Herzogenberg: Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello Nr.2, B-Dur, op.95

Heinrich von Herzogenberg

* 10. Juni 1843
† 09. Oktober 1900

Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello Nr.2, B-Dur, op.95

Komponiert:Berlin, 1896/97
Widmung:Johannes Brahms
Erstausgabe:Rieter-Biedermann, Leipzig, 1897

Heinrich von Herzogenbergs Werk gehört zu den liegengelassenen und verschwendeten Schätzen der österreichischen Musik. Es bleibt unverständlich, daß ein so reiches und gediegenes Oeuvre zur Gänze in Vergessenheit geraten konnte; wüßte man nicht, daß diese Vernachlässigung ein Kind der Gedankenlosigkeit ist, könnte man Österreichs (wirklichen und eingebildeten) Überreichtum an großer Musik für sie verantwortlich machen. Wahrscheinlich ist auch Herzogenbergs für manche Kritiker allzu große Geistesverwandtschaft und Nähe zu Brahms (die sogleich den platten Spruch von „Schmied“ und „Schmiedl“ provoziert) mit ein Grund für dieses Unrecht. Nach einem Jahrhundert sollte aber Abstand und Überblick groß genug geworden sein, um den wahren Wert seines Werkes schätzen zu können.
Wer sich, unabhängig von der Nichtachtung, die die Musikwelt dem Komponisten angedeihen läßt, einen Eindruck von der Eigenart des Menschen verschaffen will, möge zu den ersten beiden Bänden des Briefwechsels von Johannes Brahms greifen, die der Korrespondenz mit dem Ehepaar Elisabet und Heinrich von Herzogenberg gewidmet sind. Nicht von ungefähr hat Max Kalbeck diese Briefe an den Beginn seiner großangelegten Briefedition gestellt: der Gedankenaustausch zwischen diesen drei außergewöhnlichen Menschen gehört zum Schönsten und Erhellendsten, was es in der Briefliteratur der Musikgeschichte gibt.

Wenn man weiß, wie unerreichbar fern Brahms auch nur ein Anflug von Schmeichelei und Schönrednerei gelegen ist, wird man den folgenden Worten seines Briefes an Elisabet vom 15. Jänner 1887 ihr wahres Gewicht beimessen können:

„…Mehr wie bei anderen Kollegen muß ich bei Heinz´ Sachen an mich denken und werde daran erinnert, wie und wo – ich eben auch zu lernen und zu machen versuche. Er weiß, um was es sich handelt, und deshalb ist mir auch so wichtig und lieb, sein zustimmendes Wort zu hören (und Ihres dazu). Er weiß besser und mehr als ich (das hat seine einfachen Gründe). Aber beneiden muß ich ihn, daß er lehren kann. Wir sind die gleichen schweren Wege mit gleichem, gutem Ernst gegangen. Er kann mittun, anderen so schlimme Mühe zu ersparen. Von Berliner Schwätzern ist uns viel schlechte Schule gekommen, von dort scheint für die Jüngeren eine bessere zu kommen…“

Man darf argwöhnen, daß dieselbe präpotente Engstirnigkeit, die es zulassen konnte, daß Brahms´ hier und immer wieder ausgesprochener Wunsch nach einer Lehrstelle in Wien ungehört blieb, auch an der Resonanzlosigkeit der Herzogenbergschen Musik schuld trägt. – Herzogenberg war, in diesem Punkte glücklicher als Brahms, 1885, nach dreizehn Jahren in Leipzig, als Nachfolger Friedrich Kiels an die Berliner Musikhochschule berufen worden, der er bis wenige Monate vor seinem Tode angehören sollte. In seinen Wiener Studienjahren (1862-1864) hatte er im Hause seines Lehrers Otto Dessoff Johannes Brahms kennengelernt. 1868 hatte er Elisabet von Stockhausen, die Tochter des Hannoverschen Gesandten in Wien, geheiratet (die einige Jahre zuvor für ganz kurze Zeit Brahms´ Klavierschülerin gewesen war). Elisabets Tod am 7. Jänner 1892 in San Remo war der schwerste Schicksalsschlag und tragische Wendepunkt in Heinrich von Herzogenbergs Leben. Ab diesem Zeitpunkt wendete er sich immer mehr der Kirchenmusik zu. Die geistliche Kantate „Totenfeier“ (op.80, 1894) nimmt in seinem Werk eine ähnliche Stellung ein wie das Deutsche Requiem im Brahmsschen Schaffen. Das wie die „Totenfeier“ Elisabets Andenken gewidmete 1. Klavierquartett (e-moll, op.75, 1892) muß ihm bei der Komposition des 2. Klavierquartetts wohl vor Augen gestanden haben; und wenn man im ersten Werk ein wehmütiges und verklärtes Portrait der geliebten Frau erkennen darf, so lassen sich im zweiten unschwer die Züge des verehrten Freundes, dem es gewidmet ist, wiederfinden. Das Schicksal fügte es, daß auch dieses zweite, so viel kraftvollere und hellere Werk zum Epitaph geriet – den folgenden, am 70. Todestag Beethovens abgesandten Widmungsbrief, bei dessen Schlußsätzen Herzogenberg wohl schmerzlich an die letzten Wochen Elisabets gedacht haben mag, konnte Brahms nicht mehr beantworten:

Berlin W 62, Kurfürstendamm 263. 26. März 1897
Lieber verehrter Freund!
Zwei Dinge kann ich mir nicht abgewöhnen: Daß ich immer komponiere, und daß ich dabei ganz wie vor 34 Jahren mich frage, „was wird Er dazu sagen?“
„Er“, das sind nämlich Sie. Sie haben nun zwar seit längeren Jahren nichts dazu gesagt; was ich mir deuten kann, wie ich will. Meiner Verehrung für Sie hat es aber keinen Eintrag getan. Und so betone ich sie wieder einmal durch eine Zueignung, die Sie mir freundlich zugute halten mögen!
Meine Gedanken sind jetzt mehr wie je bei Ihnen, da ich Sie leidend weiß. Möge das Frühjahr die Möglichkeit einer Luftveränderung bringen; ist sie auch nicht immer direkt von medizinischem Werte, so erfrischt und ermuntert sie doch den Organismus und hebt die Stimmung. Und daß hiervon die Genesung abhängen kann, leugnet kein Arzt.
In alter Treue und Verehrung Ihr
H. Herzogenberg

Herzogenberg, der 1876 als erster ein Variationenwerk über ein Brahms-Thema veröffentlicht hatte („Einmal im Leben der Erste sein zu können, war sehr verlockend“), war es also auch beschieden, der letzte zu sein, der Brahms ein ihm gewidmetes Werk vorlegen konnte; und man darf sagen, daß das Schicksal kaum einen Würdigeren für diese Aufgabe erwählen hätte können.
Das eröffnende Allegro ist mit der zupackend-energischen Gestik und einprägsamen, den ganzen Satz durchpulsenden Rhythmik seines Hauptthemas sowie dem sich vom beseligten Tanz zur siegessicheren Hymne steigernden Seitenthema einer der vitalsten und selbstbewußtesten Momente im Schaffen Herzogenbergs.
Noch viel typischer für den Komponisten ist aber das folgende Notturno (Adagio, ma non troppo, Fis-Dur), dessen subtile Koloristik von ganz außergewöhnlichem Reiz ist. Es hätte nicht einmal einer zentralen f-moll-Episode (Andante sostenuto) bedurft, um jeden mit dem Werk Brahms´ vertrauten Musikliebhaber an den entsprechenden Fis-Dur-Satz der zweiten Cellosonate (op.99) denken zu lassen.
Der von Brahms heißgeliebte, aber nie für ein Scherzo verwendete 6/4-Takt gibt dem folgenden Allegro (f-moll) sein ianusköpfiges Gepräge: dem herben, das Sarkastische streifende Agitato des Hauptteiles (in dem wir nichts von dem „heiteren Frohsinn“ aufzuspüren vermochten, den der Herzogenberg-Verehrer Wilhelm Altmann daran schätzte) und der ländlichen Idylle des F-Dur-Trios liegen die selben rhythmischen und melodischen Keimzellen zugrunde.
Das Finalrondo (Allegro vivace) spielt nicht nur mit der naheliegenden Assoziation an den entsprechenden Satz des Brahmsschen op.25, die es mit dem scheinbaren g-moll des Anfangs in aller Unbekümmertheit auch noch tonartlich unterstreicht, es braucht den provozierten Vergleich auch durchaus nicht zu scheuen. Die drei Themen sind mit sicheren und kräftigen Strichen charakterisiert und ganz meisterlich verarbeitet. Wie so oft in seinem Werk hat Herzogenberg hier bewiesen, daß die Anlehnung an ein überragendes Genie nicht zwangsläufig in epigonaler Blässe und resignierter Wiederholung münden muß, sondern daß die Demut, die das Geschenk solcher Zeitgenossenschaft anzunehmen versteht, auch mit ureigenstem, nicht erborgten Reichtum belohnt werden kann.

© by Claus-Christian Schuster