Mozart: Trio (Terzett) B-Dur KV 502

Wolfgang Amadeus Mozart

* 27. Jänner 1756
† 05. Dezember 1791

Trio (Terzett) B-Dur KV 502

Komponiert:Wien (Domgasse 5), 18. November 1786
Uraufführung:nicht dokumentiert
Erstausgabe:Artaria, Wien, November 1788

Am 15.November 1786 starb Mozarts drittes Kind im Alter von wenigen Wochen. Am Tag nach dem Begräbnis (das Kind wurde, so wie später auch sein Vater, auf dem Friedhof der Vorstadt St.Marx begraben), dem 18.November, beendet Mozart das vielleicht sonnigste seiner Klaviertrios. Das “Terzett für Klavier, Violin und Violoncell”, wie er es in seinem eigenhändigen Werkverzeichnis nennt, ist vom ersten Takt an in das milde Licht der uns aus dem B-Dur Klavierkonzert KV 450 wohlvertrauten, “empfindsam” chromatisierten Terzgänge getaucht. Diese Stimmung gibt den Grundton für das ganze Werk. Nicht, daß es an wehmütigen Trübungen und erschütternden Ahnungen fehlte – welches Mozartsche Werk entbehrte dieser Züge ? – aber, mehr noch als sonst, bleiben diese Momente ohne Folgen, die Wolken zerfließen spurlos, und der Himmel behält seine reine, herbstlich-kräftige Farbe. Es bleibt ein gleichermaßen geheimnisvolles wie beglückendes Phänomen, daß die Tragik von Mozarts “wirklichem” Leben, die sich mehr noch als im Tod des Kindes im unaufhaltsamen Niedergang seiner bürgerlichen Existenz manifestiert ( – in jenen Wochen denkt Mozart ernstlich an eine Übersiedlung nach England, von der er sich eine Lösung seiner immer bedrohlicher werdenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten erhofft, und knapp ein halbes Jahr später, nach der Zerschlagung dieser Pläne, muß er – äußeres Zeichen seines Abstiegs – die repräsentative Stadtwohnung gegen ein bescheidenes Vorstadtquartier tauschen – ), daß diese “prosaische” Tragik so unbegreiflich fern jener Welt lag, in die Mozart sich anscheinend so mühelos erheben konnte und in der er mit jedem neuen Werk immer heimischer wurde.

Der erste Satz (Allegro) ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel jener “klassischen” Klarheit und Ökonomie, die den Mozartschen Stil der Wiener Jahre prägen. Ganz ohne Übertreibung oder Spitzfindigkeit könnte man sagen, daß das gesamte Material des Satzes schon in den ersten beiden Takten enthalten ist. So phantasievoll wird das Hauptthema den wechselnden dramaturgischen Erfordernissen des Satzablaufes angepaßt und so raffiniert wird der Schwung des unscheinbaren Geigenmotivs des zweiten Taktes ausgenützt, daß man das “Fehlen” eines kontrastierenden Seitenthemas erst bemerkt, wenn es – verspätet und damit gleichsam von der Last architektonischer Funktion befreit – am Anfang der Durchführung doch noch eintritt. (Dieser Gestaltungsform werden wir in Mozarts Werk ab hier häufiger begegnen, so etwa gleich einige Monate später im Kopfsatz der vierhändigen Klaviersonate C-Dur, KV 521.) Solche unerwarteten Geschenke machen sinnfällig, daß Ökonomie von Form und Material, wie sie die höchsten Kulturleistungen aller Zeiten auszeichnen, nichts mit jener spartanischen Strenge zu tun hat, die uns Dogmatiker und Diktatoren immer wieder als “klassisch” anpreisen.

Besonders subtil und organisch ist die Anbindung des folgenden Larghettos (Es-Dur) an den Kopfsatz: Aus der Codagestalt des Kopfmotivs, die die Schlußtakte des ersten Satzes beherrscht, erwächst der charakteristische Auftakt zum Hauptthema des folgenden Satzes. Die schon oben erwähnte Nähe des Werkes zum B-Dur-Klavierkonzert KV 450 zeigt sich hier nicht weniger als im vorigen Satz; auch hier entsprechen Tonart, Charakter und formale Einzelzüge dem jeweiligen konzertanten Gegenstück. Der außergewöhnlich weiträumige Satz hat jedoch eine sehr eigenwillige Form, in der Elemente eines Rondos mit solchen eines Variationssatzes zu einer völlig homogenen Einheit verschmelzen, die – gleichsam auf Fernwirkung berechnet – den Eindruck einer dreiteiligen Liedform vermittelt. Ein Blick ins Autograph (das seit dem Ende des 2. Weltkrieges in Krakau aufbewahrt wird) zeigt uns, daß eine solche natürlich gewachsene Einheit auch bei Mozart durchaus das Resultat suchender Auswahl (und nicht nur “göttlicher Eingebung”) ist: Die zentrale As-Dur-Episode, die für die Physiognomie dieses Satzes so entscheidend ist, wird an einer Stelle eingefügt, an der Mozart zunächst einen ganz anderen (den Variationencharakter verstärkenden und wesentlich “gewöhnlicheren”) Verlauf konzipiert hatte.

