Schönberg: Kammersymphonie Nr.1, E-Dur, op.9 (arr. von Anton von Webern)

Arnold Schönberg

* 13. September 1874
† 13. Juli 1951

Kammersymphonie Nr.1, E-Dur, op.9 (arr. von Anton von Webern)

Komponiert:Wien – Rottach-Egern am Tegernsee, April – 25. Juli 1906
Uraufführung:Originalfassung:
Wien, Großer Musikvereins-Saal, 8. Februar 1907
(Rosé-Quartett und Bläservereinigung des Wiener Hofopernorchesters)

Bearbeitung:
Barcelona, 29. April 1925
(Pierrot-Ensemble unter der Leitung Arnold Schönbergs)
Erstausgabe:Original: Universal Edition, Wien, 1913; Bearbeitung: Universal Edition, Wien, 1968

„Das ist ja nicht ein Werk wie ein anderes.
Das ist ein Markstein der Musik,
genug für eine ganze Generation.”
(Alban Berg an Arnold Schönberg, 8. Oktober 1914)

„Die Kammersymphonie ist das letzte Werk meiner ersten Periode. Sie besteht nur aus einem einzigen Satz. […] Wodurch sie sich von den früheren Werken unterscheidet, ist ihre Dauer. […] Die Länge meiner früheren Kompositionen war eines der Charakteristika, die mich mit dem Stil meiner Vorgänger – Bruckner und Mahler – verbanden. […] Ich bin dessen müde geworden – weniger als Zuhörer sondern als Komponist, der Musik von solcher Länge schreibt.”

Daß Schönberg in diesem Selbstzeugnis den Aspekt der Gedrängtheit als wesentlichstes Charakteristikum seiner ersten Kammersymphonie ins Zentrum rückt, mag angesichts einer Aufführungsdauer von rund zwanzig Minuten verblüffen – wenn wir an Kürze denken, gelten uns wohl die Werke ihres Bearbeiters Anton von Webern als radikalstes und konsequentestes Paradigma, und gemessen daran wirkt die Kammersymphonie geradezu episch breit. Was aber Schönberg im Sinne hatte, war eben nicht die aphoristische Knappheit jener expresssionistischer Skizzen hart am Rande das Verstummens, sondern die äußerste Raffung und Verdichtung der in der spätromantischen Symphonik entwickelten formalen und motivischen Abläufe. Und unter diesem Gesichtspunkt ist ihm tatsächlich ein epochales Werk geglückt, das Alban Bergs Urteil in jeder Hinsicht rechtfertigt.

