Reger: Sonate [Nr.4] (a moll) für Violoncello und Klavier. Op. 116.

Max Reger

* 19. März 1873
† 11. Mai 1916

Sonate [Nr.4] (a moll) für Violoncello und Klavier. Op. 116.

Komponiert:Oberaudorf, August – Anfang September 1910
Widmung:Julius Klengel (1859-1933)
Uraufführung:Hamburg, 18. Jänner 1911
Jakob Sakom (1877-?), Violoncello
James Kwast (1852-1927), Klavier
Erstausgabe:Peters, Leipzig, 1911

Die am 23. September 1910 in Leipzig beendete vierte und letzte Cellosonate Max Regers ist heute nur recht selten zu hören. Doch in den Jahren nach ihrer Entstehung galt sie geradezu als ein emblematisches Werk der musikalischen Avantgarde. So gehörte sie etwa in Arnold Schönbergs Wiener „Verein für musikalische Privataufführungen“ (1918-1921) zu den meistgespielten Stücken. Das Interesse der Interpreten für das anspruchsvolle und kühne Werk war so groß, daß Julius Klengel, dem es gewidmet ist, die Uraufführung einem Konkurrenten überlassen mußte: Am 18. Jänner 1911 hoben Jakob Sakom (Violoncello) und James Kwast (Klavier) die Sonate in Hamburg aus der Taufe. Die spätere Vernachlässigung des Werkes (und von Regers Schaffen im allgemeinen) hat wohl mit der Entwicklung eines noch „radikaleren“ neuen musikalischen Idioms zu tun, vor dem die Sprache Regers plötzlich als „spätromantisch“ erscheinen konnte. Während also die Verfechter der Moderne sich dem jeweils Neuesten zuwandten, zog die Mehrzahl der „konservativen“ Hörer und Interpreten ihre imaginäre Demarkationslinie bei Johannes Brahms und ließ Max Reger neben diesem „Schmied“ höchstens noch als „Schmiedl“ gelten. Während man in diesem Lager die frei assoziative Harmonik des Meisters als willkürlich und gesucht kritisierte, stieß man sich in jenem an den als stereotyp empfundenen Regerschen Formschemata. Vielleicht ist jetzt, nach dem Ende dieses kontroversenreichen Jahrhunderts, doch endlich die Zeit gekommen, dieses beeindruckende Werk unbeeinflußt von ästhetischen und ideologischen Grabenkämpfen neu zu entdecken und zu würdigen.

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Pfitzner: Sonate für Pianoforte und Violoncell, fis-moll, op.1

Hans Pfitzner

* 05. Mai 1869
† 22. Mai 1949

Sonate für Pianoforte und Violoncell, fis-moll, op.1

Komponiert:Frankfurt am Main, 1890
Widmung:Heinrich Kiefer (1867-1922)
Uraufführung:Frankfurt/Main, Saal der Loge Carl, 21. Jänner 1891
Heinrich Kiefer, Violoncello
Hans Pfitzner, Klavier

Pfitzners Studien am Frankfurter „Hoch´schen Conservatorium“, wo er von 1886 bis 1890 einen Freiplatz hatte, endeten ganz ohne Glanz und Gloria:

„Der administrative Direktor der Anstalt, der aus dem selben Holz wie Scholz geschnitzt war, ließ mich eines Tages zu sich kommen und sprach in der Oberlehrerweis´ also zu mir: „Herr Pfitzner, Ihre Freistelle ist in dem kommenden Monat abgelaufen; haben Sie schon einmal darüber nachgedacht?“ Nein, darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. Ich pflegte über andere Dinge nachzudenken. Aber ich wollte fort.
Und ich ging auch.“

Obwohl Pfitzner – wie auch dieser Passus aus den zwischen 1946 und 1949 niedergeschriebenen „Eindrücken und Bildern meines Lebens“ erkennen läßt – die Studienzeit unter dem tyrannischen und erzkonservativen Direktor Bernhard Scholz (dessen eigene Sturm- und Drangzeit an der Seite von Schumann und Brahms wohl schon allzu weit zurück lag) zeitlebens in denkbar schlechter Erinnerung behielt, waren diese Jahre für ihn doch in vieler Hinsicht sehr fruchtbar. Die damals noch sehr junge Anstalt (gegründet 1878) hatte ambitionierte und unverbrauchte Lehrer: Pfitzners Kompositionslehrer, Iwan Knorr (1853-1916), den Brahms seinem Freund Scholz empfohlen hatte, in Pfitzners Worten „ein Anhänger der »Mäßigkeitsschule«“, ließ den ebenso jungen wie ungestümen und aufrührerischen Komponisten mit amüsierter Gelassenheit gewähren – was für eine Persönlichkeit wie die Pfitzners wohl das beste war, was ihm widerfahren konnte. Im Hause seines Klavierlehrers James Kwast (1852-1927), der mit der schauspielerisch begabten Tochter Ferdinand Hillers verheiratet war, erhielt er vielfältige Anregungen; daß die bei Pfitzners Studienbeginn eben siebenjährige Tochter des Hauses 1899 seine Frau werden sollte, konnten damals freilich weder Schüler noch Lehrer ahnen.
Doch weit wichtiger als die Lehrer waren die Freunde. Schon 1878, beim Eintritt in die Sexta der Frankfurter Klingerschule, hatte er seinen „Urfreund“ gefunden: Paul Nikolaus Cossmann (1869-1942), Sohn des berühmten Cellisten Bernhard Cossmann (1822-1910), der unter den frühen Interpreten des Schumannschen Cellokonzertes wohl der wichtigste und kompetenteste gewesen war und den die Gründung des „Hoch´schen Conservatoriums“ nach Frankfurt geführt hatte, wo er als gesuchter Lehrer bald einer der Hauptanziehungspunkte dieser Anstalt wurde. Die beiden schienen füreinander vorherbestimmt: Beide waren in Moskau geboren, wo schon ihre Väter einander kennengelernt hatten (Bernhard Cossmann als Lehrer am Konservatorium, Karl Robert Pfitzner, der in seiner Jugend der sechste Schüler des von Mendelssohn gegründeten Leipziger Konservatoriums gewesen war, als Geiger des Opernorchesters). Die Intensität dieser Freundschaft, die ihren Niederschlag in einem faszinierend inhaltsreichen und nahezu unüberschaubaren Briefwechsel findet, hebt sie über alle anderen vergleichbaren Beziehungen Pfitzners hinaus. Dann war da der Klarinettist Carl Dienstbach, in dessen malerisch im Taunus gelegenen Heimatstädtchen Usingen die Pfitzner-Freunde mit Carls fünf Geschwistern viele vergnügte Stunden verbrachten. Und eines Tages tauchte am Hoch´schen Conservatorium ein neuer Zögling auf, der sofort die Aufmerksamkeit des Komponisten erweckte: „Groß, schlank, blond, mit viel zu engen schwarzen Hosen, und einem Schlapphut mit Riesenrand, nach allen Seiten höflich grüßend“ betrat Heinrich Kiefer die Bühne von Pfitzners Leben.

„Wir zwei schlossen sehr bald Freundschaft; wann und bei welchem Anlaß die erste Annäherung stattfand, weiß ich nicht mehr. Wir mußten wohl gegenseitig von unserer Begabung und unserem Streben mehr gehalten haben als zum Beispiel unser Direktor Bernhard Scholz, der eine unüberwindliche Abneigung gegen alles Talentvolle hatte. So waren wir beide an dieser Stelle nicht sehr gut angeschrieben und dadurch Sympathiegefährten; als Freischüler außerdem zur Bescheidenheit angehalten.“
(Hans Pfitzner, Zum Gedächtnis Heinrich Kiefers, 1926)

Das Schicksal hatte da zwei ungleiche Freunde zusammengeführt – schon rein äußerlich war ein größerer Gegensatz zu dem schmächtigen, fast kindlich wirkenden Pfitzner mit seinen 1,64 m kaum denkbar:

Ein blondlockiger Künstler, ein echter Bayer von herkulischer Kraft, der während seines ausdauernden, stundenlangen Übens eher das Essen als das Trinken vergaß. Wie oft habe ich ihn schon am frühen Vormittag, nur notdürftig bekleidet mit Hemd und Hose, im Schweiße seines Angesichts beim Studium überrascht, umgeben von seinen Bierflaschen und eingehüllt in schneidenden, atemberaubenden Tabakdunst.
(Hermann Hock, Ein Leben mit der Geige, Frankfurt/Main, 1950)

„Der Neue“ wurde der brillanteste Schüler Bernhard Cossmanns. Seine manuelle Virtuosität und sein fast zwanghafter Übungsfleiß waren bald sprichwörtlich, und so scheint es nur natürlich, daß die erste Frucht dieser Künstlerfreundschaft ein ausgesucht schwieriges Cellokonzert (a-moll, 1888) war, das Pfitzner für Heinrich Kiefer schrieb:

„Das Werk, von meinem Lehrer Iwan Knorr für ein Prüfungskonzert empfohlen, erregte die Begeisterung Kiefers und das wohlwollende Interesse seines Meisters, des berühmten Cellisten und Nestors der Konservatoriumsprofessoren Bernhard Cossmann. Kiefer machte sich die schwierige Cellopartie erstaunlich schnell zu eigen. Das Konzert mußte die Zensur der Ohren des Herrn Direktors passieren. Mit vollendeter Virtuosität wurde es in Gegenwart Professor Cossmanns, unter meiner Begleitung, dem Gewaltigen vorgeführt. Schon dieser Vortrag hätte verdient, daß das Werk auf dem Prüfungskonzert erklungen wäre; es wäre ein Höhepunkt der Vorführungen gewesen, und den jungen, strebenden Künstlern ein Ansporn und eine Wonne. Statt dessen war ein Wutausbruch Scholzens die Wirkung. Da, wie ich fürchte, einige übermäßige Drwiklänge darin vorkamen, fand er es „verwagnert“(die schlimmste Ketzerei für ihn); aber am meisten erregte seinen Zorn die skandalöse Tatsache der Anwendung von drei Posaunen. „Drei Posaunen in einem Cellokonzert!!“ Mit diesem Entrüstungsruf verließ er, fernabdonnernd, das Lokal. Das Konzert, als Schülerkomposition eine starke Talentprobe, wurde nie aufgeführt; zwei junge Menschen waren um eine Bitternis reicher[,] und eine Ungerechtigkeit mehr war in der Welt.“
(ibidem)

Nun mögen, wie Peter Cahn in seiner detailreichen Geschichte des „Hoch´schen Conservatoriums“ (Frankfurt/Main 1978) nahelegt, durchaus auch andere Gründe für die brüske Reaktion des gestrengen Direktors in Betracht kommen – Pfitzner und Kiefer hatten mit dem Geiger Heinrich Diehl erst kurz zuvor das Klaviertrio op.26 von Bernhard Scholz aufgeführt; war das etwa nur eine plumpe captatio benevolentiae gewesen? -, jedenfalls konnte und wollte Pfitzner nicht zulassen, daß diese Niederlage den Endpunkt seiner Zusammenarbeit mit Kiefer bilden sollte. Und so finden wir ihn 1890, zur selben Zeit, als sein „Freischüler“-Dasein endet, an der Komposition eines neuen Werkes für den Freund: der „Sonate für Pianoforte und Violoncell“, die sein Opus 1 werden sollte.

Der Zufall wollte es, daß in Wiesbaden, also in Pfitzners unmittelbarer Nachbarschaft, der um vier Jahre jüngere Max Reger gerade zur selben Zeit auch an seinem programmatischen Opus 1 arbeitete, einer „Sonate für Pianoforte und Violine“ in d-moll. (Reger war zu dieser Zeit Schüler Hugo Riemanns, bei dem auch Pfitzner später kurze Zeit Unterricht nahm.) Die fundamental unterschiedliche Produktionsweise der beiden jugendlichen Meister läßt sich schon am Werkkatalog ablesen: Reger, der sich gewissermaßen „vegetativ“ in seine Werke hineinschrieb, ließ dieser ersten Violinsonate schon einige Monate später eine zweite folgen – insgesamt brachte er es in seinen dreiundvierzig Lebensjahren auf neun Violin- und vier Cellosonaten (und ein Gesamtwerk von 146 Opusnummern); Pfitzner, dem sich jedes Werk als innere Schau gestaltet haben mußte, bevor er es zu Papier bringen konnte, hat (wenn man die unvollendeten und verlorenen Studienarbeiten beiseite läßt) in einem achtzigjährigen Leben nur je eine Violin- und Cellosonate geschrieben. (Zu den 57 Opusnummern des Pfitznerschen Werkes muß man freilich die ohne Opuszahl erschienenen großen musikdramatischen Werke hinzuzählen, die in Regers Œuvre ganz fehlen.)

Als Motto stellte Pfitzner seinem Werk den Heine-Vers „Das Lied soll schauern und beben“ voran – sicherlich eine Reverenz an den Dichter und seinen Komponisten (Schumann, Dichterliebe, op.48 Nr.5), viel mehr aber noch eine Chiffre für Pfitzners musikalische Poetik. Die Tonart des Werkes ist übrigens nicht die des Schumannschen Liedes – aber daß das gewählte Fis-moll doch auch ein Schumann-Echo sei, darf man ruhig annehmen: Es ist die Tonart von Schumanns, Clara Wieck gewidmeter, erster Klaviersonate (op.11).
Ein derartig mit programmatischen Anklängen befrachtetes Debutwerk wäre eigentlich prädestiniert dafür, im Epigonalen befangen zu bleiben, oder zumindest von der Entwicklung des Komponisten alsbald überholt zu werden: Beides ist durchaus nicht der Fall. Noch viele Jahre nach der Entstehung der Sonate wählte Pfitzner ihr Incipit als musikalisches Motto seines von Willy Preetorius gezeichneten Exlibris; und wie seine Konzertprogramme belegen, ist er seinem Jugendwerk auch als Interpret treu geblieben

Die beiden Aufführungen, deren kritische Resonanz hier zusammengetragen ist, sind wichtige, aber nicht im praktischen Sinne entscheidende Stationen auf Pfitzners lamgem und beschwerlichem Weg zu seinem Publikum. Die Frankfurter Uraufführung, die das Freundspaar Pfitzner-Kiefer bestritt (21. Jänner 1891) war ein Versuch des sang- und klanglos vom Konservatorium abgegangenen Studenten, sich in seiner Vaterstadt einen Namen zu machen. Die Wahl des Saales – der Saal der Loge Carl wurde immer wieder für Veranstaltungen des Hoch´schen Conservatoriums benützt – zeigt, daß es Pfitzner auch darum ging, sich vor dem Institut, das ihn verkannt hatte, zu behaupten.