Wie sehr solche Entscheidungen, die zunächst nur den konkreten Ablauf eines Satzes zu betreffen scheinen, die Gesamtarchitektur eines ganzen Werkes mitbestimmen können, erweist sich exemplarisch am abschließenden Rondosatz (Allegretto). Die Einfügung und besondere Hervorhebung der Mittelepisode hatte im Larghetto das formale Gewicht so sehr zugunsten des Rondotyps verschoben, daß sich eine Wiederholung dieses Typs (den etwa auch der Schlußsatz von KV 450 repräsentiert) nicht anbot. Daher verzichtet Mozart in diesem Rondo auf alles, was der Mittelepisode eigenständiges thematisches Relief oder harmonische Stabilität geben könnte und ersetzt sie durch einen Durchführungsteil (was dem Satz wiederum Züge eines Sonatensatzes verleiht); folgerichtig wird aber die (im Larghetto “unterentwickelte”) erste Episode hier besonders betont und liefert auch das motivische Material für den “Schlußstein” des Werkes. Auf diese Weise schafft Mozart einen komplementären Bezug zwischen Larghetto und Allegretto, der durch die Identität der melodischen Anfangsgeste beider Sätze noch dezent hervorgehoben wird. Zusammen mit dem assoziativen Raffinement, das den ersten Satz an das Larghetto bindet, ist hiemit ein kaum mehr zu überbietendes Maß an organischer Kohärenz des Werkganzen erreicht, ohne daß die Individualität und inhaltliche Geschlossenheit der Einzelsätze in irgendeiner Weise beschnitten erschiene – eine Meisterleistung, wie wir sie bei Mozart nur allzugern als “einfach gegeben” hinnehmen.

© by Claus-Christian Schuster

Mozart: Trio (Sonata) G-Dur KV 496

Wolfgang Amadeus Mozart

* 27. Jänner 1756
† 05. Dezember 1791

Trio (Sonata) G-Dur KV 496

Komponiert:Wien (Domgasse 5), beendet am 8. Juli 1786
Uraufführung:nicht dokumentiert
Erstausgabe:Hoffmeister, Wien 1787

Mozarts kammermusikalisches Schaffen tritt um die Jahreswende 1784/85 in eine neue Phase. Die zügige Beendung der “Haydn-Quartette” ( – die zweite Hälfte dieser Serie, KV 458/KV 464/KV 465, entsteht im Laufe weniger Wochen – ) bezeichnet eine neue Etappe in der Geschichte des Streichquartetts. Mit der Komposition der beiden Klavierquartette (KV 478, KV 493) erschließt Mozart sich ein völlig neues Genre, in dem er die kompositorische Erfahrung der vorangegangenen Jahre (vor allem auf dem Gebiete des Klavierkonzertes und des Streichquartetts) zusammenfassend erweitert; und bald darauf (1787) wird er mit den Streichquintetten (KV 515, KV 516, KV 406) eine weitere Kammermusikgattung auf allerhöchstem Niveau inaugurieren. In diesem letzteren Falle greift Mozart auf eine Form zurück, die ihn schon 1773 (Streichquintett KV 174) beschäftigt hat, der er sich aber nun mit völlig anderen Mitteln nähern kann. Ganz ähnlich ist die Situation bei dem uns hier interessierenden Genre des Klaviertrios: Auch in dieser Gattung hatte Mozart seit einem Jahrzehnt (Divertimento KV 254, August 1776) kein Werk mehr vollendet, und auch hier macht er sich nun mit einem gänzlich neuen Rüstzeug an die Lösung der Aufgabe. Daß diese Aufgabe auch mit den neuerworbenen Mitteln nicht eben einfach zu bewältigen war, zeigt uns nicht nur die Reihe vorangegangener und liegengelassener Versuche (KV 442, KV 495a), sondern auch ein Blick auf das Autograph. Aus dem Nebeneinander von schwarzer und roter Tinte, den ungewöhnlich zahlreichen Veränderungen und Korrekturen, die einen recht komplizierten Arbeitsprozeß widerspiegeln, und schließlich dem ursprünglichen Titel “Sonata” ergibt sich ein beredtes Bild von der Entstehungsgeschichte des Werkes, das – wie sich aus all diesen Indizien mit einiger Schlüssigkeit vermuten läßt – ebenso wie Mozarts zweites G-Dur-Klaviertrio (KV 564) wohl ursprünglich als Klaviersonate konzipiert worden sein dürfte.

