Els Aarne
* 30. März 1917
† 14. Juni 1995
Trio für Violine, Violoncello und Klavier (a-moll), op. 6
| Komponiert : | Tallinn, 1945/46 | 
| Uraufführung : | Tallinn, Estnischer Komponistenverband, März 1946 Els Aarne (Else Aarmann), Klavier Herbert Laan (1907-1988), Violine Mart Paëmurru (Martin Otto, 1908-1972), Violoncello | 
| Erstausgabe : | Manuskript | 
Das Klaviertrio op. 6 entstand ein Jahr nach dem Klavierkonzert op. 5
 und diente Els Aarne zusammen mit jenem als Diplomarbeit zum Abschluß 
ihres Kompositionsstudiums. Mit der Präsentation dieser beiden Werke 
graduierte sie 1946 cum laude. Im Klavierkonzert trat sie bei der 
Uraufführung am 8. März 1946 selbst als Solistin auf (Dirigent: L. 
Saul); das Trio wurde gleich nach seiner ersten Aufführung als 
„formalistisch“, „zu modern“ und „westlich“ kritisiert und blieb danach 
ungedruckt und ungespielt liegen. Anfang der Siebzigerjahre zeigte es 
die Komponistin einmal ganz nebenbei ihrem Sohn, dem diese Kritik völlig
 unverständlich blieb: Was er da sah, war eine sehr schlichte und 
ungekünstelte Liebeserklärung an das estnische Volkslied, das im 
gesamten thematischen Material des Werkes allgegenwärtig ist, sich aber 
nur im Mittelsatz (über das Lied „Targa rehealune“) zu einem echten 
Zitat kristallisiert.
Die Stoßrichtung der ideologisch motivierten Einwände gegen Aarnes 
„folkloristische“ Diplomarbeit ist in der Tat nur aus der konkreten 
historischen Situation der Entstehungszeit zu begreifen. Obwohl die Rote
 Armee zwischen Jänner und September 1944 die nationalsozialistischen 
Besatzer vertrieben und Estland zum zweiten Mal okkupiert hatte, war die
 Sowjetmacht nämlich durchaus nicht unangefochten, und wie auch in den 
beiden südlichen baltischen Republiken sollte der Widerstand nahezu ein 
Jahrzehnt hindurch ungebrochen bleiben. Liest man die linientreue 
sowjetische Kritik der estnischen Musik dieser ersten Nachkriegsjahre, 
so stößt man daher immer wieder auf ein peinliches Lavieren zwischen der
 enthusiastischen Bejahung alles „Volkstümlichen“ (im Gegensatz zum 
„Elitären“) als Ausdruck der Verbundenheit mit den „Werktätigen“ und 
einem krankhaften Mißtrauen gegenüber „nationalistischen“ Motiven, 
hinter denen man separatistische und antikommunistische Tendenzen 
vermutete. Der reiche Fundus der estnischen Volksmusik erwies sich in 
diesem Moment als ein sehr zweischneidiger Schatz: Je nach der 
Disposition des Beurteilers konnte man für die Verwendung estnischer 
Volksweisen gepriesen oder verdächtigt werden. Els Aarnes Entscheidung, 
das folkloristische Ausgangsmaterial ihres Trios in betont schmucklosem,
 linear-polyphonen Gewand darzubieten, brachte sie in einen – wenn auch 
nicht eklatanten, so doch deutlich vernehmbaren – Gegensatz zu dem 
pathetisch-dekorativen Stil, der den Traditionen der Sankt-Petersburger 
Schule entsprochen hätte.