Rezensionen der Uraufführung
(Frankfurt/Main, 21. Jänner 1890)

Bei Gelegenheit unserer Besprechung der letzten Prüfungs-Concerte des Dr.Hoch´schen Conservatoriums machten wir schon auf das hervortretende Talent des Herrn Pfitzner aufmerksam. Herr Pfitzner hat seit Kurzem Zwang und Fessel der Schule abgeschüttelt und ist zum ersten Mal vor das Forum der großen Öffentlichkeit getreten. Der kleine nervöse, etwas hastige Musiker ist ganz ungewöhnlich, besonders für die Composition, begabt. Sowohl die Cello-Klaviersonate wie die zwei Sätze des Streichquartettslegten hinreichend Zeugniß für ausgesprochene Befähigung ab. Aber Herr Pfitzner muß noch viel Notenpapier beschreiben, bis sich sein Talent gesetzt, gefestigt und geklärt haben wird. In der musikalischen Ausdrucksweise fehlt ihm noch das Zielbewußte in der Form, noch die Harmonie und nötige Knappheit, im Charakter die Selbständigkeit und das Einheitliche. Dafür bietet der junge Componist schon jetzt originelle Gedanken und Einfälle bei beträchtlicher technisch-compositorischer Beherrschung. In seinem musikalischen Innern summt, schwirrt und saust es kräftig, das ist die Hauptsache. Bei einiger Ruhe und Concentration kann man Herrn Pfitzner eine schöne ntwicklung seines Talents in Aussicht stellen. Als Interpret seiner eigenen Stücke zeigte sich der Concertgeber auch als feinfühlender, sattelfester Pianist. – Herr Heinrich Kiefer, der Herrn Pfitzner bei der Cellosonate bestens unterstützte, dokumentierte […] bedeutende Anlage zur Virtuosität. […] Die Betheiligung seitens des Publikums war sehr lebhaft, der Beifall nach allen Vorträgen überaus herzlich.
(-h im Generalanzeiger vom 23. Jänner 1891))

Hans Pfitzner, der als Zögling des Dr. Hoch´schen Conservatoriums bei Gelegenheit der Schlußprüfungen durch seine Compositionsbegabung und sein Klavierspiel sich rühmend hervorthat, hat sich jetzt auf eigene Füße gestellt und ist gestern zum ersten Male vor eine größerer Öffentlichkeit getreten. In einer Cello-Klaviersonate und zwei Sätzen zu einem Streichquartett dokumentirte Herr Pfitzner wieder entschiedenes nicht gewöhnliches Talent für musikalische Produktion. Bei der großen Jugend des Concertgebers ist es natürlich, daß es jetzt in seiner Strurm- und Drangperiode noch tüchtig gärt. Nach dieser Periode wird gewiß die nöthige Klärung und Verfeinerung nicht ausbleiben[,] und eine sich jetzt schon bemerkbar machende Individualität wird sich sicher noch mehr befestigen. In der Cellosonate, die eigentlich mehr den Charakter einer Klaviersonate trägt, machen der erste und dritte Satz durch originelle Erfindung und geschickte Arbeit einen recht günstigen Eindruck, der zweite und besonders aber der vierte Satz verwischen dieser wieder durch Zerfahrenheit, Unklarheit, die durch aller Art gesuchter Modulationen hervorgerufen werden. – Erwies sich der Concertgeber bei seinen Stücken wieder als technisch entwickelter, sehr musikalischer Pianist, so behauptete sich Herr Heinrich Kiefer wieder als gediegener und virtuoser Cellosoieler. […] Das zahlreich erschienene Publikum nahm alle Leistungen mit lebhaftem Beifall auf.
(R. P. in der Kleinen Presse vom 23. Jänner 1891)

…Das rege Interesse, welches an hiesigem Orte dem talentvollen aufstrebenden Mitbürger entgegen gebracht wird, bekundete sich augenscheinlich in dem außerordentlich starken Besuch des Concertes. […] Das Schlußstück des Concerts, die Sonate in Fis-moll für Klavier und Violoncello […] war die pièce de résistance. Ernstes Streben nach hohen Idealen tritt in jedem Satz des Werkes, in welchem nirgends Allzugewöhnliches oder gar Triviales, dafür aber manches Eigenartige und Stimmungsvolle emporsprießt, deutlich zu Tage. Gleichwohl können wir die Sonate als Ganzes kein wohlgelungenes Kunstwerk nennen. Alle Sätze, mit Ausnahme des Scherzo, das ein ebenso frisches, als in seiner Knappheit wohlabgerundetes Tonstück ist, leiden darunter, daß die rege Phantasie ihres Autors nicht von ausgereifter Kraft des Gestaltens unterstützt wird. Die bezeichneten Sätze sind nicht wie aus einem Guß; die Fäden, welche das Gewebe zusammenhalten, sind zu lose angezogen, die Modulationen sind oft zu weitschweifig und regellos, die Themen sind zum Teil nicht mit der nötigen Klarheit zur Anschauung gebracht. Das Finale, welchem es ohnehin an der charakteristischen Lebhaftigkeit und Leichtigkeit gebricht, leidet unter den angeführten Mängeln am meisten. Alle Sätze fanden lebhaften Beifall, doch den meisten fand mit vollem Recht das Scherzo.
(A. G. im Frankfurter Journal vom 23.(?) Jänner 1891)

… Nicht ganz einheitlich wollte uns die Cello-Sonate erscheinen. Der erste Satz gefällt sich in einer düsteren Stimmung, die nicht immer anmuthen will, auch die Abweichung von der hergebrachten Form, ohne durch etwas Besseres Ersatz zu bieten, möchten wir nicht gutheißen. Hingegen ist der hübsch melodische, langsame Satz und das charakteristische Scherzo von guter Wirkung; in dem letzten Satz verdient die gewandte Arbeit volle Anerkennung.
(Anonymus im Intelligenzblatt vom Jänner 1891)

Bald nach dieser Uraufführung beginnt Pfitzner die Arbeit an seiner ersten Oper, Der arme Heinrich, die ihn über zwei Jahre beschäftigt. Iwan Knorr, der von der Cellosonate sehr angetan ist, vermittelt die Drucklegung des Werkes – selbstverständlich gibt es für den Komponisten weder Honorar noch Tantiemen. Bei einem Hauskonzert, wo Pfitzner mit Kiefer wieder einmal die Sonate spielt, hört ihn der Direktor des Koblenzer Konservatoriums, Konrad Heubner, der ihn sofort als Klavier- und Theorielehrer an sein Institut einlädt. Die Stelle ist nicht attraktiv, aber Pfitzner nimmt sie an – teils, um Ruhe für die Arbeit an seiner Oper zu haben, teils, um dem Elternhaus zu entkommen. Auch in Koblenz (1892/93) präsentiert er seine Cellosonate (mit Ludwig Ebert). Seine Freunde, die besorgt sind, seine Laufbahn werde in provinzieller Enge versanden, planen ein Husarenstück: Für ein Konzert in der Berliner Singakademie (4. Mai 1893) mieten sie die Berliner Philharmoniker. Pfitzner, der noch nie dirigiert hat, bringt sich selbst rasch vor dem Spiegel das Nötigste bei und besteht die Feuertaufe hervorragend. Im kammermusikalischen Teil des Abends spielt Kiefer zusammen mit dem aus Rußland stammenden Ern(e)st Jedliczka (1855-1904), der bald zu den eifrigsten Propagandisten Pfitzners gehören sollte, das Opus 1.

Rezensionen der Berliner Erstaufführung
(Singakademie, 4. Mai 1893)

Die Saison ist zu Ende. Wir sind mit dem Abschluß zufrieden, denn in letzter Stunde hat sich noch ein großes, produktives Talent vorgestellt, auf dessen weitere Entwicklung wir gespannt sein dürfen. […] Das Publikum erkannte mit wunderbarem Instinkt die Bedeutung des Gebotenen[,] und immer lauter wurde der Beifall; selbst die letzten beiden Sätze der Fis-moll-Sonate für Klavier und Cello, ein Opus 1, für das wir nicht unbedingt eintreten wollen, kühlte die Temperatur nicht merklich ab. […] [Pfitzner] darf von dem gestrigen Abende den Beginn einer neuen Aera datiren, nach den trüben Jahren des Ringens und Kämpfens, nach dem Hangen und Bangen in schwebender Pein beginnen – so wünschen und hoffen wir – nunmehr für ihn die sonnigen Tage!
(Wilhelm Tappert im Kleinen Journal vom 5. Mai 1893)

Herr Hans Pfitzner, ein junger Componist aus Frankfurt a. M., erschien gestern mit einer größeren Anzahl eigener Compositionen zum ersten Mal vor dem hiesigen Publikum. Der begabte Künstler läßt ernstes Streben, große Selbständigkeit der Erfindung und eine gediegene musikalische Ausbildung erkennen, befindet sich jedoch zur Zeit noch in seiner Sturm- und Drangperiode […]. Die Vorliebe für Molltonarten zeigte sich auch in der Sonate für Klavier und Cello, deren besondere Schönheiten sich in dem Andante und im Scherzosatz befinden und die von Herrn Dr. Jedliczka und Herrn Kiefer (aus Erfurt) ganz vortrefflich vorgetragen wurde.
(Anonymus im Reichs-Anzeiger vom 5. Mai 1893)

…Voraussichtlich wird der Componistenname Pfitzner in Zukunft nun öfter ein Concertprogramm schmücken. Wenn die andern Kinder seines Geistes den gestrigen ebenbürtig sind, werden er und sie stets willkommen sein.
(O. E[ichberg] im Börsen Courier vom 5. Mai 1893)

Ein junger Mann, Herr Hans Pfitzner, von dem bis dahin kein Mensch etwas gehört, kam plötzlich aus Frankfurt am Main und enthüllte uns in einer ganzen Reihe verschiedenartiger Tondichtungen ein reiches schönes Talent. So etwas ist lange nicht dagewesen. […] Die neudeutsche musikalische Richtung freilich, die im Begrübeln des Düsteren und im Reflektiren auch in der Musik wie in andern Kunstgattungen sich bemerklich macht, ist auf Herrn Pfitzner nicht ohne Einfluß geblieben. Symmetrie in der Form, logisch entwickelte Melodik werden immer mehr hintenangestellt[,] und es wäre sehr zu bedauern, wenn das reiche Talent dieses Komponisten auf solchem Wege beharrte, der am letzten Ende zur Zerflossenheit und zum wirren Durcheinander führen muß. […] Eine Sonate für Cello und Klavier (Fis-moll) trägt die Opuszahl 1. Das mag als mildernder Umsatnd gelten. Die originellen und hübschen Themen sowie die vortreffliche Ausführung durch die Herren Jedliczka und Kiefer waren hier nicht im Stande, bei der phantasieartigen Durcharbeitung ein Bild der Zerfahrenheit zu verhüllen.
(-n in den Neuesten Nachrichten vom 5. Mai 1893)

Als Sohn unserer Zeit hat sich Herr Pfitzner natürlich der modernen Richtung seiner Kunst angeschlossen. In der Sonate un den Liedern folgt er Schumann, Wagner in den übrigen beiden Kompositionen. Mit seiner vollen Jugendlichkeit, mit seinem Träumen, Schmachten, Schwärmen und Überschäumen hat er uns für sich eingenommen. Sein rein musikalisches Talent zeigt sich am stärksten in der Sonate, die zwar mehr Stimmungen als interessante Gedankenarbeit, aber doch viel Eigenart der Erfindung enthält. […] Der erste Satz der Sonate hält sich einigermaßen noch an die Form der Klassiker; eine engere Fühlung mit diesen würde der weiteren Entwicklung des Komponisten sicherlich zum Vortheil gereichen. […] Den meisten Beifall fand das phantastisch-heitere, sehr reizvolle Scherzo […].
(-n in der Vossischen Zeitung vom 5. Mai 1893)

Ein junger Componist, Hans Pfitzner aus Frankfurt a. M. , gab am Donnerstag […] ein Concert, dessen Programm ausschließlich aus eigenen Compositionen bestand. Wir lernten in ihm einen sehr talentvollen Musiker kennen, der etwas tüchtiges gelernt hat und versteht […]. Schade, daß dieses ausgesprochene reiche Talent sich bereits einer Richtung unterworfen hat, die wir entschieden verdammen. Die Ausläufe der sogenannten neudeutschen Schule, in welchen man sich immer mehr von der Form und Melodie, von dem rhythmisch und symmetrisch geordneten Wesen der Musik emancipirt, führen schließlich zur Verwirrung und Auflösung. Besonders zeigte die von den Herren Jedliczka (Klavier) und H. Kiefer (Cello) vortrefflich ausgeführte Fis-moll-Sonate, Op.1, ein überaus zerfahrenes und ergrübeltes Phantasiegebilde, das, wenn es nicht einige hübsche und originelle Themen enthielte, imstande wäre, einen zur Verzweiflung zu bringen. Der zweite Satz verlief in einen geheimnisvollen, ganz hübschen Schluß, der uns aber nicht über die tödliche Langeweile des ganzen hinweg zu setzen vermochte.
(Anonymus in der Staatsbürger-Zeitung vom x. Mai 1893)

Hans Pfitzner, ein junger Komponist ais Frankfurt am Main, machte uns am 4. in der Singakademie mit einer Anzahl seiner Werke bekannt, die von bemerkenswerther Begabung Zeugniß ablegten. […] Eine Sonate für Klavier und Cello op.1, von den Herren Dr. Jedliczka und Heinrich Kiefer aus Erfurt abgerundet gespielt, ist gut gearbeitet, leidet jedoch durch Längen, am meisten sprach der dritte in Tarantellenform gehaltene Satz an.
(Ferdinand Gumbert in der Täglichen Rundschau vom 6. Mai 1893)