Im Kopfsatz (Allegro) ist diese etappenweise Genese gewissermaßen in eine Abfolge von Klangfarben sublimiert. Das Klaviersolo des Anfangs (Vordersatz einer asymmetrischen Periode) wird schon im Nachsatz in einen ungemein lebendigen Dialog zwischen Geige und Klavier umgestaltet, der in assoziativer Dichte auf die das Seitenthema vorbereitende Wechseldominante zustrebt. Auch im Seitensatz, in dem sich übrigens die dezente Unregelmäßigkeit des Hauptthemas spiegelbildlich wiederholt (gemessen an der “metrischen Norm” des Sechzehn-Takters hat nämlich der erste Teil des Seitenthemas um genau den einen Takt zuwenig, den der entsprechende Teil des Hauptthemas zuviel hat), bleibt das Violoncello völlig im Hintergrund. Erst in der Durchführung, die ausschließlich das motivische Material der ersten beiden Takte des Werkes verarbeitet, wird diese bisher ausgesparte Farbe ins Spiel gebracht und dem Violoncello eine führende Rolle zugewiesen. Auch hier ist das offenkundigste Gestaltungsprinzip das der Klangfarbenmischung (zunächst Cello/Klavier, dann Geige/Klavier). Die Veränderungen der Reprise gegenüber der Exposition sind relativ geringfügig, aber so typisch, daß es wert scheint, sie festzuhalten. Zunächst, und das ist die augenfälligste Veränderung, wird das eröffnende großflächige Klaviersolo durch eine dialogische Gestalt ersetzt. Das erscheint nur logisch, weil man nach der Stimmdurchmischung der Durchführung eine Wiederaufnahme der “isolierten” Ausgangsform wohl als Rückschritt empfinden würde. Sehr viel spekulativer muten die anderen Veränderungen an: Die oben erwähnte Asymmetrie des Hauptsatzes (17+19 Takte) wird durch einen intensivierenden Eingriff beseitigt, ohne aber die metrische Anomalie fallen zu lassen (der Hauptsatz umfaßt in der Reprise 17+17 Takte). Wer meint, dieser Eingriff sei nur ein (gleichsam zufälliger und folgenloser) Nebeneffekt der gegenüber der Exposition veränderten harmonischen Erfordernisse (Etablierung der Dominante anstelle der Wechseldominante zur Vorbereitung des Seitensatzes), der wird kurz vor Schluß des Satzes eines anderen belehrt: Dort fügt Mozart nämlich die “verlorenen” zwei Takte wieder ein, in dem er den die Codetta vorbereitenden Trugschluß wiederholt. Der sinnlichen Wirkung dieser letzten, kleinen Veränderung (Verstärkung der Schlußwirkung) entspricht also ein kaum unmittelbar hörend erfahrbares, sondern nur durch Analyse nachvollziehbares “Kalkül”, durch das die äußere Proportion der Formteile harmonisiert wird.

Der zweite Satz (Andante, C-Dur) ist, was die Dichte der motivischen Arbeit und das ungezwungene Raffinement kontrapunktischen Einfallsreichtums betrifft, wahrscheinlich der Höhepunkt in Mozarts Trioschaffen. An keiner anderen Stelle in seinen Klaviertrios sind die kompositorischen Früchte der Arbeit an den “Haydn-Quartetten” so sicht- und hörbar. Diese Nähe zu den Streichquartetten führt zu einem in der gesamten Trioliteratur recht vereinzelt dastehenden Befund: Auf weite Strecken ließe sich die Faktur dieses Satzes nahezu eingriffslos für Quartett übertragen. Keimzelle des Satzes ist ein den Raum einer Quint (mit Umspielung: einer Sext) durchmessendes Skalenfragment – etwas schlichteres und anspruchsloseres ließe sich wohl kaum mehr finden. Mozart gelingt es, aus diesem Nichts an Material ein unglaubliches Wunderwerk von einander sanft berührenden und umschlingenden Linien zu zaubern. Spielerisch lockert und verdichtet sich dieses Gewebe, bis es in den Schlußtakten zu fünffacher Engführung verknüpft wird – bei aller Einfachheit des Ausgangsmaterials nun doch schon wieder eine Art gordischer Knoten! Gleichsam nebenbei versäumt Mozart nicht, dieses scheinbar frei assoziative Spiel den Formerfordernissen eines Sonatensatzes anzupassen. Durch diese bei Mittelsätzen nicht allzu häufige Form wird der schon in der Motivik präformierte Zusammenhang mit dem ersten Satz noch verstärkt. Dieser Konnex entspricht etwa jenem zwischen dem zweiten und dritten Satz von KV 502, und ähnlich wie dort begegnet Mozart der immanenten Gefahr formaler Monotonie durch die Verwendung zweier sehr unterschiedlicher Spielarten des gleichen Formschemas (radikale Monothematik des zweiten gegen die ausgeprägte Bithematik des ersten Satzes).