Die Überfülle des hier vorliegenden thematischen Materials mit all seinen motivischen Verästelungen in ein so kompaktes Gebilde zu zwingen, war sicher die bis dahin größte Herausforderung in Arnold Schönbergs kompositorischem Lebensweg – und die Bewältigung dieser Aufgabe sollte zum alles entscheidenden Prüfstein für seinen weiteren Entwicklungsgang werden. Diese eminent persönliche Dimension des Werkes drückt sich „buchstäblich”, nämlich monogrammatisch, schon in den ersten Noten der Partitur aus: ein auf viertaktigem Umwegen über harmonische terra incognita schließlich als Terzton eines F-moll-Dreiklangs gedeutetes AS eröffnet das Werk, und mit seiner unmittelbar darauf folgenden „Auflösung” nach A(als Terz von F-Dur) korrespondiert sofort eS als Zielton des (den schon im zweiten Takt etablierten Quartenakkord thematisierenden) ersten Hauptgedankens, des wohl berühmtesten und emblematischsten aller Themen der Zweiten Wiener Schule – eines in fünf entschlossenen Quartschritten emporstürmenden Kampfrufes. Der sich nun in gedrängter Fülle entfaltende Reichtum an thematischen Gedanken, die alle auf ebenso geheimnisvolle wie organische Weise zueinander in engster Beziehung stehen, verbietet jeden auf konkrete Notenbeispiele verzichtenden Kommentar; überhaupt ist mit der detaillierten Analyse der formalen und thematischen Abläufe für den Interpreten recht viel, für den Zuhörer aber gar nichts gewonnen. (Seit der um 1920 erschienenen thematischen Analyse Alban Bergs ist das Werk immer wieder und unter immer wieder neuen Gesichtspunkten untersucht worden – mit jener Divergenz der Detailergebnisse, wie sie dem jeweils individuellen Hörerlebnis eines so persönlichen Werkes wohl angemessen ist.) Die Großgliederung ist dabei ebenso klar wie unmittelbar sinnfällig: Der Aufbruchstimmung des Kopfsatzes folgt mit dem Scherzo (Sehr rasch, T.160 ff.) ein bedrückendes Abbild „entfremdeter Gegenwart”. Barbara Meier hat in ihrer dem Werk gewidmeten Studie (1992) auf die unüberhörbaren Beziehungen dieses Satzes zur gleichzeitig entstehenden frühexpressionistischen Großstadtlyrik hingewiesen – der beflügelte Lebensmut des ersten Teiles trifft hier auf eine seelenlose Mechanik, die jede Gefühlsregung in kalter Feindseligkeit erstickt. Die Verwendung des Terminus „Durchführung” für den folgenden Abschnitt (T.279 ff.) erscheint vor diesem hermeneutischen Hintergrund noch unbeholfener und unpassender als sonst: Die Umkehrungen der Themen, denen wir in dieser zerklüfteten Landschaft begegnen, sind eben nicht als satztechnischer Kunstgriff zu verstehen, sondern spiegeln (wie freilich in jeder genialen Musik) ein seelisches Drama wider, dem gegenüber Worte versagen. Die gleichsam „entrückte” Wiederauferstehung des ersten Hauptgedankens in seiner ursprünglichen Gestalt (T.368 ff.) leitet den langsamen Satz ein, der hier der Ort der Verinnerlichung und Selbstbegegnung ist: Der gequälte und bedrängte, auf sich selbst zurückgeworfene Mensch wird in der vereinsamten Klage endlich seiner wahren Bestimmung inne. Daß der Übergang von hier zu dem, was man technisch die „Reprise” nennen müßte (T. 435 ff.), allmählich und fließend ist, versteht sich nach dem Gesagten wohl von selbst – es handelt sich hier wohl um den einzigen formalen Schnittpunkt des Werkes, der nicht ohne weiteres hörend zu erfahren ist. Diese „Reprise” ist übrigens von unerhörter Kürze (nur etwas mehr als ein Drittel der Ausdehnung des Kopfsatzes) und geht hörbar, aber nahtlos in eine ausgedehnte Coda (T.497 ff.) über, in die allerdings noch „Reprisenreste” integriert erscheinen. Die knappe Stretta, in der die beiden einander das ganze Stück hindurch feindlich gegenüberstehenden tonalen Zentren F und E ein letztes Mal aufeinandertreffen endet in einer fast zwanghaft anmutenden, emphatischen Beschwörung des siegreichen E-Dur-Akkords, der zuletzt nicht weniger als elf Mal bekräftigt wird – ist es nur die musikhistorische Post festum-Perspektive, die aus diesem Schluß einen alles andere als leichtfertigen Abschied von der Tonalität macht?

Unmittelbar nach Abschluß der Komposition des Werkes, die sich von April bis Juli 1906 erstreckt hatte, wandte sich Schönberg wegen einer Aufführung der Kammersymphonie brieflich an Ferdinand Löwe, den Leiter des Wiener Konzertvereines, der sich sogleich die Partitur zur Einsicht erbat, um aber den Komponisten schon bald darauf wissen zu lassen:

„Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, daß mir Ihr Werk nach aufmerksamer Lektüre der Partitur bis jetzt unverständlich geblieben ist. Dies soll keineswegs ein Urtheil, sondern blos ein Geständnis sein.”
(13. September 1906)

