Mendelssohn: Klavierquartett [Nr.4], h-moll, op.3

Felix Mendelssohn

* 03. Februar 1809
† 04. November 1847

Klavierquartett [Nr.4], h-moll, op.3

Komponiert:Berlin, 1824 – 18.Jänner 1825
Widmung:Johann Wolfgang von Goethe
Uraufführung:Paris, März 1825
Felix Mendelssohn, Klavier
Pierre Baillot (1771-1842), Violine
N. Mial, Viola
Louis Norblin (1781-1854), Violoncello
Erstausgabe:Hofmeister, Leipzig, Dezember 1826

Mendelssohns viertes und letztes Klavierquartett ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: zum einen dokumentiert es – als Schlußstück der innerhalb weniger Jahre (1821-1825) entstandenen Werkreihe – beispielhaft die Rasanz und Zielstrebigkeit von Mendelssohns kompositorischer Entwicklung, andererseits ist es aber auch für sich genommen ein aufschlußreiches Denkmal der wahrscheinlich folgenreichsten Begegnung, die das Leben des Wunderkindes prägte: jener mit Johann Wolfgang von Goethe, dem das Quartett gewidmet ist. Das Werk des Fünfzehnjährigen steht dabei eher am Ende als am Anfang einer Entwicklung: In Textur und Anlage hat es wahrscheinlich mehr mit den Gattungsmustern aus dem XVIII. Jahrhundert als mit dem „romantischen“ Klavierquartett der unmittelbar folgenden Jahrzehnte gemeinsam.
Die öfter geäußerte Mutmaßung, die Bevorzugung dieses Genres in Mendelssohns erster Schaffensperiode habe mit der (im Vergleich zu Streichquartett und Klaviertrio) relativ schwachen Gattungstradition des Klavierquartetts zu tun, die dem jungen Komponisten die Belastung durch allzu viele große Vorbilder erspart habe, mag aus unserer zeitlichen Perspektive schlüssig erscheinen: Bevor man aber dieses Argument aufgreift, sollte man sich vergegenwärtigen, daß es – neben den drei bis heute lebendigen Meisterwerken, die Mendelssohn vorlagen (Mozart, KV 478 und KV 493, Beethoven, op.16) – eine sehr beachtliche Anzahl veröffentlichter und vielgespielter Klavierquartette damals hochgeschätzter Meister aus der Zeit unmittelbar vor der Entstehung unseres Werkes gibt, die, obwohl heute fast vergessen, die Richtigkeit dieser Perspektive recht fraglich erscheinen lassen. Auffällig viele dieser Werke entstammen dem Beethoven-Umfeld – und welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit Beethoven und seinem Erbe für den jungen Mendelssohn hatte, zeigen ja auch seine bald nach den Klavierquartetten entstandenen ersten Streichquartette.
Für den in Berlin heranwachsenden Komponisten kommen in diesem Zusammenhang wohl vor allem die drei Klavierquartette (op. 4-6) des Hohenzollern-Prinzen Louis Ferdinand von Preußen (1772-1806) in Betracht. Daß Beethoven selbst sich auch schon als Fünfzehnjähriger an drei Klavierquartetten (WoO 36) versucht hatte, konnte Mendelssohn wohl nicht wissen; die beiden Klavierquartette des Beethoven-Schülers Ferdinand Ries (1784-1838) könnten ihm aber durchaus vertraut gewesen sein, ebenso das 1817 erschienene Werk des damals populären Conradin Kreutzer (1780-1849, nicht zu verwechseln mit dem Widmungsträger der Kreutzer-Sonate, dem französischen Geiger Rodolphe Kreutzer). Unter den anderen Werken, die so etwas wie eine „Klavierquartett-Tradition“ belegen, wäre natürlich noch Carl Maria von Webers Opus 8 (1809) zu erwähnen. Im selben Jahr veröffentlichte übrigens Václav Jan Tomasek (1774-1850), der etwa zur gleichen Zeit wie Mendelssohn zu Goethe in Kontakt treten sollte, sein einziges Klavierquartett. (Schumann wird ihm an Schuberts 50. Geburtstag in Prag begegnen und in ihm einen interessanten geistreichen Alten finden.)
Während man also schwerlich behaupten kann, Mendelssohn habe seine Erstlingssaat in einem Brachfeld ausgebracht, so fällt doch auf, daß sich die Diktion seiner vier Klavierquartette recht deutlich von der seiner älteren Zeitgenossen unterscheidet. Neben unvermeidlichen Spuren der Auseinandersetzung mit Mozart und Beethoven finden sich in diesen Werken nämlich – und zwar in zunehmendem Maße – vor allem Echos vorklassisch-barocken Musizierens. Aus diesem Blickwinkel könnte die ganze Werkreihe (und unser H-moll-Quartett als krönender Abschluß in ganz besonderer Weise) durchaus auch als frühes Beispiel einer „historistischen“ Kompositionshaltung gedeutet werden. Es ist gut möglich, daß Zelter, der als Leiter der Berliner Singakademie einer der Hauptexponenten eines erneuerten und vertieften Interesses an älterer Musik war, seinem Schüler einige Anregungen in dieser Richtung gegeben hat; ein Blick auf das Werk seiner anderen prominenten Schüler – Carl Loewe, Gustav Meyerbeer und Otto Nicolai – wird uns allerdings davor bewahren, diesem Einfluß allzuviel Gewicht beizumessen. Viel eher ließe sich mutmaßen, daß dieser – im übrigen für ein Frühwerk nicht ganz außergewöhnliche – „historistische“ Wesenszug ganz unmittelbar mit der Art der Beziehung des Komponisten zu Johann Wolfgang von Goethe, dem Widmungsträger des Opus 3, zusammenhängen könnte.