Die Finalvariationen (Allegretto) basieren auf einer sehr schlichten und rustikal anmutenden Gavotte, deren einzige “Komplikation” eine Serie von Quint-Sext- und Sekundakkorden über einem chromatisch fallenden Baß (Anfang der zweiten Themenhälfte) darstellt. Die ersten drei Variationen folgen dem altvertrauten figurierenden Schema. Auffällig ist zunächst nur, daß auf eine Klavier- und eine Geigenvariation wieder eine Klavier- und nicht die erwartete Cellovariation folgt. Mit der vierten Variation löst sich dieses Rätsel, freilich nur, um noch viel schwierigere an seine Stelle zu setzen. Der unvermittelte, rücksichtslose Übergang vom unverbindlich freundlichen Plauderton der vorhergehenden Variation zu dem erschütternden Todesernst dieser Mollvariation hat in der gesamten Musikliteratur kaum eine Parallele. Auch die Klang- und Rollenverteilung zwischen den Instrumenten ist ungewöhnlich. Nach Mozarts ausdrücklicher Anweisung übernimmt das Cello mit seiner Baßlinie die Führung. Diese Baßlinie hat jedoch nichts mehr von der springenden Gutmütigkeit des Tanzbasses, sondern sie bewegt sich, beklommen und beklemmend, in quälenden Intervallen und in monotoner Viertelbewegung dahin, während das Klavier zaghafte und kurzatmige Fragen flüstert, die in der Geige nur von einem matten, sich immer wiederholenden und schließlich kraftlos niedersinkenden Seufzermotiv beantwortet werden. Es nimmt nicht wunder, daß ein so expressives und kompromißloses Tonbild auch den vom Thema vorgegebenen formalen Rahmen sprengen muß. Während die erste Themenhälfte auch in diesem düsteren Licht noch als ein ferner Schatten erahnbar bleibt, ist der zweite Teil des Themas bis zur völligen Unkenntlichkeit verfremdet. Für den stummen Schmerz der ganzen Stelle bezeichnend ist die Tatsache, daß gerade jene andeutungsweise “Komplikation” im Thema, von der zu Beginn die Rede war, in die Wortlosigkeit verbannt wird: An der entsprechenden Stelle verstummen die ostinaten Streicherstimmen, und das Klavier bleibt mit einer tonlos wiederholten Frage allein zurück. Die hier eingesetzten Ausdrucksmittel und Tongestalten sind in ihrer Summe so erdrückend, das Licht so fahl und erschreckend, daß man sich unwillkürlich in die Menschheitsdämmerung des Expressionsimus versetzt fühlt. Nur der dicke Panzer überkommener Hör- und Spielgewohnheiten könnte uns in der Illusion ungebrochener “Klassizität” über diese Stelle hinwegtragen. Die Schlußwendung der Variation entläßt uns wie nach schwerem Traum wieder ins heimatliche G-Dur. Aber hier scheint zunächst alles verändert: Die ganze fünfte Variation (Adagio) ist nichts als ein zögerndes und tastendes Wiedererinnern und Wiederfinden. Schließlich wähnen wir uns genesen, und einige kadenzierende Takte führen uns zuversichtlich zur Schlußvariation (Primo tempo). Man meint, wieder festen Tanzboden unter den Füssen gewonnen zu haben, und die alte, naive Gavotte schickt sich an, das letzte Wort zu behalten. Alles gibt sich gelöst und glücklich, da erscheint plötzlich das Gespenst der Mollvariation, mit dem allernotdürftigsten und durchscheinenden Umhang aus Dur bedeckt, wieder. Der Vorgang ist so unerhört und unerwartet, daß man weder die Fassung noch die Zeit findet, ihn in seiner ganzen Tragweite wahrzunehmen, denn schon vertreibt ein gläubiges “Non confundar!” in einer letzten und äußersten Willensanstrengung (mit einer direkt von Händel herkommenden Geste) den bedrohlichen Schatten. Licht und Hoffnung scheinen den Sieg davongetragen zu haben – und dennoch muß die letzte Frage dieses Satzes unbeantwortet bleiben.

© by Claus-Christian Schuster

Mozart: Divertimento à 3 per cembalo, violino e violoncello [B-Dur, KV 254]

Wolfgang Amadeus Mozart

* 27. Jänner 1756
† 05. Dezember 1791

Divertimento à 3 per cembalo, violino e violoncello [B-Dur, KV 254]

Komponiert:Salzburg, August 1776
Uraufführung:nicht dokumentiert;
erste dokumentierte Aufführung:
München, “Zum schwarzen Adler” (Frauenplatz 4), 4. Oktober 1777
Wolfgang Amadeus Mozart, Cembalo
Charles Albert Dupreille (1728-1796), Violine
?, Violoncello
Erstausgabe:Heina, Paris, 1778

Das erste vollgültige Werk der Gattung Klavierkammermusik im Oeuvre Mozarts ist eine Frucht jener glücklichen Zäsur in Mozarts bewegtem Leben, welche ihm zwischen den ausgedehnten und anstrengenden Reisen seiner Kindheit und dem großen Parisabenteuer, also zwischen September 1773 und September 1777 im Kreis seiner Familie in Salzburg vergönnt war. Diese Periode ist es vor allem, auf die sich die zahllosen Anekdoten vom vorlauten und ständig zu mitunter recht derben Spässen aufgelegten Wolferl beziehen, der etwa das hochanständige Tagebuch seiner Schwester mit allerlei verbalem Unflat bereicherte – aus dem Blickwinkel des 19.Jahrhunderts ein irritierender Zug, der, ebenso wie die Unverblümtheit der Bäsle-Briefe, so gar nicht in das engelhaft verklärte Bild des Meisters passen wollte. Und eben dieser “Flegel” Mozart ist es, der uns in den Ecksätzen (Allegro assai. / Rondeaux. Tempo di Menuetto) des B-Dur-Divertimentos entgegentritt: niemals ist er um eine unerwartete Wendung, um ein den Zuhörer schalkhaft desorientierendes Detail verlegen, und doch fließt alles so natürlich, daß man hinterher jedesmal meint, es habe gar nicht anders kommen können. Der Mittelsatz, den diese beiden vitalen Kabinettstücke umrahmen (Adagio, Es-Dur), ist in denkbar großem Kontrast dazu ein herzinniges, im besten Wortsinn “empfindsames” Stück, das auch als eine Reverenz an den verehrten Vorläufer Mozarts Carl Philipp Emanuel Bach verstanden werden könnte.

Mozart selbst scheint sich der Qualitäten seines Trio-Erstlings wohl bewußt gewesen zu sein, denn es gehört zu jenen ausgewählten Werken, die er während seines Parisaufenthaltes dort in Druck geben ließ.

