn des Stückes zurückgreifenden , von den Streichinstrumenten vorgetragenen Rahmentöne „G“ haben nichts mehr von der lauernden Ausgeliefertheit des Anfangs. Sie sind jetzt ein mitfühlender Beistand, eine energiespendende Leitschiene für eine Klavierepisode, die zaghaft, verloren, in sich kreisend, stolpernd sich umtut auf der Suche nach Rechtfertigung.
Jäh, noch ehe sich diese Rechtfertigung hätte einstellen können, bricht in T.244 ein Schlußteil an, den man am ehesten als „verzweifelte Reprise“ bezeichnen könnte. Jede Rücksicht, jedes Aufeinander-Reagieren verweigernd, prallen die unterschiedlichsten Interessen aufeinander. Man hat nichts voneinander gelernt. Jeder gegen jeden, und alle gegen die Zuhörer…
Da kippt das Klaviergehämmer ungebremst in seine ausgeleierten bahnen, versucht sich die Violine in kläglich untypischen und schlecht klingenden Oktavformationen als führende Stimme, sägt das Cello an seiner Akkordreihe und der Versuchung, einen Status simpler, nachbetender Emphase als Weltnachricht zu verkaufen. Und doch scheinen sie alle gegängelt, einem Sog ausgeliefert, der sie spätestens in T.281 in jenes „G“ münden läßt, dem sie sich – wenn auch nur aus Ratlosigkeit – am Beginn des Stückes sorglos anvertraut hatten.
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Das Nachtstück für ein Schiff wurde ursprünglich für Heinrich Schiff geschrieben und verdankt seine Existenz wohl in erster Linie Zykans Lust an der paradoxen Formulierung: übersättigt mit dem Anblick der Partituren traditioneller Cellostücke, bei denen einem Notenozean der Klavierstimme ein dünner Melodiefaden im Cello gegenübersteht, wollte der Komponist ein graphisches Gegenbild dazu entwerfen. So entstand ein Stück, bei dem die Cellostimme durchgehend auf zwei Notensystemen notiert ist, während der Klavierpart (nur aus den Noten „H“ und „D“ bestehend) sich mit einem Notensystem begnügen muß – und eigentlich überhaupt die Mühe der Notation nicht lohnt. Die nachträglich für die Triofassung hinzugefügte Geigenstimme reflektiert das Geschehen in irrealen Flageoletts.
So, als wollte die Cellostimme vorerst nur das Terrain abtasten, umspielt sie vorsichtig die unverrückbar stoische Wellenbewegung der Klavierstimme. Im weiteren Verlauf an Kontur gewinnend, erreicht sie die Höhen einer sentimentalen Rückbesinnung auf Schubert und andere vergangene Schönheit…, – zwingt das Klavier sogar zu einer zusätzlichen kontrapunktierenden Baßlinie, um sich schließlich wieder resignierend zu verlieren. Die ironische Wehmut dieses Satzes wird durch die unüberhörbare Präsenz zweier „Easy Listening“-Ikonen (Schuberts „Ständchen“ und Saint-Saens´ „Schwan“), auf die man in einer Zahnarztpraxis weit besser vorbereitet wäre als in diesem Ambiente, auf raffiniert-doppelbödige Weise betont.

Nach diesem isoliert zwischen den zusamengehörigen Sätzen stehenden Intermezzo ist bewegtenendes ein Gegenstück zu dem athletischen 2. Satz. Ziellos verebben hier die Nachschwingungen der dort ausgelösten Erregung. Der Schwere und dem Druck, die dort das musikalische Material unablässig kneteten und verformten, steht hier eine schwerelos tänzerische Haltung gegenüber, die wohl Kapriolen und temperamnetvolle Sprünge zuläßt, aber nichts zerschlägt und nichts angreift. Vielleicht drückt sich in diesem lyrischen, fast scheuen Schattenbild die Skepsis des Komponisten gegenüber dem monumentalen Werkbegriff unseres Kulturerbes aus, zu dem er selbst eben noch nolens volens mit „G“-kettet einen irritierenden Beitrag geleistet hat?

© by Claus-Christian Schuster

Zimmermann: Présence. Ballet blanc en cinq scènes (1961)

Bernd Alois Zimmermann

* 20. März 1918
† 10. August 1970

Présence. Ballet blanc en cinq scènes (1961)

Komponiert:Köln, beendet am 27. März 1961
Widmung:Ellen Gorrissen-Arnhold
Uraufführung:Uraufführung(konzertant): Darmstadt, Marienhöhe, Internationale Ferienkurse für Musik,
8. September 1961 – Priegnitz-Trio
Hans Priegnitz, Klavier
Bernhard Hamann, Violine
Siegfried Palm (*1927), Violoncello
Uraufführung (szenisch): Schwetzingen, Schwetzinger Festspiele, 16. Mai 1968
Aloys Kontarsky (*1931), Klavier
Saschko Gawriloff , Violine
Siegfried Palm, Violoncello
Ballett des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart
Choreographie: John Cranko
Erstausgabe:Ars viva, Mainz, 1961

Mit Bernd Alois Zimmermann ist in unserem Zyklus neben Mauricio Kagel noch ein zweiter wichtiger Repräsentant der sogenannten „Darmstädter Schule“ vertreten, ohne die das Bild der Musik unseres Jahrhunderts nicht vollständig wäre. Während aber Kagels Klaviertrio nur mehr ferne Reflexe der Darmstädter Erfahrung zeigt, ist Zimmermanns Présence ein Schlüsselwerk aus der Hochblüte dieser Schule.

Wie kaum eine andere Gruppierung der Musikgeschichte hat die „Darmstädter Schule“ ( – ein übrigens recht anfechtbarer Terminus – ) weit über ihren unmittelbaren Wirkungsbereich hinaus Kontroversen ausgelöst, die das Bild der „Neuen Musik“ in der musikinteressierten Öffentlichkeit nachhaltiger geprägt haben als die dabei diskutierten Werke selbst.

Schon im ersten Drittel unseres Jahrhunderts hatte sich Darmstadt in der Pflege neuer Musik einen Namen gemacht: Max Reger fand hier besonders begeisterte Anhänger, Felix Weingartner gab als Dirigent während des ersten Weltkrieges wichtige Impulse, und Joseph Rosenstock machte sich in den Zwanziger Jahren als Vorkämpfer Stravinskijs und Schönbergs verdient. Der nationalsozialistische Albtraum hatte diese Tradition unterbrochen. Der Journalist Wolfgang Steinecke wollte an die Ideen der Zwanziger Jahre anknüpfen und organisierte im Sommer 1947 die ersten „Ferienkurse für internationale Neue Musik“ im ehemaligen kurfürstlichen Jagdschloß Kranichstein.

Rolf Liebermann gehörte zu den ganz wenigen „ausländischen“ Gästen dieser ersten Ferienkurse, und er erkannte sofort, was die Darmstädter wirklich brauchten: in die Schweiz zurückgekehrt organisierte er eine Sammlung und kehrte 1948 zu den nächsten Kursen mit einer Wagenladung Partituren, Notenpapier und Instrumentenzubehör zurück. Hermann Scherchen und René Leibowitz waren die dominierenden Persönlichkeiten dieser ersten Kurse. Es galt, das durch die nationalsozialistische Kulturpolitik und den Krieg entstandende Informationsdefizit zu verringern und die in den Isolationsjahren versäumten Entwicklungen kritisch nachzuvollziehen. So wurden die Kurse, die schon seit 1948 den auch heute noch verwendeten Namen „Internationale Ferienkurse für Neue Musik“ führen, zu einem kosmopolitischen Experimentierfeld, auf dem zunächst die Erfahrungen und Entwicklungsmöglichkeiten von Dodekaphonie und Serialismus diskutiert und erprobt wurden. Deshalb konnte bei vielen mit den Darmstädter Verhältnissen und Gepflogenheiten nicht vertrauten Musikliebhabern der Eindruck entstehen, Darmstadt sei in den Fünfziger- und Sechzigerjahren so etwas wie eine oberste Inquisitionsbehörde in Fragen des orthodoxen Umganges mit Zwölfton- und Reihentechnik gewesen. Die anläßlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Ferienkurse erschienenen Publikationen beweisen, daß diese Institution eine Begegnungsstätte und Ideenbörse von viel weiter reichender Bedeutung war, in der sich alle relevanten Phänomene der Musikgeschichte des letzten halben Jahrhunderts Gehör verschaffen konnten. Aus österreichischer Sicht kann man nicht über Darmstadt sprechen, ohne auch Karl Schiskes zu gedenken, der einer ganzen Pleiade junger österreichischer Komponisten den Weg zu den Ferienkursen öffnete. Daß auf diese Weise so wesensverschiedene Komponistenpersönlichkeiten wie Erich Urbanner und Kurt Schwertsik, Friedrich Cerha und Iván Eröd (um nur einige zu nennen) die in Darmstadt gebotenen Anregungen aufnehmen und verarbeiten konnten, war ein vitaler Impuls für die österreichische Musik unserer Zeit und zeigt zugleich, wie wenig die Darmstädter Erfahrungen das Profil der „Schüler“ prädeterminiert haben.


Bernd Alois Zimmermann war Zögling des Salvatorianerkollegs von Steinfeld und danach des Kölner Katholischen Gymnasiums. 1937 inskribierte er an den Universitäten von Köln und Bonn Vorlesungen in Philologie, Philosophie, Psychologie und Musikwissenschaft; zwei Jahre später begann er zusätzlich ein Musikstudium an der Kölner Musikhochschule. Im Weltkrieg kam Zimmermann als Soldat nach Frankreich, wo er die Werke Milhauds und Stravinskijs für sich entdeckte. 1947 konnte er sein Musikstudium beenden und bildete sich anschließend bei den Ferienkursen für Neue Musik als Schüler von Wolfgang Fortner und René Leibowitz weiter. Als Frank Martin 1957 emeritierte, wurde Zimmermann sein Nachfolger als Professor für Komposition an der Kölner Musikhochschule. Gleichzeitig übernahm er die Leitung des Seminars für Theater- und Filmmusik. Seine lebenslange Beschäftigung mit dem Musiktheater fand in der 1965 uraufgeführten Oper Die Soldaten ihre Erfüllung. Die letzten Lebensjahre Zimmermanns waren von immer häufiger wiederkehrenden Depressionen überschattet, die ihn zuletzt in den Freitod trieben.

Eine der auffälligsten Konstanten im Oeuvre Bernd Alois Zimmermanns sind die fast immer gegenwärtigen außermusikalischen Bezüge: Tanz und Theater, Roman und Gedicht werden oft zum Ausgangspunkt einer Antwort in Tönen, die aber nie erläuternd oder illustrativ ist. Im Gegenteil: Zimmermanns Reaktion auf die ihn verfolgenden außermusikalischen Chiffren ist auch ein Akt der Verweigerung.

Présence entstand als Auftragswerk des Hessischen Rundfunks, zunächst als Concerto scénique, und wurde sieben Jahre nach seiner Entstehung und Uraufführung in konsequenter Weiterentwicklung der ihm zugrundeliegenden Idee als Ballet blanc choreographiert. Als solches nimmt es unmittelbar Bezug auf das Ballet noir „Musique pour les soupers du Roi Ubu“, das 1966 entstanden und im selben Jahr wie die szenische Version von Présence uraufgeführt worden war. Der unverwüstliche König Ubu, die berühmteste Schöpfung des französischen Dichters und Bohémiens Alfred Jarry (1873-1907), die von den Dadaisten und Surrealisten zur Kultfigur erhoben wurde, ist das äußere Bindeglied zwischen den beiden Schwesterwerken. In Présence fällt diese Rolle programmatisch dem Klavier zu, während die Geige den Don Quichote des Cervantes (oder – wie ein unüberhörbares Zitat in der zweiten Szene vermuten ließe – den Richard Straussischen) und das Cello die Molly Bloom aus James Joyces Ulysses darstellen.

Die folgende Einführung des Komponisten nimmt auf diese Elemente der szenischen Aufführung des Werkes Bezug; auch Zimmermanns Lieblingsidee von der „Kugelgestalt der Zeit“, jener unentschlüsselbaren Einheit von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, auf die der Titel des Werkes hinweist, klingt hier an:

„Présence: das ist die dünne Eisschicht, auf der der Fuß eben nur so lange verweilen kann, bis sie einbricht; aber während der Fuß noch für den Bruchteil einer Sekunde auszuruhen vermeint, bricht sie schon, die dünne Decke, und zurück bleibt die Gewißheit des Packeises: voraus der Blick in die Zukunft mit einer Gewißheit der immer wieder neu begonnenen Gegenwart des Splitterns der Eisschicht und die Absurdität, die in dem ständig unternommenen Versuch liegt, Fuß zu fassen. So erscheint Présence als jene Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft miteinander verbindet.

Die Figuren des „ballet blanc“, die Personen der „Handlung“: Don Quichote, mit Goldhelm, Visier und Federbusch: Requisiten aus dem Packeis; danseur noble (violon). – Molly Bloom, Primaballerina, mit Tutu und Maske der Gaia-Tellus, Urmutter des Seins…»and then I asked him with my eyes to ask again yes and then he asked me would I yes… and first I put my arms around him yes and drew him down to me so he could feel my breasts all perfume yes and his heart was going like mad and yes I said yes I will Yes« (violoncelle). – Ubu-Roi, danseur noble mit Tapirkopf (piano). Speaker: »korrekt angezogene Person«, nach der Herrenmode um die Jahrhundertwende gekleidet, mit Kopfbedeckung. Die Wortembleme, Wortsteine: vage Wegweiser in einem Eisfeld – wer vermag zu entscheiden, ob sie nicht »verstellt« sind? -, sind die Dekoration der imaginären Szene. Paul Pörtner gibt damit Zeichen, welche ihren Kontrapunkt in den Bildtafeln der einzelnen Szenen finden, die der speaker – der stumme »speaker« – vorstellt.“

Die Unwirtlichkeit der hier von Zimmermann gezeichneten Landschaft, die Zerbrechlichkeit aller Grundlagen, das fragende Irresein an allen Wegen – all das prägt die tönende Erscheinung dieses Werkes. Auch die literarischen Bezüge sind, wie die „Wortsteine“, nichts weiter als „verstellte“, irreführende Wegweiser für – oder eigentlich gegen? – den Wanderer durch diese Tonwüste. Diese von Zimmermann zuletzt genannten „Wortembleme“, Zitate aus dem Gedichtband „Wurzelwerk“ von Paul Pörtner, sind den fünf Szenen des Werkes vorangestellt, finden aber in der Musik weder Echo noch Erwiderung:

I Introduction et pas d’action (Don Quichotte)

wir jagen das wild
das uns opfert


II Pas de deux (Don Quichotte et Ubu)
die stählernen engel der dinge
holen uns ein


III Solo (Pas d’Ubu)
alle wahrvögel nisten
in einem einzigen baum


IV Pas de deux (Molly Bloom et Don Quichotte)
flutende lippen
umwogen den grund…
unentblätterter schlaf,
atemloses versprechen…
insel der schwebenden vögel


V Pas d’action et finale (Molly Bloom)
im unaufhörlichen
tamtam deiner haare
dreht sich der sarg
der umkehrenden träume


Diese Bruchstücke sind ebenso wie das komplizierte Netz aus literarischen und musikalischen Zitaten unhörbarer Teil der Komposition. Nur an einer Stelle gestattet der Komponist dem Hörer, in dieser Eiswüste der Töne wiedererkennenden Halt zu finden: Richard Strauss‘ Don Quichote und das Andante aus Prokofjews Siebenter Klaviersonate ragen wie Bruchstücke eines im Eismeer gestrandeten Schiffes in den grau verhangenen Himmel ( – Caspar David Friedrich: sogar die Assoziationen dieses Werkes scheinen sich in ein unentwirrbares Geflecht von Zitaten und Chiffren verstricken zu wollen…). Die anderen Zitate – Debussys „Jeux“ und Karlheinz Stockhausens „Zeitmaße“ – sind ebenso gut getarnt wie alle anderen Reminiszenzen, die in die Komposition dieses Stückes eingeflossen sind und in ihm gefangen bleiben. Der ihm so suspekten „Trivialität des tausendmal Gesagten“ ist Zimmermann gewiß entgangen. Ob er auf der dünnen Eisschicht dieses Versuches zu einer verständlichen neuen Sprache gefunden hat, wird jeder Hörer für sich allein entscheiden müssen.

© by Claus-Christian Schuster

Zemlinsky: Trio d-moll op.3

Alexander Zemlinsky

* 14. Oktober 1871
† 15. März 1942

Trio d-moll op.3

Komponiert:Wien, 1896
Widmung:Johann Nepomuk Fuchs
Uraufführung:Wien, Festsaal des Wiener kaufmännischen Vereins
(I., Johannesgasse 4),11. Dezember 1896
Hugo Reinhold (1854-1935), Klavier
Fr. Blümel, Klarinette (1878-?), Klarinette
Friedrich Buxbaum (1869-1948), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1897

Prosaisches Vorspiel: Brahms als Juror

Zemlinskys Jugendjahre fallen mit dem Höhepunkt des für die Intrigenseligkeit des Wiener Kulturlebens so bezeichnenden Streites zwischen „Wagnerianern“ und „Brahmsianern“ zusammen. Wie tief und nachhaltig der durch diese mit den abstrusesten Mitteln geführte Auseinandersetzung war, kann man bei der Lektüre von Karl Kraus´ „Der Fall Kalbeck“ (Die Fackel Nr.158, 30. März 1904) erahnen. Obgleich Zemlinsky durch Herkunft und Ausbildung zum Anhänger der Brahms-Partei bestimmt war und auch an den Aktivitäten des „Wiener Tonkünstlervereins“, der in diesem ebenso erbitterten wie eigentlich sinnlosen Kampf das Bollwerk der Wagner-Gegner darstellte, regen Anteil nahm, so hatte er sich doch einen genügend unabhängigen und freien Blick auf die Dinge bewahrt und war alles andere als ein blinder Fanatiker. Arnold Schönberg, der mit Zemlinsky 1895 im Dilettantenorchester „Polyhymnia“ zusammentraf, berichtet:

„Als ich Zemlinsky kennenlernte, war ich ausschließlich Brahmsianer. Er aber liebte Brahms und Wagner gleichermaßen, wodurch ich bald darauf ebenfalls ein glühender Anhänger beider wurde…“
(Arnold Schönberg: My evolution)

Daß der Brahms-Biograph Max Kalbeck Zemlinsky totschweigt, kann man auch als Strafe für diese undogmatische Haltung betrachten.

Auch die „Polyhymnia“, deren Proben allwöchentlich im Augustinerbräukeller „Zur Tabakspfeife“ (Am Graben 29) stattfanden, war für die Animosität und Radikalität, mit der in diesen Jahren musikästhetische Fragen diskutiert wurden, anfällig: Bald nachdem Schönberg zu der Gruppe gestoßen war, bildete sich eine heftige Opposition gegen ihn, und nur dem energischen Eingreifen Zemlinskys war es zu danken, daß sich die Wogen glätteten – Schönberg sollte von der „Polyhymnia“ wenig später für sein Schilflied (nach Nikolaus Lenau) sogar den ersten Kompositionspreis seiner jungen Laufbahn erhalten.