…Der Konzertgeber bekundete ein starkes Talent, von dem man, entwickelt er sich stetig weiter, noch einmal etwas Namhaftes wird erwarten dürfen. Er besitzt Sinn für musikalische Gestaltung und dramatisches Leben. Daß er sich an Wagner anlehnt, ist ja natürlich, aber er ist doch auch bestrebt, individuell zu bleiben.
(Anonymus in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 6. Mai 1893)

Ein junger Komponist, Herr Hans Pfitzner aus Frankfurt a. M., führte am Donnerstag, den 4. Mai, in der Singakademie eine Anzahl seiner Werke auf. An der Hauptsache fehlt es ihm nicht. Das Göttergeschenk der Phantasie ist ihm zu Theil geworden. Nur bewegt er sich auf zu beschränktem Gebiet. Ein schmachtendes und schwärmerisches Verlangen beherrscht als Grundstimmung sein bisheriges Schaffen. Wenn die Blüthe seines Talentes sich ganz erschließen soll, wird er sich aus dem engen Kreis hinauswagen, weitere Umschau in der Welt der Töne halten und Neues auf sich wirken lassen müssen. Denn gerade sein Talent scheint zu denen zu gehören, die Gefahr laufen, sich in sich selbst zu verzehren. In der Sonate für Klavier und Cello in Fis-moll, op.1, tritt das Charakterbild des Komponisten sofort in Erscheinung. Von einem grüblerischen Halbtonmotiv ausgehend entwickelt sich der erste Satz folgerichtig, ohne daß indeß dem Hörer das „Sehr bewegt“ der Überschrift fühlbar wird. Ein Fehler so vieler neuer Komponisten, welche glauben, der Taktstrich genüge zur Fixirung des Tempos. Obgleich das Adagio infolge dessen an der Wirkung des Kontrastes verlieren mußte, machte es doch im Ganzen den größten Eindruck, weil sich hier der Komponist auf seinem eigensten Gebiet einer breiten Stimmungsmalerei selbständig bewegt.. Das Scherzo ist ein nebelschwüler Augenblick, ein hastiges Treten auf derselben Stelle. Im Finale macht sich nicht vorherrschend, aber gelegentlich aufmunternd polyphone Behandlung der Stimmen geltend. […] Die Sonate wurde von den Herren Dr. Jedliczka und H. Kiefer mit liebevollem Verständniß vorgetragen.
(L[udwig] B[ußler] in der National-Zeitung vom 6. Mai 1893)

… Zweifellos haben wir es hier mit einer vielverheißenden Kraft zu thun, die sich weit hinaus über den Rahmen des Alltäglichen erhebt. Wohl haftet seinen, den verschiedensten Gebieten angehörenden Werken noch etwas Unfertiges an. Der Einfluß Wagner´s hat auch auf ihn mit despotischer Gewalt gewirkt. […] Die Herren Max [sic] Kiefer aus Erfurt und Dr. Jedliczka trugen eine Cello-Sonate vor, deren dritter Satz mit seiner prickelnden, humorvollen Form am besten gefiel, wenngleich sich auch hier noch Schlacken zeigen. […] Zweifellos wird Hans Pfitzner noch von sich reden machen; seine Arbeiten zeugen von ernster Auffassung, redlichem Streben und, was die Hauptsache, von hervorragender Begabung.
(-s- in der Berliner Zeitung vom 6. Mai 1893)

… Von vorn herein sei betont, daß Herr Pfitzner, trotz seiner Jugend, das Technische […] meisterhaft beherrscht. Seine musikalische Befähigung hat freilich einstweilen wenig Ursprüngliches aufzuweisen; die Gabe der Assimilirung besitzt er dagegen im hohen Maße: Schumann, Brahms und Wagner sind ihm derartig in Fleisch und Blut übergegangen, daß man oft sie selbst zu hören vermeint. Herr Pfitzner ist mit reicher Phantasie begabt, jedoch leiden seine Gedanken an einer gewissen Kurzathmigkeit – man vermißt den gesunden, kräftigen Zug, was bei der Jugen des Componisten doppelt verwunderlich ist. […] Eines wohlverdienten Beifalls [erfreute sich] eine Sonate, Fis-moll, für Clavier und Cello, ein Werk von edler Erfindung und knapper Form, die ihren durchschlagenden Erfolg nicht am wenigsten der meisterhaften Wiedergabe durch die Herren Dr. Ernst Jedliczka und Heinrich Kiefer verdankt.
(H. in der Börsen-Zeitung vom 6. Mai 1893)

… Seine Begabung für die musikalische Komposition ist unverkennbar eine hochbedeutende, wie er ferner mit einer Sonate für Klavier und Violoncell bewies, deren kurzes, schnelles Scherzo ein wahres Kabinettstückchen genannt zu werden verdient…
(tz in der Volkszeitung vom 6. Mai 1893)

In ihrer Gesamtheit machten diese Kompositionen – um die Hauptsache gleich vorweg zu nehmen – einen recht vorteilhaften Eindruck. Man gewinnt die Überzeugung, daß sie einem hochbegabten, ideenreichen Kopfe entsprungen sind. […] Sein für Klangmischungen offenbar besonders stark entwickelter Sinn zeigt sich auch in der Cellosonate Op.1, die in dieser Hinsicht viele überraschende Wendungen bringt, wogegen die Bedeutsamkeit ihres thematischen Gehaltes ziemlich zurücktritt.
(E. L. in der Deutschen Warte vom 6. Mai 1893)

… Endlich enthielt das Programm noch eine Probe von dem Talent des jungen Komponisten für Kammermusik, eine Sonate für Klavier und Cello, fis-moll, op.1 […]. Vor allem müssen wir der wirkungsvollen Behandlung des Cello neben dem Pianoforte unsere besondere Anerkennung zollen. Freilich war die Handhabung dieses Instrumentes seitens des Spielers auch eine besonders vorzügliche und ihm gegenüber die des Pianisten bezüglich des seinen eine sehr diskrete. Jeder einzelne der vier Sätze gewann sich sowohl durch die Beschaffenheit der Gedanken wie durch ihre tonsetzerische Verarbeitung ein berechtigtes, lebendiges Interesse. Wir können somit dem jungen Komponisten aufgrund seiner Darbietungen nur ein herzliches, ermutigendes „Perge“ zurufen.
(G. W. im Reichsboten vom 7. Mai 1893)

Der gestrige, voraussichtlich letzte größere Concertabend vor der Sommerruhe, war kein verlorener. Ein noch sehr jugendlicher, bisher hier gänzlich unbekannter Componist, Herr Hans Pfitzner aus Frankfurt a. M., veranstaltete in der Singakademie […] eine Aufführung eigener Compositionen, die von dem hervorragenden Talente des Concertgebers sicheres Zeugniß gaben. Auf dem Programm standen das Vorspiel zum ersten und zum dritten Act des Ibsen´schen Dramas „Das Fest auf Solhaug“ und ein Scherzo für Orchester, sowie ein Klaviertrio [sic] in Fis-moll (als op.1 bezeichnet), als Proben reiner Instrumentalmusik; ferner „Dietrich´s Erzählung“ aus einem Musikdrama „Der arme Heinrich“ und die Ballade „Herr Oluf“ aus dem Bereich der dramatischen Musik. Schon aus dieser Auswahl kann man mancherlei ersehen. Zunächst, daß Herr Pfitzner sich bereits auf den verschiedensten Gebieten der Composition versucht hat, dann auch, daß er das Ernst, Bedeutsame, fantastisch Tragische bevorzugt. In der That scheint ihm der Humor nicht gleichermaßen zur Verfügung zu stehen, denn das Finale des Trios [sic], das nach der Satzüberschrift „mit Humor“ gespielt werden soll, war wohl die wenigst gelungene Composition des ganzen Abends. […] In der Cellosonate ist ein meisterhaft gelungener Wurf: das Scherzo. Gegenüber seinem eben besprochenen Artgenossen [dem Scherzo aus „Herr Oluf“] hat es eigentlich den übrigens viel leichter zu ertragenden Fehler zu großer Kürze; aber der in ihm tollende Spuk ist so eigenartig, daß die Wirkung des Satzs außerordentlich ist. Neben ihm muß mit besondern Ehren der erste Satz genannt werden; der zweite (Adagio) schien dem Unterzeichneten zu gedehnt für seinen einfachen Inhalt[,] und vom letzten ist oben schon gesprochen. Dieser letzte Satz war der einzige, der ein tieferes Interesse nicht zu erregen vermochte. Das Cello ist in der Sonate sehr schön behandelt, das Klavier weniger gut, – wahrscheinlich ist der Componist selbst mehr Partiturenspieler, als Pianist.
(Anonymus im Börsen-Courier vom 9. Mai 1893)

Pfitzners Freund und Librettist James Grun hatte die Courage, dem damals im Berliner „Kaiserhof“ residierenden Anton Rubinstein die Noten der Sonate mit der dringenden Bitte um ein Urteil aufzudrängen. Ernst Jedliczka, der als Landsmann und ehemaliger Schüler Nikolaj Rubinsteins auch mit Anton in freundschaftlichem Verkehr stand, wußte später zu berichten, Rubinstein habe die Sonate selbst aufführen wollen, sei aber durch seinen schon schlechten Gesundheitszustand dazu nicht mehr in der Lage gewesen. Rubinstein beendete das Gespräch über die Sonate mit dem Bibelwort „Jetzt kann ich ruhig sterben, denn ich weiß, daß der zukünftige Meister da ist.“

Weit weniger Glück hatte Pfitzner mit einem Komponisten, der an der Last so großer Worte lange genug getragen hatte. In den „Eindrücken und Bildern meines Lebens“ erinnert er sich:
Meine Cello-Sonate op.1 hatte ich im Manuskript an Brahms gesandt – er hat sie nie angesehen, und ich war froh, daß ich meine Noten – auf Reklamation von [James] Kwast – überhaupt zurückerhielt.

© by Claus-Christian Schuster

Hindemith: Sonate [Nr.2] für Violoncello und Klavier, E-Dur (1948)

Paul Hindemith

* 16. November 1895
† 28. Dezember 1963

Sonate [Nr.2] für Violoncello und Klavier, E-Dur (1948)

Komponiert:New Haven, CT, , Februar – 8. März 1948
Erstausgabe:Schott, Mainz, 1948

Neben „seiner“ Bratsche lag Hindemith das Cello ganz besonders am Herzen: nicht zufällig ist sein erstes großformatiges Werk ein Konzert für Violoncello und Orchester (op.3, komponiert 1916), dem er später (1925 und 1940) noch zwei Werke der selben Gattung folgen ließ. Hindemiths erste veröffentlichte Komposition waren Drei Stücke für Violoncello und Klavier (op.8, 1917). Das Violoncello war das Instrument des Bruders und Quartettkollegen Rudolf ebenso wie von Hindemiths Frau Gertrude. Für sie schrieb der Komponist neben den großen repräsentativen Cellowerken zwischendurch auch Hausmusikalisches, wie etwa die Drei leichten Stücke (1938), die Variationen über “A frog he went a courting” (1941) oder die Kleine Sonate (1942).

Von der Lektüre mit Walt Whitman angeregt hatte Hindemith im Sommer 1919 eine dreisätzige Sonate für Violoncello und Klavier (op.11 Nr.3) geschrieben, die er zwei Jahre später radikal umarbeitete und in dieser neuen, zweisätzigen Form 1922 drucken ließ. War 1919 mit der Erstfassung dieses Werkes in Hindemiths kompositorischer Entwicklung ein Punkt kritischer Labilität erreicht, so wird nun, fast drei Jahrzehnte später, mit einem Werk der selben Gattung ein Punkt letzter und reifster Klarheit markiert. Mit Recht gilt die zweite Cellosonate als das bedeutendste kammermusikalische Spätwerk des Komponisten.

Der erste Satz läßt uns mit der Bezeichnung Pastorale (in E) ein lyrisches Vorspiel erwarten. Zunächst scheint diese Erwartung auch erfüllt zu werden: in freiem Dialog zwischen den beiden Instrumenten wird eine schier endlose Melodie ausgesponnen, deren Reiz vor allem in ihrem ungezwungenen Parlando liegt. Von subtilen metrischen Raffinessen immer weiter gelockt, durchschreiten wir drei Tonräume, die gleichzeitig thematischen Abschnitten entsprechen und sich über teils real klingenden, teils auch nur angedeuteten Orgelpunkten (über E, Gis und Des) entfalten. Das darauffolgende Fugato, in dessen Themenkopf man ein „amerikanisches“ Zitat, nämlich den Anfang des Spirituals „Oh, when the Saints…“ hören kann, bringt fast unmerklich eine dynamische Bewegung in Fluß, die den pastoralen Ausgangscharakter des Stückes bald weit hinter sich läßt und in der Satzmitte schließlich in einem wuchtigen Akkord-Duell kulminiert. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung läßt Hindemith unvermittelt den letzten Abschnitt der Exposition anklingen, der uns dann in einem jähen Decrescendo zur eigentlichen Reprise zurückführt. Wie nach diesem Vorgang schon zu erwarten war, erscheinen nun die einzelnen Formglieder wesentlich verändert und in neuer Reihung. Besonders originell ist die rhythmische Bereicherung, die der Komponist aus einer dem ersten Thema neu unterlegten Begleitfigur gewinnt (Überlagerung von Drei- und Zweihalbentakten). Dazwischen drängt sich aber immer wieder das Fugatothema vor, das schließlich auch das letzte Wort behält. Der ganze Satz ist also eine durch die dynamische Verve des Fugatos monumentalisierte Pastorale, die schon auf die Schlußpassacaglia hinzuweisen scheint.

Der marschartige Unterton, der sich mit dem Fugatothema in die melodienselige Grundstimmung des Kopfsatzes eingeschlichen hat, gewinnt im nun folgenden Satz (Mäßig schnell – Langsam – Tempo I, in Cis) die Oberhand. Aber natürlich verabsäumt der listenreiche Komponist nicht, uns immer wieder einmal über eingeschmuggelte Fünfvierteltakte stolpern zu lassen. Doch auch hier erwarten uns viel wesentlichere Überraschungen: urplötzlich verebbt die burschikose Heiterkeit des Satzes – der Stimmungswechsel vollzieht sich über der Umkehrung des selben, durch Dehnung markierten Tonschrittes (g-as), der im ersten Satz den Eintritt des Fugatos bezeichnet hatte. Der jetzt folgende Mittelteil vertritt die Stelle des langsamen Satzes; die Zusammenziehung der beiden traditionellen Mittelsätze in einen einzigen Satz erfolgt also spiegelbildlich analog dem im Mittelsatz der letzten Violinsonate angewandten Verfahren. Reminiszenzen an diesen Satz werden auch in der verfremdeten Reprise des Scherzoteiles geweckt: diesmal ist es das Klavier, das mit gespenstisch dahinhuschenden Chromatismen das frische Ausschreiten des Marschthemas desavouiert.