Über die Uraufführung des Werkes ist nichts bekannt. Bei der frühesten nachweisbaren Aufführung in einer Privat-Akademie, die Mozart am “Hochfeyerlichen Nammens-tag seiner königlichen Hoheit des Erzherzogs Albrecht” auf der Reise nach Paris in seinem Münchner Quartier veranstaltete, hatte er jedenfalls keinen Grund zur Freude. (Zum Troste heutiger Konzertbesucher: Diese “kleine accademie” “fienge um halbe 4 Uhr an, und endigte sich um 8 uhr”!) Der Münchner Orchestergeiger und Tartini-Schüler Charles Albert Dupreille (1728-1796), den Mozart dazu eingeladen hatte, verärgerte den Meister schon im ersten Werk des Programms: “…mir war sehr leid, ich hörte ihn kaum; er war nicht im stande 4 täcte fort zu geigen ohne zu fehlen. Er fand keine applicatur. Mit die sospirs war er gar nicht gut freünd. Das beste war daß er sehr höflich gewesen…” Beim anschließenden Divertimento wurde es dann noch bunter: “dann spiellte ich… daß Trio von mir. Das war gar schön accompagnirt. In Adagio habe ich 6 tact seine Rolle spiellen müssen.”

Über eine sehr viel befriedigendere Aufführung des Werkes hingegen konnte Leopold Mozart seinem Sohn einige Zeit später, am 26. Jänner 1778, nach Mannheim berichten, wohin dieser in der Zwischenzeit weitergereist war. Der Geiger Anton Janitsch und der Cellist Joseph Reicha, die Wolfgang wenige Wochen zuvor in Hohenaltheim am Hofe des Fürsten Kraft Ernst von Öttingen-Wallerstein kennengelernt hatte, besuchten Vater Mozart in Salzburg – nicht zuletzt wohl, um ihm über das närrische Benehmen seines Sohnes zu berichten (der freilich postwendend beteuert, immer “ganz serios” gewesen zu sein). Bei dieser Gelegenheit konnten sie einige von Mozarts Kompositionen hören, über die sie in großes Erstaunen gerieten und ausriefen: “….das heist recht gründlich Componiert! Sie accompagnierten dann der Nannerl dein Trio fürs Clavier ex B recht recht vortrefflich”. Das ist das letzte Mal, daß wir zu Mozarts Lebzeiten von dem Werk hören – nicht ganz eineinhalb Jahre nach der Komposition war es für seinen Autor wohl schon “neiges d’antan” geworden.

© by Claus-Christian Schuster

Mendelssohn: Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell Nr.2, c-moll, op.66

Felix Mendelssohn

* 03. Februar 1809
† 04. November 1847

Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell Nr.2, c-moll, op.66

Komponiert:Frankfurt am Main, Februar bis April 1845
Widmung:Louis Spohr
Uraufführung:Leipzig, Gewandhaus, 20. Dezember 1845
(Zweite musikalische Abendunterhaltung)
Felix Mendelssohn-Bartholdy, Klavier
Ferdinand David (1810-1873), Violine
Carl Wittmann (1810-1860), Violoncello
Erstausgabe:Breitkopf & Härtel, Leipzig, Februar 1846

Seit Mendelssohn sich 1841 von den „brillantesten und vorteilhaftesten Anerbietungen“ des neuen preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin hatte locken lassen, sah er sich vor Aufgaben und Belastungen gestellt, die wohl auch eine robustere Gesundheit als die seine unterminiert hätten. Im ehrgeizigen Bemühen, seinen in München regierenden Schwager Ludwig I. zu übertrumpfen und Berlin zur Kulturmetropole des deutschsprachigen Raumes zu machen, hatte Friedrich Wilhelm IV. mit recht diffusen Versprechungen eine ganze Pleiade großer Namen nach Berlin rufen lassen; um die Durchsetzung seiner hochfliegenden und unausgegorenen Projekte konnte und wollte sich der Monarch freilich nicht kümmern. Schon wenige Wochen nach der Annahme des königlichen Angebots schreibt Mendelssohn ernüchtert über seine neue Wirkungsstätte nach London:

Dort gehört ein Mann hin, der die Anfangsgründe erst wieder erweckt; der 10 – 15 Jahre lang wieder belebt, was 20 bis 25 Jahre lang totgeschlagen worden ist, systematisch; dann kann sich ein Musiker wieder dort behaglich fühlen, ohne jene Vorarbeit nicht. Die zu unternehmen habe ich weder Lust noch Beruf. Hätte ich das so vorher gewusst, wie ich es in der 3. Woche des vergangenen Monats mit eigenen Augen gesehen habe, so würde ich von vornherein nicht 2 Briefe gewechselt, sondern alles rund von der Hand abgewiesen haben. Da das nicht geschehen war, so ist die kürzeste Zeit, mit der ich abkommen kann, ein Jahr…“
(an Karl Klingemann, 16. Juni 1844)