Etwa zur gleichen Zeit, als Zemlinsky seinen zukünftigen Schwager Schönberg kennenlernte, kam es auch zu einer ersten „offiziellen“ Begegnung mit Brahms. Daß dieses Zusammentreffen im Musikverein stattfand, ist alles andere als ein Zufall – schon immer kreuzten sich die Wege der österreichischen Musikgeschichte an dieser Stelle. Am 18. März 1895 veranstaltete das damals noch im Musikvereinsgebäude untergebrachte Konservatorium im Großen Musikvereinssaal ein Festkonzert zur Erinnerung an die Eröffnung des neuen Hauses vor fünfundzwanzig Jahren. Brahms dirigierte dabei seine Akademische Festouverture op.80 – es sollte sein letzter Wiener Auftritt als Dirigent sein. Dem dreiundzwanzigjährigen Zemlinsky fiel bei diesem Konzert die ehrenvolle Aufgabe zu, die Uraufführung seiner Orchestersuite zu dirigieren. Diese Auszeichnung war nicht willkürlich: Zemlinsky hatte, nachdem er schon 1890 die Klasse des Brahms-Intimus Anton Door als bester Pianist des Jahrganges absolviert hatte, im Sommer 1892 auch sein Kompositionsstudium bei Hofkapellmeister Johann Nepomuk Fuchs mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossen und konnte spätestens seit der Uraufführung seiner d-moll-Symphonie (10. Februar 1893) als die herausragende Erscheinung unter den jungen Konservatoriumsabsolventen gelten. Der glänzende Festakt bot aber nicht das richtige Ambiente, zu einer wirklichen Begegnung. Dazu kam es erst im folgenden Jahr. Am 5. März 1896

„wurden ein Streichquintett und eine Violin-Klaviersuite vom Quartett Hellmesberger aufgeführt. Bei dieser Gelegenheit wurde ich Brahms vorgestellt, und von dieser Zeit an war ich in näherem Verkehr mit ihm…“
(Brief an Emil Hertzka, November 1910)

Richard Heuberger berichtet in seinen Erinnerungen an Johannes Brahms, daß Brahms Zemlinskys Quintett gut gefallen habe: „Er äußerte sich ein ums andere Mal: »Sieht überall Talent heraus.« Als ich meinte, es sei vieles Anderes auch sehr hübsch gemacht, sagte er halb traurig und halb grantig: »Ach Gott, wer kann denn heute etwas Ordentliches schreiben?!«…“

Der nähere Verkehr bestand unter anderem, wie sich Zemlinsky 1922 erinnerte, in einer Besprechung von Zemlinskys Streichquintett, zu der Brahms den jungen Komponisten „mit der kurz und etwas ironisch hingeworfenen Bemerkung: »Natürlich, falls es Sie interessiert, mit mir darüber zu sprechen!«“ einlud.

„Mit Brahms zu reden war keine so einfache Sache. Frage und Antwort war kurz, schroff, scheinbar kalt und oft sehr ironisch. Am Klavier nahm er mit mir mein Quintett durch. Anfangs schonungsvoll, korrigierend, die eine oder andere Stelle sorgfältiger betrachtend, niemals eigentlich lobend oder nur aufmunternd, schließlich immer heftiger werdend. Und als ich eine Stelle der Durchführung, die mir in Brahmsischem Sinne als ziemlich gelungen erschien, schüchtern zu verteidigen suchte, schlug er das Mozartsche Streichquintett auf, erklärte mir die Vollendung dieser »noch nicht übertroffenen Formengestaltung«, und es klang ganz sachlich und selbstverständlich, als er dazu sagte: »So macht man´s von Bach bis zu mir!«…“

Im März 1896, als diese Szene sich höchstwahrscheinlich zutrug, muß Zemlinsky mitten in der Arbeit an einer neuen Komposition gewesen sein, die wie das Streichquintett in d-moll stand, und die der junge Komponist dem großen Meister nicht persönlich, sondern anonym zur Beurteilung übergeben wollte: Zemlinsky schrieb an einem Klarinettentrio, mit dem er am Wettbewerb des Tonkünstlervereines teilnehmen wollte.

Wenn Industrie und Handwerk, Handel und Gewerbe sich auf Weltausstellungen, Mustermessen und Leistungsschauen präsentierten, so durfte auch die Kunst nicht beiseite stehen: Preisausschreiben und Wettbewerbe aller Art hatten Hochkonjunktur. Brahms, der gleich im Gründungsjahr 1885 Mitglied des Wiener Tonkünstlervereins geworden war, wurde schon 1886 bei der Ausrichtung des ersten Kompositionswettbewerbs in Anspruch genommen. (Noch im selben Jahr wurde er dann auf Antrag Theodor Leschetitzkys zum Ehrenpräsidenten auf Lebenszeit ernannt.) Die Wettbewerbe des Tonkünstlervereins wurden schon bald zu einer vertrauten Einrichtung des Wiener Musiklebens. Und wenn wir auch versucht sind, mit der allwissenden Arroganz der Nachgeborenen darüber zu lächeln, daß die Preisträger nicht Hugo Wolf, Gustav Mahler und Arnold Schönberg, sondern Julius Zellner, Hans Kössler und Walter Rabl hießen, so kann doch nicht geleugnet werden, daß von diesen Veranstaltungen recht wertvolle Impulse für die jüngere Komponistengeneration ausgingen.

Der Zielsetzung des Vereins entsprechend wurden vor allem jene Genres gefördert, die den Bestrebungen der „Neudeutschen“ und der „Wagnerianer“ ferne lagen oder geradewegs zuwiderliefen (Kammermusik, A-capella-Komposition etc.).

Auch 1896 trug die Aufgabenstellung des Wettbewerbs deutlich „ideologische“ Züge: Diesmal ging es um die Komposition eines Kammermusikwerkes mit einem Blasinstrument – eine Werkkategorie, zu der Brahms selbst gerade erst mit seinen Opera 114 (Klarinettentrio, 1891), 115 (Klarinettenquintett, 1891) und 120 (zwei Klarinettensonaten, 1894) Meisterwerke beigesteuert hatte. Im Jänner 1896 erschien also folgende Ausschreibung:

„Der Wiener Tonkünstlerverein schreibt zur Förderung der Kammermusik-Literatur für Blasinstrumente zwei Preise aus für die besten Kammermusikstücke, bei denen mindestens ein Blasinstrument verwendet wird. Die Zusammenstellung der übrigen Instrumente bleibt den Componisten überlassen.
Die Preise betragen 300 und 200 Kronen.
Zur Einsendung concurrirender Arbeiten sind berechtigt:
1. alle in Österreich-Ungarn lebenden Componisten
2. alle österreichisch-ungarischen Staatsangehörigen ohne Rücksicht auf ihren Wohnort…“

In den Tagen nach dieser Veröffentlichung trug sich auch ein Schüler Zemlinskys mit Plänen für ein Klarinettentrio, das er allerdings nach 16 Takten liegenließ – das von Arnold Schönberg am 9. Februar 1896 zu Papier gebrachte Fragment folgt ganz offensichtlich den Spuren seines Lehrers.

Wenn das erklärte Wettbewerbsziel der „Produktionsförderung“ schon vollkommen dem unternehmerischen Geist einer zukunftsgläubigen Industriegesellschaft entspricht, für die eben auch die Kunst ein umsichtig zu entwickelnder Produktionszweig ist, so findet man in der Abwicklung des Wettbewerbes selbst ein getreues Miniaturbild der damaligen politischen Realität: Ganz wie in der konstitutionellen Monarchie erscheinen auch hier „autoritäre“ und „demokratische“ Züge in engster Nachbarschaft. Die anonym eingesendeten Werke, die durch ein frei gewähltes Motto gekennzeichnet waren, sollten von einem Comité gesichtet und beurteilt werden; über die einer Aufführung für würdig befundenen Werke durften dann alle ordentlichen Vereinsmitglieder abstimmen.

In der Zusammensetzung der Jury dokumentiert sich die enge Bindung des Tonkünstlervereins an die Gesellschaft der Musikfreunde, in deren Gebäude ja auch die Vereinsabende stattfanden. Neben Johannes Brahms gehörten Eusebius Mandyczewski und Richard von Perger diesem Gremium an. Richard von Perger (1854-1911) war erst 1895 aus Rotterdam in seine Heimatstadt zurückgekehrt, um hier die Direktion des Musikvereins zu übernehmen; sein erstes Saisonprogramm hatte er sogleich seinem mittelbaren Amtsvorgänger Brahms (artistischer Direktor 1872-1875) zur Korrektur vorgelegt. Auch Eusebius Mandyczewski (1857-1929), der seit 1879 zum allerengsten Brahmskreis gehörte, war Amtsnachfolger des Meisters: Er war 1881 zum Leiter der Wiener Singakademie ernannt worden, der ja auch Brahms in seiner ersten Wiener Zeit (1863/64) vorgestanden hatte. Seit 1887 leitete Mandyczewski das Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde.

Nach Ablauf der Einsendefrist am 31. Juli 1896 lagen dem Comité achtzehn Kompositionen vor. Die Entscheidung der Jury trägt ganz unverkennbar die Handschrift des alternden Meisters: Nicht weniger als zwölf der eingesandten Werke wurden zur Aufführung empfohlen, und „dieses verhältnismäßig günstige Ergebnis bewog einen ungenannt sein wollenden Gönner des Vereins – zur Spende von 400 Kronen, wodurch der Verein in den Stand gesetzt wurde, die Preise zu 400, 300 und 200 Kronen für diesmal festzusetzen.“ Keinem Kenner der Brahms-Biographie dürfte es schwerfallen, das Incognito dieses Mäzens zu lüften. (Für Steuerfahnder, Skeptiker und andere kritische Geister: Ein Londoner Verehrer hatte kurz zuvor Brahms eine größere Summe vermacht, und Brahms konnte seinem Verleger Fritz Simrock daher am 3. Dezember 1896 schreiben: „Falls in Berlin Geld für mich liegt, kann es in den Reichskeller kommen, die englische Erbschaft reicht noch – trotzdem ich die Preisarbeiten königlich protegiere.“)

Wenn man aber weiß, wie kritisch Brahms auch (und vor allem) gegenüber seinen eigenen Werken war, und wie selten er sich zu wirklichem Lob oder ehrlicher Anerkennung hinreißen ließ, dann wird man in dem „verhältnismäßig günstigen Ergebnis“ des Wettbewerbs weniger zukunftsgläubigen Enthusiasmus, sondern vielmehr resignative Milde widerspiegelt sehen. Brahmsens Unbehagen an der Situation des Wettbewerbes drückte sich diesmal nicht in bärbeißiger Grobheit, sondern in großväterlicher Nachsicht aus. Das beweist auch seine Antwort an Fritz Simrock, der sich anläßlich eines Kurzbesuches in Wien für die Wettbewerbsstücke sehr interessiert hatte:

„…Die Konkurrenzarbeiten sind Eigentum der Komponisten; ich werde schon in Deinem Interesse Deiner nicht vergessen, Du brauchst Dich um gar nichts zu bekümmern. Ich muß mich nur hüten, weil ich zu geneigt bin, passable Werke zu überschätzen (im ersten Augenblick) – man sehnt sich gar so sehr nach etwas Erfreulichem!“
(Brief vom 30. Oktober 1896)

Ist es zu spekulativ, hier die Sehnsucht nach einem ähnlichen Erlebnis mitschwingen zu hören, wie es Brahms selbst 1853 Schumann in Düsseldorf bereitet hatte?

Die Nachsicht des Meisters bescherte den Vereinsmitgliedern immerhin eine ganze Reihe interessanter Konzerte: an fünf Abenden wurden die von der Jury ausgewählten Werke aufgeführt. Da die sonst benutzten Räume im Musikvereinsgebäude gerade neu adaptiert werden mußten, wich man in den Festsaal des Wiener kaufmännischen Vereins aus (Johannesgasse 4, heute Ballettabteilung des Konservatoriums der Stadt Wien) – diese erzwungene Symbiose von Kaufmannschaft und Künstlertum muß den Hanseaten Brahms heimatlich angemutet haben.

Gleich am ersten dieser Abende (20. November 1896) konnten die Zuhörer Zemlinsky als Pianisten erleben – er wirkte an der Aufführung einer unter dem Motto „Per aspera ad astra“ eingereichten Hornsonate mit. Einen Tag später konnte er übrigens abseits des Wettbewerbs einen kleinen Triumph feiern: die junge Pianistin Hedwig Ulmann hatte auf das Programm ihres Konzertes im Bösendorfersaal zwei der Ländlichen Tänze op.1 „des jungen begabten Wiener Componisten“ gesetzt, „von denen eines stürmisch zur Wiederholung begehrt wurde.“ (Neue musikalische Presse, 13. Dezember 1896).

Drei Wochen später, im vierten Konzert der Reihe (11. Dezember 1896), stand dann Zemlinskys Opus 3 auf dem Programm, das er unter dem Motto „Beethoven“ eingereicht hatte. (Dieses lakonische Motto, dem nur böswillige Deutung einen megalomanen Nebensinn hätte geben können, stand jedenfalls in wohltuendem Gegensatz zu den poetischen Ergüssen einiger Mitkonkurrenten. Zwischen den Mottos zweier der ausgeschiedenen Kompositionen ergab sich etwa folgender ideologischer Disput: Bläseroktett, Motto: „Von des Lebens Gütern allen bleibt der Ruhm das höchste doch!“ – Andante für Klarinette und Streichquartett, Motto: „Nicht Ehr und Ruhm will ich erringen / Ein einfach herzlich Lied nur singen!“)

Der letzte Abend (22. Dezember 1896) wurde mit dem Septett Z mého zivota (Aus meinem Leben) von Josef Miroslaw Weber (Prag 1854–1906 München) beendet. Ein unvoreingenommener Betrachter wäre versucht, an eine vorausgeplante Dramaturgie denken; jedenfalls scheint dieses Werk auf den von der Jury veröffentlichten Werklisten immer an erster Stelle auf. Auch der Kritiker der Neuen musikalischen Presse scheint von dieser sehr bekenntnishaften und eigenwilligen Komposition ganz besonders angetan – natürlich ist ihm auch die bewußte Anlehnung an Smetana nicht entgangen.

In Wahrheit war freilich – wie es bei Wettbewerben eben schon vor hundert Jahren zu gehen pflegte – alles schon lange vor diesem Abend so gut wie entschieden. Auch mit der „Anonymität“ der Bewerber war es nicht sehr weit her, denn bereits am 3. Dezember hatte Brahms seinem Verleger (in dem schon oben zitierten Schreiben) mitteilen können:

„…Das Beste ist jedenfalls ein Pianofortequartett mit Klarinette. Es soll von Rabl, einem Schüler Nawratils, sein. Ich kenne den jungen Mann und seine Sachen wenig, da er mir persönlich nicht sympathisch war. Natürlich behalte ich ihn und sein Stück jetzt im Auge…“

Wenige Tage später war dann die Sache noch klarer:

„…Über unsern Preiskomponisten Walter Rabl werde ich immer Erfreulicheres melden. Ein ganzer Stoß Sachen von ihm liegt bei mir. Er selbst kommt der Tage zum Fest, ist im Begriff, in Prag seinen Doktor zu machen. Die Abstimmung ist am 22sten; ich glaube, daß er den ersten Preis kriegt – das ist aber ganz Nebensache. Alles wird bestens besorgt von Deinem J. Br.“
(An Fritz Simrock, 17. Dezember 1896)

So konnte also an jenem 22. Dezember 1896 nach der programmgemäß verlaufenen Abstimmung durch die anwesenden Vereinsmitglieder Walter Rabl (1873-1940) den ersten Preis in Empfang nehmen, während das Septett Miroslaw Webers auf dem zweiten Platz landete; der dritte Preis ging an Zemlinskys Klarinettentrio – und so gesehen hat Zemlinsky diesen Erfolg allein dem „ungenannt sein wollenden Gönner“ zu verdanken, der ja mit seiner Spende die Vergabe von drei Preisen erst ermöglicht hatte.

Seinem Simrock gegebenen Versprechen blieb Brahms treu – am letzten Silvesterabend seines Lebens konnte er seinem Freunde melden:

„…Das Quartett von Rabl und das Trio von Zemlinsky gehören Dir. Bei beiden kann ich eben auch den Menschen und das Talent empfehlen. Wenn Rabl zögert, Dir das Quartett zu schicken, so ist das wohl meine Schuld, er meint warten zu sollen, bis er Gleichwertiges beilegen oder gleich folgen lassen kann…“

In eben diesem Sinne hatte 1853 Schumann den jungen Brahms instruiert. Rabl zögerte nicht lange: Simrock druckte gleich nach dem Klarinettenquartett noch ein Klaviertrio und Lieder; Zemlinsky konnte bei Simrock zusätzlich zu dem Trio op.3 noch sein Streichquartett op.4 unterbringen. Brahms erlebte die Drucklegung der von ihm protegierten Werke nicht mehr.


Das Werk

Nur zwei der beim Kompositionswettbewerb des Tonkünstlervereins eingereichten Kompositionen bedienten sich der von Brahms verwendeten Instrumentenkombinationen: ein nicht zur Aufführung zugelassenes Andante für Klarinette und Streichquartett und Zemlinskys Trio. Obwohl manches darauf hindeutet, daß Zemlinsky schon während der Komposition die Herstellung einer Alternativfassung für die „klassische“ Klaviertrioformation miterwog, so ist die Wahl gerade dieser instrumentalen Gestalt durchaus emblematisch zu verstehen.

Das Genre „Klarinettentrio“ in der Kombination Klavier – Klarinette – Violoncello zeichnet sich unter den „Nebenformen“ der Kammermusik dadurch aus, daß es Instrumente aus drei wesensverschiedenen Familien verbindet, denen allen ein besonders großer Stimmumfang gemeinsam ist. Die klangfarblichen und kontrapunktischen Möglichkeiten, die sich dadurch ergeben, sind besonders reizvoll. Es erstaunt daher nicht, daß diese Gattung vor allem im Umfeld von Beethoven und Brahms anzutreffen ist. Im Gegensatz zur nahe verwandten Form des Trios Klavier – Violine – Klarinette, die einen noch „folkloristischeren“ (und von Komponisten wie Bartók, Stravinskij und vielen anderen auch mit großem Effekt eingesetzten) Unterton provoziert, läßt die von Beethoven und Brahms gewählte Kombination ein reicheres Feld an Möglichkeiten offen. Zwar zeigt Beethovens berühmtes „Gassenhauer-Trio“ (B-Dur, op.11), der paradigmatische Ursprung der gesamten Gattung, daß sich auch diese Zusammenstellung für explizit „volkstümliches“ Material hervorragend eignet (und Brahms schließt sich mit dem Mittelteil des dritten Satzes seines Klarinettentrios diesem Beweis an), aber die Festlegung ist viel weniger eindeutig. Beethovens unmittelbare Nachfolger, Anton Eberl (op.36 und op.44), Heinrich Eduard Josef von Lannoy (op.15) und Ferdinand Ries (op.28), schenken diesen folkloristischen Möglichkeiten auch kaum Beachtung.

Das einzige „prominentere“ Beispiel einer Komposition für unsere Besetzung zwischen Beethoven und Brahms ist das Klarinettentrio op.29 von Vincent d’Indy (1887). Unter den unmittelbar von Brahms angeregten Werken ist Zemlinskys Trio op.3 wohl das früheste – in den Folgejahren erscheinen dann Kompositionen der Brahmsianer Wilhelm Berger (der ab 1893 als Leiter der Meininger Hofkapelle wohl auch von Richard Mühlfelds beseeltem Klarinettenspiel inspiriert wurde), Robert Kahn und Carl Frühling.

Das von Zemlinsky gewählte Motto „Beethoven“ bezieht sich vor dem Hintergrund der hier kurz skizzierten Entwicklung des Genres natürlich vor allem auf den Stammvater der Gattung – eine bewußte stilistische Anlehnung konnte eigentlich nur ein Kritiker erwarten. Anton Krtsmáry, Rezensent für die „Neue musikalische Presse“ und selbst Mitglied des Tonkünstlervereins, macht denn auch prompt das Motto zum Ausgangspunkt seiner betont kühlen Kritik:

„Das mit dem dritten Preis gekrönte Trio (in D-moll) von Alex. Zemlinszky scheint trotz des Mottos „Beethoven“ von Brahms abhängig zu sein. Der erste Satz, wenngleich wenig selbständig, ist doch recht interessant gearbeitet. Am besten gefiel mir der zweite Satz (D-Dur), Andante quasi Adagio.“

Daß das Werk wirklich von Brahms abhängig ist, bedarf wohl weder einer Rechtfertigung noch einer Begründung. Wie weit diese Abhängigkeit im einzelnen geht, oder vielmehr: mit wie wachen Sinnen Zemlinsky das Brahmssche Vorbild aufgenommen und analytisch verwertet hat, ist in der Sekundärliteratur schon eingehend besprochen worden (zuletzt von Werner Loll, Kassel 1990).

Der erste Satz (Allegro ma non troppo) ist – wie so oft bei Jugendwerken – der kompositorisch bei weitem anspuchsvollste und ambitionierteste Teil des Werkes. In der Ökonomie der thematischen Arbeit an Brahms, in der Art des melodischen Materials ein wenig an Dvorák orientiert, entbehrt der Satz durchaus nicht persönlicher Züge, so zum Beispiel in der eigenwilligen Kombination der verschiedenen rhythmischen Keimzellen oder in den ganz deutlich eine individuelle Handschrift verratenden harmonischen Fortschreitungen (beides besonders ausgeprägt in der souverän gestalteten Durchführung).