Als Schlußstein einer großen musikalischen Architektur eignet sich wohl keine andere Form besser als die Passacaglia; und obwohl Hindemith hier, anders als Brahms im Finalsatz seiner IV. Symphonie, ja nur ein individuelles Werk und nicht eine ganze Werkgruppe beschließt, erscheint die Monumentalität dieser Krönung durchaus gerechtfertigt. Das Thema dieser Passacaglia (in E) steht zunächst in schroffem Gegensatz zum Material der vorangegangenen Sätze. Von der Kantabilität der Pastorale oder der beschwingten Elastizität des Scherzos ist hier nichts zu spüren: die fast tyrannisch dominierenden Septimsprünge geben ihm ein erratisch-wuchtiges Aussehen. Den weit-gespannten Intervallen entsprechen extreme dynamische Kontraste und harsche Dissonanzen. Vierundzwanzig mal wird dieses siebentaktige Modell variiert, wobei die Linie des Passacaglienbasses manchmal bis an den Rand der Unkenntlichkeit in Figurationen aufgelöst erscheint und auch die ganze Amplitude charakterlicher Veränderungen ausgeschöpft wird. Dann unterbricht ein kurzes Fugato, in dem sich auch die unregelmäßigen Metren der vorangegangenen Sätze wieder zu Wort melden, den Ablauf. Anstelle des erwarteten fugierten Schlusses setzt aber schon nach wenigen Takten das unerbittliche Passacagliathema sein Recht durch und treibt das Stück, aufgeheizt durch den motorischen Eigensinn des Fugatomotivs, zu einem gleichsam mit Ingrimm triumphierenden Ende.

© by Claus-Christian Schuster

Brahms: Zweite Sonate (F dur) für Pianoforte und Violoncell. Op.99

Johannes Brahms

* 7. Mai 1833
† 3. April 1897

Zweite Sonate (F dur) für Pianoforte und Violoncell. Op.99.

Komponiert:Thun, Sommer 1886
Uraufführung:Wien, Musikverein, Kleiner Saal (Brahms-Saal), 24. November 1886
Johannes Brahms, Klavier
Robert Hausmann (1852-1909), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1877

Aus keinem anderen Sommer seines Lebens brachte Brahms so reiche Ernte heim wie aus jenem des Jahres 1886, dem ersten, den er am Thuner See verbrachte: zwei Violonsonaten, ein Klaviertrio, unsere Cellosonate und der Großteil jener fünfzehn Lieder, die unter den Opusnummern 105 bis 107 zusammengefaßt wurden und die auf vielfache Weise mit den gleichzeitig entstandenen Kammermusikwerken (vor allem mit der zweiten Violinsonate) zusammenhängen, waren in seinem Gepäck, als er nach viermonatiger Sommerfrische Anfang Oktober nach Wien zurückkehrte. Schon wenige Wochen später, am 24. November 1886, fand im Kleinen Musikvereinssaal (heute Brahms-Saal) die öffentliche Uraufführung der neuen Cellosonate statt (Johannes Brahms, Klavier / Robert Hausmann, Violoncello). Das Werk, in dem die „symphonische“ Viersätzigkeit wieder zu ihrem Recht kommt, kann zusammen mit dem dritten Klaviertrio (op.101) als das erste Beispiel des Brahmsschen Spätstils gelten, der in den Klarinettenwerken der letzten Lebensjahre des Meisters zur Vollendung geführt wird: Die Ökonomie und Dichte, mit der Brahms hier zu formulieren und auf suggestive Weise auszusparen weiß, knüpft unmittelbar an die lapidare Meisterschaft der letzten beiden Cellosonaten Beethovens an. In dem auch tonartlich dem rationalen Kontext des musikalischen Ablaufes entrückten Adagio glaubt man, eine späte Metamorphose des bei der Komposition der ersten Cellosonate (op.38) unterdrückten langsamen Satzes aus dem Jahre 1862 sehen zu dürfen. Sollte das wirklich zutreffen, so könnte der unvergleichliche Zauber dieses ganze einundsiebzig Takte langen Juwels uns lehren, daß – ganz im Gegensatz zum weitverbreiteten Glauben an die spontane Kraft der „Eingebung des Augenblicks“ – auch für ein Genie mitunter Geduld und Entsagung die allerbesten Lehrmeister sind.

© by Claus-Christian Schuster

Beethoven: Sonate Nr.5, D-Dur, op.102 Nr.2

Ludwig van Beethoven

* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827

Sonate Nr.5, D-Dur, op.102 Nr.2

Komponiert:Wien, 1815
Widmung:Anna Maria von Erdödy
Uraufführung:nicht dokumentiert, privat wahrscheinlich Sommer 1815,
Wien, Jedlesee, Landgut Erdödy (21., Jeneweingasse 17)
Ludwig van Beethoven, Klavier
Joseph Linke (1783-1837), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Bonn, 1817

Während Beethoven in allen anderen bedeutenden Genres seines Werkes geniale Vorgänger hatte, betritt er mit seinen fünf Sonaten für Klavier und Violoncello wirkliches Neuland: diese Sonaten sind die ersten ernstzunehmenden Beiträge zu dieser Kammermusikform. Als entfernten Anknüpfungspunkt könnte man nur vielleicht die drei um 1720 entstandenen Sonaten für Cembalo und Viola da Gamba von J. S. Bach (BWV 1027-1029) nennen, die allerdings sowohl instrumental als auch stilistisch und formal völlig anderen Prinzipien folgen. Somit kann man Beethoven mit Fug und Recht als den Schöpfer dieser in der Folge von fast allen bedeutenden Komponisten mit so gewichtigen Werken bedachten Musizierform betrachten.
Dieser Umstand ist auch der Grund dafür, daß wir zumindest ein Werk dieser Gattung in unseren Zyklus aufnehmen wollten.

Für alle fünf Sonaten ist eine selbst bei Beethoven nicht alltägliche Freiheit im Umgang mit dem überlieferten Formenkanon bezeichnend: in dieser Hinsicht sind sie durchwegs wesentlich “revolutionärer” als die Schwesterwerke für Klavier und Violine. Gleich die ersten beiden Werke der Serie, die Beethoven im Juni 1796 in Berlin für König Friedrich Wilhelm II und dessen Cellisten Duport schrieb, sind ein Kompendium genialischer “Sturm und Drang”-Ideen – und man täte Beethoven wohl unrecht, wenn man diese Experimentierlust nur dem Wunsch zuschriebe, den königlichen Widmungsträger recht nachhaltig zu beeindrucken. Unangefochtener Gipfelpunkt dieser einzigartigen Werkreihe ist aber trotz allem die letzte Sonate op.102 Nr.2. Es dürfte nicht leicht sein, in der gesamten Kammermusikliteratur ein Werk zu finden, das diesen Geniestreich an Kühnheit, Konzentration und Klarheit, an Empfindungstiefe und Geistesschärfe überträfe.

Das eröffnende Allegro con brio (D-Dur) weckt gleich mit seinem energisch-stolzen Inzipit, das en passant auch schon in den ersten beiden Takten die heilige metrische Ordnung unbkümmert über den Haufen wirft, die Erwartung nach einer fugierenden Antwort, die erst im letzten Satz – aber wie! – erfüllt wird. Dieser kraftvolle Impuls zieht eine Entwicklung nach sich, die auf ganz ungekünstelte und organische Weise das paradoxe Kunststück zustande bringt, gleichzeitig kleingliedrig und großräumig zu sein. Der Motor dieser Entwicklung ist eine atemberaubend kunstvolle motivische Verflechtung über schroffe Charaktergegensätze hinweg. Der ganze Satz ist zudem ein Exzeß an Verknappung, der sicher auch einen Großmeister der Komprimierung wie etwa Anton von Webern mit Bewunderung erfüllt hat – einen solchen Kosmos an Ideen und Stimmungen auf gerade 147 Takten hat es wohl nicht oft in der Musikgeschichte gegeben.

Das “Herzstück” des Satzes – in der engeren Bedeutung des Wortes – ist das folgende Adagio con molto sentimento d’affetto (d-moll). Gläubige Hingabe und verhaltener Zweifel, schmerzliche Beklommenheit und beseligende Gelöstheit sind hier innigst verwoben und in ein auf unnennbare Weise berührendes Gleichgewicht gebracht. Mit kühnen, aber nahezu absichtslos anmutenden Modulationen öffnet sich der Satz zur unmittelbar anschließenden Schlußfuge (Allegro fugato, D-Dur), die man in Analogie das “Kopfstück” der Sonate nennen könnte. Über Generationen hinweg hat dieser Satz gleichermaßen bewunderndes wie verständnisloses kopfschütteln ausgelöst – Beethovens Zuversicht, daß die Zeit auch für solch einen Satz einmal reif sein würde, hat sich nur sehr unvollkommen bestätigt. Gewiß, das Ohr des modernen Hörers ist durch ein Stahlbad an Härten gegangen, das es ihm ermöglicht, die Kühnheiten Beethovens ungerührt zu überstehen. Aber Verständnis? Wieviele heutige Hörer würden sich nicht der Meinung des Berliner Beethoven-Apostels Adolf Bernhard Marx anschließen, der 1824 schrieb:

“Eine Fuge wie diese vorliegende aber wird schwerlich Jemandem gefallen können. Sie klingt 1. nicht und 2. erweckt sie keine bestimmte Empfindung. Das Thema ist für eine so ernste Durchführung zu lustig und kontrastirt auch desshalb mit den beiden vorigen Sätzen zu grell. Wie viel lieber hätten wir statt dieser Fuge einen andern Satz, ein Beethovensches Finale gehört!…”

Eine Fuge hat also, wenn sie sich schon unter ein aufgeklärtes Publikum wagt, in feierlicher Staatsrobe zu erscheinen. Die Messalliance zwischen tänzerischem Übermut und kontrapunktischem Scharfsinn ist und bleibt ein Ärgernis – man will doch schließlich wissen, woran man nun wirklich ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Antike Berauschtheit und Erleuchtung in Eines verschmelzen lassen konnte, hat unser kritischer Geist gründlich wegrationalisiert: hie Dionysos, da Apoll. Sollten wir Beethoven nicht dankbar sein dafür, daß er uns im polyphonen Höhenflug dieser wenigen Minuten über die gutbewachten Grenzen unserer wohlgordneten Ästhetik hinwegträgt?

© by Claus-Christian Schuster

Schubert: Klavierquintett A-Dur op.posth.114 (D 667, “Forellen-Quintett”)

Franz Schubert

* 31. Jänner 1797
† 19. November 1828

Klavierquintett A-Dur op.posth.114 (D 667, “Forellen-Quintett”)

Komponiert:Steyr (Stadtplatz 34; Entwurf?) / Wien (Wipplingerstraße 2), Sommer – Herbst 1819
Widmung:Sylvester Paumgartner (1763?-1841)
Uraufführung:privat wahrscheinlich Steyr, Ende 1819, bei Sylvester Paumgartner (Stadtplatz 16)
Erstausgabe:Czerny, Wien, Mai 1829

Im Sommer 1819 unternahm Schubert mit Johann Michael Vogl eine Reise nach dessen Geburtsstadt Steyr; Vogl hatte zur Finanzierung dieser Reise bei der Direktion des Kärntnertor-Theaters einen Vorschuß auf das Honorar für Schuberts Singspiel „Die Zwillingsbrüder“ (D 647) erwirken können. Die beiden in Steyr verlebten Monate müssen wohl, trotz des anfangs schlechten Wetters, recht nach Schuberts Geschmack gewesen sein. Er logierte bei seinem ehemaligen Konviktskollegen Albert Stadler (1794-1888) im Hause von dessen Onkel Dr. Albert Schellmann, in dem auch noch eine Familie Weilnböck wohnte. Die vier noch unverheirateten Töchter Dr. Schellmanns, Stadlers Schwester sowie die drei Weilnböck-Mädchen (von denen eine etwas später Mme. Stadler wurde) dürften erfolgreich mit den Reizen der Landschaft konkurriert haben, denn in einem Brief Schuberts an seinen Bruder Ferdinand findet sich noch vor dem obligaten Lob der „über allen Begriff schönen“ Gegend der Satz:

„ In dem Hause, wo ich wohne, befinden sich 8 Mädchen, beynahe alle hübsch. Du siehst, daß man zu thun hat. Die Tochter des Herrn v. K[oller], bei dem ich und Vogl täglich speisen, ist sehr hübsch, spielt brav Klavier, und wird verschiedene meiner Lieder singen…“

Für das „sehr hübsche“ und „brav Klavier“ spielende Mädchen Josephine Koller komponierte Schubert während seines Aufenthaltes die Klaviersonate A-Dur op.120/D 664 – es scheint, der ganze Sommer war in A-Dur gestimmt…

Ob das „Forellen-Quintett“, Schuberts wahrscheinlich allerpopulärste Kammermusikkomposition, nun wirklich in Steyr entstanden ist, wie dort eine Gedenktafel behauptet, oder nach Schuberts Rückkehr erst in Wien niedergeschrieben wurde – fest steht jedenfalls, daß das Werk eine Frucht dieser glücklichen Sommermonate ist. (Schubert wohnte übrigens auch in Wien bei einem gebürtigen Steyrer, dem Dichter Johann Mayrhofer). Die unmittelbare Anregung zur Komposition ging von Sylvester Paumgartner (1763-1841), einem Steyrer „Melomanen“ und wohlhabenden Amateurcellisten aus, der in seinem geräumigen Haus regelmäßig Kammermusiksoireen veranstaltete. In einem Brief an den verdienstvollen (und unbedankt vergessenen) Schubert-Forscher Ferdinand Luib schreibt Albert Stadler fast vierzig Jahre später:

„Schuberts Quintuor für Pianoforte, Violine, Viola, Cello und Kontrabaß mit den Variationen über seine „Forelle“ ist Ihnen wahrscheinlich bekannt. Er schrieb es auf besonderes Ersuchen meines Freundes Sylvester Paumgartner, der über das köstliche Liedchen ganz entzückt war. Das Quintuor hatte nach seinem Wunsche die Gliederung und Instrumentierung des damals noch neuen Hummelschen Quintettes, recte Septuors, zu erhalten. Schubert war damit bald fertig, die Sparte behielt er selbst…“

Das „Hummelsche Quintett, recte Septuor“, auf das hier hingewiesen wird, ist Johann Nepomuk Hummels 1816 erschienenes Septett für Klavier, Flöte, Oboe, Horn, Viola, Violoncello und Kontrabaß op.74, d-moll, eines der letzten vor Hummels Weggang nach Stuttgart in Wien entstandenen Werke; dieses Werk erfreute sich in der Tat großer Popularität und wurde bald nach seinem Erscheinen auch in einer vom Komponisten herrührenden Quintettbearbeitung veröffentlicht. Der Hinweis auf diese Bearbeitung drängt sich angesichts der Extravaganz der Besetzung förmlich auf. Es ist allerdings gar nicht zu erkennen, daß, über die Instrumentierung hinaus, irgendwelche weiterreichenden Querbezüge (in „Gliederung“ etc.) zwischen den beiden Werken bestünden. Hummel hat freilich, etwa gleichzeitig mit Schuberts Quintett, schon in Weimar ein bedeutenderes (und daher weniger bekannt gewordenes) Originalwerk in der Besetzung des Schubertschen „Forellenquintetts“ geschrieben (op.87, es-moll); auch dieses Werk wurde, lange vor Schuberts Quintett, 1821 in Wien gedruckt.