Hinzu kommt, daß das volksmusikalische Erbe der Esten und die Diskussion
 um seine Verwendung in der Kunstmusik das unangefochtene Hauptthema der
 estnischen Musikgeschichte sind – so sehr, daß etwa der (nach langen 
Exiljahren in Wien verstorbene) Nestor der estnischen Musikwissenschaft 
Elmar Arro (1899-1985) in seiner „Geschichte der estnischen Musik“ 
(Tartu 1933) sich ausschließlich dem (Volks-)Liedschaffen widmet. Hier 
findet man auch reiches Belegmaterial für die hitzigen Kontroversen rund
 um Niederschrift, Auswahl und Bearbeitung des estnischen 
Volksmusikschatzes. Lydia Koidulas Vater Johann Woldemar Jannsen, einer 
der Pioniere der estnischen Chormusik, notiert 1857:
„Aidu, raidu, traute Brüder“, „Dorfes Mädchen, jugendschöne“, „Guten 
Tag, lieb´ Schwiegermutter“ und anderes Ähnliche bezeichnet man bei uns 
auch als Lieder, doch ist ihnen weder ein rechtes Versmaß noch Melodie 
eigen, sondern es fehlt ihnen jedweder Sinn. Ein Wort von hier, eines 
von da, all das zusammengesetzt wie ein geflickter Dudelsack – und das 
soll ein Lied sein? Ein Jeglicher gebraucht seine Worte, seine eigene 
Melodie, einer grölt vor, der Andere gackelt nach, oft drei-, viermal 
ein einziges Wort – solcher Art Lieder sind jetzt bei den Schenkentüren 
und Dorfschaukeln zu hören; aber sie machen die Ohren gellen und 
bewirken wie Rauchdunst Kopfschmerzen.
Der hier beklagte ruinöse Zustand war eine Folge der Diskrepanz zwischen
 dem autochthonen estnischen Erbe und den es in vielen Schichten 
überlagernden baltendeutschen, russischen und anderen Beimengungen. 
Jannsens eigene, 1860/62 erschienene Liedersammlung ist denn auch kaum 
mehr als eine „Blütenlese deutscher kleinbürgerlicher 
Gesangvereinsliteratur“ (Elmar Arro). Von hier war es noch ein sehr 
weiter Weg zu bis hin zu den exemplarischen Leistungen der heutigen 
estnischen Volksmusikforschung (nachzuhören und zu –lesen etwa in der 
2003 vom Estnischen Volksmusikarchiv und dem Estnischen Literaturmuseum 
herausgegebenen Anthologie estnischer Volksmusik). Els Aarnes 
dreisätziges Jugendwerk ist mit seiner aufrichtigen Suche nach 
unverfälschter Frische ein Zeugnis dafür, mit welch unbekümmerter 
Zielstrebigkeit dieser Weg beschritten wurde – unbeirrt und unberührt 
von den Tendenzen der gleichzeitigen westeuropäischen Musik. 
Während im ersten Satz (Allegro moderato, a-moll), einem 
mustergültigen Sonatenhauptsatz, dessen Exposition in dem schon vom 
Seitenthema aufgesuchten Es-Dur schließt, von spielerischer 
Kontrapunktik geprägt ist, wendet sich der Mittelsatz (Andante, C-Dur) mit seinen charakteristischen neuntaktigen Phrasen der Poesie des schlichten Volksliedes „Targa rehealune“ zu, ohne allerdings dabei auf polyphone Kunstgriffe ganz zu verzichten. Den Kehraus macht ein übermütig tänzerisches Allegro vivace
 (E-Dur), mit dem das Werk kraftvoll und optimistisch endet. (Die 
Tonartenbezeichnungen können hier, wie sich von selbst versteht, nur 
unter dem Vorbehalt ihrer folkloristisch-modalen Verwendung gebraucht 
werden.)
Die ungesuchte, bisweilen kindlich anmutende Schlichtheit, mit der hier 
Volksmelodien ausgebreitet werden, läßt den Vorwurf des „Westlertums“ 
und „Modernismus“ so absurd erscheinen, daß man auf unangenehmste Weise 
an die Hilf- und Beziehungslosigkeit des Wortes im Umgang mit Musik 
erinnert wird, an welcher Stelle auch der bestgemeinte Einführungstext 
sein Ende finden muß.
© by Claus-Christian Schuster