Im zweiten Satz (Andante, D-Dur) lassen sich unschwer Reminiszenzen an das Brahmssche Klarinettenquintett op.115 ausnehmen, obwohl gerade das Hauptthema mit seiner fast süßlichen Fin-de-siècle-Koloristik in auffälligem Gegensatz zur viel herberen Tonsprache des Meisters steht. Aber auch an diesem Hauptthema ist das vertiefte Brahms-Studium des jungen Zemlinsky nicht spurlos vorübergegangen – man beachte etwa, wie unaufdringlich und doch konsequent der Themenkopf aus der Schlußwendung des vorhergehenden Satzes entwickelt wurde.

Der letzte Satz (Allegro) scheint das so ernst und bekenntnishaft begonnene Werk auf ganz andere Bahnen führen und in einem sorglosen, ja fast koketten Ton beschließen zu wollen. Am Schluß der Reprise aber tritt als Höhepunkt einer fiebrigen Steigerung das rhapsodische Hauptthema des ersten Satzes in all seiner schicksalshaften Bedeutungsschwere noch einmal wie der steinerne Gast auf; doch schon ist auch Puck zur Stelle, der den nächtlichen Spuk mit einer übermütigen Kapriole verscheucht – offensichtlich sind wir mit diesem Schlußsatz in das Hofoperndepot geraten.

Wenn dieses Finale und sein Verhältnis zu allem Vorhergehenden also auch Anlaß zu einigem kritischen Stirnrunzeln geben mag (uns entlockt es freilich viel eher ein beifälliges Schmunzeln), so führt es den Komponisten doch mit unbezwingbarer Logik in sein ureigenstes Gebiet, auf das Theater, wo Zemlinsky sich als einer der bezauberndsten und fesselndsten Märchenerzähler der Musikgeschichte bewähren sollte.

© by Claus-Christian Schuster

Widmer: A ultima flor op.60 (1968)

Ernst Widmer

* 25. April 1927
† 03. Jänner 1990

A ultima flor op.60 (1968)

Komponiert:Salvador de Bahía, 1968
Uraufführung:Salvador de Bahía, 1969
Pierre Klose, Klavier
Moyse Mandel, Violine
Piero Bastianelli, Violoncello
Fernando Cerqueira, Rezitation
Erstausgabe:Manuskript

Ernst Widmer wurde am 25. April 1927 in Aarau geboren. Schon während seiner Schulzeit begann er zu komponieren; seine Musikstudien beendete er am Züricher Konservatorium, wo Willy Burkhard (Komposition), Walter Frey (Klavier) und Paul Müller-Zürich (Dirigieren) seine Lehrer waren. Nach seiner Heirat mit einer in Brasilien geborenen Sängerin wanderte er 1956 nach Salvador de Bahia aus. Dort entfaltete er bald eine umfangreiche und vielseitige Tätigkeit als Lehrer und Organisator. 1966 gründete er den „Grupo de Bahía“, in dem sich eine Handvoll in Bahía lebender Komponisten zusammenschloß, deren Schaffen in den folgenden Jahren dem Musikleben Lateinamerikas entscheidende Impulse geben sollte. Widmer hatte ein offenes Ohr für die Musik seiner Umgebung, die er auf originelle Weise in sein kompositorisches Idiom zu integrieren verstand. In seinen letzten Lebensjahren war er wieder öfter in seiner alten Heimat zu Besuch, wo sein Schaffen, vor allem dank des Wirkens der Schweizer Pianistin Emmy Henz-Dièmand, auf stetig zunehmendes Interesse stieß. Bei einem dieser Besuche starb er am 3. Jänner 1990 in seiner Geburtsstadt Aarau.

Widmers Oeuvre umfaßt knapp 200 Werke nahezu aller Gattungen. „A ultima flor“ op. 60 für Klaviertrio, Sprechstimme und Ballett wurde 1968 komponiert und im Folgejahr in Bahia uraufgeführt. Der Text des amerikanischen Satirikers James Thurber (1894-1961), der als Kolumnist und Zeichner des „New Yorker“ internationale Bekanntheit erlangte, wurde unter dem Titel „The Last Flower“ 1939 veröffentlicht. Es handelt sich um ein vom Autor selbst illustriertes Kinderbuch, in dem die Zerstörung der Kultur durch den Krieg, ihre Wiedergeburt aus der Kraft der Liebe und die darauffolgende neuerliche Selbstzerstörung der Menschheit in einfachen und naiven Bildern beschworen wird. Dieser Text war für Widmers musikalische Phantasie wie geschaffen: Die anspruchslose Schlichtheit der Vorlage gestattete ihm eine unspekulative, fast improvisatorisch wirkende musikalische Inszenierung, in der er sozusagen zwanglos doch auch alle Register seiner kompositorischen Kunst ziehen konnte. Widmer gliedert das Geschehen in sieben musikalische Bilder, die von der Erzählung des Sprechers begleitet und verbunden werden:

– die verwüstete Welt
– das neue Leben
– das Erwachen der Liebe (Pas de deux)
– die Wiederkehr des Liedes (Kanon)
– die Rückkehr der Soldaten (Marsch und Trio)
– die Koexistenz (Choral & Marsch)
– der Krieg


Der zyklischen Logik dieses Geschehens entsprechend läßt Widmer seine Musik in radikaler Gestaltlosigkeit beginnen und enden: Im eröffnenden und beschließenden Abschnitt gibt es so gut wie keine harmonischen, melodischen oder rhythmischen „Vokabel“, sondern nur ostinate und chaotische Klangereignisse. Parallel zum Bericht des Erzählers entfalten sich nach und nach kleinste musikalische Keimzellen, verbinden sich zu immer komplexeren Strukturen, bis im zentralen Kanon ein ideales spielerisches Gleichgewicht erreicht scheint. Doch schon im Verlauf des Kanons machen sich Tendenzen zur Simplifikation und Verrohung des Materials bemerkbar, der Marsch der Soldaten tritt seinen Siegeszug an. Die Krise tritt in dem Augenblick ein, in dem sich der Zwingli-Choral „Herr, nun selb den Wagen halt“ dem immer frenetischer werdenden Marsch entgegenstellt; der Moment dieser Überlagerung ist durch kompromißlose Birhythmik und Bitonalität gekennzeichnet. Immer mächtigere Klangmassen geraten in Bewegung, aus der verbissenen Koexistenz wird offener Krieg. Die Musik kehrt zu ihrem amorphen Ausgangspunkt zurück, aber bei den Schlußworten, in denen vom einzigen überlebenden Menschenpaar und der letzten Blume die Rede ist, erscheint, im Tremoli der Streicher und in großflächigen Klavierclustern, noch einmal das Motiv des keimenden Lebens – schattenhaft, fern und fahl.

Das Werk, das der Komponist zu seinen wichtigsten zählte und an dessen Revision er noch kurz vor seinem Tod arbeitete, blieb in allen Jahren seit den beiden Uraufführungen (konzertant und szenisch) des Jahres 1969 unbeachtet und erlebte erst 1996 in einer Produktion des Jugendmusikfestes Deutschlandsberg im Rahmen des steirischen herbstes seine Wiederentdeckung.

© by Claus-Christian Schuster

Weiland: Trio in one movement for piano, violin, and violoncello. Opus 22

Douglas Weiland

* 16. April 1954

Trio in one movement for piano, violin, and violoncello. Opus 22.

Komponiert:Old Buckenham, Norfolk, November 1995 – 16. April 1996
Widmung:Benjamin Colin Gordon Weiland (*29. Dezember 1995)
Uraufführung:15. Juni 1996 Ouray, Colorado (Ouray Chamber Music Festival)
Raphael Trio
Daniel Epstein, Klavier
Charles Castleman, Violine
Susan Salm, Violoncello
erste Aufführung außerhalb der USA:
Oxford, Jacqueline Du Pré Music Hall, 29. Jänner 1999
Altenberg Trio Wien
Claus-Christian Schuster, Klavier
Amiram Ganz, Violine
Martin Hornstein, Violoncello
Erstausgabe:Manuskript

Douglas Weiland wurde am Londoner Trinity College of Music in der Klasse von Leonard Smith als Geiger ausgebildet. Mit einem Stipendium des Royal Philharmonic Orchestra ergänzte er seine Studien am Institut de Hautes Études Musicales in Montreux. Daneben und danach war er als Solist und Kammermusiker tätig, sammelte aber auch Orchestererfahrung als Mitglied des Wiener Kammerorchesters (1975) und der Academy of St. Martin-in-the-Fields (ab 1978). 1985 übersiedelte er nach Adelaide, wo er noch im selben Jahr das Australian Quartet gründete. Fünf Jahre lang konzertierte er weltweit mit diesem Ensemble, für das er auch sein erstes Streichquartett (op.5) schrieb. Während dieser Jahre verschärfte sich der Interessenskonflikt zwischen dem Geiger und dem Komponisten Weiland zunehmend: 1990 siegte endgültig der letztere – Douglas Weiland verließ das Quartett, kehrte nach England zurück und lebt seitdem als freischaffender Komponist.
Sir Neville Marriner, der Weilands Begabung schon früh erkannt und seine Streicherserenade op.12 angeregt hatte, beauftragte Weiland 1992 mit der Komposition eines Streicherdivertimentos (op.14), das von der Academy of St. Martin-in-the-Fields im Folgejahr uraufgeführt wurde. Seitdem erfreut sich Weiland, der als Komponist Autodidakt ist, stetig wachsender Anerkennung. Seit 1992 lebt er mit seiner Familie in der ländlichen Abgeschiedenheit von Norfolk.
Während im Frühwerk Weilands die geistliche Chormusik eine zentrale Stelle einnimmt, widmet sich der Komponist in den letzten Jahren mit besonderer Vorliebe der Kammermusik (Klavierquartett, drei Violinsonaten). Sein Interesse an der symphonischen Musik belegen in jüngster Zeit der Hymnus „Gaudete“ (op.27, für Frauenchor und Orchester) sowie ein eben entstehendes Klarinettenkonzert.
Gloria und Rudolf Bretschneider, die seit Weilands Wien-Intermezzo (1975) zu seinem engsten Freundeskreis zählen, erteilten ihm 1995 den Auftrag für die Komposition eines Klaviertrios, dessen erste Aufführungen das Raphael Trio New York und das Altenberg Trio Wien bestreiten sollten.
Obwohl das 1995/96 entstandene Werk keineswegs als „Programmusik“ zu bezeichnen ist, verdankt es einige seiner Züge einer literarischen Anregung, auf die der Komponist selbst hingewiesen hat. Der 1932 in Trinidad geborene indische Dichter Vidiadhar (seit 1990: Sir Vidia) Surajprasad Naipaul kam als Achtzehnjähriger nach England. Über seine ersten englischen Jahre in einem Dorf in Wiltshire, in der Nähe von Salisbury, schrieb er 1986 unter dem Titel The Enigma of Arrival ein höchst bemerkenswertes Buch, das Douglas Weiland sehr beeindruckte und das in der Komposition des Klaviertrios Spuren hinterlassen hat. Wie um das Spiel der Beziehungen und Querverbindungen noch mehr zu verwirren, bezieht sich der Titel von Naipauls Buch auf ein bekanntes Gemälde des italienischen Surrealisten Giorgio de Chirico (1888-1978) – während er aus der Sicht des Vater werdenden Komponisten ebenso gut auch auf die Ankunft eines neuen Erdenbürgers verweisen könnte.
Weiland geht es hier ebenso wie Naipaul um die Interpretation der Phänomene der Wahrnehmung mit ihren unterschiedlichen Graden von Intensität und Konkretheit – um die verschiedenen Arten, auf die wir unsere Umwelt entdecken, bemerken, erkennen, beobachten. Der Wechsel zwischen diesen verschiedenen Fokusierungen lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, wie sehr der Eindruck, den eine Wahrnehmung in uns hervorruft und hinterläßt, von unserer Perspektive abhängt. Diese elementare Erfahrung prägt ja auch den frühkindlichen Erlebnishorizont, und insofern ist der gedachte Adressat des Trios – der neugeborene Sohn des Komponisten – gewissermaßen auch Protagonist des Werkes.
So wie die meisten Leser und Rezensenten von Naipauls Buch über die von jeder handlungsdiktierten Eile befreite Bedächtigkeit dieses Textes staunen, so wird der Hörer von Weilands Trio wohl zuallererst den fast absichtslos wirkenden Ductus dieser Musik bemerken. Die musikalischen Gebilde und Gedanken scheinen unmittelbar vor unserem Ohr zu entstehen, sie artikulieren sich in kindlicher Unbefangenheit, scheinbar unberührt von der Last des Regelkanons – ihr Auftreten ist dabei weder anarchisch noch provokant, sondern auf entwaffnende Weise zutraulich und unschuldig. „Schicksallos wie der schlafende Säugling“ verweigern sich die thematischen Gestalten den traditionellen, „erwachsenen“ Verfahren von Durchführung und Verarbeitung, an deren Stelle der zwanglose, oft überraschende, aber niemals erschreckende Perspektivenwechsel tritt.

Den Verlauf des einsätzigen Werkes, das aus sechs zusammenhängenden Abschnitten besteht, kommentierte der Komponist in einem für die europäische Erstaufführung des Werkes (Altenberg Trio, Oxford 1998) verfaßten Einleitungstext so:
Identifying the start and close of each section may not in every case be easily apparent on a first hearing; but it will inevitably be a more satisfying listening experience once these sections are recognized. I hope the following notes will be helpful.
Section I is the shortest, which I mention only because the arrival of section II (un poco Adagio) is likely to come across as the most diguised. It is however best recognized by a darker change of mood and more dissonance. (Certainly in contrast to the work’s opening bars, almost criminal in their absence of atonal influence). What takes place here is a gradual and subtle ‘moving on’ to a more horizontally sustained train of thought. One outcome of this is being made aware of the fragmentary nature of what had gone before. And in this regard section III (Allegro molto) sees an even further ‘moving on’, where already formed ideas are now found integrated into or developed from the influence of those anew. Section IV (Moderato) begins after a short pause – violin and cello unaccompanied. In both sections IV & V (beginning Adagio leading to Allegro maestoso) music of earlier stages takes on a new awareness. The arrival of a short theme (piano solo) marks the beginning of the final section VI, which is in the form of a theme with variations and incorporates a reflective cadenza for violin and cello.

Sogar dieser erklärende Text bleibt der unprätentiös-naiven Haltung des Werkes treu: der Komponist spricht zwar vom Entstehen der Ideen und Eindrücke, aber er scheint keinerlei Ehrgeiz zu haben, den Zuhörer mit den konkreten Beziehungen zwischen den einzelnen Abschnitten zu belasten. Da ich meine, daß diese Entscheidung ebenso respektiert werden sollte wie die kompositorischen des Notentextes, werde ich mich hüten, die Entdeckerfreude, die der Interpret dieses Werkes an jeder musikalischen Wegbiegung erleben kann, zu einer schulmeisterlichen Analyse gerinnen zu lassen; aber einige zusätzliche Anmerkungen kann ich doch nicht unterdrücken.
Tonalität ist bei Weiland allgegenwärtig, doch die tonalen Zentren gewinnen kaum je bestimmtere Konsistenz als etwa ein Wolkenbild – ganz unabhängig von der Dauer ihrer Herrschaft. So könnte man zum Beispiel den ganzen ersten Abschnitt (Allegro pianissimo) auf jenen D-Dur-Dreiklang beziehen, der an seinem Ende nicht weniger als neun mal formelhaft wiederholt wird; aber der Text scheint nichts davon zu wissen.
Das vom Komponisten angesprochene Problem der Abgrenzung der einzelnden „Kapitel“ des Werkes, ist nicht konstruktiv, sondern rein klangsinnlich gelöst: So operiert der zweite Teil (Adagio) mit aufgerauhten, zerklüfteten Splitterflächen, zwischen denen das Sekunden-Ostinato des ersten Abschnitts, das an der Nahtstelle als Brücke dient, verengt und beschleunigt durchblinkt.
Das folgende Allegro molto bewahrt unüberhörbare Reste eines Scherzo-Archetyps. In den eilig dahinstolpernden Bewegungsfluß mengen sich die naiv-spöttischen Wendungen eines Kinderauszählreims und, als Trioteil, die unerwartete (und dissonant geschärfte) Rückkehr eines Themas aus dem vorigen Abschnitt.
Eine elegische Wendung, die schon am Beginn des Werkes flüchtig anklang, wird im Abschnitt IV (Moderato – Allegro moderato) zu einem Kanon der Streichinstrumente ausgesponnen, der alsbald in rührender Ratlosigkeit versiegt. Diesen Passus hätte Nestroy wohl „zwecklose Träumereien, ab’brennte Versuche und wertlose Triumphe“ überschrieben – die kurzen, energischen Aufschwünge und spielerischen Ausflüchte stranden immer wieder an einem vertäumt-verlegenen Melodiefragment, das einem Kinderlied entnommen zu sein scheint. „Fast zu ernst“ wendet sich diese Reminiszenz schließlich nach Es-moll, wo sie mit dem Eintritt des folgenden Abschnitts (V, Adagio) im Gewand eines feierlichen Chorals erscheint, der aber gleich lichteren Regionen zustrebt und in einer ungestümen Modulation die Reprise von Abschnitt I (Allegro maestoso) erzwingt. Erst hinter dem freudigen Überschwang dieses Wiederfindens öffnet sich der Blick auf das Fernziel des Werkes: Der aus dem Kinderreim geborene Choral tritt uns zuletzt (Abschnitt VI, Poco adagio – Cavatina con variazioni) als inniges Lied entgegen, dessen Variationen das Trio mit einer fast immateriellen Kadenz ins Nichts entschweben lassen.
Es ist nicht anzunehmen, daß ein profunder Quartettist wie Weiland die Satzbezeichnung „Cavatina“ ohne einen gewissen ehrfürchtigen Schauder verwendet. Aber niemand, der den unschuldigen Zauber dieses schlichten Themas und seiner ungekünstelten Veränderungen auf sich wirken läßt, wird daran zweifeln, daß wir es hier weder mit einer Anmaßung noch mit einer Blasphemie zu tun haben, sondern mit einer aus reinstem Herzen kommenden Zueignung von zeitloser Aufrichtigkeit.

© by Claus-Christian Schuster

Urbanner: …in Bewegung… Trio für Violine, Violoncello und Klavier (1990)

Erich Urbanner

* 26. März 1936

…in Bewegung… Trio für Violine, Violoncello und Klavier (1990)

Komponiert:Wien, beendet am 10. Dezember 1990
Uraufführung:9. April 1991, Musikverein/Brahms-Saal
Wiener Schubert Trio
Claus-Christian Schuster, Klavier
Boris Kuschnir, Violine
Martin Hornstein, Violoncello
Erstausgabe:Doblinger, Wien, 1991

Tirol hat in der österreichischen Musikgeschichte bis in die erste Hälfte des XX. Jahrhunderts nur eine recht periphere Rolle gespielt. Von den nicht eben zahlreichen Tiroler Komponisten jener Zeit (die übrigens fast alle aus Südtirol stammten) wirkten die meisten außerhalb Österreichs – etwa Franz Xaver Ladurner (1766-1839) und Sylvio Lazzari (1857-1944) in Paris, oder Ludwig Thuille (1861-1907) in München. Erst mit der bedeutenden Gestalt Josef Lechthalers (1891-1948), der als Einundzwanzigjähriger aus Innsbruck nach Wien kam und bis an sein Lebensende hier wirkte, trat das Musikland Tirol auch innerösterreichisch mit markanter Eigenart in Erscheinung; daß dieser von den Nationalsozialisten verfemte Komponist bis heute einer adäquaten Würdigung harrt, sei hier nur am Rande vermerkt.
Ein Jahr nach Lechthalers Tod entstand mit der von der französischen Besatzungsmacht geförderten Innsbrucker Jugendkulturwoche ein Forum auch für die junge Musik Tirols. Kurt Rapf (*1922), der 1953 zum Innsbrucker Musikdirektor berufen wurde, öffnete diese Initiative der Neuen Musik. 1950 debütierte der vierzehnjährige Erich Urbanner in diesem Rahmen als Komponist – wie nach ihm (und bis zum politisch provozierten Ende dieser Institution im Jahre 1969) viele junge Tiroler Komponisten, die heute einen bemerkenswert großen Anteil am zeitgenössischen Musikschaffen Österreichs haben. (Urbanners späterer Lehrer Karl Schiske sollte übrigens für die weitere Entwicklung der Jugendkulturwoche von prägendem Einfluß sein.)