Sylvester Paumgartners Wunsch nach einem Werk in dieser eigenwilligen Instrumentation hat vielleicht mit seinem Cellospiel zu tun; allzuoft hatte das Cello in der Kammermusikliteratur der Zeit noch grundierenden Frondienst zu leisten, also etwa Klavierbässe zu verdoppeln. Durch die Hinzuziehung eines Kontrabasses, der diese stützende und dienende Funktion übernahm, konnte das Cello für Haupt- und Mittelstimmenaufgaben freigesetzt werden. Dieser „Raumgewinn“, durch den das Cello auch seinen timbralen Reichtum besser entfalten kann, scheint Schubert überzeugt zu haben: in seinem kammermusikalischen Testament, dem Streichquintett C-Dur D.956, greift er diese Idee in veränderter und vervollkommneter Form noch einmal auf – der Nachteil der relativen Unbeweglichkeit Kontrabasses ist dort durch die Verwendung eines zweiten Cellos eliminiert, und das „freie“, erste Cello ergreift noch entschiedener Besitz von den hohen Registern.
Eine andere instrumentatorische Besonderheit ist die Behandlung des Klaviers. Weit eindeutiger als etwa in den Klaviertrios wird es nahezu ausschließlich als Melodieinstrument behandelt; über weite Partien werden die Hände im Einklang geführt, während der „orchestrale“, füllige Akkordklang sehr sparsam verwendet wird.

Der populäre Name „Forellenquintett“ lenkt unsere Aufmerksamkeit von Anfang an auf die Variationen (4.Satz) über das bekannte Lied (D.550) auf den Text von Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791); damit stellt er das Werk plakativ in den größeren Zusammenhang der unmittelbar liedinspirierten Instrumentalmusik Schuberts, deren daneben berühmteste Beispiele die C-Dur-Klavierphantasie („Wanderer-Phantasie“ , D.760) und das d-moll-Streichquartett („Der Tod und das Mädchen“, D.810) sind. (Die in diesen drei Fällen zugrunde liegenden Lieder sind übrigens alle um die Jahreswende 1816/17 entstanden). Diese Assoziation ist sicher berechtigt, da sowohl das thematische Material als auch die formale Gestaltung in allen fünf Sätzen deutlich liedhafte Züge haben; andererseits suggeriert der Name „Forellenquintett“ darüber hinaus eine Zentralstellung des Variatonssatzes, die diesem durchaus nicht zukommt: anders als in den beiden anderen zitierten Werken, wo das Liedzitat auch die gedankliche Mitte und gleichsam den Ursprung des Werkganzen darstellt, ist es hier eine Erweiterung, ein Zusatz – den wir freilich unter keinen Umständen missen wollen. Man könnte die ungewöhnliche Fünfsätzigkeit des Werkes sehr leicht auch aus diesem Blickwinkel heraus begründen, denn um einen „normalen“ viersätzigen Zyklus zu erhalten, müßte man nur die Variationen streichen.

Das eröffnende Allegro vivace ist der einzige unter den fünf Sätzen des Werkes, dessen thematisches Material einem Durchführungsprozeß ausgesetzt wird. Folgerichtig ist es auch der einzige Satz, indem wir auch gleichsam der Entstehung des Hauptthemas beiwohnen, so daß die „Komplikation“ der Durchführung durch die das Hauptthema entwickelnde Einleitung bedingt und hervorgerufen erscheint. Mit einiger Phantasie kann man im Seitenthema einen „Vorausschatten“ des Forellenthemas hören. Jedenfalls wecken alle verwendete Themen unwillkürlich Liedassoziationen, ein Umstand der sehr wesentlich zur Etablierung des bestimmenden Grundtones für das ganze Werk beiträgt.
Der zweite Satz (Andante, F-Dur) fasziniert unter anderem durch eine recht ungewöhnliche Besonderheit: einem sehr schlichten und eingängigen Formschema (ABC – ABC) wird ein ganz eigenwilliger harmonischer Ablauf unterlegt: F-fis-G / As-a-F. Wie man sieht, wird durch die chromatischen Modulationen (die eigentlich mehr den Charakter von Rückungen tragen) der Weg von der Satztonart zur Werktonart buchstäblich Schritt für Schritt durchmessen – ein raffinierter Kunstgriff, durch den die relativ große Entfernung zwischen diesen beiden Tonarten scheinbar mühelos überbrückt wird. Der Ideen- und Melodienreichtum des Satzes läßt einen aber diese „technische“ Subtilität gar nicht wirklich wahrnehmen – man ist vor allem dankbar dafür, daß man, ganz ohne Umschweife und Verirrungen, alles zweimal hören darf.
Im dritten Satz (Scherzo. Presto) stellt Schubert die beiden Spielarten des Klaviers sehr charakteristisch einander gegnüber – im federnd-energischen Hauptteil die bisher ausgesparte akkordische Verve, im bukolischen Trio, das übrigens die Tonart des Folgesatzes vorwegnimmt, die melodische Linearität.
Trotz der, wie oben angedeutet, vergleichsweise „akzidentellen“ Stellung des vierten Satzes (Andantino, D-Dur) im Werkganzen, sind diese wundervoll schlichten Variationen für viele Zuhörer das Herzstück des Werkes. Der sonnige und konfliktlose Charakter des ganzen Quintetts wird unter anderem dadurch betont, daß Schubert die dramatische Trübung der dritten Liedstrophe („Doch endlich ward dem Diebe die Zeit zu lang…“) sowohl im Thema als auch in den Variationen übergeht, sodaß „nur die muntere, launische Forelle im Quintett ihr Spiel treibt, nicht die betrogene, dem Tode geweihte (im Quartett wird umgekehrt nicht das Mädchen, sondern der Tod zitiert).“ (Walther Vetter).
Das Finale (Allegro giusto) läßt in den oberösterreichischen Sommer von 1819 Echos des „ungarischen“ Sommers von 1818 hinüberklingen – magyarische und österreichische Folklore verbinden sich zu einem bunten und wiederholungsseligen Tongemälde, das keine fortschreitende Entwicklung und kein Schicksal, sondern nur endloses Kreisen kennt: eigentlich dürfte dieser Satz keinen Schluß haben, und wir sind Schubert ein ganz wenig böse, daß er sich dem Diktat der Tradition beugen und doch zu einem Ende finden mußte – aber wir spüren recht deutlich, daß es auch ihm selbst leid getan haben muß.

© by Claus-Christian Schuster

Schönberg: Kammersymphonie Nr.1, E-Dur, op.9 (arr. von Anton von Webern)

Arnold Schönberg

* 13. September 1874
† 13. Juli 1951

Kammersymphonie Nr.1, E-Dur, op.9 (arr. von Anton von Webern)

Komponiert:Wien – Rottach-Egern am Tegernsee, April – 25. Juli 1906
Uraufführung:Originalfassung:
Wien, Großer Musikvereins-Saal, 8. Februar 1907
(Rosé-Quartett und Bläservereinigung des Wiener Hofopernorchesters)

Bearbeitung:
Barcelona, 29. April 1925
(Pierrot-Ensemble unter der Leitung Arnold Schönbergs)
Erstausgabe:Original: Universal Edition, Wien, 1913; Bearbeitung: Universal Edition, Wien, 1968

„Das ist ja nicht ein Werk wie ein anderes.
Das ist ein Markstein der Musik,
genug für eine ganze Generation.”
(Alban Berg an Arnold Schönberg, 8. Oktober 1914)

„Die Kammersymphonie ist das letzte Werk meiner ersten Periode. Sie besteht nur aus einem einzigen Satz. […] Wodurch sie sich von den früheren Werken unterscheidet, ist ihre Dauer. […] Die Länge meiner früheren Kompositionen war eines der Charakteristika, die mich mit dem Stil meiner Vorgänger – Bruckner und Mahler – verbanden. […] Ich bin dessen müde geworden – weniger als Zuhörer sondern als Komponist, der Musik von solcher Länge schreibt.”

Daß Schönberg in diesem Selbstzeugnis den Aspekt der Gedrängtheit als wesentlichstes Charakteristikum seiner ersten Kammersymphonie ins Zentrum rückt, mag angesichts einer Aufführungsdauer von rund zwanzig Minuten verblüffen – wenn wir an Kürze denken, gelten uns wohl die Werke ihres Bearbeiters Anton von Webern als radikalstes und konsequentestes Paradigma, und gemessen daran wirkt die Kammersymphonie geradezu episch breit. Was aber Schönberg im Sinne hatte, war eben nicht die aphoristische Knappheit jener expresssionistischer Skizzen hart am Rande das Verstummens, sondern die äußerste Raffung und Verdichtung der in der spätromantischen Symphonik entwickelten formalen und motivischen Abläufe. Und unter diesem Gesichtspunkt ist ihm tatsächlich ein epochales Werk geglückt, das Alban Bergs Urteil in jeder Hinsicht rechtfertigt.

Die Überfülle des hier vorliegenden thematischen Materials mit all seinen motivischen Verästelungen in ein so kompaktes Gebilde zu zwingen, war sicher die bis dahin größte Herausforderung in Arnold Schönbergs kompositorischem Lebensweg – und die Bewältigung dieser Aufgabe sollte zum alles entscheidenden Prüfstein für seinen weiteren Entwicklungsgang werden. Diese eminent persönliche Dimension des Werkes drückt sich „buchstäblich”, nämlich monogrammatisch, schon in den ersten Noten der Partitur aus: ein auf viertaktigem Umwegen über harmonische terra incognita schließlich als Terzton eines F-moll-Dreiklangs gedeutetes AS eröffnet das Werk, und mit seiner unmittelbar darauf folgenden „Auflösung” nach A(als Terz von F-Dur) korrespondiert sofort eS als Zielton des (den schon im zweiten Takt etablierten Quartenakkord thematisierenden) ersten Hauptgedankens, des wohl berühmtesten und emblematischsten aller Themen der Zweiten Wiener Schule – eines in fünf entschlossenen Quartschritten emporstürmenden Kampfrufes. Der sich nun in gedrängter Fülle entfaltende Reichtum an thematischen Gedanken, die alle auf ebenso geheimnisvolle wie organische Weise zueinander in engster Beziehung stehen, verbietet jeden auf konkrete Notenbeispiele verzichtenden Kommentar; überhaupt ist mit der detaillierten Analyse der formalen und thematischen Abläufe für den Interpreten recht viel, für den Zuhörer aber gar nichts gewonnen. (Seit der um 1920 erschienenen thematischen Analyse Alban Bergs ist das Werk immer wieder und unter immer wieder neuen Gesichtspunkten untersucht worden – mit jener Divergenz der Detailergebnisse, wie sie dem jeweils individuellen Hörerlebnis eines so persönlichen Werkes wohl angemessen ist.) Die Großgliederung ist dabei ebenso klar wie unmittelbar sinnfällig: Der Aufbruchstimmung des Kopfsatzes folgt mit dem Scherzo (Sehr rasch, T.160 ff.) ein bedrückendes Abbild „entfremdeter Gegenwart”. Barbara Meier hat in ihrer dem Werk gewidmeten Studie (1992) auf die unüberhörbaren Beziehungen dieses Satzes zur gleichzeitig entstehenden frühexpressionistischen Großstadtlyrik hingewiesen – der beflügelte Lebensmut des ersten Teiles trifft hier auf eine seelenlose Mechanik, die jede Gefühlsregung in kalter Feindseligkeit erstickt. Die Verwendung des Terminus „Durchführung” für den folgenden Abschnitt (T.279 ff.) erscheint vor diesem hermeneutischen Hintergrund noch unbeholfener und unpassender als sonst: Die Umkehrungen der Themen, denen wir in dieser zerklüfteten Landschaft begegnen, sind eben nicht als satztechnischer Kunstgriff zu verstehen, sondern spiegeln (wie freilich in jeder genialen Musik) ein seelisches Drama wider, dem gegenüber Worte versagen. Die gleichsam „entrückte” Wiederauferstehung des ersten Hauptgedankens in seiner ursprünglichen Gestalt (T.368 ff.) leitet den langsamen Satz ein, der hier der Ort der Verinnerlichung und Selbstbegegnung ist: Der gequälte und bedrängte, auf sich selbst zurückgeworfene Mensch wird in der vereinsamten Klage endlich seiner wahren Bestimmung inne. Daß der Übergang von hier zu dem, was man technisch die „Reprise” nennen müßte (T. 435 ff.), allmählich und fließend ist, versteht sich nach dem Gesagten wohl von selbst – es handelt sich hier wohl um den einzigen formalen Schnittpunkt des Werkes, der nicht ohne weiteres hörend zu erfahren ist. Diese „Reprise” ist übrigens von unerhörter Kürze (nur etwas mehr als ein Drittel der Ausdehnung des Kopfsatzes) und geht hörbar, aber nahtlos in eine ausgedehnte Coda (T.497 ff.) über, in die allerdings noch „Reprisenreste” integriert erscheinen. Die knappe Stretta, in der die beiden einander das ganze Stück hindurch feindlich gegenüberstehenden tonalen Zentren F und E ein letztes Mal aufeinandertreffen endet in einer fast zwanghaft anmutenden, emphatischen Beschwörung des siegreichen E-Dur-Akkords, der zuletzt nicht weniger als elf Mal bekräftigt wird – ist es nur die musikhistorische Post festum-Perspektive, die aus diesem Schluß einen alles andere als leichtfertigen Abschied von der Tonalität macht?