Nachdem diese „kürzeste Zeit“ verstrichen war, unternahm Mendelssohn auch wirklich einen ernsthaften Versuch, sich von Berlin zu lösen. Doch der König beantwortete die Kündigung Mendelssohns mit einem Dekret, durch das er ihn zum Preußischen Generalmusikdirektor ernannte. Zwar waren von nun an seine Aufgabenbereiche ein wenig genauer umrissen, was Mendelssohn vor allem den Freiraum gab, den er für seine Leipziger Pläne – den Aufbau eines Konservatoriums – brauchte; aber seine Berliner Stellung blieb trotzdem eine ungeliebte Bürde. Erst im Oktober 1844 gelang es ihm, sich aus dieser mißlichen Lage zu befreien. Für die endliche Durchführung dieses diplomatisch schweren Schrittes war wohl auch die Erfahrung ausschlaggebend, die Mendelssohn im Sommer 1844 gemacht hatte: In zwei unbeschwerten Ferienmonaten, die er nach der Rückkehr von seiner siebenten Englandreise in Bad Soden im Taunus verbrachte, erlebte er nach langer Zeit wieder schöpferisches und familiäres Glück. „Das Sodener Leben, Essen und Schlafen ohne Frack, ohne Klavier, ohne Visitenkarten, ohne Wagen und Pferde, aber auf Eseln, mit Feldblumen, mit Notenpapier und Zeichenbuch, mit Cécile und den Kindern,“ im vertrauten Umgang mit den Dichterfreunden Nikolaus Lenau, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und Ferdinand Freiligrath – dieses andere Leben bescherte ihm und uns das herrliche Violinkonzert, das Ferdinand David am 13. März 1845 im Leipziger Gewandhaus uraufführen konnte.
Unmittelbar nach diesen glücklichen Sommermonaten hatte Mendelssohn seine Familie in Frankfurt zurückgelassen und war allein nach Berlin gereist, um sich „auf möglichst freundliche Weise aus den dortigen Verhältnissen herauszuwickeln.“ Die dort erreichte weitgehende Entbindung von seinen Verpflichtungen empfand er als großes Glück: „…seitdem ich diese Kabinets-Ordre in Händen habe, ist mir wahrlich, als könnte ich seit langer Zeit zum erstenmal wieder frei und mit gutem Gewissen atmen.“
(an Karl Klingemann, 5. November 1844)

Als Mendelssohn dann Anfang Dezember wieder in Frankfurt eintraf, fand er seinen gerade eineinhalbjährigen Sohn Felix lebensgefährlich erkrankt. Wie durch ein Wunder besserte sich nach einigen bangen Tagen der Zustand, „und bleibt es so, so können wir wieder frei atmen, so erhält uns Gott das Kind, oder vielmehr er schenkt es uns von Neuem! Du kannst Dir denken, welch ein Wiedersehn, welch traurige Tage das waren! Denk Dir also, wie wir Gott jetzt für so viele heitre tröstliche Stunden danken!“
(an Karl Klingemann, 17. Dezember 1844)

Aber auch Mendelssohn selbst war nach den übermenschlichen Anstrengungen der zwischen Berlin, Leipzig und London geteilten Jahre geschwächt. Am 25. Jänner 1845 heißt es am Schluß eines Briefes an den Verleger Julius Kistner:„Ich muß diesen Brief diktieren, weil ich seit 14 Tagen bettlägerig wurde, und jetzt, obwohl ganz in der Besserung, doch noch nicht im Stande bin, die Feder selbst zu führen.“ Drei Wochen später, kurz nach seinem sechsunddreißigsten Geburtstag, berichtet er Klingemann, daß „die Erkältung oder der Katarrh oder wie man es sonst nennt, doch noch nicht gewichen“ sei. „Ich habe wieder mit Husten und Krächzen eine Woche das Zimmer hüten müssen, und sitze noch darin, und Marie und Paul [die beiden ältesten Kinder, damals sieben und fünf Jahre alt] krächzen ein Trio mit mir…“

Wenn aus diesen Zeilen schon wieder ungebrochener Lebensmut und Optimismus klingt, so hat das wohl vor allem damit zu tun, daß Mendelssohn in der Zwischenzeit doch schon wieder im Stande ist, „die Feder selbst zu führen“ – und daß das Husteterzett mit den Kindern nicht das einzige Trio ist, von dem er seinem Freund berichten kann. Mit der allmählichen Genesung der Familie und dem Nahen des Frühlings wächst das C-moll-Trio heran, das sich über weite Strecken wie eine tönende Chronik dieser Tage anhört. Ganz sicher vermeinen wir die Bilder dieses Briefes an die Schwester in unserem Trio wiederzufinden:

„Wenn Ihr aber keinen Eisgang in Florenz habt, so müßt Ihr uns beneiden, statt umgekehrt; denn das ist ein herrliches Schauspiel, wie das Wesen hier unter der Brücke sprudelt, und springt und stürzt, und die großen Blöcke und Scheiben durcheinanderwirft, und sagt: packt euch, mit euch ist es für´s Erste vorbei! ´s feiert auch seinen Frühlingstag und zeigt, daß es unter der Eisdecke noch Kraft und Jugend behalten hat, und läuft noch einmal so schnell und springt noch einmal so hoch als in den vernünftigen Tagen anderer Jahreszeiten…“
(an Rebecka Dirichlet, 25. März 1845)

Es sind die ins Kämpferische und Hoffnungsvolle gekehrten Bilder der Winterreise, in der ja die von Mendelssohn für sein neues Trio gewählte Grundtonart c-moll auch schon eine wichtige Rolle spielt (Erstarrung, Rast, Der greise Kopf, Die Krähe).