Wie Lechthaler kam Urbanner schon in jungen Jahren nach Wien; zwischen 1955 und 1961 studierte er hier an der Wiener Musikakademie, wo Karl Schiske und Hanns Jelinek seine Kompositionslehrer waren, während Grete Hinterhofer ihn pianistisch betreute. Als Schüler von Hans Swarowsky ließ er sich daneben auch zum Dirigenten ausbilden. Gleich nach dem Studienabschluß wurde Urbanner als Lehrer an die Musikakademie (1971-1998 Hochschule, seit 1998 Universität) berufen; 1969 wurde er zum Nachfolger seines allzu früh verstorbenen Lehrers Karl Schiske ernannt (1974 außerordentlicher, 1977 ordentlicher Professor).
Waren in der ersten Phase von Urbanners kompositorischer Entwicklung seine Leitsterne Stravinskij, Bartók und Hindemith, so erkundete er in der Folge systematisch auch die Möglichkeiten von Dodekaphonie und Serialismus. In Erkenntnis der Tatsache, daß heute „Innovationen weniger denn je im Materialbereich, als im Grad kompositorisch gestaltender Bewältigung“ (Urbanner) zu finden seien, wandte er sich aber bald von allen Theoremen ab, um seinen eigenen Weg zu suchen. Er ist heute fraglos einer der führenden österreichischen Komponisten und hat auch als Lehrer unvermindert große Bedeutung für das Musikschaffen unseres Landes.

„…in Bewegung… “ ist Urbanners zweites Werk für Klaviertrio. Das erste, „Takes“, war 1977 entstanden und hatte auf originelle und eigenwillige Art die interpretatorische Grenzsituation einer Studioaufnahme reflektiert – eine Konstellation, die Urbanner als ebenso gefragtem wie widerstrebendem Aufnahmeleiter von legendärer Präzision und Unerbittlichkeit überaus vertraut war. Der Kontakt zum Wiener Schubert Trio, für das „…in Bewegung…“ als Auftragswerk der Gesellschaft der Musikfreunde Ende 1990 geschrieben wurde, ergab sich übrigens auch aus dieser, von Urbanner damals nur mehr in seltenen Ausnahmefällen ausgeübten, Tätigkeit: 1986/87 hatte der Komponist die ersten vier Einspielungen dieses Ensembles betreut.
Gedanklicher Hintergrund der Konzeption von „…in Bewegung…“ ist das Variationsprinzip: Die beiden Sätze kreisen mit beeindruckender Beharrlichkeit um jene beiden komplementären Grundfomen, die für die Gestaltung der Variationsidee in der abendländischen Musik seit jeher bestimmend waren – die Figural-Variation und die Charakter-Variation. Da der Komponist aber in beiden Sätzen auf die Präsentation eines isolierten „Themas“ verzichtet, gewinnen hier die variativen Prozesse selbst eine ganz ungewöhnliche Eigenständigkeit; sie finden, enthoben der Pflicht, am Thema ihre „Arbeit“ zu verrichten, gewissermaßen erst „zu sich selbst“. Urbanner hat diese neugewonnene Freiheit in den Satzüberschriften zu zwei prägnanten und für den Hörer sehr unmittelbar nachzuvollziehenden Chiffren verdichtet: „Figurationen um einen Ton“ und „Variationen um einen Klang“.

Der erste Satz, „Figurationen um einen Ton“, ist ein höchst originelles Toccaten-Rondo, dessen konstruktives Zentrum der Ton gis ist. Der Satz umfaßt 116 Langtakte, die aus einer sich periodisch ändernden Anzahl von Halben und Dreiachtelgruppen zusammengesetzt sind, zwischen denen ein regelrechter Verdrängungswettbewerb zu herrschen scheint. Die für den Toccatenton des Stückes entscheidende rhythmische Spannung ergibt sich daraus, daß die „störenden“ Dreiachtelgruppen innerhalb des Taktes ständig wandern, als wollten sie die Sinnfälligkeit des Werktitels auch auf dieser Ebene beweisen. Dieser Vorgang wird aber gleichzeitig auch für die Strukturierung des formalen Ablaufes genützt. Die eröffnende Klavierfiguration, die sich, wie eine zwischen zwei Fensterscheiben eingesperrte Fliege, sieben Langtakte hindurch nur im Tonraum einer verminderten Oktave bewegt, führt mit ihren ostinaten Tonwiederholungen den Zuhörer auf die falsche Fährte, einer dieser Töne sei das Zentrum der Komposition. Die Streicherlinien, die sich um dieses Ostinato ranken, üben sich ebenfalls mit diplomatischer Virtuosität in der Verschweigung der „Hauptsache“, nämlich des ominösen Zentraltones. Dieser tritt schließlich, höchst mürrisch und gereizt, in einer Wiederholung des Ritornells als lakonisch attackierter Klavierbaß auf. Sein Erscheinen mobilisiert alle Beredtheit der anderen Stimmen, die ihn mit einschmeichelnder Melodik und tänzerischen Akkorden zu besänftigen versuchen. In der ersten Episode (B-Teil des Rondos) verselbständigt sich zunächst das akkordische Element und tritt in einen heftigen Widerstreit mit krausen Skalenfragmenten (in denen man den fernen Nachhall skrjabinesker „Exklusivreihen“ hören könnte). Die geraffte Wiederkehr des Ritornells schichtet die beiden Bestandteile der ersten Exposition übereinander. Der sich daran anschließende Mittelteil (zweite Episode, C-Teil) sublimiert die geschäftige Frenetik des Bisherigen zu poetischen Glockenklängen und impressionistischen Linien; dieses klangsinnlich-dekorative Element findet aber in den diesen Abschnitt gliedernden drei Kadenzen (Klavier, Streichduo, Violoncello) ein geradezu theatralisches Gegengewicht. Am Beginn der Duokadenz, die etwa mit der Satzmitte zusammenfällt, folgt auf den emphatisch betonten Zentralton ein alle zwölf Töne einschließender Akkord, innerhalb dessen die Streicher den – an dieser Stelle für den Zuhörer noch nicht zuordenbaren – „Zentralakkord“ des zweiten Satzes festhalten. Die in der Mittelepisode ausgesparte Violinkadenz dient in der Folge als Bindeglied zwischen der Reprise von Ritornell und erster Episode (Teile A und B). Die das Rondo vervollständigende letzte Wiederaufnahme des Ritornells ist als Coda gestaltet, in der das Anfangsmaterial von höchster, wütend-verzweifelter Erregung zu dumpf-resignierter Eintönigkeit herabgebrannt wird. Daß ausgerechnet dieser Zusammenbruch in einen (sechsmal wiederholten) A-Dur-Quartsextakkord mündet, könnte recht gut als bissige Reverenz an die „besiegte“ Tonalität verstanden werden – eine Lesart, die im Hinblick auf den ebenfalls tonalen Leitakkord des folgenden Satzes vielleicht noch an Plausibilität gewinnt.

Die zwölf „Variationen um einen Klang“, die den abschließenden zweiten Satz des Werkes bilden, sind, wie schon eingangs gesagt, eine Folge von Charaktervariationen, die – abweichend vom Herkommen – auf die Formulierung eines in sich geschlossenen Themas verzichten. Der „Klang“, um den hier alles kreist, und der auch buchstäblich das Alpha und Omega des Satzes bildet, ist durchaus nicht unbekannt: es ist der Sekundakkord der I. Stufe von G-Dur. Das Sextintervall, mit dem die Streicher den Satz eröffnen, definiert gleichzeitig die Schichtung des Akkordes: Fis-d-h-g´. Das für diesen Akkord charakteristische gleichzeitige Erklingen von Dreiklang und Leitton, das ja eine Kollision von Tonika- und Dominantsphäre bedeutet, hat in der Krise der Tonalität eine entscheidende Rolle gespielt; und etwas von der bedeutungsschweren Spannung dieses Phänomens klingt hier leise nach.
Der Satz verhält sich zum ersten in jeder Hinsicht komplementär: wo dort manische Motorik herrschte, behauptet sich hier ausdrucksvolle Deklamation; der kompliziert verschränkten Metrik entspricht hier die großflächige Ruhe eines (bis zur X. Variation) stabilen Fünfvierteltaktes, der nur an einer Stelle (jeweils im vierten Takt) „schwelgerisch“ zum brahmsischen Sechsvierteltakt gedehnt wird. In Variation I ist der Zentralton des ersten Satzes (gis/as) noch allgegenwärtig; er hat aber seinen Stachel verloren und fügt sich ganz sanft in die ruhige Klangrede ein. Das hier aufgestellte Modell wird in Variation II nur bereichert und melismatisch geschmückt; erst Variation III bringt mit elastischen Punktierungen und kapriziösen Umspielungen einen grundsätzlich neuen Charakter ins Spiel. Die damit eröffnete Amplitude zwischen den lyrischen und burlesken Möglichkeiten des Materials wird in den folgenden Variationen konsequent erforscht. In Variation IV führt das zu einem aparten Widerspiel von unruhigen Synkopierungen und einem choralartigen Hintergrund. Mit der darauffolgenden Variation liefert Urbanner eine klassische „Violinvariation“, bei der sich der statische Leitakkord in den Ecktönen der virtuos-erregten Figuration verbirgt. Variation VI ließe sich (freilich nur in einem sehr allgemein-generischen Sinn) als ferne Reminiszenz an Debussys „Des pas sur la neige“ (Préludes I/5) lesen – sie bewegt sich mit den gleichen matten und hoffnungslosen Schritten durch eine erstarrte Klanglandschaft. Den größtmöglichen Kontrast dazu bildet die folgende Variation, in der über erregten Begleitfigurationen fallende Tremoloskalen an die Exklusivreihen des ersten Satzes errinnern. Variationen VIII und IX greifen dann den Scherzando-Ton von Variation III auf, wobei der lyrische Widerspruch, der sich zuerst regt, vor immer übermütigeren Capriolen schließlich ganz verstummt. Erst in Variation X kehrt Urbanner ein letztes Mal zum Ausgangscharakter des Satzes zurück; schon die folgende Variation (XI) löst das Grundmodell in feinverästelten Arabesken auf und verkürzt gleichzeitig das Metrum zu einem Viervierteltakt. Diese metrische Raffung wird in Variation XII weitergeführt: Hier schieben sich zwischen ein labiles Muster von Vier- und Dreivierteltakten vehement zupackende Dreisechzehntelzellen, die das Gewebe solange zersetzen, bis schließlich das ganze kunstvolle Gebäude donnernd in den Leitakkord zusammenstürzt. Eine leichtsinnig tänzerische Coda beschließt das Werk mit einem vieldeutigen Lächeln.

© by Claus-Christian Schuster

Tschaikovskij: Trio a-moll op.50

Petr Iljitsch Tschaikovskij

* 07. Mai 1840
† 06. November 1893

Trio a-moll op.50

Komponiert:Rom (Hôtel Costanzi), 10. Dezember 1881 -9. Februar 1882
Widmung:„A la mémoire d‘ un grand artiste“ (Nikolaj Grigorjevic Rubinstejn, )
Uraufführung:Moskau, Konservatorium
11. (23.) März 1882 (geschlossene Veranstaltung)
18. (30.) Oktober 1882 (öffentlich)
Sergej Ivanovic Taneev (1856-1915), Klavier
Jan Hrimaly (Ivan Vojtehovic Grzimali, 1844-1915), Violine
Karl Friedrich Wilhelm Fitzenhagen (Vasilij Fedorovic Fitcenhagen, 1848-1890), Violoncello
Erstausgabe:Jürgenson, Moskva, September 1882

Die Vorgeschichte der Entstehung des Opus 50

Anfang Oktober 1880 war Tschaikovskijs Gönnerin Nadeschda von Meck auf ihrer alljährlichen Europareise in ihrer Villa in Florenz eingetroffen. Der Troß ihres Hofstaates war wie immer beeindruckend groß: In diesem Jahr hatte sie zu ihrer musikalischen Unterhaltung zeitweise ein ganzes Klaviertrio zur Verfügung. Der Geiger Vladislav Pachulskij, Kompositionsschüler von Tschaikovskij, und der Cellist Pëtr Daniltschenko hatten eben ihre Studien am Moskauer Konservatorium beendet, den Pianisten, einen gerade achtzehnjährigen Studenten, hatte man Frau von Meck aus Paris empfohlen: sein Name war Claude Debussy, und er hatte sich als wahre Trouvaille erwiesen.
Die häusliche Triomusik machte der Hausherrin unendliches Vergnügen. An Tschaikovskij schreibt sie fast flehentlich:

„Warum haben Sie kein Klaviertrio geschrieben? Jeden Tag bedauere ich das, weil wir hier so oft Trio spielen, und ich seufze, daß es von Ihnen keines gibt.“

Tschaikovskij hätte allen Grund gehabt, eine so unmißverständliche Bitte umgehend zu erfüllen; warum er es nicht tat, und weshalb er sich für denkbar ungeeignet hielt, ein solches Projekt auch nur ins Auge zu fassen, erklärt er seiner Freundin in einem von Verehrern und Verächtern des Genres Klaviertrio seither immer wieder – je nach Standpunkt mit Entrüstung oder Zustimmung – zitierten Brief:

„Sie fragen mich, warum ich kein Trio komponiere? Verzeihen Sie, liebe Freundin, so gerne würde ich ihren Wunsch erfüllen, doch das übersteigt meine Kräfte. Die Sache ist die, daß ich wegen der Veranlagung meines Gehörs die Verbindung von Klavier mit Geige oder Violoncello solo überhaupt nicht vertrage. Diese Klangfarben scheinen mir einander abzustoßen, und ich versichere Ihnen, daß es für mich eine reine Tortur bedeutet, irgendein Trio oder eine Sonate mit Geige oder Violoncello anzuhören. Zu erklären vermag ich diese physiologische Tatsache nicht und stelle sie nur fest. Eine ganz andere Sache ist Klavier mit Orchester: Auch da gibt es keine Vereinigung der Klangfarben, das Klavier kann sich ja mit gar nichts vereinigen, weil es einen elastischen Klang hat, der von jeder anderen Klangmasse gewissermaßen abprallt, aber da gibt es zwei gleichwertige Kräfte, nämlich das mächtige, an Farben unerschöpflich reiche Orchester, das ein kleiner, unscheinbarer, aber unerschrockener Herausforderer bekämpft und (wenn er talentiert ist) besiegt. In diesem Kampf steckt viel Poesie und für den Komponisten eine unendliche Menge verlockender Kombinationen. Doch was ist dagegen die unnatürliche Verbindung dreier solcher Instrumente wie Geige, Violoncello und Klavier? Hier gehen die Vorzüge jedes einzelnen der drei verloren. Der gesangliche und von einem so wundervollen Timbre durchwärmte Klang von Geige und Violoncello erscheint als nur sehr einseitiger Vorzug neben dem Zaren der Instrumente, und dieser letztere versucht mühsam zu beweisen, daß auch er so singen kann, wie seine Konkurrenten. Meiner Meinung nach kann das Klavier nur in drei Fällen Verwendung finden: erstens allein; zweitens im Kampf mit dem Orchester; und drittens als Begleitung, das heißt im Hintergrund eines Bildes. Aber ein Trio setzt ja Gleichberechtigung und Gleichartigkeit voraus, und wo kann es denn eine solche zwischen Solostreichinstrumenten einerseits und dem Klavier andererseits geben? Es gibt sie nicht. Und deshalb haben Klaviertrios stets etwas Gekünsteltes, und jeder der drei spielt andauernd nicht das, was seinem Instrument wirklich eigentümlich ist, sondern was ihm vom Autor aufgezwungen wurde, weil dieser ständig vor dem Problem steht, wie er die Stimmen und Bestandteile seines musikalischen Gedankens auf die Instrumente verteilen soll. Ich lasse dabei der großen Kunst und dem genialen Vermögen, diese Schwierigkeiten zu besiegen, das Komponisten wie Beethoven, Schumann und Mendelssohn besessen haben, volle Gerechtigkeit widerfahren. Ich weiß, daß es eine Vielzahl von Trios mit hervorragend qualitätvoller Musik gibt, aber als Form liebe ich das Trio nicht und kann darum für diese Klangkombination nichts schreiben, das von aufrichtigem Gefühl durchwärmt wäre. […] Schon allein die Erinnerung an den Klang eines Trios verursacht mir einfach physisches Unbehagen.“
(24. Oktober 1880)

Als er das schrieb, steckte Tschaikovskij in Kamenka, dem südlich von Kiev gelegenen Landgut seines Schwagers, mitten in der Arbeit an zwei seiner bis heute populärsten Orchesterwerke – der Streicherserenade C-Dur (op.48) und der für die Einweihung der (inzwischen abgerissenen und wieder aufgebauten) Moskauer Erlöserkathedrale bestimmten Ouverture solenelle 1812 (op.49); daneben hatte er für die Premiere des Evgenij Onegin am Bolshoj Teatr (- die Uraufführung hatte 1879 am Malyj Teatr stattgefunden -) noch Korrekturen vorzunehmen, und dabei stand schon die nächste Oper, Orleanskaja deva (Die Jungfrau von Orléans), kurz vor ihrer Uraufführung. Aber die Überzeugung, die Tschaikovskij in dem zitierten Brief äußert, ist durchaus nicht damit zu erklären, daß sein Schaffen und Denken eben gerade um andere Dinge kreiste. Es ist eine Überzeugung, die sich schon in seinen ersten Studienjahren unmißverständlich manifestiert hatte, und der er – mit der uns hier beschäftigenden bemerkenswerten Ausnahme – sein ganzes künstlerisches Leben hindurch treu bleiben sollte. Außer dem Trio op.50 gibt es tatsächlich in Tschaikovskijs Œuvre nur noch zwei Werke, in denen Solostreicher und Klavier aufeinander treffen, und diese Werke sind im Sinne des Briefes an Nadeschda von Meck durchaus keine Ausnahmen, sondern können ganz gut als Bestätigung und Illustration der dort aufgestellten Thesen dienen: Die als Opus 42 unter dem Titel Souvenir d´un lieu cher (1878) veröffentlichten drei Stücke für Violine und Klavier sind lyrische Skizzen, in denen der Komponist Schloß Brailov, dem Landsitz seiner Mäzenin, ein reizendes Denkmal gesetzt hat; der Klavierpart erfüllt hier genau jene Begleitfunktion, von der Tschaikovskij in seinem Brief als der einzigen ihm zulässig erscheinenden Form des solistischen Zusammentreffens der beiden Instrumente spricht. Das zweite Werk, eine Konservatoriumsarbeit aus den Jahren 1863/64, ist ein Allegro in C-moll für Klavier und Streichquintett (mit Kontrabaß) – und man kann schon an dieser Instrumentationswahl unschwer erkennen, daß es sich dabei ganz einfach um das schülerhafte Surrogat eines Klavierkonzertes handelt. Tschaikovskijs so leidenschaftlich geäußerte Ablehnung der Klavierkammermusik ist also alles andere als eine ephemere Marotte oder Laune, sondern ein ernstzunehmendes Credo – und das macht die rätselhafte Erscheinung des Klaviertrios, das sich in der homogenen Landschaft dieses Œuvres wie ein monumentaler Findling ausnimmt, nur noch bemerkenswerter.