Unmittelbar nach Abschluß der Komposition des Werkes, die sich von April bis Juli 1906 erstreckt hatte, wandte sich Schönberg wegen einer Aufführung der Kammersymphonie brieflich an Ferdinand Löwe, den Leiter des Wiener Konzertvereines, der sich sogleich die Partitur zur Einsicht erbat, um aber den Komponisten schon bald darauf wissen zu lassen:

„Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, daß mir Ihr Werk nach aufmerksamer Lektüre der Partitur bis jetzt unverständlich geblieben ist. Dies soll keineswegs ein Urtheil, sondern blos ein Geständnis sein.”
(13. September 1906)

Auch Richard Strauss winkte ab. Es war schließlich dem Wagemut von Arnold Rosé zu danken, daß die Uraufführung des ensemblistisch überaus anspruchsvollen Werkes schon am 8. Februar 1907 stattfinden konnte. Die folgende Rezension jener denkwürdigen Aufführung im Großen Musikvereins-Saal vermittelt einen bedrückenden Einblick in die Hexenküche, in der in jenen Jahren auch die „Ästhetik” von Adolf Schickelgruber zusammengebraut wurde:

„Viele stahlen sich vor Schluß dieses Stückes lachend aus dem Bund, viele zischten und pfiffen, viele applaudierten. Schließlich kam Herr S. selber und schüttelte den 15 Mitwirkenden gerührt die Hand. In einer Loge stand bleich und mit verkniffenen Lippen der Herr Hofoperndirector Gustav Mahler, der das hohe Protectorat über entartete Musik schon seit längerer Zeit führt. Festzustellen wäre nur das Eine: Herr S. ereignet sich in Wien. In der Hauptstadt ewiger und unvergeßlicher Musik. Tuts niemandem mehr weh, daß gerade hier die pöbelhaftesten Manieren, Lärm zu machen, heimisch geworden sind? Er macht wilde, ungepflegte Demokratengeräusche, die kein vornehmer Mensch mit Musik verwechseln kann. Aber der Spuk wird vorübergehen; er hat keine Zukunft, kennt keine Vergangenheit, er erfreut sich nur einer sehr äußerlichen und armseligen Gegenwart.”
(Illustriertes Wiener Extra-Blatt, 9. Februar 1907)

Gegen diese Abart der Kritik war nichts zu unternehmen. Aber Schönberg war sich sehr wohl auch der Tatsache bewußt, daß die Unzulänglichkeiten der Aufführung, die sich aus den völlig ungewohnten Schwierigkeiten des Werkes und aus seiner experimentellen Besetzung fast zwangsläufig ergeben mußten, sogar dem willigen Hörer erhebliche Hindernisse für das Verständnis in den Weg legten.

„Die Aufführung der Kammersymphonie war der bis dahin größte Skandal. Nachher kam ein wohlgesinnter Kritiker, mein Jugendfreund Dr. B[ach], zu mir, lieh sich die Partitur aus, kam, nachdem er sie studiert hatte, wieder zu mir, ließ sich von mir die Details der Arbeit erklären, hörte all meine Polemik gegen die erhobenen Angriffe an und sagte als Resultat meiner Überredungskunst: »Ja weißt du, alles, was du da sagst, ist ja ganz schön und interessant und wahrscheinlich auch richtig: Aber was nützt das alles? Ein Werk muß für sich selbst sprechen, und ich habe einfach gar keinen Eindruck gehabt.« So sprach ein Wohlwollender.
(Skandale, 1928)

In einem Ensemble von fünfzehn Orchestermusikern jene kammermusikalische Präzision und Flexibilität zu erzielen, die der beziehungsvollen Vielschichtigkeit des musikalischen Materials allein gerecht werden könnte, mußte bei der Neuartigkeit des hier verwendeten Idioms fast als Utopie erscheinen. Außerdem birgt die Instrumentation des Werkes allein schon auf Grund der akustischen Kräfteverhältnisse – fünf Streichern stehen zehn Bläser gegenüber – die Gefahr der Verdunkelung motivischer Bezüge in sich. Vielleicht ist das einer das Gründe dafür, daß Schönberg schon am 13. Februar 1907, also wenige Tage nach der Uraufführung des Werkes , eine Bearbeitung des Werkes für Klavierquintett in Angriff nahm, die freilich nicht über die ersten 16 Takte hinaus gedieh.

Wie sehr Schönberg um das Schicksal seines Werkes bangte, dessen Bedeutung und Tragweite ihm selbst sich erst nach und nach erschloß, läßt sich in seinem Briefwechsel nachvollziehen:

„Ich muß vier volle Proben haben. Das Werk ist wirklich sehr schwer und ich möchte nicht einen Erfolg wegen Unklarheit haben, sondern ziehe einen Mißerfolg wegen Klarheit vor. Nein, aber im Ernst: die Leute müssen wissen, was ich meine!! […] Und ich hätte gerne mit der Kammersymphonie Erfolg. Dies ist mein Schmerzenskind: eine meiner allerbesten Sachen, und bis jetzt (wegen schlechter Aufführungen!!) noch recht unverstanden. Ich bin überzeugt, daß sie in einer guten Aufführung sehr wirken muß.”
(an Alexander Siloti, 15. Juni 1914)

Allmählich gelangte er aber zur Überzeugung, daß auch die von ihm gewählte Instrumentation dem Verständnis des Werkes hinderlich sei:

„Ich glaube, das ist doch ein Irrtum, diese Solobesetzung der Streicher gegen soviele Bläser. Es fehlt nämlich eine Möglichkeit: kein einziges Instrument, keine einzige Geige kann im vollen Tutti dominierend über dem Ganzen stehen. Die Musik ist so erfunden, daß das nötig wäre.”
(13. Dezember 1916)

Im Frühling 1918 wurde die Kammersymphonie in Wien in zehn öffentlichen Proben einstudiert, um dem Publikum die Möglichkeit zu geben, „das Herausbringen eines so schwierigen Werkes einmal von allem Anfang an verfolgen zu können.”

Nachdem der Plan, die schon im März 1913 erstmals aufgeführte Fassung für zehn Solobläser und Streichorchester in gründlich überarbeiteter Form zu veröffentlichen, gescheitert war, scheint Schönberg Anton von Webern zur Herstellung einer kammermusikalischen Version ermutigt zu haben. Webern begann am 3. November 1922 mit der Quintettbearbeitung des Werkes, die ihn drei volle Monate in Anspruch nahm. Zemlinsky berichtet er darüber:

„Jetzt arbeite ich an einer Bearbeitung der Schönbergschen Kammersymphonie für das Ensemble des »Pierrot«. Gleichzeitig soll es auch eine für Streichquartett und Klavier werden.”
(24. November 1922)

Schönberg selbst kann er dann zwei Monate später mitteilen:

„Ich bin seit einer Woche mit der Bearbeitung der Kammersymphonie fertig und überarbeite jetzt diesen Entwurf gründlichst. Hoffentlich gelingt es mir, das zu leisten, was Du von mir in dieser Hinsicht erwartest. Jedenfalls strebe ich es mit allen Kräften an.”
(27. Jänner 1923)

Diese Webernsche Bearbeitung ist die letzte von insgesamt sieben, die er zwischen 1918 und 1923 für das Ensemble des Vereines für musikalische Privataufführungen anfertigte. Sie wurde jedoch wegen der Auflösung des Vereines nicht mehr in diesem Rahmen aufgeführt, sondern hatte ihre Premiere erst am 29. April 1925 in Barcelona. Daß freilich das Werk auch in seiner neuen Gestalt nichts von seinen ensemblistischen Schwierigkeiten verloren hatte, ist dem Umstand zu entnehmen, daß Schönberg bei dieser Gelegenheit als Dirigent in Aktion treten mußte.

Erst am 27. Dezember 1936, also mehr als dreißig Jahre nach Beendigung der Komposition des Werkes, konnte Schönberg in Los Angeles eine definitive (als Opus 9b veröffentlichte) Fassung für großes Orchester aus der Taufe heben, worüber er Anton von Webern mit nicht zu überhörender Erleichterung, aber doch auch nicht ohne die obligaten selbstkritischen Untertöne berichtet:

„Die klingt jetzt vollkommen klar und plastisch, vielleicht ein bißchen zu laut, was daran liegt, weil ich mich nicht genug vom Original weggetraut habe…”

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Haydn: Quintett für Klavier, zwei Hörner, Violine und Violoncello, Es-Dur Hob.XIV:1

Joseph Haydn

* 31. März 1732
† 31. Mai 1809

Quintett für Klavier, zwei Hörner, Violine und Violoncello, Es-Dur Hob.XIV:1

Komponiert:Eisenstadt, um 1765 (oder Dolní Lukavice, Böhmen, um 1760?)
Uraufführung:nicht dokumentiert
Erstausgabe:Hummel, Amsterdam, 1767

Bei der Datierung dieses Werkes sind wir auf Vermutungen angewiesen. Seit 1763 verfügte Haydn in der Esterházyschen Kapelle über nicht weniger als vier Hornisten, und er schöpfte die sich dadurch bietenden Möglichkeiten in der Instrumentation zweier Symphonien in D-Dur (Hob.I:13 und Hob.I:72) auch sofort aus. 1765 werden zwei der Hornisten durch jüngere und fähigere Kräfte ersetzt. Die in diesem Jahr komponierte D-Dur-Symphonie (Hob. I:31, bekannt unter den Beinamen „Mit dem Hornsignal“ oder „Auf dem Anstand“) zeigt eindeutig, daß dem Komponisten nun eine erstklassige Horngruppe zu Gebote stand. Kein Wunder also, daß sich Haydns Vorliebe für dieses Instrument ( – schon 1762 hatte er ein Hornkonzert geschrieben – ) noch steigerte: In den folgenden Jahren schrieb er nicht weniger als zehn Divertimenti, in denen zwei Hörner mit einem Baryton, dem Lieblingsinstrument des Fürsten Nikolaus, und anderen Streichinstrumenten konzertieren. Von all diesen Werken – einem Quartett, zwei Quintetten und sieben Oktetten – sind leider nur zwei vollständig überliefert; in den meisten Fällen ist die Baryton-Stimme verschollen, was einen böswilligen Kommentator auf den Gedanken bringen könne, der fürstliche Dilettant sei mit seinen Noten nicht sehr sorgsam umgegangen.
Die erste Erwähnung unseres Werkes findet sich in einem Verlagskatalog der Leipziger Firma Breitkopf aus dem Jahre 1766. Ein Jahr später gab der deutsch-niederländische Verleger Johann Julius Hummel das Werk in Amsterdam heraus. Sein Interesse gerade an diesem Stück könnte damit zu tun haben, daß er selbst, ebenso wie sein Bruder und Geschäftspartner, ausgebildeter Hornist war. Dennoch scheinen die Brüder gewußt zu haben, daß gute Hornisten nicht überall verfügbar waren, und so gute wie in der Esterházyschen Kapelle vielleicht überhaupt nirgendwo sonst; daher gaben sie ihrer – übrigens von Haydn nicht autorisierten – Ausgabe zwei alternative Bratschenstimmen bei. An der Zusammenstellung der Werke dieser Erstausgabe kann man auch ersehen, daß unser Stück schon von den Zeitgenossen als eine erweiterte Variante des Genres Klaviertrio betrachtet wurde: J. J. Hummel stellte unserem Quintett – immer unter der selben apokryphen Opusnummer IV – fünf Klaviertrios des Meisters voran (Hob. XV:37, Hob. XV:C1, Hob.XIV:6, Hob. XV:39 und Hob.XV:1), von denen freilich zwei recht willkürliche, anonyme Bearbeitungen Haydnscher Klaviersonaten sind.
Gerade diese Nähe zu den Klaviertrios ist es aber, die unsere sich nach all dem bisher Gesagten aufdrängende Vermutung, das Werk sei um 1765 in Eisenstadt komponiert worden, wieder ins Wanken bringt. Auf jeden Fall ist es merkwürdig, daß es sich hier um die einzige uns bekannte Komposition Haydns handelt, in der die Hörner der fürstlichen Kapelle mit dem Cembalo anstelle des vom Fürsten bevorzugten Baryton kombiniert werden. Könnte unser Quintett nicht vielleicht doch – wie H. C. Robbins Landon in seiner fundamentalen (und unerklärlicherweise noch immer nicht ins Deutsche übersetzten) Haydn-Biographie mutmaßt – an einem anderen Hof entstanden sein, nämlich dem des Grafen Morzin, in dessen Dienst Haydn ab 1759 stand? Dann nämlich bestünde für die Verwendung des Cembalos ein sehr nachvollziehbarer Grund: das Spiel der Gräfin Morzin, einer Musikliebhaberin, die den jungen Komponisten sehr beeindruckte, wie wir aus einer uns von Georg August von Griesinger in seinen 1810 erschienenen „Biographischen Notizen über Joseph Haydn“ überlieferten Anekdote wissen. Haydn selbst soll die Geschichte gerne und oft erzählt haben – also dürfen wir uns erlauben, sie hier einzufügen: Bei einer gemeinsamen Probe habe die Gräfin (wohl Wilhelmine, geborene Freiin von Reisky) sich über die Noten gebeugt, wobei ihr Busentuch auseinanderfiel. „Es war das erste Mal, daß mir solch ein Anblick ward; er verwirrte mich, mein Spiel stockte und die Finger blieben auf den Tasten ruhn. »Was ist das, Haydn!« rief die Gräfin. »Was treibt Er da?« – »Aber, gräfliche Gnaden!« versetzte ich. »Wer sollte auch hier nicht aus der Fassung kommen?«“

Als Indiz für eine Entstehung des Werkes bei Graf Morzin in Dolní Lukavice könnte man vielleicht auch gelten lassen, daß in der Bibliothek des südmährischen Kremsier (Kromeriz) eine sehr frühe Abschrift des Werkes aufgefunden wurde. Wann und für wen auch immer unser Quintett aber geschrieben wurde, es ist jedenfalls schon bester Haydn: die drei kurzen Sätze – Moderato, Menuet und Allegro, alle in Es-Dur – quellen vor Ideen nur so über. Esprit und Noblesse kennzeichnen die Themen und ihre durchwegs originelle Verarbeitung, in der sich übrigens schon vieles von Haydns unerschöpflicher Variationskunst vorausahnen läßt. Einzig das harmonische und formale Gerüst mutet ein wenig bieder an, wenn man die späteren Errungenschaften des Komponisten auf diesen Gebieten im Ohr hat. Über allem aber steht die vitale Ursprünglichkeit, der diese Musik ihre nie verblassende Frische verdankt.