Mitte April ist die Komposition abgeschlossen. An Fanny schreibt Felix am 20. April:„Das Trio ist ein bißchen eklig zu spielen, aber eigentlich schwer ist es doch nicht. Suchet, so werdet Ihr finden!“ Zur Probe aufs Exempel wird Ferdinand David, der gerade auf der Rückreise vom Düsseldorfer Musikfest durch Frankfurt kommt, das neue Opus vorgesetzt. Und dem Jugendfreund Eduard Devrient schreibt Mendelssohn, ganz im Nachklang der Gefühle und Gedanken, denen das Trio sein Leben verdankt:

„…Über die pelzigen Kastanienknospen habe ich bereits wieder sehr viel nachgedacht, aber ich verstehe es doch noch immer nicht ganz: wie so ein Baum wächst. Die Naturgeschichte erklärt es, ebenso gut wie der Generalbaß die Musik. In letzterer bin ich fleißig und habe zum ersten Mal seit langer Zeit das Glück, recht ruhig leben und arbeiten zu können – was das für ein Glück ist, lerne ich jetzt erst recht einsehen; wenn man nicht bloß eine freie Stunde oder dann und wann einen freien Tag, sondern eine ganze Reihe freier Tage zur Arbeit vor sich hat, dann kommt erst das rechte Vergnügen (an der Arbeit sowohl wie an den Tagen) und ich kann an meiner Musik und an Frau und Kindern, und an mir erst dann so rechte Freude haben, wenn die Freude ohne Hetze ist, wie hier jetzt.
So habe ich denn mancherlei Neues gemacht, zuletzt ein Trio für Piano mit Violine und Baß…“
(26. April 1845)

Die in der Chronik dieser Monate anklingenden Leitmotive – Bedrängnis und Rettung, das Erwachen und Leben der Natur, der Kampf der Jahreszeiten, Gebet und Dank – durchziehen als tönend überhöhte Wirklichkeit alle Sätze dieses Meisterwerks.

Es sollte Mendelssohns letztes Kammermusikwerk mit Klavier bleiben – und wer sich von der schulmeisterlichen Besserwisserei der beamteten Musikwissenschaft nicht beeindrucken läßt, wird es gerne als die würdige Krönung dieser Gattung im Mendelssohnschen Œuvre anerkennen. Jener Typ von Analytiker freilich, der meint, seine Einsicht in den Urgrund der Dinge am besten dadurch erweisen zu können, daß er bald gönnerhaft, bald streng Zensuren verteilt, freut sich, an unserem C-moll-Trio einen besonders verlockenden Reibebaum gefunden zu haben. Die Mendelssohnsche Aufforderung: „Suchet, so werdet Ihr finden!“ wird hier auf eine ganz eigene Weise verstanden. Vor allem das Finale hat es diesen strengen Richtern angetan: Da ist bald von einem „formalen Desaster“ (Frieder Reininghaus), bald von „Misere“ und „Fehldisposition“ (Mathias Thomas) die Rede, das Hauptthema sei vollends „abgenutzt“ und überhaupt nicht „finalkräftig“ (derselbe). Auch bei den anderen Sätzen wird nicht mit Kritik gespart, wobei je nach Geschmack und Laune des Schreibers einmal der eine, dann der andere Satz unter dem Niveau der übrigen Sätze sein soll. Ohne sich mit solchen Details aufzuhalten, urteilt der Liverpooler Emeritus Basil Smallman (in einer wohlmeinend sollenden Besprechung der Klaviertrios) lieber gleich pauschal: „Mendelssohn conceived his structures more as fixed patterns than as living forms.“

Die Liste dieser intellektuell verbrämten Zumutungen ließe sich noch lange fortsetzen; doch Beachtung verdient dieses Phänomen eigentlich nur als schmerzlicher Beleg dafür, daß die seit Wagner gepflegte Diffamierung Mendelssohns auch dort Spuren hinterlassen hat, wo man es eigentlich nicht vermuten würde. (Wie verständlich der Wunsch Wagners war, die Spuren zu einer seiner wichtigsten Anleihequellen zu verwischen, soll hier gar nicht erörtert werden.)

Mit der Widmung seines zweiten Klaviertrios an Louis Spohr erfüllte Mendelssohn eine Dankesschuld: Spohr, um genau ein Vierteljahrhundert älter als Mendelssohn, hatte diesem 1843 seine einziges bedeutendes Klavierwerk, die Klaviersonate As-Dur op.125 zugeeignet. Mendelssohn hatte damals geantwortet:

„Wüßte ich´s Ihnen nur ordentlich auszudrücken, wie tief ich´s empfinde, was das sagen will, eins Ihrer Werke auf diese Weise noch ganz besonders sein eigen nennen zu dürfen, und wie mich nicht allein die Auszeichnung sondern eben so sehr Ihr freundliches Erinnern, Ihr fortgesetztes Wohlwollen dabei so ganz von Herzen freut. Haben Sie tausend Dank dafür, lieber Herr Kapellmeister, und was ich von gutem Clavierspielen zusammen bringen kann, um mit meinen jetzt sehr widerhaarigen Fingern die Sonate recht schön herauszubringen, das soll redlich geschehen. Aber das ist wieder nur eine Freude, die ich mir selbst mache, und ich möchte so gern Ihnen eine dafür erwidern!“