Sofort nach der Petersburger Premiere der Jungfrau von Orléans (13./25. Februar 1881) verließ Tschaikovskij Rußland fast fluchtartig. Über Wien (wo er in Dvoráks Stammhotel „Zum Goldenen Lamm“, Wiedner Hauptstraße 7, abstieg, und in der Oper eine prächtige Aufführung von Webers Oberon erlebte), Florenz und Rom, seine ewige Liebe, kam er nach Neapel. Erst hier erreichte ihn die Nachricht von der Ermordung des Zaren Alexander II., die ihn tief erschütterte – er ahnte, daß dieses Attentat der entscheidende Schritt auf einem Weg war, an dessen Ende die Vernichtung seiner geistigen Heimat stehen würde. Von Neapel brach er nach Nizza auf, wo er mit Nikolaj Rubinstein zusammentreffen wollte. Der war von seinen Moskauer Ärzten, die sich im Kampf gegen seine rasch fortschreitende Tuberkulose keinen anderen Rat mehr wußten, in den Süden geschickt worden.
Die Beziehung zwischen Tschaikovskij und Rubinstein war schon lange nicht mehr ungetrübt, und der Zeitpunkt dieser neuerlichen Annäherung und geplanten Zusammenkunft ist für Tschaikovskij sehr bezeichnend – in ähnlicher Weise wird er Anfang 1885 nach Davos zu seineme ehemaligen Freund Iosif Kotek (1855-1885) reisen, der ihn in Zusammenhang mit dem Violinkonzert so schwer gekränkt hatte, und sich im Sommer 1887 in der „gottverdammten, elenden“ Stadt Aachen niederlassen, um die letzten Tage von Nikolaj Kondratjev zu verschönen.
Doch in Nizza findet er statt des Freundes ein Telegramm, das ihn an Nikolaj Rubinsteins Sterbebett nach Paris ruft. Von dort berichtet er zwei Tage nach dessen Tod:

„In Nizza habe ich zuerst aus einem Telegramm von Jürgenson erfahren, daß es Nikolaj Grigorjewitsch sehr schlecht gehe, und danach durch telegraphische Depeschen aus dem Grand Hôtel, 1) daß es keine Hoffnung gebe, und 2) daß er gestorben sei. Am nächsten Tag verließ ich mit Kondratjev und Sascha [Tschaikovskijs Schwester Alexandra] Nizza. Die Fahrt war für mich ein qualvolles moralisches Inferno. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich nicht so sehr unter dem Bewußtsein dieses schrecklichen und unersetzlichen Verlustes litt wie unter der Angst, in Paris, im Hotel, und noch dazu im Grand Hôtel, den von der quälenden Krankheit entstellten Leichnam des armen Rubinstein sehen zu müssen. Ich fürchtete, daß ich diese Erschütterung nicht überstehen würde, und daß mir, trotz aller Willensanstrengungen, diese beschämende Angst zu besiegen, etwas zustoßen werde. Jedenfalls waren meine Befürchtungen wenigstens in dieser Hinsicht grundlos. Heute um sechs Uhr morgens war die Leiche Nikolaj Grigorjewitschs schon in die russische Kirche überführt worden, und im Grand Hôtel traf ich nur E[lena] A[ndreevna] Tretjakova, die die letzten sechs Tage seines Lebens mit Nikolaj Grigorjewitsch verbracht hat. […] Eines ist tröstlich – daß Nikolaj Grigorjewitsch keinerlei Todesgedanken hatte und fast bis zur letzten Minute immerzu nur von seinen Zukunftsplänen sprach. Drei Stunden vor seinem Tod verlor er das Bewußtsein und starb ganz ohne Agonie, so unmerklich, daß E. A. Tretjakova, deren Hand er krampfhaft umschlossen gehalten hatte, lange Zeit nicht wußte, ob er noch am Leben sei…“
(an Modest Tschaikovskij, 25. März 1881)

„Heute war ich in der Kirche bei der Totenmesse, dann fuhr ich zur Gare du Nord und sah zu, wie der Bleisarg in einen solchen aus Holz eingenagelt und in den Gepäckwagen gestellt wurde. Es war furchtbar schmerzlich und unheimlich anzusehen, wie der arme Nikolaj Rubinstein in einem Kasten wie ein Gepäckstück nach Moskau befördert wurde.“
(an Nadeschda von Meck, 25. März 1881)

(Rubinstein wurde im Moskauer Danilovskij-Kloster beigesetzt. Als man dort im Herbst bei einer Seelenmesse Tschaikovskijs Messe op.41 aufführen wollte, wurde das von den kirchlichen Behörden untersagt – diese Musik sei „römisch-katholisch“…)

Tschaikovskij verließ Paris so rasch er konnte und kehrte über Berlin nach St. Petersburg zurück, von wo er nach Moskau weiterreiste. Dort wurde er bestürmt, den durch den Tod Nikolajs freigewordenen Direktorsposten am Konservatorium zu übernehmen. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt schon wußte, daß Frau von Meck am Rande des finanziellen Ruins stand, seine eigene materielle Zukunft also alles andere als gesichert war, lehnte er entschieden ab – seine Freiheit war ihm wichtiger als bürgerliche Sicherheit. Schon zu Ostern war er wieder in Kamenka. Aber sein ukrainisches Tusculum (hier waren in den Jahren davor neben den beiden oben erwähnten Werken auch große Teile der 2., 3. und 4. Symphonie, die 1. Orchestersuite op.43 und das Nikolaj Rubinstein gewidmete 2. Klavierkonzert op.44 entstanden), wo er einen Großteil des Jahres 1881 verbrachte, bot ihm diesmal keine rechte Schaffensmuße: die Schwester Alexandra war ernsthaft erkrankt und mußte schließlich mit ihrem Mann zur Behandlung nach St. Petersburg reisen, so daß Tschaikovskij mit seinen sieben Nichten und Neffen allein zurückblieb. Zudem hatte die älteste, Tatjana, ernsthaften Liebeskummer, an dem Onkel Petja natürlich innigen Anteil nahm. Auch wirtschaftlich standen die Dinge des Schwagers nicht zum besten. Lustlos und nur, um irgend etwas zu tun, übernahm Tschaikovskij auf Bitten seines Verlegers Pëtr Ivanovic Jürgenson die Herausgabe der Gesammelten Werke Dmitrij Bortnjanskijs (1751-1825), was ihn dazu zwang, sich eingehend mit den Traditionen der orthodoxen Kirchenmusik auseinanderzusetzen. Nebenprodukt dieser Arbeit war die im Mai 1881 begonnene (und erst im Dezember 1882 vollendete) Vsenoshchnaya (Vesper) op.52. Seinem Bruder Anatolij berichtet er:

„Ich schreibe einstweilen überhaupt nichts, bereite mich aber darauf vor, eine Vesper als Pendant zu meiner Messe [op.41, 1878] in Angriff zu nehmen. Wenn ich ein Sujet finde, fange ich vielleicht später eine Oper an. Das ist das einzige Genre (außerhalb der Kirchenmusik), das mich anzieht. Seit dem Tod Rubinsteins hab ich das Interesse an symphonischer Musik völlig verloren.“
(13./25. Mai 1881)

In dieser Schaffenskrise, die Tschaikovskij hier mit dem Tod seines Freundes in Verbindung bringt, und zu deren Symptomen etwa der große zeitliche Abstand (über zehn Jahre) zwischen der 4. und 5. Symphonie zu zählen ist, liegt wohl auch die Hauptvoraussetzung für das Entstehen des singulären und im Gesamtwerk so auffällig isolierten Klaviertrios.

Rom, Hôtel Costanzi

Wie schon zwei Jahre zuvor will Tschaikovskij den Winter mit seinem Bruder Modest in Rom verbringen. Modest reist in Begleitung seines taubstummen Ziehsohnes, des dreizehnjährigen Kolja (Nikolaj Konradi), und seines Dieners Grischa voraus und bezieht in Tschaikovskijs Stammhotel Costanzi Quartier. Auch das Ehepaar Kondratjev mit seinen drei Kindern, die der Komponist aus Kamenka kennt, hat sich hier einquartiert.
Noch auf der Fahrt schmiedet Tschaikovskij Opernpläne; in der Erzählung „Die durchzechte Nacht“ von Dmitrij Averkiev (1836-1905), die L. N. Antropov unter dem Titel „Hausmeister Vanka„ dramatisiert hat, einer idyllisch-humorvollen Verherrlichung des „alten“, patriarchalischen Rußland, glaubt er eine passende Textvorlage gefunden zu haben. Am Morgen des 2. Dezember 1881 trifft er aus Florenz kommend (wo er wieder einmal zwei Tage in unmittelbarer Nähe Nadeschda von Mecks verbracht hat, ohne sie zu sehen) in Rom ein. Seinen Schaffenseifer muß er zunächst bezähmen: Die Suite, die er zum Arbeiten braucht, ist noch von einer englischen Familie belegt, und jeden Tag belästigen ihn die Mitglieder der aristokratischen russischen Schickeria mit Besuchen und Einladungen. Als er nach einer erzwungenermaßen müßigen Woche sein Zimmer beziehen kann, macht er sich zunächst einmal an die Realisierung eines Projektes, das ihn schon seit längerer Zeit beschäftigt: die Vertonung von Puschkins Verserzählung „Poltava“ – die 1883 vollendete Oper Mazeppa. Die Arbeit geht nur stockend voran, und Tschaikovskij ist wieder einmal – wie so oft – von der panischen Angst erfüllt, seine Schaffenskraft sei gebrochen.

„Gestern erhielt ich aus Kamenka eine Nachricht, die mich sehr betrübt hat. In der Nähe von Kamenka gibt es ein kleines Wäldchen, Trostjanka genannt, daß das übliche Ziel meiner Wanderungen war. Dort wohnt mitten im Wald eine sehr zahlreiche und nette Köhlerfamilie. Ich habe selten so reizende Kinder wie diese gesehen, aber besonders liebte ich ein kleines, vierjähriges Mädchen, die zuerst große Scheu vor mir hatte, aber sich dann an mich gewöhnte und meine Freundin wurde. Sooft ich kam, lief sie herbei, liebkoste mich und plauderte so herzigen Unsinn – es war wirklich ein Vergnügen, und ich habe diese Kind sehr geliebt Jetzt ist dort Diphterie ausgebrochen, und mein Schwager schreibt mir, daß dieses Mädchen und eines seiner Geschwister daran gestorben sind; die anderen hat er alle in den Ort bringen lassen, aber er fügt hinzu: „Ich fürchte, es ist schon zu spät.“. Unser armes Rußland! So freudlos ist alles, und dann noch diese Geißel, die unsere Kinder zu Tausenden zugrunderichtet.“
(an Nadeschda von Meck, 16. Dezember 1881)

Am 22. Dezember beginnt Tschaikovskij die Niederschrift des Trios. Nicht nur die Trauer um den verlorenen Freund, auch die Klage über das Schicksal Rußlands, die in dem zuletzt zitierten Brief anklingt, wird hier musikalische Gestalt annehmen. Die plötzliche Eingebung, der er mit dieser Komposition folgt, scheint Tschaikovskij selbst überrascht zu haben – jedenfalls hat der Beweggrund, den er in dem folgenden Brief an Nadeschda von Meck anführt, eher den Beigeschmack einer konventionellen Stilisierung:

„Wissen Sie, meine Teure, was ich zu schreiben begonnen habe? Sie werden sehr erstaunt sein! Erinnern Sie sich noch, Sie haben mir einmal geraten, ein Trio für Klavier, Geige und Violoncello zu schreiben, und vielleicht erinnern Sie sich auch meiner Antwort, in der ich offen meine Abneigung gegen diese Besetzung aussprach? Und jetzt habe ich mich plötzlich trotz dieser Abneigung entschlossen, mich in dieser bisher von mir gemiedenen Musikgattung zu versuchen. Den Anfang des Trios habe ich schon niedergeschrieben. Ob ich es auch beenden werde, und ob es mir gelingen wird, das weiß ich nicht, aber ich würde das Begonnene sehr gerne gut zu Ende führen.
Sie werden mir wohl glauben, wenn ich sage, daß der Hauptgrund, oder richtiger: der einzige Grund, weshalb ich mich mit der mir so wenig angenehmen Vereinigung von Klavier und Streichinstrumenten abgefunden habe, der Wunsch ist, Ihnen mit diesem Trio eine Freude zu bereiten. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich mich überwinden muß, meine musikalischen Gedanken in diese neue und ungewonte Form zu gießen. Aber ich möchte als Sieger aus all diesen Schwierigkeiten hervorgehen, und das stete Bewußtsein, daß Sie zufrieden sein werden, ermuntert und inspiriert mich.“

(27. Dezember 1881)

Ein solcher „Hauptgrund“ für die Entstehung eines Werkes von so außergewöhnlicher Bedeutung und Dimension mutet seltsam anämisch an. Doch unabhängig davon, wie vollständig oder wie aufrichtig Tschaikovskij seine Briefpartnerin über die Quelle seiner Inspiration unterrichtet haben mag, ist offensichtlich, daß die Entstehung des Klaviertrios wirklich von Anfang an von großen inneren Widerständen und Zweifeln begleitet war. Das Pflichtbewußtsein, mit dem der Komponist diese Schwierigkeiten zu überwinden versucht, verwandelte sich dann aber Schritt für Schritt in das begeisternde Feuer reiner Schaffensfreude. Man vergleiche die folgenden beiden Briefstellen aus der Anfangs- und der Endphase der Komposition:

„Wir stehen um 8 Uhr auf, um halb neun gibt es Tee; danach, während das Zimmer aufgeräumt wird, gehen wir zu Kondratjev (ich im Schlafrock) und wohnen seinem levé bei. Nachher arbeite ich bis 12. Um 12 frühstücke ich mit Nikolaj Dmitrievitsch [Kondratjev], Modest und Kolja später, um halb eins. Dann steht ein Spaziergang auf dem Programm; meistens gehe ich allein aus, aber an Sonntagen nehmen wir Grischa mit und besichtigen die eine oder andere Sehenswürdigkeit. Von 4 bis 6 schreibe ich Briefe und spiele Klavier. Um 6 ist das Essen an der table d´hôte. Wir haben mit den Kondratjevs einen Extratisch. Nach dem Essen gehe ich manchmal noch spazieren, und den Rest des Abends verbringe ich entweder zuhause mit Lektüre, oder wir spielen Karten. Um 12 Uhr gehen wir auseinander, und ich lese gewöhnlich noch eine oder eineinhalb Stunden.“
(an Anatolij Tschaikovskij, 24. Dezember 1881)

In dem Arbeitstempo, das dieser Brief schildert, hätte die Komposition des Trios wohl etliche Monate in Anspruch genommen. Tatsächlich war aber der Rohentwurf in knapp vier Wochen beendet, und auch die Ausarbeitung wird gleich darauf in Rekordzeit bewältigt:

„Ich beende gerade mein Trio und habe beschlossen, unbedingt bis zum morgigen Sonntag fertig zu sein und dann zur Erholung einen großen Spaziergang zu machen. Deshalb bin ich heute von 9 Uhr morgens bis 4 ohne aufzustehen darüber gesessen und habe mit solcher Hingabe gearbeitet, daß ich jetzt keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Diese krankhafte Eile am Ende einer Komposition macht sich in ihr immer unangenehm bemerkbar – aber ich kann meine Natur eben nicht ändern. […] Ich habe mich ganz in mein Trio vertieft. Mich fesselt diese von mir noch nicht erprobte Form. In zwei Tagen werde ich mich an die Abschrift machen, und sowie diese fertig ist, schicke ich sie nach Moskau, und Du bitte dann Taneev, ein Durchspiel zu organisieren.“
(an Anatolij Tschaikovskij, 21. Jänner 1882)

Auch die abschließende Reinschrift bereitet dem Komponisten ganz offensichtlich große Freude:

„In letzter Zeit fühle ich mich physisch und moralisch hervorragend. Ich schreibe das in erster Linie dem Umstand zu, daß mir das Trio, das ich jetzt abschreibe, sehr gut gefällt. Vielleicht werde ich ihm später untreu werden und es genauso hassen wie die Mehrzahl aller meiner früheren Kompositionen – aber jetzt bin ich stolz darauf, es befriedigt mich ganz und hebt meine Selbstachtung. Ich hatte ja wirklich schon angefangen zu glauben, daß ich niemehr etwas schreiben werde können…“
(an Anatolij Tschaikovskij, 3. Februar 1882)

Am 9. Februar 1882 ist die Reinschrift abgeschlossen; zwei Tage später ist sie schon auf dem Weg nach Moskau.

Das Werk

Wie sehr dem Komponisten das Werk am Herzen lag, zeigt nicht zuletzt der Umstand, daß er die Uraufführung ausdrücklich in die Hände von drei bedeutenden und ihm persönlich besonders nahestehenden Interpreten legte: Sergej Taneev war als Komponist Schüler Tschaikovskijs und als Pianist Schüler Nikolaj Rubinsteins gewesen, wurde späterhin ein enger Freund Tschaikovskijs und Widmungsträger von dessen symphonischer Dichtung Francesca da Rimini (op.32, 1876); der Tscheche Jan Hrimaly, der seit 1869 in Moskau lebte und lehrte, hatte mit seinem Streichquartett schon die Opera 22 (2. Quartett, F-Dur, 1874) und 30 (3. Quartett, Es-Dur, 1876) aus der Taufe gehoben; und dem aus dem Braunschweigischen stammenden Cellisten Wilhelm Fitzenhagen, der 1870 als Lehrer am Moskauer Konservatorium ebenfalls Kollege Tschaikovskijs und Nikolaj Rubinsteins geworden war, hatte Tschaikovskij 1876 die Rokoko-Variationen op.33 gewidmet (die übrigens leider zumeist in Fitzenhagens „effektvoller“, von Tschaikovskij nachsichtig autorisierter Bearbeitung zu hören sind). Die Wahl gerade dieser Interpreten war dem Komponisten so wichtig und sein Vertrauen in sie so groß, daß er auf der Titelseite des Autographs den Vermerk anbrachte:

„Ich bitte Herrn S. I. Taneev dieses Trio mit den Herren Hrimaly und Fitzenhagen zu spielen und zusammen mit ihnen zu beurteilen, welche Stellen verbesserungsbedürftig sind, sowie diese Verbesserungen vorzunehmen.“

Daß Tschaikovskij in seinen Freunden auch wirklich engagierte Anwälte für das neue Werk fand, möge ein Zitat aus einem Brief Taneevs dokumentieren: „Ich habe Ihr Trio jetzt dreieinhalb Wochen studiert und es täglich sechs Stunden lang gespielt. Ich erinnere mich nicht, jemals einen größeren Genuß beim Studium eines neuen Werkes gehabt zu haben.“ (Taneev hat aus seiner Begeisterung für Tschaikovskijs Klaviertrio auch noch fünfundzwanzig Jahre später, als er selbst ein Werk dieser Gattung komponierte, kein Hehl gemacht.)

Die erste Aufführung des Trios fand in Abwesenheit des Komponisten im Rahmen einer Gedenkveranstaltung am 11.(23.) März 1881, dem ersten Jahrestag des Todes von Nikolaj Rubinstein, vor geladenen Gästen im Moskauer Konservatorium statt. Im selben Saal wurde es dann am 18.(30.) Oktober, fast gleichzeitig mit dem Erscheinen der Druckausgabe, von den selben Interpreten beim Eröffnungskonzert der alljährlichen Quartett-Serie der Russischen Musikgesellschaft auch öffentlich uraufgeführt. Zwischen diesen beiden Aufführungen hatte der Komponist das Werk im April 1881 noch einmal gründlich revidiert und in vielen Details verändert.