Schon Mendelssohns Vater war zu Goethe in eine wenn auch nur flüchtige Beziehung getreten: 1816 hatte er dem Dichter einen Brief Carl Friedrich Zelters (1758-1832) überbracht. Schon damals hatte Abraham Mendelssohn die Absicht gehabt, Goethe auch seine Kinder vorzustellen, wozu sich dann aber kein passender Zeitpunkt gefunden hatte. Erst fünf Jahre später – Carl Friedrich Zelter war in der Zwischenzeit der Musiklehrer der Kinder geworden – kam es zur ersten persönlichen Begegnung zwischen Felix Mendelssohn und Johann Wolfgang von Goethe. Zelter selbst kündigt seinem illustren Freund den Besuch an:
„Morgen früh reise ich mit meiner Doris und einem zwölfjährigen muntern Knaben, meinem Schüler, dem Sohn des Herrn Mendelssohn, ab nach Wittenberg um dem dortigen Feste beyzuwohnen. […] Meiner Doris und meinem besten Schüler will ich gerne Dein Angesicht zeigen, ehe ich von der Welt gehe, worin ich´s freylich so lange als möglich aushalten will.“
(Brief Zelters an Goethe vom 26. Oktober 1821)

Wenige Wochen zuvor hatte der „muntere Knabe“ seinem Lehrer ein erstes Klavierquartett, ein schließlich unvollendet (und bis in die jüngere Vergangenheit auch unveröffentlicht) gebliebenes Werk in d-moll, zur Korrektur vorgelegt.
Sechzehn Tage lang hielt sich Zelter mit seiner Tochter und seinem Lieblingsschüler in Weimar auf. Die bekannte Schilderung dieses ersten Zusammentreffens in Ludwig Rellstabs Lebenserinnerungen (Berlin 1861) ist zwar nicht aus dem unmittelbaren Erleben, sondern schon in voller Kenntnis der „geschichtlichen“ Dimension dieser Begegnung niedergeschrieben, vermittelt aber doch ein anschauliches und wohl in allen wesentlichen Punkten zutreffendes Bild. Noch lebendiger skizziert Felix selbst die Situation in einem Brief an seine Eltern:

„Ich spiele hier viel mehr als zu Hause, unter vier Stunden selten, zuweilen sechs, ja acht Stunden. Alle Nachmittage macht Goethe das Streichersche Instrument mit den Worten auf: »Ich habe Dich heute noch gar nicht gehört, mache mir ein wenig Lärm vor.«; und dann pflegt er sich neben mich zu setzen.“

Angesichts der sich in diesen Tagen anbahnenden ungewöhnlichen Freundschaft verwundert es nicht, daß die Mendelssohns die allernächste Gelegenheit, Goethe wieder einen Besuch abzustatten, ergriffen. Diese bot sich schon im nächsten Jahr auf der Rückreise von einem Sommeraufenthalt in der Schweiz. Diesmal wurden auch die Schwestern Fanny und Rebecka Goethe vorgestellt. Felix spielte seinem großväterlichen Freund ein eigens zu diesem Anlaß innerhalb weniger Tage in Frankfurt komponiertes (zweites) Klavierquartett (c-moll, op.1) vor, das er dann dem Goethe-Verehrer Fürst Antoni Henryk Radziwill (1775-1833), dem Schwager des oben erwähnten Louis Ferdinand von Preußen, widmen sollte. (Radziwill, der neben seiner Tätigkeit als preußischer Statthalter in Posen unermüdlich an seinem opus summum, einer umfangreichen Bühnenmusik zu Goethes Faust arbeitete, wurde übrigens auch von Beethoven und Chopin mit Widmungen bedacht.) Auch Fannys Lieder auf Goethesche Texte finden das Gefallen des Dichters. Ihr Klavierquartett, an dem sie schon seit Mai arbeitet, wird aber erst etliche Wochen nach dem Besuch in Weimar fertig. – Lea Mendelssohn sagt Goethe zum Abschied: „Es ist ein himmlischer, kostbarer Knabe! Schicken Sie ihn mir recht bald wieder, daß ich mich an ihm erquicke.“

Ein halbes Jahr später kann Zelter seinem Freunde nach Weimar berichten:

„Mein Felix hat sein fünfzehntes Jahr angetreten.Er wächst unter meinen Augen. Sein erstaunliches Clavierspiel darf ich ganz als Nebenher ansehen.[…] Alles gewinnt Gediegenheit, kaum fehlt noch Stärke und Macht; alles kommt von Innen und das Äußerliche seiner Zeit berührt ihn nur äußerlich. Denke Dir meine Freude, wenn wir´s erleben, daß der Knabe lebt und erfüllt was seine Unschuld verspricht. Gesund ist er. Ein sehr schönes Quartett fürs Fortepiano wünsche ich daß es Deiner Großfürstin zugeeignet würde. […] Es ist ganz neu und noch besser als das was er in Weimar hat hören lassen.“
(Brief Zelters an Goethe, 11. März 1823)

Die im März 1825 erschienene Ausgabe dieses (dritten) Klavierquartetts (f-moll, op.2) sollte dann freilich nicht die von Zelter gewünschte Widmung an die Großfürstin Maria Pavlovna tragen – Mendelssohn eignete dieses Werk seinem Lehrer selbst zu.

Schon einige Wochen vor der Veröffentlichung des F-moll-Quartetts, am 18. Jänner 1825, hatte Mendelssohn sein viertes und letztes Klavierquartett (h-moll, op.3) vollendet. Mit diesem jüngsten Werk im Gepäck machte er sich im März in Begleitung seines Vaters auf die Reise nach Paris. Abraham Mendelssohn maß dieser Unternehmung ganz besondere Bedeutung bei: vom Urteil Luigi Cherubinis (1760-1842), des gefeierten Direktors des Pariser Conservatoire, sollte es abhängen, ob Felix die Musik zu seinem Lebensberufe machen dürfe. Die Begegnung mit dem Maestro verlief nicht ganz reibungsfrei – der elegante und selbstsichere Junge mußte dem alternden Pädagogen verschwendungssüchtig und eitel erscheinen, während Felix in Cherubini nur mehr eine ehrwürdige Ruine sah. (Cherubinis Tochter, die Felix „göttlich hübsch“ fand, bot da schon einen anderen Anblick…) Doch diese wechselseitigen Vorbehalte konnten nichts am professionellen Urteil des Meisters ändern. Über das Zusammentreffen schreibt Felix seiner Mutter:

„[…] Nun endlich zu den Musikern selbst, soviel ich ihrer bis jetzt kenne. Vor allem Cherubini, den ich einigemal gesehen. Der ist vertrocknet und verraucht. Neulich hörte ich in der königlichen Capelle eine Messe von ihm, die war so lustig, wie er brummig ist, d. h. über alle Maaßen. Halévy versicherte, es gäbe Tage, wo gar nichts aus ihm raus zu kriegen wäre. Einen jungen Musiker, der ihm etwas vorgespielt, habe er gefragt, ob er vielleicht gut malen könne; einem anderen habe er gesagt, »vous ne ferez jamais rien«; wenn er selbst ihm etwas zeige, und Cherubini sage nichts und schnitte keine grimace, so müsse es ganz vortrefflich seyn. Er hat ihm nur ein einzigesmal, und zwar nachdem ihm Halévy seine Oper vorgespielt, gesagt: c´est bien. – Mais c´est trop long, il faut couper. Alle Leute, die ihn kennen, sind sehr verwundert, daß er, nachdem er mein h moll Quartett aufs allerschändlichste hat executiren hören, lächelnd auf mich zukam und mir zunickte. Dann sagte er zu den Andern: ce garçon est riche, il fera bien; il fait même déjà bien; mais il dépense trop de son argent, il met trop d´étoffe dans son habit. Alle behauptete, daß seie ganz unerhört, besonders als er nachher hinzusetzte: je lui parlerai alors il fera bien! Dann sagten sie, er hätte noch niemals mit jungen Musikern gesprochen. Auch wollte Halévy gar nicht glauben, daß Cherubini mir das gesagt habe. Kurz, ich behaupte, daß Cherubini der einzige Mensch ist, auf den Klingemanns Wort mit dem ausgebrannten Vulkan paßt. Er sprüht noch zuweilen, aber er ist ganz mit Asche und Steinen bedeckt.“
(Brief vom 6. April 1825)

Wenn der junge Komponist sein Werk auch „aufs allerschändlichste executirt“ fand, so waren seine Partner bei dieser Aufführung, die als Premiere gelten darf, doch unter den angesehensten Pariser Musikern. (Der heute nur mehr als Autor didaktischer Werke bekannte Pierre Baillot darf neben Ignaz Schuppanzigh als einer der wichtigsten Pioniere des professionellen Quartettspiels gelten; Cherubini selbst hat in seinen letzten Lebensjahren für ihn sechs Streichquartette geschrieben.) Übrigens sollten die erfrischend offenen und unmittelbaren Urteile des jungen Parisbesuchers nicht auf die Goldwaage gelegt werden; so entlockt ihm etwa seine erste Bekanntschaft mit Mozarts Klarinettenquintett (KV 581, 1789) das Verdikt: „Es sind sehr schöne Sachen drin, aber die Jugendarbeit giebt sich in jeder Note […] zu erkennen.“

Nach zwei Monaten in Paris, wo Mendelssohn neben Cherubini auch Rossini, Reicha, Onslow, Hummel und vielen anderen älteren Kollegen begegnete, machten sich Vater und Sohn auf die Heimreise, die sie über Frankfurt am Main wiederum nach Weimar führte. Hier präsentierte Felix am Abend des 20. Mai 1825 Goethe das ihm zugedachte Klavierquartett; der Weimarer Geiger und Komponist Carl Eberwein (1786-1868) und zwei anonym geblieben Musiker begleiteten ihn.
Dieser dritte Besuch war der kürzeste, und das Bedauern darüber klingt in Goethes Brief, den er am folgenden Tag an Zelter schickt, nach:

„[…] Herr Mendelssohn verweilte auf seiner Rückreise von Paris allzukurze Zeit; Felix produzierte sein neustes Quartett zum Erstaunen von jedermann; diese persönlich hör- und vernehmbare Dedikation hat mir sehr wohlgetan. Den Vater konnte nur flüchtig sprechen, weil eine große Gesellschaft und die Musik abhielt und zerstreute. Ich hätte so gern durch ihn etwas von Paris vernommen. Felix hat den Frauenzimmern von den dortigen musikalischen Verhältnissen einiges erzählt, was den Augenblick sehr charakterisiert. Grüße die ganze Familie und erhalte mein Andenken auch in diesem Kreise.“

„Diese persönlich hör- und vernehmbare Dedikation“ – das ist gewiß mehr als eine wohlwollende und freundliche Floskel. Für Goethes Ohr, über das die Musikwissenschaft sehr abschätzig zu urteilen pflegt, muß im leidenschaftlichen Ernst und der innigen Begeisterung dieser jugendlichen Partitur etwas bewahrt gewesen sein, was ganz persönlich ihm galt, und der Dichter hat diese Botschaft sehr wohl vernommen. Nicht, daß diese Empfänglichkeit uns für Goethes Taubheit Beethoven und Schubert gegenüber entschädigte; aber vielleicht sollten wir versuchen, das Mendelssohnsche Quartett ein wenig mit Goethes Ohren zu hören.

Wie Goethe seinem heranwachsenden Freund zuhörte, das hat er selbst am treffendsten unmittelbar nach Felix´ letztem Besuch geschildert:
„So eben, früh halb 10 Uhr, fährt bey klarstem Himmel, im schönsten Sonnenschein, der treffliche Felix, mit Ottilien, Ulriken und den Kindern, nachdem er vierzehn Tage bey uns vergnüglich zugebracht und alles mit seiner vollendet liebenswürdigen Kunst erbaut, nach Jena […]. Mir war seine Gegenwart besonders wohlthätig, da ich fand: mein Verhältniß zur Musik sey noch immer dasselbe; ich höre sie mit Vergnügen, Antheil und Nachdenken, liebe mir das Geschichtliche; denn wer versteht irgend eine Erscheinung, wenn er sich [nicht] von dem Gang des Herankommens penetrirt? Dazu war denn auch die Hauptsache daß Felix auch diesen Stufengang recht löblich einsieht, und glücklicherweise sein gutes Gedächtniß ihm Musterstücke aller Art nach Belieben vorführt. Von der Bachischen Epoche an, hat er mir wieder Haydn, Mozart und Gluck zum Leben gebracht; von den großen neuern Technikern hinreichende Begriffe gegeben, und endlich mich seine eigenen Productionen fühlen und über sie nachdenken machen.“
(Brief an Zelter, 3. Juni 1830)

Da dieser letzte Besuch nur in vertiefter Weise fortsetzte, was in den ersten drei Begegnungen begonnen worden war, wird man wohl auch die „archaischen“, „historisierenden“ Aspekte unseres H-moll-Quartetts als Teil dieses musikalischen Dialoges mit Goethe werten dürfen.