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Dvořák: Quintett für zwei Violinen, Viola und Cello und Piano [Nr.2] A-Dur op.81 [B 155]

Antonín Dvořák

* 08. September 1841
† 01. Mai 1904

Quintett für zwei Violinen, Viola und Cello und Piano [Nr.2] A-Dur op.81 [B 155]

Komponiert:Vysoká u Pribrami, 18. August – 3. Oktober 1887
Widmung:Bohdan Neureuther
Uraufführung:Praha, Umelecká beseda, 6.1.1888
Karel Kovařovic (1862-1920), Klavier
Karel Ondříček (1863-1943), Violine
Jan Pelikán (Lebensdaten unbekannt), Violine
Petr Mareš (Lebensdaten unbekannt), Viola
Alois Neruda (1837-1899), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1888

Mitte der 1880er Jahre hatte Dvořáks Schaffen einen schon fast beängstigenden Umfang angenommen. Die Kompositionsaufträge und Konzerteinladungen nahmen kein Ende, und Dvořák, dem nichts so sehr am Herzen lag wie ein geruhsames Familienleben und Schaffensmuße, sah sich zunehmend von Termin zu Termin gehetzt. So absolvierte er zwischen März 1884 und November 1886 nicht weniger als fünf ausgedehnte England-Tourneen, die alle mit anstrengenden Dirigaten und großangelegten Kompositionsaufträgen verbunden waren. Natürlich genoß er die Triumphe, die er dabei feiern konnte — aber allmählich nahm doch die Erschöpfung überhand.
Schon vom Honorar seiner ersten Englandreise hatte er 1884 seinem Schwager, dem Grafen Kaunitz, ein kleines Landgut in der Nähe der südlich von Prag gelegenen alten Silberbergwerkstadt Pribram abgekauft und mit dessen tätiger Hilfe instandgesetzt. Auf diese Weise war in Vysoká aus einem alten Schafstall ein ansehnliches Landhaus inmitten eines ausgedehnten Gartens geworden, wo Dvořák in der schönen Jahreszeit jeden freien Tag mit seiner Familie verbrachte. Zwischen zwei Englandreisen berichtet er seinem Verleger Fritz Simrock:

„Ich bin schon seit 6 Wochen hier in Vysoká und weil das Wetter so günstig und die Gegend so herrlich ist, so lebe ich hier besser wie Bismarck in Varzin und bin dabei gar nicht faul. Den ganzen Tag verbringe ich meistens in meinem Garten, den ich so schön pflege und liebe wie die göttliche Kunst und dann bummle ich im Wald…„
(11. Juni 1886)

Dieses Tusculum, welches das Landkind Dvořák bald auch mit einer Kuh, einer Ziege, Hasen und Tauben bevölkerte, war von nun an der eigentliche Mittelpunkt seines Lebens, und es gab kaum eine Verpflichtung, die er nicht gerne abgesagt hätte, um hier einige ruhige Tage lang die Vögel singen zu hören.

Nach der Rückkehr aus England im November 1886 hatte Dvořák sich wieder einmal mit seiner alten Schmerzensoper „Král a uhlír“ beschäftigen müssen. Für die Wiederaufnahme dieser Oper entschloß er sich, die zweite Komposition dieses Librettos noch einmal gründlich zu überarbeiten — wobei sein Freund Václav Juda Novotný auch gleich den Text verbesserte. Diese letzte Fassung der Oper (B 151) hatte am 15. Juni 1887 im Prager Nationaltheater ihre Premiere. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Familie Dvořák schon seit mehreren Wochen ihr Sommerquartier in Vysoká bezogen.

Die Rückkehr zu einem Werk, das Dvořák schon 1871 das erste Mal beschäftigt hatte, löst eine ganze Kettenreaktion aus: Über einen längeren Zeitraum hinweg widmet sich der Meister jetzt der Überarbeitung alter Werke. Fritz Simrock, dem er im April 1887 die schon zehn Jahre zuvor entstandenen Symphonischen Variationen (B 70, op. 78) anbietet, deutet er bei dieser Gelegenheit an:

„Ich habe noch so manches in meinem alten Koffer was schlummert und will das Licht sehen!„
(15. April 1887)

Schon einige Wochen zuvor hat er sich bei seinem damals in Hamburg wohnenden Freund Ludevít Procházka angelegentlich nach einem Manuskript erkundigt, das er in dessen Besitz weiß:

„Lieber Freund!
Erinnern Sie sich noch eines Klavierquintetts (A dur), das vor 14 Jahren dank Ihnen in Prag uraufgeführt wurde? Ich kann meine Partitur nirgendwo finden, aber ich weiß, daß Sie sich jenes Quintett damals sicherlich abschreiben ließen. Wenn das so sein sollte, würde ich Sie bitten, es mir liebenswürdigerweise zu borgen, damit ich es abschreiben kann.
Ich schaue jetzt manchmal gerne auf meine alten Sünden zurück und wäre froh, es nach so langer Zeit wiederzusehen.„
(20. März 1887)

Procházka hatte tatsächlich von dem Werk (Quintett A-Dur, op. 5, B 28), das Dvořák noch kurz zuvor in einer Liste seiner „verbrannten und zerrissenen Kompositionen„ verzeichnet, anläßlich der Uraufführung am 22. November 1872 eine Abschrift anfertigen lassen, die er jetzt dem Komponisten zur Verfügung stellen kann.
In den nächsten Monaten versucht Dvořák, das Werk für eine eventuelle Herausgabe zu überarbeiten. Das Hauptproblem scheint dabei zunächst nur die Überlänge und Formlosigkeit des Werkes zu sein. Dvořák kürzt gleich den ersten Satz um nicht weniger als 150 Takte; dann macht er sich daran, die formale Disposition des zweiten Satzes grundlegend zu ändern und auch diesen Satz wesentlich zu straffen. Als er aber mit seiner Revisionsarbeit beim Finale des dreisätzigen Werkes angelangt ist, wird ihm klar, daß er nicht gleichzeitig dem Jugendwerk Gerechtigkeit widerfahren lassen und ein ihn selbst wirklich befriedigendes Werk daraus machen kann.

Den Entschluß, die Überarbeitung des alten zugunsten der Komposition eines neuen Quintetts aufzugeben, muß Dvořák ganz plötzlich gefaßt haben: Noch am 16. August 1887 schreibt er seinem Freund Alois Göbl aus Vysoká:

„Ich mache jetzt gar nichts Neues, sondern verbessere nur einige alte Sachen, die ich Simrock schicken will.„

Zwei Tage später beginnt er aber mit der Niederschrift des ersten Satzes eines ganz neuen Klavierquintetts, dem er die Opusnummer 77 zugedacht hat. (Fritz Simrock, der niedrige Opuszahlen fürchtete wie der Teufel das Weihwasser, hat diese Nummer dann dem G-Dur-Streichquintett [B 49] zugeteilt, das zu den Werken aus Dvořáks altem Koffer gehörte, schon 1875 entstanden war und eigentlich die Opusnummer 18 tragen hätte sollen.) Am 28. August ist dieser Satz schon vollendet, und eine Woche später kündigt der Komponist seinem Verleger das neue Werk an, dessen Niederschrift er, wie er im Autograph vermerkt, am „3.10. 1887 in Vysoká, am Kirchweihtag“ fertigstellt.

Die der Komposition unmittelbar vorangehende Auseinandersetzung mit einem Werk seiner „verrückten Periode“ hat unübersehbare Spuren in der Neuschöpfung hinterlassen: die formale Ökonomie, die Treffsicherheit der Formulierung, die Fähigkeit, mehrere Motivstränge zu einem organischen Ganzen zu verflechten, ohne jemals ins Uferlose zu geraten — all das sind Tugenden und Fähigkeiten, die Dvořák in den eineinhalb Jahrzehnten seit der Komposition seines ersten Klavierquintetts erworben hat und die er jetzt exemplarisch vorführt, so als würde er sein eigenes Selbst von 1871 liebevoll tadeln und mitleidig belehren. Die Wahl der selben Tonart für das neue Werk unterstreicht, daß es Dvořák um eine Art „Wiedergeburt“ des unverbesserlichen Jugendwerkes zu tun war — und daß er dabei keinerlei konkrete Anleihen bei diesem machen mußte, beweist nur, wie sicher er war, erst jetzt mit gesteigertem Können und Wissen das innerste Wesen seines Jugendtraumes (Gerard Manley Hopkins hätte gesagt: „the inscape“) endlich ans Licht zu bringen.

Allegro ma non tanto ist die Tempobezeichnung des ersten Satzes, und schon der Beginn läßt uns ahnen, daß das nicht einfach nur eine praktische Spielanweisung, sondern in gewisser Weise schon Programm ist. (Das Allegro ma non troppo des Jugendwerkes hatte mit nicht annähernd so tauglichen Mitteln wohl ein ähnliches Ziel verfolgt.) Die Tradition des Genres — das zu Dvořáks Zeit eigentlich nur in den Klavierquintetten Schumanns (1842) und Brahms´ (1862/64) allgemein anerkannte Bezugswerke besaß — sah für den Kopfsatz ein markantes, „tektonisches“ Incipit vor. Die liedhaft, verträumte Stimmung des Anfangs steht in denkbar größtem Widerspruch zu dieser Erwartung. Der Nachsatz des Hauptthemas weicht unvermittelt in die Mollvariante aus und wird sogleich, so als sei sich das Thema verspätet der auf ihm ruhenden Verantwortung bewußt geworden, zweimal in dramatisch geraffter Gestalt wiederholt — Dvořák verwendet für diese „Monumentalvariante“ des Hauptthemas in Moll ein stenographisches Konzentrat des Liedthemas, das hier auf seine beiden Grundelemente (aufsteigende Quart und diatonischer Oktavfall) reduziert erscheint. Die zweite Wiederholung führt nach C-Dur, in welcher Tonart dann das aus einem unscheinbaren rhythmischen Détail des ersten Gedankens entwickelte zweite Hauptthema des Satzes auftritt. Dieser Entwicklungsschritt wird gleich noch einmal rekapituliert, diesmal aber mit H-Dur als Zieltonart, wodurch ein erstes Mal die für die Reprise bedeutsame Versetzung um einen Halbtonschritt ins Spiel gebracht ist. Die anschließenden Überleitungstakte, die auf die Dominante zuzusteuern scheinen, machen die Täuschung perfekt: Das hier erwartete Seitenthema bleibt aber aus, und an seiner Stelle meldet sich das Klavier mit einer achttaktigen Paraphrase des ersten Hauptthemas, in der alle schwärmerische Sehnsucht dieses Gedankens zusammengedrängt erscheint und die somit die vorangegangene Moll-„Verformung“ des Themas wieder aufhebt. Von hier öffnet sich der Weg zu einer getreuen Wiederholung des ganzen Hauptsatzes, wobei der Mollwendung aber jetzt kein dramatischer, sondern ein explizit spielerischer Charakter zugedacht ist — nicht weniger als vier ostinate rhythmische Muster überlagern sich in dieser Passage, die schließlich mit einer jähen Wendung nach cis-moll zum Seitensatz führt. Dem Seitenthema liegt einer jener ebenso wundervollen wie unspektakulären Einfälle zugrunde, aus denen gleichzeitig die Genialität und Bescheidenheit des Meisters spricht; und es ist vielleicht kein Zufall, daß der Bratscher Dvořák an dieser Stelle zuerst sein Instrument zu Wort kommen läßt. Dem innig bewegten Parlando ist anfangs der für das Tschechische so charakteristische daktylische Rhythmus unterlegt, der schließlich in die Trochäen des Hauptsatzes verebbt. Erst im zweiten Schritt werden die Fünftakter, die das Gefühl des Unausgesprochenen, Nicht-zu-Ende-Gesagten vermitteln, zu zielstrebigeren Viertaktern verdichtet, ja diese Verdichtung führt sogar zu einer Art Durchführung des Seitenthemas, in die sich von Ferne wieder die Mollfassung des Hauptthemas vernehmen läßt, bevor die Rückkehr des Seitenthemas in seiner ursprünglichen Gestalt, jetzt aber in dramatischer Erregung, die Exposition beschließt.
Die vorgeschriebene (und für Dvořák eher atypische) Wiederholung dieser außerordentlich gedankenreichen und entwickelten Exposition wirft für die nachfolgenden Formteile ein nicht zu unterschätzendes Problem auf: Einerseits läßt die dialektische Stringenz des in der Exposition etablierten (und durch die Wiederholung bekräftigten) Ablaufes Änderungen nur schwer zu, andererseits wäre eine nochmalige, nur tonartlich veränderte Wiederholung in der Reprise vom dramaturgischen Standpunkt aus recht problematisch. (Dieses immanente Dilemma der Sonatenform ist auch der Hauptgrund für den gegen Ende des XIX. Jahrhunderts immer mehr zur Norm werdenden Verzicht auf die Wiederholung der Exposition.) Dvořák umgeht diese Schwierigkeit mit gewohnter Souveränität: Er verwebt die Durchführung und den ersten Teil der Reprise so miteinander, daß die neuhinzukommenden Durchführungsabschnitte als erhellende und vertiefende Kommentare des schon aus der Exposition vertrauten Ablaufes wirken. Zusätzlichen Reiz erhält diese Umformung durch die gewählten Transpositionsintervalle. Der erste Gedanke erscheint von A-Dur nach b-moll verfremdet, das zweite Hauptthema tritt in Ces-Dur (statt C-Dur) auf. Der modulatorische Reichtum der durchführenden Teile und die raffinierte Überblendung von neuen und schon bekannten Abschnitten führen dazu, daß die Einmündung in den „normalen“ Reprisenverlauf psychologisch wie der eigentliche Reprisenbeginn wirkt — und somit die an dieser Stelle fällige Wiederholung des Hauptthemas doppelt motiviert erscheint. In der Coda wird dann die Mollvariante des Hauptthemas mit emphatischer Geste nach Dur zurückverwandelt und von den jetzt jubelnden Rhythmen des Seitenthemas zu einem sieghaften Ende begleitet.