Es ist nicht verwunderlich, daß dieses urpersönliche Lebensdokument zu einem epischen Bild russischen Lebens geriet, das den Vergleich mit den gleichzeitigen Meisterwerken russischer Erzählkunst nahelegt. (Man darf an dieser Stelle anmerken, daß Tschaikovskij ein glühender Verehrer der Kunst Tolstojs war, Dostojevskij gegenüber aber eine ausgeprägte Antipathie empfand, obwohl er dessen Genialität durchaus anerkannte.) Hier wie dort bleibt zu bewundern, wie es den russischen Meistern gegeben ist, das „wirkliche Leben„ ohne alle Einengung und artifizielle Stilisierung Kunst werden zu lassen, so daß es noch als Kunst die ganze, den Nicht-Russen oft bestürzende Weite dieses Lebens atmet, die Höchstes und Tiefstes, Mystisches und Triviales nebeneinander bestehen läßt. Die Weisheit dieser slavischen Kunst liegt in der Erkenntnis, daß Elegie und Mazurka, mystische Apotheose und leichtsinnige Walzerseligkeit einander gleichermaßen vertiefen und dichterisch erhöhen. Dieses „Zusammenklingen“ der Seinsgegensätze verlangt naturgemäß nach „symphonischer“ Darstellung. Die dadurch bedingte musikalische Dramaturgie erforderte Lösungen, die der Kammermusik bis dahin fremd waren; und bei Tschaikovskijs Hochachtung für seine großen Vorgänger ist es nur allzu verständlich, daß er sich beim Betreten dieses Neulandes unsicher fühlte und von Skrupeln geplagt wurde. Nur so, nicht etwa als Resümee eines instrumentatorischen Fehlschlags, ist Tschaikovskijs Geständnis in einem unmittelbar nach der Vollendung des Klaviertrios an Nadeschda von Meck gerichteten Brief zu verstehen:

„Ich fürchte nur, daß mir, da ich mich dieser neuen Form der Kammermusik so spät zugewandt und sonst mein Leben lang Orchesterwerke komponiert habe, einige Sünden bei der Instrumentierung unterlaufen sind. Mit einem Wort, ich befürchte, daß es sich um symphonische Musik handelt, die für Klaviertrio arrangiert wurde, aber nicht auf dieses Genre berechnet ist. Ich habe mir zwar alle Mühe gegeben, das zu vermeiden, aber ich weiß nicht, was daraus geworden ist!“
(25. Jänner 1881)

Schon die äußere Form des Trios zeigt, wie sehr Tschaikovskij sich dem formalen Kanon des Genres verweigert: die monumentale Zweisätzigkeit des Werkes steht ebenso sehr im Widerspruch mit der „klassischen“ Tradition, die damals schon vielerorts als „akademisch“ oder „klassizistisch“ kritisiert wurde, wie auch mit den „fortschrittlichen“ Alternativen dazu, etwa der rhapsodischen einsätzigen Variante, wie sie später von den „Neudeutschen„ und ihren Nachfolgern gepflegt wurde. Es liegt auch – wie sich ja schon an den äußeren Dimensionen des Werkes unschwer erkennen läßt – durchaus kein Rückgriff auf frühklassische zweisätzige Modelle vor; die zwei Sätze sind nicht kontrastierend, sondern linear konzipiert, und die gesamte dramaturgische Anlage legt den schon oben angestellten Vergleich mit der russischen Erzählkunst nahe – alles in allem haben wir es also mit einem außerhalb jeder kontinuierlichen Tradition stehenden, einzig aus den Notwendigkeiten der angestrebten Aussage entwickelten Organismus zu tun. Der Eindruck, den das Werk auf die Zeitgenossen machte war allerdings so groß, daß es seinerseits Ausgangspunkt einer vor allem in Rußland noch bis heute lebendigen Sonderform des Genres Klaviertrio wurde, die von den unter dem unmittelbaren Eindruck Tschaikovskijs geschriebenen Werken Rachmaninovs (op.9) und Taneevs (op.22) bis zu zweisätzigen Trios der jüngsten Vergangenheit (z.B. Grigorij Korchmar, 1991; Alfred Schnittke, 1992) reicht.

Der erste Satz (Pezzo elegiaco. Moderato assai – Allegro giusto) zeigt exemplarisch den nich eben revolutionären, aber völlig eigenständigen Umgang mit den formalen Traditionen: durchaus aus dem Geist der Sonatenhauptsatzform entwickelt, verweigert sich der Satz doch der normierenden Analyse. Alles thematische Material ist aus dem klagenden Gesang des Hauptthemas entwickelt: Seiner melodischen Gestalt liegt mit einem diatonischen Quintfall so ziemlich das lapidarste und lakonischste aller denkbaren Motive zugrunde – und zu erleben, wie dieses asketisch-dürre Grundgerüst mit einigen wenigen melismatischen Strichen und im emphatischen Widerstreit mit seiner Umkehrung zu innigstem Leben erweckt wird, erheischt Bewunderung. Dem zweiten Thema, das die fallende Gestik ins Heroische und Enthusiastische wandelt, folgt ein recht knapp gehaltener Durchführungsteil, der schließlich mit einer traumhaft innigen Wendung (es-moll – H-Dur) in ein drittes Thema mündet. (Manche der schon von Brahms so gehaßten „musikalischen Souvenirjäger“ wollen in diesem Einfall die Keimzelle einer Stelle in Richard Strauss´ „Salome“ sehen.) Die Reprise wiederholt mit einigen bedeutsamen Modifikationen und selbstverständlich unter Weglassung des Durchführungsteils diese Abfolge der drei Themenblöcke, an die sich zum Abschluß eine ergreifend schlichte Coda schließt, in der das verblühte Anfangsmotiv zu Grabe getragen wird.

Das E-Dur Thema des zweiten Satzes (Tema con variazioni: A. Andante con moto – B. Variazione finale e coda. Allegro risoluto e con fuoco – Andante con moto) soll angeblich die Tschaikovskij und Nikolaj Rubinstein gemeinsame Erinnerung an ein Fest im Jahre 1873 bewahren; es ist jedenfalls ganz im Geist eines Volksliedes erfunden, und die russische Folkloristik konnte eine Reihe von in Einzelheiten mit Tschaikovskijs Thema übereinstimmenden Originalmelodien nachweisen. Aber der Höhepunkt des 20-taktigen Themas ist die Durvariante des Hauptthemas aus dem ersten Satz – und schon mit anhand dieses Details kann man sehen, daß der Komponist sich das Volkslied, das ihn angeregt haben mag, völlig anverwandelt hat. Die anschließenden Variationen sind von wirklich faszinierender Vielfalt und Freiheit. Im Umkreis Tschaikovskijs war die (zum Glück nie näher konkretisierte) Ansicht verbreitet, jede der Variationen spiegle eine Episode im Leben Nikolaj Rubinsteins wider. Tschaikovskij hat es meisterhaft verstanden, diese „regellose“ Vielfalt auf subtile Weise formal zu gliedern: Die Variationen I – III sind Figuralvariationen, die sich recht eng an den formalen und melodischen Ablauf des Themas halten; bis zu diesem Punkt könnte man durchaus meinen, es mit ganz „traditionellen“ Variationen zu tun zu haben. Mit der IV. Variation, die sich nach cis-moll wendet und in völlig geänderter Weise den „folkloristischen“ Ton des Themas wieder aufninmmt, wird aber die enge Bindung an das Thema aufgegeben. An dieser Nahtstelle im Variationenablauf folgt eine „Signalvariation“ (V), bei der das Klavier (pianissimo, martellato) eine Spieluhr imitiert – der Mitternachtszauber kann beginnen.
Die folgenden fünf Variationen (VI – X) deklarieren sich auch dort, wo sie nicht näher bezeichnet sind, als „Genrestücke“ im allerbesten (und weitesten) Sinn des Wortes (VI – Walzer, VII/VIII – Choral und Fuge, IX – Barcarolle, X – Mazurka). Die in der Mitte dieses Abschnittes stehende Fuge ist – nicht unähnlich dem Fugato im Kopfsatz der Urfassung von Brahms´ op.8 – ein interpretatorischer Stolperstein. Hier wie dort wird immer wieder die „Leere“ und „Trockenheit“ dieses Abschnittes befremdet gerügt; die naheliegende Idee, daß in beiden Fällen philiströse Wichtigtuerei karikiert werden sollte, wird meist entrüstet zurückgewiesen – dabei spricht bei Tschaikovskij unter anderem auch die (entgegen den beschwörenden Bitten des Komponisten fast nie ernstgenommene) metronomische Bezeichnung ganz deutlich für eine solche Interpretation. (Taneev hat sich noch im September 1891 von Tschaikovskij die Autorisation für eine „Auffüllung“ des Klavierparts dieser Variation erbeten.)
Die XI. Variation, die eindeutig Codacharakter hat, ist wie die V. Variation wieder eine „Signalvariation“, die der Gliederung des Ablaufs dient und uns das Thema noch einmal in seiner Urgestalt in Erinnerung ruft. Zur Abgrenzung von dem zusammengehörenden „Traumspiel“ der Variationen VI – X dient hier wie dort die großflächige, ostinate Wiederholung eines einzigen Tones.
Die XII. und Final-Variation ist durchaus wie ein unabhängiger Satz in voll entwickelter Sonatenform gestaltet – die in späteren (nicht autorisierten) Ausgaben angeregte „Kürzung“, die besser eine Verstümmelung heißen sollte, gehört ebenso wie die oft praktizierte und ebenfalls die Intentionen des Komponisten entstellende Weglassung der Fuge (Variation VIII) zu jenen haarsträubenden musikalischen Barbareien, mit denen einige besonders ehrgeizige Interpreten im Jahrhundert des Jascha Heifetz wohl beweisen wollten, daß sie es, wenn nicht an Virtuosität, so doch an Dummheit mit ihren gefeierten Vorgängern leicht aufnehmen können. Das versonnene, entfernt an eine Dumka erinnernde Thema, erscheint hier von vitaler rhythmischer Kraft durchpulst.
Erst nach Durchschreiten dieser weiträumigen Tonlandschaft öffnet sich das Tor zum Totenreich, wo uns das ins Monumentale überhöhte Hauptthema des ersten Satzes in Empfang nimmt und zum „Ausgang der grimmigen Einsicht“ begleitet.

© by Claus-Christian Schuster

Takemitsu: Between tides (1993)

Toru Takemitsu

* 08. Oktober 1930
† 20. Februar 1996

Between tides (1993)

Komponiert:, 1993
Widmung:Pamela Frank, Yo-Yo Ma, Peter Serkin
Uraufführung:Berlin, Kammermusiksaal der Philharmonie, 20. September 1993
Peter Serkin (*1947), Klavier
Pamela Frank, Violine
Yo-Yo Ma (*1955), Violoncello
Erstausgabe:Schott, Tokyo, 1995

Takemitsu, der erste japanische Komponist, der zu wirklichem Weltruhm gelangt ist, gehört einer sogar im Kontext unseres widersprüchlichen Jahrhunderts ganz besonders „zerrissenen“ Generation an: Wie George Crumb (*1929), Edison Denisov (*1929), Dieter Schnebel (*1930) und Mauricio Kagel (*1931) – um nur einige der besonders markanten Komponisten dieser Generation zu nennen – umfaßt seine Kindheit den Weg aus der Weltwirtschaftskrise in den Zweiten Weltkrieg, also vom Chaos ins Inferno. Aus japanischer Perspektive war dieser Weg vielleicht noch zermürbender, weil er hier aus dem Wahn der imperialen Beherrschung ganz Asiens („Tanaka-Memorandum“ von 1927) geraden Weges nach Hiroshima und Nagasaki führte.

Mit achtzehn Jahren wurde Takemitsu für einige Zeit Privatschüler von Yasuji Kiyose (1900-1981), der seinerseits in Tokyo den Unterricht von Klaus Pringsheim und Alexander Tcherepnin genossen hatte. Takemitsu selbst hat hingegen nie ein Konservatorium oder eine Musikhochschule besucht.1951 war er Mitbegründer von jikken-kobo („Versuchsatelier“), eines Zusammenschlusses von Schriftstellern, bildenden Künstlern und Musikern. Aus diesem Jahr stammt auch sein erstes Kammermusikwerk, das deutlich von der Poetik Debussys und Messiaens geprägte Stück Yosei no kyori (Distance de fée) für Violine und Klavier. Takemitsus Unabhängigkeit vom akademischen Lehrbetrieb erweist sich bald als großer Vorteil: Während seine Generationskollegen systematisch zur Imitation europäischer Modelle angehalten werden, geht er unbekümmert und neugierig seinen ganz eigenen Weg. Er experimentiert mit Tonaufnahmen von Alltagsgeräuschen und Naturlauten und gelangt so zu einer autochthon japanischen Spielart der musique concrète. In der Folge interessiert er sich auch für die zur gleichen Zeit in Darmstadt angestellten Versuche mit graphischer Notation und Aleatorik. Erstaunlich rasch wandelt sich die Summe all dieser heterogenen Erfahrungen und Entdeckungen in eine eigene und unverwechselbare musikalische Sprache, in der vielleicht die Stille das wichtigste Element ist – ein deutlicher Bezug zum Raffinement der Aussparung in der japanischen Malerei und der von Takemitsu besonders geliebten Lyrik.

1964 leitet er zusammen mit John Cage ein Kompositionsseminar an der University of Hawaii, und im darauffolgenden Jahr wird er mit dem Großen Preis der IGNM ausgezeichnet. Von besonderer Bedeutung war für Takemitsu in den folgenden Jahren die Zusammenarbeit mit dem Altmeister des japanischen Films, Akira Kurosawa (Filmmusik zu Dodes’ka-den, 1970, und zu Ran, 1985).

Seit den Sechziger Jahren beschäftigt Takemitsu sich häufiger mit dem Instrumentarium der traditionellen japanischen Musik. Wo er japanische Instrumente mit westlichen Klangkörpern kombiniert, wie etwa in dem Stück November Steps für Biwa, Shakuhachi und Orchester, das er 1967 zum 125. Geburtstag der New Yorker Philharmoniker komponierte (und dem er 1973 unter dem Titel Aki, Herbst, ein Stück in gleicher Besetzung folgen ließ), ist es ihm immer darum zu tun, die wesentlichen Eigenheiten der beiden Klang- und Geisteswelten unvermischt zu bewahren, um sie einander als autonome und vitale Organismen gegenüberstellen zu können. Dem modischen multikulturellen Ragout, das unter dem Vorwand kosmopolitischer Offenheit nur verschiedene dekorative Accessoires verbindet, die losgelöst von den ihnen zugrundeliegenden Wesenheiten nichts mehr bedeuten, konnte er nichts abgewinnen.

Takemitsu starb Anfang 1996 über der Arbeit an seiner ersten Oper, die in Lyon hätte uraufgeführt werden sollen.

In den Werken seiner allerletzten Schaffensperiode zeichnet sich eine Rückkehr zu „funktionaler“ Harmonik und „traditioneller“ Rhythmik ab. Trotzdem geht nichts von dem assoziativen Zauber verloren, der in der Freiheit und Ungebundenheit seines musikalischen Denkens liegt. Diese Rückbesinnung ist also keine resignative Kehrtwendung, sondern ein schöpferisches Wiederfinden, durch das man (mit Groth und Brahms zu reden) „zum zweiten Mal ein Kind“ werden kann.

Between Tides ist vielleicht das eindrücklichste Zeugnis dieses Prozesses. Es ist wohl kein Zufall, daß die leitmotivische Tonfolge, die das ganze Stück durchzieht, wie eine versöhnliche Schwester jenes berühmten ikonoklastischen Signalrufes erscheint, die Schönberg 1906 emblematisch an den Anfang seiner Kammersymphonie stellte. War dort durch eine kompromißlose Folge von heroisch aufsteigenden Quartschritten der Terzenharmonik der Krieg erklärt worden, so läßt sich Takemitsus Thema (A-B-es-g-h-d1) ganz leicht als Folge zweier übereinander geschichteter Dreiklänge mit einleitendem (quasi „leittönigen“) Halbtonschritt deuten. Wie bei Schönberg handelt es sich um ein rhythmisch fast neutrales sechstöniges Motiv, das nur eine Bewegungsrichtung kennt; Webern hat in seiner Bearbeitung der Schönbergschen Kammersymphonie für Klavierquintett genauso wie Takemitsu diese Wendung zuerst dem Cello anvertraut. Wenn man bedenkt, daß es gerade dieses programmatische Motiv war, das über Jahrzehnte hinweg das musikalische Logo der Darmstädter Ferienkurse war, so will man kaum mehr an einen Zufall glauben. Umso bedeutsamer ist der undramatische und versöhnliche Ton, mit dem Takemitsu seine Metamorphose dieses ominösen Schlachtrufes vorträgt. Die friedliche Erscheinung ist in eine mehrschichtige viertaktige Phrase verwoben, die in den darauffolgenden „Wellen“ auf sechs und zehn Takte ausgedehnt wird. Mit jeder Wiederholung wird das Spiel der Linien und Farben reicher und beziehungsvoller. Stimmungen und Gefühle erwachen und vergehen so „zwischen den Gezeiten“ der in organischer Folge wiederkehrenden Klangerscheinungen. Takemitsu vergleicht sein Werk mit dem Mikrokosmos eines kayushiki-teien, des traditionellen japanischen Landschaftsgartens, und erinnert daran, „daß die musikalischen Gegenstände, die er in seinem musikalischen Garten plaziert, sich nur allmählich verändern, gerade so, wie die Erscheinung der Steine, der Pflanzen, des Wassers sich mit dem Standort des Wanderers verändert, der durch die Landschaft schlendert.“

„Das Spiel der drei Instrumente ereignet sich gelassen, zäsurlos, ohne dramatische Aktionen oder turbulenten Wechsel, aber es wird beobachtbar, daß die Klangkonstellationen des Klaviers sich gelegentlich linear verflüssigen, und umgekehrt die grundsätzlich melodische Entfaltung der Streichinstrumente durch wechselnden Bogendruck, Flageoletts, Tremoli oder Oktavierungen klangbetonter werden. Wie die wechselnden Phasen des atmenden Meeres oder der Jahreszeiten werden auch hier komponierte Phasen erkennbar. So wird Between Tides zum Abbild der Atemzüge der Natur oder ist gar eine komponierte Metapher jener kosmischen Gezeiten, die durch die Yin-Yan-Polarität des Universums in Gang gehalten werden.“ (Wolfgang Burde)

Trotz dieses durch und durch orientalischen meditativen Konzepts ist die Klangsprache überreich an abendländischen Echos und Widerspiegelungen. Debussy, Schönberg und Messiaen finden in diesem imaginären und zeitlosen Zaubergarten zueinander. In der Abenddämmerung bedeckt nur mehr ein flüchtiger Nebelschleier die wiedergefundene Ruhe eines C-Dur-Akkords, mit dem die Erscheinung unserem Gehör entgleitet.

© by Claus-Christian Schuster

Suk: Elegie Des-Dur op. 23

Josef Suk

* 04. Jänner 1874
† 29. Mai 1935

Elegie Des-Dur op. 23

Komponiert:Praha, 1902
Uraufführung:Uraufführung der Urfassung: Prag, Letohradek kralovny Anny (Sommerschloß der Königin Anna), 31. Mai 1902
Solisten: Karel Hoffmann (1872-1936), Violine
Jan Burian (1877-1942), Violoncello
Uraufführung der Triofassung: nicht dokumentiert, angeblich Prag, 30. Juni 1902
Erstausgabe:Urbánek, Praha, 1910

„Elegie pod dojmem Zeyerova Vyšehradu“ – „Elegie unter dem Eindruck von Zeyers Vyšehrad“ steht auf dem Titelblatt der erst 1999 wieder aufgelegten zweiten und letzten Triokomposition Josef Suks; und es stimmt einen elegisch, wenn man sich am Vorabend der Aufnahme Tschechiens in die Europäische Union eingestehen muß, daß man mit dem doch gar nicht so fremd klingenden Namen Julius Zeyer rein gar nichts anzufangen weiß, und auch die Namen der anderen Dichtergrößen der Dvoøák-Generation – Svatopluk Èech, Josef Václav Sládek etc. – nicht gerade ein Meer an Gedankenassoziationen auslösen. Die Suche nach deutschen Übersetzungen auch nur der Hauptwerke der tschechischen Literatur endet deprimieend oft ergebnislos. Die dreiunddreißig Bände, die bis 2007 im Rahmen der „Tschechischen Bibliothek“ erscheinen sollen, weisen nur die allerersten Etappen auf jenem langen Weg, dessen Beschreiten einem deutschsprachigen Publikum erstaunliche Entdeckungen verheißen könnte. Zeyers Dramen haben Dvoøák und Janáèek (Šarka) ebenso beschäftigt wie Fibich (Neklan). „Seinen“ Komponisten sollte der Dichter aber erst in Josef Suk finden.