Schon zu Beginn des ersten Satzes (Allegro molto) beschwört die symbolträchtige, Schlüsselwerke evozierende Grundtonart mit pochenden Baßoktaven den Geist des Thomaskantors. Trotzdem ist das Hauptthema selbst durchaus keine Stilkopie; und vor allem seine Behandlung ist reinster und unverwechselbarer Mendelssohn. Die emblematische Keimzelle – eine chromatische Umkreisung des Grundtones – wird zum allgegenwärtigen Bindeglied des Satzes. Das Seitenthema, das einer Mendelssohnschen Vorliebe entsprechend variativ aus dem Hauptthema abgeleitet ist und keinen dialektischen Konflikt mit diesem sucht, erscheint schon in der Fortspinnung des Nachsatzes. Da die innige Verschwisterung dieser beiden thematischen Erscheinungsformen ihre parallele Verwendung in der Durchführung problematisch erscheinen ließe, führt der Komponist ein eigenes Durchführungsmotiv ein, das nur den betonten Halbtonschritt mit dem Hauptthemenkopf gemeinsam hat. In Verbindung mit dem für den Durchführungsteil gewählten rascheren Tempo ermöglicht die Symbiose dieser beiden Elemente einen dramatisch beschleunigten und modulationsreichen Ablauf dieses entscheidenden Abschnittes. Die Reprise, die Mendelssohn während der Arbeit noch einschneidend kürzte, verebbt in eine Folge von zwei Orgelpunkten, an denen der motorische Impetus des Stückes zu brechen droht, bis die Wiederaufnahme des raschen Durchführungsmotivs den Satz mit einer energischen Coda beschließt. Die in vielen späteren Werken des Meisters gepflegte strukturelle Zweiteiligkeit (Exposition/Durchführung – Reprise/Coda), als deren Grundvoraussetzung die Entlastung der Durchführung von dialektischen Aufgaben gelten muß, kündigt sich in der formalen Disposition dieses Jugendwerkes schon deutlich an.

Das Thema des langsamen Satzes (Andante, E-Dur) beweist, auf welch subtile Weise Mendelssohn der „Simplizität“ und dem „Regelmaß“ zu entgehen wußte, das oberflächliche oder bösmeinende Kritiker seiner Musik mitunter vorwerfen. Obwohl das Thema äußerlich der achttaktigen Norm entspricht, weicht es in seinem harmonischen und metrischen Verlauf der regelmäßigen Periodik auf raffinierte Weise aus. Daß das Klavier, dem das Thema zunächst anvertraut ist, als Folge dieses Raffinements nicht einmal mehr aus eigener Kraft in die ganz naheliegende Tonika zurückzufinden vermag, sondern von den teilnahmsvollen Streichern gewissermaßen nach Hause getragen werden muß, darf durchaus als ein Element romantischer Ironie verstanden werden – und ich möchte glauben, daß der Autor des „Wilhelm Meister“ für solche Züge nicht unempfänglich war. Auch die Weiterführung des Satzes zeigt uns den jungen Mendelssohn als einen Meister des spielerischen Umganges mit Formkonventionen, die er lächelnd umgeht und dabei unzerbrochen und heil läßt. Die endlich erreichte Tonika wird noch einmal kadenzierend bekräftigt; die Fortspinnung dieser Bekräftigung führt uns auf die Wechseldominante, von wo aus wir zum zweiten Mal das Thema – diesmal natürlich auf der Dominante – erreichen. Jetzt kennt der Pianist den Heimweg schon und erspart sich daher die retardierenden Verirrungen. Leider bringt gerade diese Sicherheit das Thema um zwei Takte und somit um sein labiles „Ebenmaß“, seinen unverwechselbaren Zauber. (Wer vermöchte zu sagen, ob der Junge wirklich schon so viel Lebensweisheit besaß, um mit dem Hintersinn dieses musikalischen Experimentes bewußt zu spielen?) Die abweichende Fortführung scheint jedenfalls auf diesen Verlust mit sehnsüchtigen Komplikationen zu reagieren. In einem neuerlichen Anlauf versucht nun das Cello sein Glück, zwar wieder in der Tonika, doch ganz in den bieder hinkenden Fußstapfen der vorigen Variante. Erst die variierte Wiederholung der zweiten Fortführung findet die „verlorenen“ beiden Takte wieder auf, über die das Stück endlich selig in den Heimathafen einlaufen kann.
Der Sinn dieses bezaubernden Satzes scheint mir ganz in diesem unschuldigen Spiel zu liegen; die möglichst korrekte und stichhaltige Anwendung der formalen Terminologie auf die „Satzglieder“ ABACAC(A) erscheint daneben als eine recht verzichtbare Fleißaufgabe.