Wie in seinem neun Jahre zuvor komponierten und in der selben Tonart stehenden Streichsextett (op. 48, B 80) wählt Dvořák für die Mittelsätze die slavischen Genrebezeichnungen Dumka und Furiant. Während der letztere ein klar definierter Tanztypus ist (den der Komponist freilich für seine Zwecke in charakteristischer Weise abwandelt und veredelt), läßt sich der Begriff Dumka, an dessen Verbreitung Dvořák wesentlichen Anteil hat, nicht ohne weiteres mit einem konkreten typologischen Modell in Verbindung bringen. Die manchmal zu findende Definition der Dumka als eines Stückes mit zwei in Tempo und Charakter kontrastierenden, alternierenden Abschnitten, würde es erlauben, einen nicht unerheblichen Teil der gesamten Musikliteratur nachträglich zur Dumka zu erklären.
Die hier vorliegende Dumka (Andante con moto, fis-moll) zeigt jedenfalls, daß bei Dvořák der Begriff nicht an eine bestimmte Form gebunden ist — die hier gewählte ist (wie übrigens auch im analogen Satz des Streichsextetts) die eines klassischen Rondos. Das rhapsodisch erzählende und wieder einmal der geliebten Bratsche anvertraute Ritornell wird jeweils von einem viertaktigen Motto umrahmt, dessen fallendes Dreiklangmotiv für den elegischen Grundton des Satzes verantwortlich zu sein scheint, bis es sich uns in der Zentralepisode (Vivace) als Keimzelle eines übermütigen Springtanzes zu erkennen gibt. Diese tänzerische Gestalt des Ausgangsmotivs durchpulst dann als hintergründige Begleitfigur auch noch das nachfolgende Ritornell. In den dazwischenliegenden Seitenepisoden (Un pochettino più mosso) macht Dvořák eine seiner beseligendsten thematischen Eingebungen zum Ausgangspunkt einer in immer elegischere Bereiche zurückführenden modulatorischen Wanderschaft. Auch in dieser Episode verwendet er, wie schon im Ritornell, eine das Thema bereichernde komplementäre Gegenstimme, wie man sie ähnlich auch als „Überschlag“ in der Volksmusik finden kann. Der ganze Satz zeichnet sich nicht nur durch besonders einprägsame und inspirierte Themen, sondern auch durch einen nicht alltäglichen Reichtum an koloristischen Effekten und originellen, einander überlagernden rhythmischen Mustern aus. Es ist daher leicht zu verstehen, daß er als ein Paradigma aller Vorzüge der Dvořákschen Kunst ganz besondere Popularität genießt.

Wenn sich auch die Folkloristen über die Heimat des Furiant nicht restlos einigen können — in der Kunstmusik gehört dieser Tanz, dank Smetana und Dvořák, ohne jede Frage den Tschechen. Mit dem spätlateinischen Lehnwort Furiant bezeichnet die tschechische Volkssprache auch einen unberechenbaren, leichtsinnigen Menschen. Im Volkstanz ahmt der Tänzer mit in die Seiten gestemmten Armen pantomimisch einen aufgeblasenen Bauern nach — und dort ist auch die charakteristische Abfolge von drei Zweiviertel- und zwei Dreivierteltakten verbreitet, die Dvořák in das G-moll-Schlußstück der ersten Serie seiner Slavischen Tänze (op.46, B 78) übernommen hat. Für das intimere Reich der Kammermusik hat er sowohl im Streichsextett als auch in unserem Klavierquintett eine stilisiertere und metrisch glattere Abart des Tanzes bevorzugt.
Unser Furiant (Molto vivace) folgt formal dem klassischen Scherzo. Sein Hauptthema ähnelt im Grundtypus sehr demjenigen seines in der selben Tonart stehenden Pendants aus dem Streichsextett — betonte Zweitaktigkeit, Wechsel von durchlaufender Achtel- und markierter Viertelbewegung; während aber dort jeder Zweitakter in einen betonten Schlußtrochäus ausläuft, ist es hier nur jeder vierter, was dem Thema einen viel eleganteren (und weniger volkstümlichen) Zug verleiht. Damit diese Eleganz nicht in etwa sinnlose Raserei ausartet, hat Dvořák nicht nur ein etwas gemäßigteres Tempo vorgeschrieben (Molto vivace anstelle von Presto), sondern außerdem in den beflügelten Aufschwung des Themas im zweiten und dritten Takt kleine melodisch-rhythmische Widerhäkchen eingefügt, die für die einzigartige Physiognomie dieses Stückes ganz entscheidend sind. Das Verbindungsthema des Cellos scheint — gutes, altes Kakanien! — Furiant und Walzer versöhnen zu wollen, aber das Seitenthema hat schon wieder eindeutig den Ductus eines tschechischen Kinderliedes. Das in der Submediante F-Dur stehende Trio (Poco tranquillo) gibt dem beibehaltenen Hauptthema eine neue Bedeutung, indem es ihm einen Cantus firmus in Viertaktgruppen unterlegt, der das inhärente Betonungsschema des Hauptteiles entkräftet. In der Rückführung zur stark verkürzten Reprise bringt Dvořák für einen flüchtigen Moment auch die volkstümlichen Furiant-Hämiolen ins Spiel. Nur schmückendes Beiwerk und doch der tiefere Reichtum dieses leichtgewichtigen Satzes sind die ständig wechselnden und andauernd faszinierenden Begleitfiguren, die Dvořák mit staunenswerter Sorgfalt ausgearbeitet hat.

Das Finale (Allegro) erfüllt mit seiner tänzerischen Vitalität alle Erwartungen, die der Musikfreund in einen Dvořákschen Kehraus nur setzen mag. Trotzdem zeigt sich gerade an einem solchen „problemlosen“ Satz, mit welch raffinierter Ökonomie Dvořáks vielbeschworener Instinkt den Komponisten ans Werk gehen läßt. Das bezieht sich nicht nur auf die Geschlossenheit des thematischen Materials — hier kann man leicht einen lapidaren diatonischen Quintfall als ursprüngliche Keimzelle fast aller verwendeten Themen ausmachen — oder den (an Brahms erinnernden) unerschöpflichen Erfindungsreichtum bei der organischen Verknüpfung der einzelnen Formteile. Denn vielleicht noch bewundernswerter als all diese Détails ist die Sicherheit, mit der Dvořák der Hauptgefahr eines Tanzfinales — der Monotonie — ausweicht. Anders als im vorangegangenen Scherzo, dessen weit engerer formaler Rahmen die Verwendung typischer (d. h. in der Regel: kleinräumiger) Tanzthemen begünstigt, erweist sich dieser Thementyp bei Ecksätzen in Sonaten- oder Rondoform nämlich oft als wahre Falle.
Dvořák gelingt hier beides: Er läßt dem Tanz sein ureigenstes Recht — sich unbeschwert auszutanzen —, und er erfüllt trotzdem gleichzeitig die höheren und abstrakteren Ansprüche der gewählten Sonatenform. Der Kniff, den er dazu verwendet, zeugt eben nicht nur von seinem „Instinkt“ (ein Begriff, der dem landläufigen Verständnis Dvořáks Genialität ebenso leicht faßlich machen will wie die seines in verharmlosender Anbiederung „Papa Haydn“ genannten Vorgängers), sondern weit mehr noch von zielstrebig zur Reife gebrachter Gestaltungskraft und selbstbewußter Beherrschung der Materie, also genau jenen Voraussetzungen, die Dvořák in seinem verworfenen Jugendwerk vermißte.
Schon der Satzanfang gibt uns ein schönes Beispiel dafür, wie der Komponist seine handwerkliche Meisterschaft in den Dienst übergeordneter dramaturgischer Notwendigkeiten zu stellen weiß: Das viertönige Schlußmotiv des Hauptthemas erscheint als Einleitung in gleichsam miniaturisierter (intervallisch verengter) Gestalt, die sich schrittweise bis fast zur „richtigen“ Größe dehnt; die dadurch erzielte organische Einheit von Einleitung und Hauptthema gibt allen erforderlichen Wiederholungen dieses Formteiles eine Großzügigkeit, die mit dem relativ kurzatmigen „Einfall“ des Tanzthemas allein nicht zu erreichen gewesen wäre. Das so zusammengesetzte Hauptthema wird gleich zweimal exponiert — zunächst in einer „ungeschliffenen“, naturbelassenen Variante (als Periode aus zweimal viereinhalb Takten, deren Nachsatz die für die tschechische Folklore so charakteristische Wendung in die Mollparallele aufweist), dann gleich in stilisiert „klassischem“ Gewand (als regelmäßiger, auf der Tonika verharrender Achttakter). Unmittelbar auf diese doppelte Exposition des Hauptthemas folgt nun ein Durchführungsteil, in dem sich beide Hauptmotive des Themas — die signalhafte Punktierung des Themenkopfes und die sich ausgelassen drehende Sechzehntelbewegung — nach Herzenslust austanzen können. Mit der fast epischen Breite dieses komplexen Hauptsatzes bewirkt Dvořák zweierlei: Zum einen wird dem tänzerischen Impuls des Hauptthemas jener natürliche Spielraum gewährt, den er braucht; zum anderen verschafft sich der Komponist so aber auch Platz für einen ausgedehnten Seitensatz, der freilich ganz anderen Gesetzen gehorcht. Als Gegengewicht zur unermüdlichen Beharrlichkeit des einen Hauptthemas kann Dvořák uns hier jetzt gleich nicht weniger als vier Themen präsentieren: Auf einen volksliedartigen Gedanken, der aus dem Kopfmotiv des Hauptthemas hervorgeht (und mit diesem auch die Wendung in die Mollparallele gemeinsam hat), folgt ein (harmonisch den umgekehrten Weg beschreitendes) zweites Thema, das fast wie eine ins Tschechische übersetzte Fassung des C-Dur-Marschthemas aus dem Andante des Brahmsschen Klavierquartetts op. 25 anmutet. Die folgenden beiden Gedanken sind miteinander verschwistert: Die sehnsüchtigen Synkopierungen des dritten Themas lösen sich im vierten gleich wieder in volksliedhafte Formeln auf.
Von den mit einer solchen Exposition geschaffenen Voraussetzungen ausgehend hätte eine „schulmäßige“ Fortsetzung des Sonatensatzes unweigerlich gigantische Ausmaße angenommen: Eine dialektische Durchführung von Haupt- und Seitensatz hätte sich wohl kaum auf engem Raum befriedigend gestalten lassen, und in der Reprise hätten die sich anbietenden Kürzungsmöglichkeiten (etwa das Weglassen der Hauptthemenwiederholung) zu einem schwer zu korrigierenden Mißverhältnis der Proportionen von Haupt- und Seitensatz geführt. Beide ausständigen Formteile — Durchführung und Reprise — sind aber alles andere als traditionelle Zugeständnisse an formale Konventionen, sie entsprechen vielmehr elementaren Bedürfnissen: dem intellektuellen der Entwicklung und dem emotionalen der Wiederholung. Dvořák stand also vor einem ganz ähnlichen Problem, wie wir es im Kopfsatz beschrieben haben — und er wählte einen durchaus vergleichbaren Ausweg. (An dieser Stelle sei, nur als Marginalie, angemerkt, daß die beiden einander in den inneren Proportionen und den gewählten formalen Strategien so ähnlichen Ecksätze auch — die beiden „leeren“ Einleitungstakte des Kopfsatzes nicht mitgerechnet — exakt die gleiche Taktanzahl aufweisen.) Auch hier kommt es zu einer Verschmelzung von Durchführung und Reprise: Dvořák läßt auf die Exposition des Seitensatzes direkt die Reprise des Hauptthemas folgen; die Stelle der durchführungsartigen Erweiterung der Hauptthemenexposition nimmt aber nun eine regelrechte, durch Rückung in die Mollvariante charakteristisch markierte Durchführung ein. Einem modulierenden Durchführungsmodell, das die Verknüpfung von Einleitung und Hauptthemenkopf betont, folgen ein Abschnitt, in dem dieser Themenkopf mit seiner Vergrößerung kombiniert wird, und schließlich — als Zentrum der Durchführung — ein Fugato über das in Moll verharrende und chromatisch verfremdete Hauptthema. Obwohl Dvořák jetzt direkt zur Reprise des Seitenthemas schreiten könnte, erfüllt er en passant auch noch die Erwartung des Zuhörers nach einer Reprise an der „richtigen“ Stelle: Es ist zwar aus Gründen der Ökonomie nur ein Reprisenfragment, das unter Bezugnahme auf die gewählte Formvariante (— es handelt sich ja eigentlich um den Abschluß der die Durchführung miteinbeziehenden Hauptthemenreprise —) gleichzeitig auch Codacharakter hat, wird aber agogisch durch ein vorangehendes sostenuto unterstrichen. (Die Parallele zu der analogen, largamente bezeichneten Stelle des ersten Satzes ist evident.) Ein Zitat der Mollvariante des Themas, die ja zuvor den Durchführungsprozeß in Gang gesetzt hat, schließt den großen Bogen und führt jetzt endlich zur Seitensatzreprise, die sich — ganz wie im Kopfsatz — treu an den in der Exposition vorgezeichneten Weg hält. Die mehrfach mit poco sostenuto und tranquillo bezeichnete Coda umkreist zuletzt wie träumerisch den Anfang des Hauptthemas, das aber nicht wieder erscheint. Daß Dvořák dem sostenuto für den übermütig sich austobenden Satzschluß kein ausdrückliches a tempo folgen läßt, ist sicher keine Nachlässigkeit, sondern nur Beweis seines — hoffentlich nicht ganz unbegründeten — Vertrauens in den musikalischen Instinkt seiner Interpreten.

© by Claus-Christian Schuster