Auch Richard Strauss winkte ab. Es war schließlich dem Wagemut von Arnold Rosé zu danken, daß die Uraufführung des ensemblistisch überaus anspruchsvollen Werkes schon am 8. Februar 1907 stattfinden konnte. Die folgende Rezension jener denkwürdigen Aufführung im Großen Musikvereins-Saal vermittelt einen bedrückenden Einblick in die Hexenküche, in der in jenen Jahren auch die „Ästhetik” von Adolf Schickelgruber zusammengebraut wurde:

„Viele stahlen sich vor Schluß dieses Stückes lachend aus dem Bund, viele zischten und pfiffen, viele applaudierten. Schließlich kam Herr S. selber und schüttelte den 15 Mitwirkenden gerührt die Hand. In einer Loge stand bleich und mit verkniffenen Lippen der Herr Hofoperndirector Gustav Mahler, der das hohe Protectorat über entartete Musik schon seit längerer Zeit führt. Festzustellen wäre nur das Eine: Herr S. ereignet sich in Wien. In der Hauptstadt ewiger und unvergeßlicher Musik. Tuts niemandem mehr weh, daß gerade hier die pöbelhaftesten Manieren, Lärm zu machen, heimisch geworden sind? Er macht wilde, ungepflegte Demokratengeräusche, die kein vornehmer Mensch mit Musik verwechseln kann. Aber der Spuk wird vorübergehen; er hat keine Zukunft, kennt keine Vergangenheit, er erfreut sich nur einer sehr äußerlichen und armseligen Gegenwart.”
(Illustriertes Wiener Extra-Blatt, 9. Februar 1907)

Gegen diese Abart der Kritik war nichts zu unternehmen. Aber Schönberg war sich sehr wohl auch der Tatsache bewußt, daß die Unzulänglichkeiten der Aufführung, die sich aus den völlig ungewohnten Schwierigkeiten des Werkes und aus seiner experimentellen Besetzung fast zwangsläufig ergeben mußten, sogar dem willigen Hörer erhebliche Hindernisse für das Verständnis in den Weg legten.

„Die Aufführung der Kammersymphonie war der bis dahin größte Skandal. Nachher kam ein wohlgesinnter Kritiker, mein Jugendfreund Dr. B[ach], zu mir, lieh sich die Partitur aus, kam, nachdem er sie studiert hatte, wieder zu mir, ließ sich von mir die Details der Arbeit erklären, hörte all meine Polemik gegen die erhobenen Angriffe an und sagte als Resultat meiner Überredungskunst: »Ja weißt du, alles, was du da sagst, ist ja ganz schön und interessant und wahrscheinlich auch richtig: Aber was nützt das alles? Ein Werk muß für sich selbst sprechen, und ich habe einfach gar keinen Eindruck gehabt.« So sprach ein Wohlwollender.
(Skandale, 1928)

In einem Ensemble von fünfzehn Orchestermusikern jene kammermusikalische Präzision und Flexibilität zu erzielen, die der beziehungsvollen Vielschichtigkeit des musikalischen Materials allein gerecht werden könnte, mußte bei der Neuartigkeit des hier verwendeten Idioms fast als Utopie erscheinen. Außerdem birgt die Instrumentation des Werkes allein schon auf Grund der akustischen Kräfteverhältnisse – fünf Streichern stehen zehn Bläser gegenüber – die Gefahr der Verdunkelung motivischer Bezüge in sich. Vielleicht ist das einer das Gründe dafür, daß Schönberg schon am 13. Februar 1907, also wenige Tage nach der Uraufführung des Werkes , eine Bearbeitung des Werkes für Klavierquintett in Angriff nahm, die freilich nicht über die ersten 16 Takte hinaus gedieh.

