Widmer: A ultima flor op.60 (1968)

Ernst Widmer

* 25. April 1927
† 03. Jänner 1990

A ultima flor op.60 (1968)

Komponiert:Salvador de Bahía, 1968
Uraufführung:Salvador de Bahía, 1969
Pierre Klose, Klavier
Moyse Mandel, Violine
Piero Bastianelli, Violoncello
Fernando Cerqueira, Rezitation
Erstausgabe:Manuskript

Ernst Widmer wurde am 25. April 1927 in Aarau geboren. Schon während seiner Schulzeit begann er zu komponieren; seine Musikstudien beendete er am Züricher Konservatorium, wo Willy Burkhard (Komposition), Walter Frey (Klavier) und Paul Müller-Zürich (Dirigieren) seine Lehrer waren. Nach seiner Heirat mit einer in Brasilien geborenen Sängerin wanderte er 1956 nach Salvador de Bahia aus. Dort entfaltete er bald eine umfangreiche und vielseitige Tätigkeit als Lehrer und Organisator. 1966 gründete er den „Grupo de Bahía“, in dem sich eine Handvoll in Bahía lebender Komponisten zusammenschloß, deren Schaffen in den folgenden Jahren dem Musikleben Lateinamerikas entscheidende Impulse geben sollte. Widmer hatte ein offenes Ohr für die Musik seiner Umgebung, die er auf originelle Weise in sein kompositorisches Idiom zu integrieren verstand. In seinen letzten Lebensjahren war er wieder öfter in seiner alten Heimat zu Besuch, wo sein Schaffen, vor allem dank des Wirkens der Schweizer Pianistin Emmy Henz-Dièmand, auf stetig zunehmendes Interesse stieß. Bei einem dieser Besuche starb er am 3. Jänner 1990 in seiner Geburtsstadt Aarau.

Widmers Oeuvre umfaßt knapp 200 Werke nahezu aller Gattungen. „A ultima flor“ op. 60 für Klaviertrio, Sprechstimme und Ballett wurde 1968 komponiert und im Folgejahr in Bahia uraufgeführt. Der Text des amerikanischen Satirikers James Thurber (1894-1961), der als Kolumnist und Zeichner des „New Yorker“ internationale Bekanntheit erlangte, wurde unter dem Titel „The Last Flower“ 1939 veröffentlicht. Es handelt sich um ein vom Autor selbst illustriertes Kinderbuch, in dem die Zerstörung der Kultur durch den Krieg, ihre Wiedergeburt aus der Kraft der Liebe und die darauffolgende neuerliche Selbstzerstörung der Menschheit in einfachen und naiven Bildern beschworen wird. Dieser Text war für Widmers musikalische Phantasie wie geschaffen: Die anspruchslose Schlichtheit der Vorlage gestattete ihm eine unspekulative, fast improvisatorisch wirkende musikalische Inszenierung, in der er sozusagen zwanglos doch auch alle Register seiner kompositorischen Kunst ziehen konnte. Widmer gliedert das Geschehen in sieben musikalische Bilder, die von der Erzählung des Sprechers begleitet und verbunden werden:

– die verwüstete Welt
– das neue Leben
– das Erwachen der Liebe (Pas de deux)
– die Wiederkehr des Liedes (Kanon)
– die Rückkehr der Soldaten (Marsch und Trio)
– die Koexistenz (Choral & Marsch)
– der Krieg


Der zyklischen Logik dieses Geschehens entsprechend läßt Widmer seine Musik in radikaler Gestaltlosigkeit beginnen und enden: Im eröffnenden und beschließenden Abschnitt gibt es so gut wie keine harmonischen, melodischen oder rhythmischen „Vokabel“, sondern nur ostinate und chaotische Klangereignisse. Parallel zum Bericht des Erzählers entfalten sich nach und nach kleinste musikalische Keimzellen, verbinden sich zu immer komplexeren Strukturen, bis im zentralen Kanon ein ideales spielerisches Gleichgewicht erreicht scheint. Doch schon im Verlauf des Kanons machen sich Tendenzen zur Simplifikation und Verrohung des Materials bemerkbar, der Marsch der Soldaten tritt seinen Siegeszug an. Die Krise tritt in dem Augenblick ein, in dem sich der Zwingli-Choral „Herr, nun selb den Wagen halt“ dem immer frenetischer werdenden Marsch entgegenstellt; der Moment dieser Überlagerung ist durch kompromißlose Birhythmik und Bitonalität gekennzeichnet. Immer mächtigere Klangmassen geraten in Bewegung, aus der verbissenen Koexistenz wird offener Krieg. Die Musik kehrt zu ihrem amorphen Ausgangspunkt zurück, aber bei den Schlußworten, in denen vom einzigen überlebenden Menschenpaar und der letzten Blume die Rede ist, erscheint, im Tremoli der Streicher und in großflächigen Klavierclustern, noch einmal das Motiv des keimenden Lebens – schattenhaft, fern und fahl.

Das Werk, das der Komponist zu seinen wichtigsten zählte und an dessen Revision er noch kurz vor seinem Tod arbeitete, blieb in allen Jahren seit den beiden Uraufführungen (konzertant und szenisch) des Jahres 1969 unbeachtet und erlebte erst 1996 in einer Produktion des Jugendmusikfestes Deutschlandsberg im Rahmen des steirischen herbstes seine Wiederentdeckung.

© by Claus-Christian Schuster