Dvoøáks Lieblingsschüler und späterer Schwiegersohn wurde als Sohn eines Dorfschullehrers und musikbegeisterten Regens chori im mittleren Moldautal geboren. Im Alter von sechs Jahren bekam er ersten Violinunterricht, bald darauf traktierte er auch Klavier und Orgel. Mit acht Jahren begann er zu „komponieren“. 1885 wurde er Schüler des Prager Konservatoriums, wo er von Antonín Bennewitz (Geige), Josef Förster (Harmonielehre), Karel Stecker (Kontrapunkt) und Hanuš Wihan (Kammermusik) unterrichtet wurde. Mit seinem Studienkollegen Oskar Nedbal (1874-1930) verband ihn eine enge Freundschaft, die zum Ausgangspunkt einer kammermusikalischen Großtat werden sollte: 1891 fanden sich Karel Hoffmann (1872-1936), Josef Suk, Oskar Nedbal und Otto Berger (1873-1897) in einem Streichquartett zusammen, das seit seinem Konzert in Rychnov nad Knĕžnou am 13. November 1892 den Namen Èeské kvarteto führte und bald in ganz Europa bewundernd und liebevoll einfach „die Böhmen“ genannt wurde. Das Wiener Début des Quartetts (19. Jänner 1893) löste einen Begeisterungssturm aus und wurde zur zweiten Geburtsstunde dieses bemerkenswerten Ensembles, das in wechselnden Besetzungen bis zu Hoffmanns Tod bestehen sollte. (Josef Suk gehörte dem Quartett ununterbrochen bis 1933 an.)
Etwa zu der Zeit, als das Böhmische Streichquartett Gestalt anzunehmen begann, nahm Antonín Dvoøák seine Lehrtätigkeit am Prager Konservatorium auf. Karel Stecker stellte ihm in einem Schülerkonzert am 15. Jänner 1891 die begabtesten Studenten vor – unter ihnen auch Josef Suk, dessen Klaviertrio op. 2 an diesem Abend seine öffentliche Uraufführung erlebte. Suk gehörte dann – zusammen mit seinem Freund und Quartettkollegen Oskar Nedbal – zu den ersten Kompositionsschülern Dvoøáks. Im Sommer 1892, knapp vor Dvoøáks Abreise nach New York, war Suk wiederholt zu Gast im Landhaus des Meisters in Vysoká bei Pøibram. Hier lernte er Dvoøáks gerade vierzehnjährige Tochter Otilie („Otilko“) kennen, die ihn sofort bezauberte. Die Spuren dieser (vom Vater absichtsvoll „übersehenen“) aufkeimenden Liebe finden sich in allen Kompositionen, die Suk während der nächsten Jahre niederschrieb. Schon bald nach der ersten Begegnung mußte Josef Suk von Otilko Abschied nehmen: Zusammen mit ihrem kleinen Bruder Antonín begleitete sie die Eltern auf der Reise nach Amerika, während die vier übrigen Geschwister in der Obhut von Dvoøáks Schwägerin in Vysoká blieben. Suk und Nedbal gehörten zu den wenigen ausgewählten Freunden, die den vier Abreisenden in Prag am 15. September 1892 das Geleit gaben. – Ende Mai 1894 kam die Familie Dvoøák auf Sommerurlaub in die Heimat. Das Böhmische Streichquartett hatte in der Zwischenzeit eine ganze Reihe triumphaler Tourneen unternommen, die den Großteil von Suks Zeit in Anspruch genommen hatten. Trotzdem hatte er auch als Komponist Beachtliches geleistet: das Brahms gewidmete Klavierquintett (g-moll, op. 8) war im November 1893 mit großem Erfolg uraufgeführt worden, und er arbeitete gerade an seiner ersten großen Orchesterkomposition, Pohádka zimního veèera (Märchen einer Winternacht), einer „Ouverture nach Stimmungen aus Shakespeares Schauspiel A Winter´s Tale“. Als Dvoøák im Herbst wieder nach New York zurückkehrte, nahm er nur seine Frau und den kleinen Otakar mit, während Otilie mit den anderen Geschwistern in Prag zurückblieb. In einem der ersten Briefe, den sie ihren Eltern nachsendet, berichtete sie begeistert über ein Konzert des Böhmischen Quartetts. Bis zu Dvoøáks endgültiger Rückkehr aus Amerika Ende April 1895 hatten sich die Dinge so weit entwickelt, daß niemand mehr an einem glücklichen Ausgang der Romanze zweifeln konnte.
Zu Dvoøáks Freundeskreis zählte auch das bemerkenswerte Ehepaar Josef und Zdenka Hlávka, deren gastliches Haus einer der Brennpunkte des Prager Geisteslebens war. Der aus Ostböhmen stammende Josef Hlávka (1831-1908) hatte in Prag und Wien Bildhauerei und Architektur studiert und nach einigen Wanderjahren 1860 die renommierte Baufirma von František Šebek in Wien übernommen. In der Ringstraßenära war er zu einem der größten Bauunternehmer der österreichisch-ungarischen Monarchie aufgestiegen – allein in Wien hatte seine Firma zwischen 1860 und 1869 nicht weniger als 142 Objekte gebaut, darunter die Hofoper (Staatsoper). 1869, im Jahr der Eröffnung der Wiener Oper, war Hlávka schwer erkrankt; nach seiner teilweisen Wiederherstellung widmete er sich jetzt ganz dem sozialen und kulturellen Mäzenatentum. Die 1882 von ihm ins Leben gerufene Stiftung hat als einzige Institution dieser Art alle Fährnisse der tschechischen Geschichte überdauert und ist bis heute segensreich tätig. Hlávkas zweite Frau, Zdenka (geb. Havelková, 1843-1902), war eine große Bewunderin Dvoøáks und eine ausgezeichnete Pianistin. 1880 hatte sie in Chrudim zusammen mit Josef Klimeš die Violinsonate op. 57 uraufgeführt; bei Dvoøáks Besuchen im Prager Salon der Familie und auf Schloß Lužany, dem prächtigen Neorenaissancebau, den Hlávka in der Nähe seines Geburtsortes Pøeštice zwischen 1886 und 1888 für Zdenka errichten hatte lassen, spielte sie oft mit ihm vierhändig. Sie hatte aber ein ebenso offenes Ohr für die Dichtung, und einer ihrer Lieblingsdichter war Julius Zeyer (1841-1901), das unumstrittene Haupt der neuromantischen Bewegung in der tschechischen Literatur. Es ist also nicht verwunderlich, daß Zeyer ebenso wie der gleichaltrige Dvoøák und eine ganze Pleiade tschechischer Intellektueller dieser Generation – Jaroslav Vrchlický, Josef Václav Myslbek, Albin Braf, Josef Píè – gerngesehener Gast der Hlavkás war. Dvoøák hatte seine jungen Freunde vom Böhmischen Streichquartett bei den Hlavkás eingeführt, und bald hatte das Quartett dort Heimatrecht. Zdenka hatte nun die Idee, den jungen Suk auf ein neues Werk Zeyers aufmerksam zu machen: In Radúz a Mahulena hatte Zeyer die Welt des slovakischen Märchens auf eine sehr persönliche Art beschworen und verwandelt, und Zdenka verstand es, den Komponisten für dieses poetische Drama zu interessieren. Suk vereinbarte mit Zeyer 1897 zunächst nur die Komposition einer Bühnenmusik; die märchenhaft entrückte Erotik und vielschichtige Symbolik der dichterischen Vorlage inspirierte Suk aber zu einer weit über den Rahmen einer normalen Bühnenmusik hinausgehenden Vertonung, in der orchestrale Interludien, Solo- und Chorlieder neben ausgedehnten melodramatischen Abschnitten stehen. Das Ganze wurde eine höchst eigenwillige, dabei aber ganz ungekünstelte und zwingende Mischform zwischen szenischer Musik und durchkomponierter Märchenoper, die zu großen Teilen während Suks immer ausgedehnteren Aufenthalten in Vysoká Gestalt annahm, wo Otilko vom Garten aus dem Werden des Werkes zuhörte. Am 6. April 1898 fand im Prager Nationaltheater die Uraufführung von Radúz a Mahulena. Slovakisches Märchen in vier Aufzügen op. 13 statt; Dvoøák nannte das Werk „eine vom Himmel kommende Musik“ – und etwas mehr als ein halbes Jahr später, am 17. November 1898, am Tage der Feier von Dvoøáks silberner Hochzeit, durfte Suk seine geliebte Otilko vor den Altar der Neustädter Stephanskirche führen.
Julius Zeyer war so gewissermaßen der dichterische Genius von Suks Werben um Otilie geworden, und die Liebe zu der ihm von Zeyer eröffneten Bilderwelt verließ Suk auch in den nächsten Jahren nicht: 1899/1900 verdichtete er die Musik von Radúz a Mahulena zu der viersätzigen symphonischen Suite Ein Märchen op. 16, die bis heute eines der meistgespielten Werke Suks geblieben ist. Unmittelbar danach begann er mit der Arbeit an der Musik zu Zeyers jüngstem Werk, der dramatischen Legende Pod jabloní (Unter dem Apfelbaum). Doch noch während Suk versuchte, sich in diesen von christlicher Allegorik bestimmten Text einzuleben, starb der Dichter kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag. Eine Woch nach Zeyers Tod erlebte Ein Märchen seine Uraufführung; die Vollendung der Komposition von Pod jabloní wurde dann die Erfüllung eines Vermächtnisses. Aber schon ein halbes Jahr, bevor dieses Stück am Prager Nationaltheater seine Premiere hatte (28. Dezember 1902), schrieb Suk eine instrumentale Elegie auf den Tod des Dichterfreundes, die bei einer Gedenkfeier zu Ehren Zeyers im Sommerschloß der Königin Anna am 31. Mai 1902 uraufgeführt wurde (Wiederholung am 1. Juni 1902). Dem Stil der Zeit entsprechend, hatte man für diese Feierstunde ein Bühnenbild geschaffen, das den Rahmen für die Präsentation „lebender Bilder“ abgab. Suks Komposition für Violine- und Violoncello-Solo mit Begleitung von Streichquartett, Harmonium und Harfe „untermalte“ ein solches tableau vivant, in dem man Sagengestalten aus Zeyers Verszyklus Vyšehrad arrangiert hatte. Dieser 1880 erstmals erschienene und dem Lyriker Josef Václav Sládek (1845-1912) zugeeignete „Kreis epischer Gedichte“ evoziert in den fünf Bildern „Libuša“, „Der Grüne Sieger“, „Vlasta“, „Ctirad“ und „Lumír“ den tschechischen Nationalmythos. Die skizzenhafte Knappheit, die Suk für die musikalische Widerspiegelung dieses großformatigen Werkes – es umfaßt insgesamt 15 Gesänge – gewählt hat, ist auffällig: Es handelt sich um ein gerade 74 Takte langes dreiteiliges Stück mit einem geradezu aphoristischen Mittelteil, der in Reprise und Coda hinein nachbebt. Man darf annehmen, daß diese für den Zeitstil nicht eben typische Kürze mit der ganz spezifischen Situation des „lebenden Bildes“ und ihren dramaturgischen Grenzen zu tun hat. Die Qualität der Komposition erhebt sich jedenfalls weit über das Niveau des für solche musikalischen „Untermalungen“ Üblichen – und das ist wohl auch der Grund, der Suk dazu bewog, eine „praktikablere“, instrumental reduzierte Version des Stückes herzustellen, in der die Solostimmen des Originals getreu beibehalten wurden, während das Klavier die Rollen aller Begleitinstrumente übernimmt. Die erst 1991 gedruckte Urfassung ist übrigens nur in zwei unvollständigen Abschriften erhalten; nur von den Solostimmen liegt das Autograph vor. Ob und von wem die Triofassung, wie der Suk-Biograph Jiøi Berkovec eruiert zu haben glaubte, tatsächlich schon am 1. Juni 1902 uraufgeführt wurde, bleibt ungeklärt – das umfassende Suk-Werkverzeichnis von Zdenĕk Nouza, dessen Erscheinen für 2005 angekündigt ist, bestätigt diese Angabe jedenfalls nicht.

© by Claus-Christian Schuster

Smetana: Trio g-moll op.15

Bedrich Smetana

* 02. März 1824
† 12. Mai 1884

Trio g-moll op.15

Komponiert:Prag, September – 22. November 1855
Uraufführung:Erstfassung: Prag, Convict-Saal, 3. Dezember 1855
Bedrich Smetana, Klavier
Otto von Königslöw (1824-1898), Violine
Julius Goltermann (1823-1876), Violoncello
Endfassung: Göteborg, 12. Februar 1858
Bedrich Smetana, Klavier
Josef Èapek (1824-1915), Violine
August Meißner (1833-1903), Violoncello
Erstausgabe:Hugo Pohle (später: Schweers & Haake), Bremen, 1880

Am 6. September 1855 starb Smetanas ältestes Töchterchen Bedøiška ( „Fritzchen“) wenige Monate vor ihrem fünften Geburtstag an Scharlach. Was dieser Verlust für die jungen Eltern bedeutete, die schon im Jahr davor Bedøiškas kleinere Schwester begraben hatten müssen, klingt in den (deutsch geschriebenen) Erinnerungen der Mutter nach:

„Nach verschiedenen Hindernissen kam auch endlich Friedrichs Concert zu Stand und fand am 26ten Februar [1855] um 5 Uhr Nachmittag statt. Dies war Friedrichs erstes selbstständiges Concert in Prag! […] Als wir nach 4 Uhr nach dem Convict-Saal fuhren, wo das Concert abgehalten werden sollte, war mir recht bange ums Herz, aber Friedrichs Ruhe und Fritzchens Heiterkeit machten auch mich heiter.
Fritzchens erstes und letztes Concert war das ihres Vaters! Wie still und freundlich war Fritzchen während der ganze[n] Dauer des Concertes! (und das war der einzige Fehler des Concertes, daß es zu lang dauerte!) Als der Vater heraus kam, um die Symphonie zu dirigieren, stand sie auf, um ihn zu sehen, und blieb lange so stehen und hörte aufmerksam zu. Als es ihr zu lange dauerte, setzte sie sich wieder nieder und erwartete geduldig das Ende der Symphonie, als aber dieses kam, sagte sie zu mir: „Nun komme nach Hause, Mama!“ Ich erklärte ihr, nun erst werde Vater allein spielen, und dies genügte, ihr Interesse wieder zu wecken und wach zu erhalten. Sie störte nicht durch ein einziges laut gesprochenes Wort, sondern fragte, wenn sie etwas wissen wollte, immer leise und bescheiden; dabey blieb sie immer freundlich. Wenn ich später daran zurück dachte, wie sich dies kleine, 4 Jahre alte Kind da benommen hatte – konnte ich es kaum begreifen, wie sie so vernünftig und gut sein konnte! Damals fiel es mir zwar auch auf, aber ich bewunderte es nicht so – als später, wo mir durch andere Kinder das Ungewöhnliche, ja oft Außerordentliche in Fritzchens Charakter klar gemacht wurde!…“

Neben den erwähnten Werken Smetanas – der 1853 zur Vermählung Kaiser Franz Josephs geschriebenen viesätzigen „Triumphsymphonie“ und einer Reihe von Klavierstücken – umfaßte „Fritzchens erstes und letztes Concert“ auch eine Aufführung von Beethovens Klaviertrio op. 1 Nr. 2 (G-Dur); und vielleicht hat dieses Werk das kleine Mädchen besonders interessiert, denn neben Smetanas bewährten Kampfgenossen, dem Geiger Antonín Bennewitz (1833-1926) und dem Cellisten Julius Goltermann (1823-1876), trat hier Smetanas begabteste Schülerin, die elfjährige Augusta Koláøova, eine Cousine von Smetanas Frau, als Pianistin auf, der später unter dem Namen Auguste Auspitz-Kolar (1843-1878) eine brillante Karriere beschieden war. Aus den Erinnerungen des Komponisten und seiner Frau wissen wir jedenfalls, daß die kleine Bedøiška immer mit besonderer Andacht den Proben lauschte, die ihr Vater mit Otto von Königslöw für die Kammermusiksoireen an seiner Musikschule abhielt, und es war sicher in schmerzlicher Erinnerung an diese ungetrübten Stunden, daß er seiner toten Tochter nun ein Klaviertrio aufs Grab legte. Am 22. November 1855 beendete Smetana die unmittelbar nach dem Tode seiner Tochter begonnene Partitur; und schon am 3. Dezember, etwas mehr als neun Monate nach jenem „ersten und letzten Concert“, erklang an der selben Stelle, an der Bedøiška ihrem Vater so aufmerksam zugehört hatte, die Totenklage, die sie unsterblich machen sollte.

Smetana hatte als Rahmen für die Uraufführung des bedeutendsten seiner bisherigen Werke, dem er die Opuszahl 9 zugedacht hatte, die Quartettsoiréen seines deutschen Freundes Otto von Königslöw, gewählt, in deren Rahmen er in den Wochen davor und danach auch mit zwei Beethovenschen Werken (op. 70 Nr. 2 und op. 97) auftrat. (Die in der Sekundärliteratur wiederholt vorkommende Behauptung, der Geiger der Uraufführung sei Antonín Bennewitz gewesen, läßt sich zwar weder durch den Programmzettel noch durch die Rezensionen der Aufführung eindeutig widerlegen; obwohl in keiner dieser Quellen ausdrücklich betont wird, Königslöw habe den Violinpart des Trios gespielt, läßt sich aber kein Grund finden, warum der Primgeiger diese Aufgabe an seinen Juniorpartner im Quartett abgetreten haben sollte. In Smetanas Brief an Ludevít Procházka vom 26. September 1877 werden Königslöw und Goltermann dann ausdrücklich als Interpreten der Uraufführung erwähnt.)

Daß das neue Werk die Zuhörer mitgerissen habe, können auch die Kritiker nicht leugnen – aber wie wenig ihnen diese Zustimmung und das Werk selbst behagt, tritt hinter manchen diplomatischen Wendungen und Windungen recht unverhohlen zutage. Es lohnt sich, einen Blick auf die Gründe für diese Smetana tief verletzende Ablehnung zu werfen.

In den Jahren von Smetanas Kindheit hatte sich in Prag ein Kreis junger Musikenthusiasten zusammengefunden, die sich jenen „revolutionären“ Idealen verschworen hatten, die Robert Schumann in der 1834 gegründeten Neuen Zeitschrift für Musik so begeisternd vertrat. Einige Jahre hindurch bildeten die Prager Musikfreunde sogar die zahlenmäßig stärkste Abonnentengruppe von Schumanns kampflustiger Zeitschrift. Dieser „Prager Davidsbund“ umfaßte eine Reihe brillant begabter Melomanen, von denen nur wenige die Musik zu ihrem Lebensberuf erkoren, während die meisten der geliebten Kunst als Kritiker dienen zu können meinten. Geistiger Mentor des Kreises war ein Vertreter der Generation von Schumanns Lieblingsdichter Jean Paul, der Professor der Ästhetik Anton Müller (1762-1843), der seit 1826 in Prag lehrte. Schumanns eigene Generation war mit dem Juristen und später als Komponist erfolgreichen Johann Friedrich Kittl (1806-1868) und dem Pianisten Franz Ulm (1810-1881) vertreten. Kittl wirkte von 1843 bis zu den Revolutionswirren, die ihn in die Verbannung trieben, auch als Direktor des Prager Konservatoriums und war nebenbei ein Parteigänger von Liszt und Berlioz und Duzfreund von Wagner – so wenig war damals noch die „Neudeutsche“ von der „Mendelssohn-Schumannschen“ Schule geschieden. Ulm, der sich als Duopartner von Henriette Sontag und Adrien François Servais einen Namen gemacht hatte, schrieb unter dem Namen „Barnabas“ vielgelesene Rezensionen. In August Wilhelm Ambros (1816-1876), der sich in seinen Kritiken „Flamin, der letzte Davidsbündler“ nannte, hatte die Bewegung ihren vielbewunderten Polyhistor – der erfolgreiche Staatsanwalt war auch als Professor der Musikgeschichte tätig. In seinem Schatten und ganz unter seinem Einfluß unternahm schließlich auch der Prager Iusstudent Eduard Hanslick (1825-1904) mit dem Davidsbündlernamen „Renatus“ seine ersten kritischen Gehversuche, in denen ihm wiederum der noch jüngere Karl Tobisch (1828-1889) unerschrocken nachfolgte. Der Kreis umfaßte noch eine ganze Reihe weiterer schreibfreudiger Musikliebhaber, wie etwa den Finanzbeamten und Amateurkomponisten Josef Heller, der sich in doppelter Anspielung auf seinen bürgerlichen Beruf und Namen als Kritiker „Obolus“ nannte, oder den Pianisten I. E. Hock, der schlicht als „Benjamin“ firmierte. Schumanns kritischer Impetus fand so in Prag ein spezifisch abgewandeltes und abgeschwächtes Echo – denn so unterschiedlich auch die Charaktere dieser Prager Davidsbündler waren, so waren sie sich doch in der Ablehnung von „Bizarrerien“ nicht weniger einig als im Kampf gegen das „Philistertum“. Diese „ausgewogene“ Betrachtungsweise (bei der man unwillkürlich an Schönbergs Bonmot vom Mittelweg, der als einziger nicht nach Rom führt, denken muß) prägt alle drei überlieferten Kritiken, die in den Tagen nach der Uraufführung von Smetanas G-moll-Trio erschienen. Die Präsenz Schumanns im selben Programm (die möglicherweise auf die dramaturgische Konzeption Smetanas zurückzuführen ist) bietet den drei Rezensenten reiche Gelegenheit zu kritischen Vergleichen, welche die Lektüre dieser Dokumente noch lehrreicher machen.