Wie sehr Schönberg um das Schicksal seines Werkes bangte, dessen Bedeutung und Tragweite ihm selbst sich erst nach und nach erschloß, läßt sich in seinem Briefwechsel nachvollziehen:

„Ich muß vier volle Proben haben. Das Werk ist wirklich sehr schwer und ich möchte nicht einen Erfolg wegen Unklarheit haben, sondern ziehe einen Mißerfolg wegen Klarheit vor. Nein, aber im Ernst: die Leute müssen wissen, was ich meine!! […] Und ich hätte gerne mit der Kammersymphonie Erfolg. Dies ist mein Schmerzenskind: eine meiner allerbesten Sachen, und bis jetzt (wegen schlechter Aufführungen!!) noch recht unverstanden. Ich bin überzeugt, daß sie in einer guten Aufführung sehr wirken muß.”
(an Alexander Siloti, 15. Juni 1914)

Allmählich gelangte er aber zur Überzeugung, daß auch die von ihm gewählte Instrumentation dem Verständnis des Werkes hinderlich sei:

„Ich glaube, das ist doch ein Irrtum, diese Solobesetzung der Streicher gegen soviele Bläser. Es fehlt nämlich eine Möglichkeit: kein einziges Instrument, keine einzige Geige kann im vollen Tutti dominierend über dem Ganzen stehen. Die Musik ist so erfunden, daß das nötig wäre.”
(13. Dezember 1916)

Im Frühling 1918 wurde die Kammersymphonie in Wien in zehn öffentlichen Proben einstudiert, um dem Publikum die Möglichkeit zu geben, „das Herausbringen eines so schwierigen Werkes einmal von allem Anfang an verfolgen zu können.”

Nachdem der Plan, die schon im März 1913 erstmals aufgeführte Fassung für zehn Solobläser und Streichorchester in gründlich überarbeiteter Form zu veröffentlichen, gescheitert war, scheint Schönberg Anton von Webern zur Herstellung einer kammermusikalischen Version ermutigt zu haben. Webern begann am 3. November 1922 mit der Quintettbearbeitung des Werkes, die ihn drei volle Monate in Anspruch nahm. Zemlinsky berichtet er darüber:

„Jetzt arbeite ich an einer Bearbeitung der Schönbergschen Kammersymphonie für das Ensemble des »Pierrot«. Gleichzeitig soll es auch eine für Streichquartett und Klavier werden.”
(24. November 1922)

Schönberg selbst kann er dann zwei Monate später mitteilen:

„Ich bin seit einer Woche mit der Bearbeitung der Kammersymphonie fertig und überarbeite jetzt diesen Entwurf gründlichst. Hoffentlich gelingt es mir, das zu leisten, was Du von mir in dieser Hinsicht erwartest. Jedenfalls strebe ich es mit allen Kräften an.”
(27. Jänner 1923)

Diese Webernsche Bearbeitung ist die letzte von insgesamt sieben, die er zwischen 1918 und 1923 für das Ensemble des Vereines für musikalische Privataufführungen anfertigte. Sie wurde jedoch wegen der Auflösung des Vereines nicht mehr in diesem Rahmen aufgeführt, sondern hatte ihre Premiere erst am 29. April 1925 in Barcelona. Daß freilich das Werk auch in seiner neuen Gestalt nichts von seinen ensemblistischen Schwierigkeiten verloren hatte, ist dem Umstand zu entnehmen, daß Schönberg bei dieser Gelegenheit als Dirigent in Aktion treten mußte.

Erst am 27. Dezember 1936, also mehr als dreißig Jahre nach Beendigung der Komposition des Werkes, konnte Schönberg in Los Angeles eine definitive (als Opus 9b veröffentlichte) Fassung für großes Orchester aus der Taufe heben, worüber er Anton von Webern mit nicht zu überhörender Erleichterung, aber doch auch nicht ohne die obligaten selbstkritischen Untertöne berichtet:

„Die klingt jetzt vollkommen klar und plastisch, vielleicht ein bißchen zu laut, was daran liegt, weil ich mich nicht genug vom Original weggetraut habe…”

© by Claus-Christian Schuster