Das Scherzo (Allegro molto, fis-moll) ist ein sehr frühes Beispiel für die berühmten Mendelssohnschen „Elfenscherzi“. Für den analogen Satz des Oktetts op.20 überlieferte Fanny Mendelssohn als literarische Vorlage die Schlußverse der Walpurgisnacht:

Wolkenflug und Nebelflor
Erhellen sich von oben,
Luft im Laub und Wind im Rohr
Und alles ist zerstoben.

Aus Goethes Gesprächen mit Eckermann wissen wir, daß der Dichter schon im Scherzo des Klavierquartetts das poetische Urbild mühelos wiedererkannte:

„Es ist wunderlich, wohin die aufs Höchste gesteigerte Technik und Mechanik die neuesten Komponisten führt; ihre Arbeiten bleiben keine Musik mehr, sie gehen über das Niveau der menschlichen Empfindungen hinaus, und man kann solchen Sachen aus eigenem Geist und Herzen nichts mehr unterlegen… Mir bleibt alles in den Ohren hängen… Doch das Allegro hatte Charakter. Dieses ewige Wirbeln und Drehen führte mir die Hexentänze des Blocksbergs vor Augen, und ich fand also doch eine Anschauung, die ich der wunderlichen Musik supponieren konnte.“
(Gespräch vom 14. Jänner 1827)

Die chromatische Umkreisung eines Zentraltones – diesmal der Dominante – weckt die Erinnerung an das Grundmotiv des Kopfsatzes. Die alternierenden Formteile, Scherzo (fis-moll) und Trio (H-Dur), sind durch die ostinate Klavierfiguration und die völlig analoge formale Gestaltung (jeweils eine monothematische Sonatenform en miniature) zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen, was den Satz besonders großflächig erscheinen läßt.

Auch das Finale (Allegro vivace) ist von beeindruckenden Dimensionen. Wie schon im Kopfsatz fällt die Dominanz des Hauptthemenkopfes (hier ein rhythmisch bestimmtes Motiv) auf. Die dem eigentlichen Hauptthema vorangehende Einleitung erinnert in Instrumentation und Textur (Klavierdiskant in Oktaven gegen orchestrale Streicherflächen) entfernt an einige besonders charakteristische Stellen der Schubertschen Klavierkammermusik. Während diese Parallele natürlich keinesfalls auf direkte Einflüsse hinweist, werden in der Entwicklung des Hauptthemas selbst recht deutlich Reminiszenzen Beethovenscher Töne vernehmbar.
Die formale Gestaltung und Organisation des Satzes ist allerdings ganz autonomer und origineller Mendelssohn. Da die thematischen Zellen außerhalb des Hauptthemenkomplexes recht schwach ausgeprägt sind, wird die Großgliederung durch die ostinate Figuration der Begleitstimmen erzielt: Sechzehntel für die Einleitung, Achteltriolen für den ersten, homophonen, und Staccato-Achteln für den zweiten, fugierten Abschnitt der „Durchführung“, während das rhythmisch prägnante Hauptthema in der Art eines einfachen Chorsatzes, also mit seinem eigenen Rhythmus begleitet wird. Die im ersten Satz nur angedeutete Zweiteiligkeit ist hier voll ausgeprägt: die „Coda“ ist eine gekürzte Wiederholung der „Durchführung“, die an den Ausgangspunkt des Werkes – zur chromatischen Tonfolge, die das Leitmotiv des Kopfsatzes gebildet hatte – zurückkehrt.

Die Deutlichkeit, mit der nicht nur in diesem Punkt wesentliche Elemente des Mendelssohnschen Personalstils hier erstmals in Erscheinung treten, machen dieses letzte Klavierquartett des noch nicht Sechzehnjährigen zu einem für das Verständnis seiner Eigenart zentralen Schlüsselwerk. Daß es daneben dem als unmusikalisch verleumdeten deutschen Dichterfürsten einmal auch einen „wortlosen“ Platz in der Musikgeschichte verschafft hat, macht seinen ganz besonderen Reiz aus.

© by Claus-Christian Schuster