Am Tag nach der Uraufführung berichtete Franz Ulm in der Zeitschrift „Bohemia“:

„Den Anfang machte […] eine heimische Novität, Smetana´s Trio in G-moll für Piano, Violin und Cello. Wir hatten schon oft Gelegenheit, auf Smetana nicht nur als ausübenden, sondern auch als tüchtigen productiven Künstler hinzuweisen. Je größer das moderne, weil zunächst poetische und mehr nebenbei musicalische Talent eines jungen Componisten, desto größere Gefahren drohen der wesentlichen Ruhe des Schaffens, wenn er sich von den aufregenden Eindrücken der gegenwärtlichen Muse influenziren läßt. Die Unruhe des jetzigen künstlerischen Wirkens mit seinen großartigen Intentionen, denen die gleichseitige Ursprünglichkeit reiner musicalischer Begabung nur selten gewachsen, stört natürlich den gleichmäßigen Proceß des Werdens; seine Hast läßt des Verstandes Genügen dem nun einmal nöthigen formalen Bedürfniß der Tonkunst kaum zu. Wir glaubten diese Bemerkungen vorausschicken zu müssen, denn offen gesagt, Smetana´s Trio schien nicht zu befriedigen, weil der Inhalt ein ganz und gar eigenthümlicher und demzufolge die Architektonik des Ganzen eine befremdliche. Der rhapsodische Charakter der einzelnen Sätze, das Verhältnis derselben zu einander scheinen beim ersten Anhören zufällig und daher den Forderungen nach harmonischer Uibereinstimmung zu wenig Rechnung tragend. Es ist unmöglich, das Werk en detail zu besprechen; dem ersten Satze mangelt es allerdings an Klarheit der Gliederung; im zweiten würde die Beziehung der beiden Altermotive [sic] wohl beim zweiten Anhören Jedem klar werden; im letzten prägt sich der Inhalt in deutlicher Uibersichtlichkeit offen aus. Selbst auf die Gefahr hin, mit meiner Meinung isolirt dazustehen, notire ich das Werk als ein äußerst anregendes. Smetana bringt Erlebtes, künstlerisch vielleicht nicht harmonisch Vollendetes, aber individuell Reproducirtes. Das ist viel, das hat, ich glaube es, Zukunft, und nun möge man den Referenten einen Idioten oder Phantasten schelten; er glaubt seine Pflicht erfüllt zu haben, wenn er den äußern Erfolg eines neuen Werkes nicht verschwieg, dabei aber seine subjective Meinung, sie einigermaßen begründend, offen heraus sagt.“

Am selben Tag druckte „Der Tagesbote aus Böhmen“ die Rezension des 27jährigen Karl Tobisch:

In der 4. Quartettsoirée […] ward Schumann der König des Abends. Sein Quintett für Clavier und Streichquartett (Es, Op. 44) steht obenan unter dem Schönsten, das der originelle Romantiker geschaffen, und muß einer sinnig klaren Stunde sein Dasein danken, wie die nur zu oft verdüsterte oder excentrisch durchgährte Kunstindividualität des unglücklichen Tondichters sich deren selten erfreute. Die Themen des ersten Satzes sind wohlthuend concis und mit herrlicher Ruhe disponirt und vermittelt, der düstere Todtenmarsch des 2te Satzes von hochpoetischer, geisterhaft schöner Stimmung und Behandlung, wogegen das Scherzo durch seine meisterlich glatte Form und die brausende Kraft der in allen Instrumenten vereinigten rollenden Figuren mächtig anregt, und das Finalallegro durch das kunstvolle und doch durchsichtig Klare seines Baues und durch die prachtvolle Schlußfuge unsere Bewunderung aufs Höchste steigert. Zeigte uns dieses Werk den Meister in seiner schönsten, geklärtesten Schöpferkraft, so begegneten wir ihm auch in der ersten Nummer des Abends, einem Manuscript-Trio von Herrn Smetana, das entschieden in Schumann´schen Formen befangen ist. So weit der Epigone in eines – zumal so prägnant eigenthümlichen – Meisters Art einzudringen vermag, ist Herr Smetana mit Glück gekommen. So ist er mitunter wirklich der musikalische Jean Paul, ein ruheloser Tourist im Kreise der Tonarten, der launisch hier seine Motive bunt über- und durcheinander streut, und dort ein einziges mit unerschöflichem Kram von Ausschmückungen, Imitationen und Variationen überhäuft, dem seine besten Melodien erst gefallen, wenn er ihnen wenigstens ein Glied ausgerenkt oder einen bizarren Appendix angehängt hat. Unter diesen aus vielen Kammer- und Orchesterkompositionen Schumann´s allerdings herauszuschöpfenden Eindrücken hat Herr Smetana sein Trio, oder vielmehr seine dreitheilige Rhapsodie in G-moll geschrieben; denn besonders dem ersten Satze ist, trotz seinem rhythmisch interessanten Motiv in B, später in G, das pikant instrumental vertheilt erscheint, aber ohne alles System den Satz über auf- und wieder untertaucht, keine Physiognomie abzugewinnen. Das Andante [sic] ist gemessener in der Form, aber der Componist, der dabei an die unnachahmlichen Träumereien Schumann´scher Adagios gedacht haben mag, erschöpft seine Motive in gar zu breiter, nüchterner Weise. Der dritte Prestosatz hat ein sehr glücklich erfundenes Thema, voll und breitgliedrig bei aller Rapidität und meist in zerlegten Accorden sehr wirksam behandelt; aber der Satz verläuft einfach in eine Partie Variationen. Die Aufnahme ds Werkes war ein succes d´estime.“

Am 6. Dezember erschien die ausführlichste Kritik im gewichtigsten Prager Presseorgan, der „Prager Zeitung“ – ihr Autor, der als einziger mit vollem Namen firmierte, war August Wilhelm Ambros:

„Den Anfang machte ein neues Trio in G-moll (Manuskript) von Herrn Friedrich Smetana, der dabei auch (wie sich nach seiner Mitwirkung in den frühern Soiréen von selbst versteht) den sehr schwierigen Pianopart mit gewohnter eminenter Tüchtigkeit spielte. Herr Smetana ist schon mit mehreren Komposizionen hervorgetreten, im verflossenen Jahre unter Andern mit einem großen Orchesterstück; außerdem liegen verschiedene Sachen für Pianoforte gedruckt vor: „Stammbuchblätter“, „Polka de Salon“ u. s. w. Gleich die Stammbuchblätter zeigten den jungen Komponisten als rückhaltlosen Bewunderer Schumann´s, auch wenn es nicht anderweitig bekannt wäre, daß er diesen Meister vor Allen liebt. Die drei Salonpolkas schlagen eine ähnliche Richtung ein. Ich habe es mir oft mit Schadenfreude vorgestellt, wie irgend eine Voß oder Döhler spielende Honoraziorentochter auf dem Lande sich von den rothen Vogelbeeren des Titels: „Salon-Polkas“ anlocken und das Stück kommen ließ, und als sie es aufschlug und spielen wollte, stand sie vor dem Notendickicht wie vor einem südamerikanischen stachligen Agavenzaun, durch den nicht einmal ein Jaguar durchkommen kann, geschweige denn eine Honoraziorentochter – ja, es dünkt ihr maliziöse Ironie, daß der Komponist über dieses fürchterliche Fis-dur und das Gemenge von Sext- und Quart-Doppelgriffen einen Fingersatz geschrieben hat, der ihr ungefähr soviel nützte, wie einem, der im Gassenlabyrinth Venedigs den rechten Weg erfragen will, das stereotype sempre dritto der Venezianer. Wir sahen an allen diesen Stücken, daß wir es mit einem geistreichen Sonderling zu thun haben. Je aufrichtiger ich Herrn Smetana´s Talent und seine rückhaltlose und begeisterte Hingebung an die Kunst schätzen gelernt habe, um so zurückhaltender und besonnener muß ich mit meinem Urtheil über sein neues Trio sein. Ich bin mit meinem gewohnten Maßstabe, mit den Begriffen, die ich mir von ähnlichen Werken abstrahirt habe, herangetreten und habe damit nirgends ausgereicht. Es ist nun gewiß nichts voreiliger und anmaßlicher als das Urtheil: „Diese Musik ist schlecht, denn ich verstehe sie nicht.“ Da das Trio nach dem letzten Stücke lebhaft applaudirt wurde und ich eben ersehe, daß der Herr Beurtheiler in einem hiesigen Blatte es mit aller Wärme lobt, so will ich gerne glauben, daß die Schuld nur an mir lag, wenn es auf mich einen mich durchaus verwirrenden Eindruck gemacht hat. – Es ist merkwürdig genug, daß an demselben Abend Schumann´s Quintett mit Pianoforte in Es-dur aufgeführt wurde – dieses reife Meisterstück, das sich zu den Sturm- und Drangkomposizionen aus Schumann´s erster Periode verhält, wie die Rede des Mannes zu den unklaren Expektorazionen eines enthusiastischen Jünglings. Wirklich müssen diese Davidsbündlertänze, dieser Karneval über vier Noten, selbst die Fis-moll-Sonate zunächst als Opposizion einerseits gegen die zur Zeit ihres Erscheinens herrschende geist- und poesielose Klingelei und Frivolität der Herz-Czerny´schen Manier und andererseits gegen den verstockt pedantischen Konservatismus der allgemeinen Leipziger Musikzeitung begriffen werden – so wie auch die von Schumann redigirte neue Zeitschrift für Musik in oft höchst phantastischen Aufsätzen dagegen Opposizion machte. Als Schumann reifer ward, wurde er besonnener. Er begriff, daß der Geist nicht erst nöthig hat, Purzelbäume zu machen, um sich als Geist zu legitimiren, daß die Schönheit dadurch nicht schöner wird, wenn sie grimassirt, daß es keine gute Taktik ist, sich um der Originalität willen auf den Kopf zu stellen, weil unsere Alten einfach und natürlich auf den Füßen gestanden haben. Der überschäumende Ton seiner Zeitschrift mäßigte und klärte sich, die Masken seines „Florestan und Eusebius“ redeten seltener und verstummten endlich ganz, und in seinen Komposizionen trat der reelle Kern guter Musik, der hinter den absichtlichen Sonderbarkeiten seiner Erstlingsperiode endlich denn doch unverkennbar lag, in maßvoller Schönheit, in gerundeter Form und in gesunder Ausdrucksweise zu Tage. So in diesem Quintett, das den schönsten Hervorbringungen der Kammermusik beizuzählen ist. Und steht es etwa darum an Poesie, an Geist, an Schwung, an Phantasiereichthum zurück, weil es in festgefügten überschaulichen Formen verläuft, weil sich Schumann darin nicht auf Tiefsinnigkeiten einläßt, wo man vor lauter Tiefe auf keinen Grund mehr kömmt? Ich dächte nicht! Dieser gespenstige Trauermarsch z. B. mit der so dumpf und schauerlich herausklagenden Viola ist bei aller Einfachheit so phantastisch wie möglich, die herkömmliche Dämonen- und Geistermusik ist dagegen Theaterspuk; es könnten einem diese Weisen wohl in einem ängstlichen Traume wieder in der Seele nachklingen. Dieses Scherzo sprüht vor Feuer und Leben, ohne dem Rhythmus Arme und Beine entzweizuschlagen. Und so weiter. Wir Leute aus der alten Schule haben nun einmal den Aberglauben, daß zu jeder Kunst, folglich auch zur Musik Schulung und Zucht eben so gehört wie Geist, Phantasie und poetischer Sinn. Ohne diese kriecht die Musik kläglich und manieristisch in abgenützte Ausdrucksformen zurück, ohne jene taumelt sie, mit dem Banner des „Fortschrittes“ in der Hand einem vollkommenen Chaos entgegen. Schumann hat sich glücklicherweise noch zurechtgefunden. – Möge Göthe´s Mephisto mit seinem Denkspruch vom Moste und vom Wein immer so recht behalten!“

In dem oben zitierten Brief Smetanas an Ludevít Procházka erinnert sich der Komponist noch zweiundzwanzig Jahre später der bitteren Erfahrung dieser kritischen Ernte, die seinem Schmerzenskinde beschieden war:

„Der Erfolg – ein Mißerfolg. Dier Kritik verhielt sich durchwegs ablehnend. Ulm verteidigte die Komposition, ohne sie zu loben, Ambros und Tobisch setzten sie herunter. – Ein Jahr später spielten wir das Trio bei mir Liszt vor, der mich umarmte und meine Frau zu dem Werke beglückwünschte!“

Liszt, mit dem der junge Komponist seit seinem oftzitierten Bittbrief vom März 1848 in freundschaftlichen Beziehungen stand, hatte bei seinem Pragaufenthalt im September 1856, während dessen er fast täglich mit Smetana zusammentraf, für das Trio allerdings nicht nur Lob, sondern auch eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen. (Die Nachgeborenen mögen es ruhig bedauern, daß Smetana als Ratgeber nicht einen in Fragen der Kammermusik erfahreneren Ratgeber als Liszt zur Seite hatte…) Jedenfalls hat Smetana, als er am 11. Oktober 1856, wenige Tage nach Liszts Besuch, seine kränkelnde Frau mit Žofie, der letzten überlebenden ihrer vier Töchter, in Prag zurücklassend auf die Reise nach Göteborg macht, auch das Manuskript des Trios mit den von Liszt gemachten Anmerkungen im Gepäck, und noch vor seiner ersten Rückkehr nach Prag (24. Mai 1857) hat er eine Neufassung des Werkes erarbeitet, die er in der darauffolgenden Göteborger Saison – diesmal haben ihn Frau und Tochter begleitet – zusammen mit seinem Landsmann Josef Èapek und dem Deutschen August Meißner ein erstes Mal aufführt. In dieser neuen Gestalt wird das Werk dann auch anläßlich von Smetanas nächstem Besuch bei Liszt in Weimar erklingen (Juni 1859) – dem alten Schmerz wird bis dahin eine frische und noch tiefere Wunde hinzugefügt worden sein: der Tod seiner geliebten Frau Kateøina im Alter von nur 32 Jahren (Dresden, 19. April 1859).

Erst ein Vierteljahrhundert nach der Niederschrift des Trios findet sich, nicht zuletzt dank der Vermittlung Ludevít Pricházkas, ein Verleger: am 31. August 1880 liefert der Bremer Verleger Hugo Pohle (nachmals Schweers & Haake) die ersten Exemplare des noch einmal überarbeiteten und nun die definitive Opusnummer 15 tragenden Werkes aus; zu diesem Zeitpunkt hat sich der schwerkranke und völlig ertaubte Smetana schon lange auf seinen Landsitz Jabkenice zurückgezogen, von wo er wenige Wochen vor seinem Tode in die Landesirrenanstalt nach Prag gebracht werden wird.

Smetanas Landsmann Karl Kraus wird lakonisch befinden: „Smetana wurde gefoltert, bis er in Wahnsinn starb. Sein Verbrechen? Der Fortschritt. Smetanas Leben war ein langsamer Hungertod. Als er es nicht hören konnte, sicher nicht mehr hören konnte, nannte man ihn den Mozart unserer Zeit. Wie das wohltut, wenn man schon zwischen jenen anderen Brettern liegt, die nicht mehr die Welt bedeuten!“

Ob man nun im Zusammenhang mit der Musik überhaupt von „Fortschritt“ sprechen mag oder nicht – von der unerhörten, wilden Klage der Sologeige am Beginn des Trios bis zu dem nur mehr kurz überschatteten Auferstehungshymnus des Finales atmet alles an diesem Trio eine solche Tiefe der Empfindung, eine so schonungslose Offenheit, eine alle beschwichtigenden Konventionen weit hinter sich lassende Folgerichtigkeit, daß man den klugen Kunstrichtern gerne und kampflos das Feld überläßt. Freilich fordert das Werk mit seinen vielschichtigen motivischen Bezügen, die weit schwieriger zu enträtseln sind, als Franz Ulm mit seiner scharfsinnigen Bemerkung über die „Altermotive“ des Mittelsatzes suggerieren möchte, zu einer „Analyse“ heraus; jenseits der für jeden hörbaren idée fixe, des alle Sätze einigenden, archetypischen chromatischen Quintfalls (der im Mittelpunkt des Stückes im nackten Einklang aller drei Instrumente bestürzend in Erscheinung tritt), fördert ein solcher Versuch wohl in erster Linie Bauschutt zutage, der für das Verständnis der Architektur durchaus entbehrlich ist. Daß gerade diese zunächst so große Rätsel aufgab, ist für den heutigen Hörer nur schwer nachvollziehbar. Schon der eröffnende Sonatensatz (Moderato assai) hat geradezu bildhauerisch klare Konturen, und auch das fünfteilige Scherzo (Allegro, ma non agitato) mit den beiden Alternativi (Trios) Andante (F-Dur) und Maestoso (Es-Dur), das von den sprechenden und bildhaften Zügen des verlorenen Kindes geprägt ist, enthält keine Schwierigkeit für das formale Verständnis. Formal am eigenwilligsten ist wohl das Finale (Presto), und das hat seine guten Gründe. Smetana greift hier nämlich das Hauptthema des Schlußsatzes seiner unter dem unmittelbaren Eindruck des Prager Konzertes von Hector Berlioz (31. März 1846) entstandenen G-moll-Sonate für Klavier solo auf, seines ersten großformatigen Werkes, das sich der idée fixe bedient; man hat in diesem Thema Anklänge an das „Cymbalon“-Seitenthema im Finalsatz von Schuberts Es-Dur-Trio (op. 100, D 929) finden wollen, und die Verwandtschaft beider Themen ist gar nicht zu leugnen. (Daß Schuberts Trio, das damals noch weit davon entfernt war, ein „Standardwerk“ der Kammermusikliteratur zu sein, zu Smetanas Repertoire gehörte, ist jedenfalls zweifelsfrei belegt.) Das Finale der Klaviersonate, dem das Hauptthema entnommen ist, war ein breit ausgeführtes Rondo; an dieser Stelle des Trios hätte eine analoge Gestaltung den dramaturgischen Intentionen des Komponisten widersprochen, dessen Blick sich von der Leiche des geliebten Kindes löst und sich einer ihn in Begeisterung entrückenden Vision zuwendet, über die nur mehr von ferne ein zaghafter und zweifelnder irdischer Schatten fällt. Smetana hat für die Metamorphose des Rondos eine ebenso schlichte wie zwingende Lösung gefunden: er reduziert die Rondoform auf die einfachste bithematische Gestalt (ABABABA), modifiziert aber Gewicht und Ausdehnung der einzelnen Abschnitte (unter anderem mithilfe agogischer Gestaltungsmittel) in so ingeniöser Weise, daß der Höreindruck einer durchführungslosen Sonatenform (ABAB) mit abschließendem Trauermarsch (Grave, Quasi Marcia, A) entsteht, dem als Krönung die Auferstehungsvision (Tempo I, B) und eine ganz knappe, schattenhafte Coda (A) angefügt sind. Schubert und in seiner Nachfolge Schumann haben solche individuellen Mischformen aus Sonatensatz und Rondo immer wieder in ihren Schlußsätzen angewendet, und wenn Smetana auf das Programm der Uraufführung wirklich Einfluß genommen hat, ist die Wahl der Werke (auch jenseits des offensichtlichen Berührungspunktes mit dem Schumannschen Trauermarsch) ein klares Bekenntnis zu seinen musikalischen Wurzeln. Smetana zu einem Epigonen Schumanns zu erklären, wie das die Kritiker der Uraufführung mit verboser Altklugheit getan haben, läßt aber auf einen Hördefekt schließen, gegen den die Taubheit Smetanas ein nur geringes Gebrechen war.

© by Claus-Christian Schuster