Daß Mendelssohns Revanche dann so königlich ausfiel, entsprach ganz seinem Naturell. Spohr hatte noch die Freude, Ende Juni 1846, einige Monate nach der Drucklegung, das ihm gewidmete Werk zusammen mit seinem eigenen ersten Klaviertrio (op.119) mit Mendelssohn in Leipzig spielen zu können – unter den Zuhörern war damals auch Richard Wagner. Als Mendelssohn anderntags die Spohrs zur Bahn begleitete, war er, als die anderen Begleiter schon Abschied genommen hatten, „noch der Letzte, der bei anfangs langsamem Fortschreiten des Zuges noch eine ganze Strecke neben dem Wagen herlief, bis es nicht mehr anging, und seine freundlich glänzenden Augen waren der letzte Eindruck, den die Reisenden von Leipzig mitnahmen…“
(Louis Spohr, Selbstbiographie)



Der erste Satz (Allegro energico e con fuoco) gehört zu den vollkommensten kammermusikalischen Leistungen der deutschen Romantik: wie hier, mit Instinkt und Inspiration, aber ebenso sehr mit handwerklicher Meisterschaft und durchdachter Disposition, ein episch vielschichtiges Bild entworfen und ausgeführt wird, das trotz allen Detailreichtums konzis und einheitlich wirkt, kann nur bewundert werden. Ein etwas genauerer Blick auf die Exposition dieses Satzes mag zeigen, wie Mendelssohn diesen Eindruck organischer Einheitlichkeit erzielt. Über einen nur trügerische Sicherheit bietenden Orgelpunkt hastet das rastlos bewegte Hauptthema, das mit seinen flüchtigen Akkordzerlegungen und Skalenfragmenten auf den ersten Blick nur wie die vage Ahnung eines Kommenden wirkt; und doch sind hier schon alle motivischen Hauptelemente nicht nur des ganzen Satzes, sondern des ganzen Werkverlaufs in nuce gegenwärtig. Ihre Entfaltung setzt gleich mit dem Ende der Eröffnungsperiode ein, in deren erweitertem Nachsatz sich der Orgelpunkt schon in eine fallende Baßlinie auflöst. Das Hauptthema wird jetzt gleichzeitig zu einer nervösen Begleitfigur zerstäubt (Verkleinerung im Klavier) und zu einer emblematisch punktierten Melodie gedehnt (paraphrasierende Vergrößerung in den Streichern). Dieses Modell strandet an einer auffallenden Kette von vier unmittelbar aufeinander folgenden Trugschlüssen; die sich daran schließende Wiederaufnahme der ursprünglichen Themengestalt treibt unaufhaltsam auf eine Stromschnelle zu, in der am Ende eines Abspaltungsprozesses das unmerklich veränderte Kopfmotiv mit mitreißendem Ungestüm in das sieghafte Seitenthema mündet. Vor der zwingenden Naturhaftigkeit dieses Vorganges wirkt das Wort „Seitenthema“ freilich recht fehl am Platz: Es ist kein neues Thema – vielmehr eine organische Metamorphose des Hauptsatzes, in dessen Spitzentönen ihre melodischen Umrisse schon verborgen lagen; und Mendelssohn erreicht, indem er die begleitende Klaviertextur beibehält, eine ungebrochene Kontinuität zwischen den beiden Formteilen. Diesem in Es-Dur stehenden Seitensatz, der bei seiner Fortspinnung zunehmend nachdenkliche Züge bekommt, folgt eine Rückkehr zu einer kanonischen Variante der Ausgangsgestalt in der Molldominant (g-moll) und eine erweiterte Wiederholung des allerersten Entwicklungsabschnittes, der – unter beharrlicher Beibehaltung der Molldominante – zu einer recht deutlich an den Kopfsatz des G-moll-Klavierkonzertes (op.25) anklingenden Schlußformel führt; hier endlich wird der im ersten Verarbeitungsschritt zutage getretene punktierte Rhythmus zum unumstrittenen Hauptprotagonisten. Der bis hierher eroberte Tonraum (c-moll – Es-Dur – g-moll) demonstriert die Stärke der Haupttonart, denn die Nebentonarten können als auskomponierte Tonstufen des C-moll-Dreiklanges gedeutet werden; außerdem antizipiert diese Disposition aber im Kleinen die tonale Dramaturgie des ganzen Werkes (2. Satz – Es-Dur, 3.Satz – g-moll).
Wie wir gesehen haben, bedient sich die Exposition einer ganzen Reihe von Durchführungstechniken. Die Aufgabe der nun folgenden eigentlichen Durchführung ist daher nicht, die Möglichkeiten des motivischen Ausgangsmaterials dynamisch zu entwickeln, sondern vielmehr das schon entfaltete Material wieder zu bündeln, um den Weg zur Reprise freizumachen. Aus dem fragend und klagend wiederholten Nachsatz des „Seitenthemas“, mit dem die Durchführung eröffnet wird, entspinnt sich ein ergreifender Dialog zwischen den Streichern, in dessen Verlauf die Verwandtschaft zwischen „Haupt-“ und „Seitenthema“ gleichsam Generation für Generation zurückverfolgt und offengelegt wird, bis am Ende die wiedergefundene Urgestalt des Hauptsatzes den Eintritt der Reprise markiert, über dem das Klavier ein letztes Bruchstück des Seitenthemas wehmütig festzuhalten versucht. Dieser Moment übt – ganz ähnlich wie die analoge Stelle des ersten Klaviertrios – in seiner kunstvollen Schlichtheit einen ganz besonderen Zauber aus; und als Folge dieser Verzauberung erscheint der weitere Reprisenverlauf auch merkwürdig verwandelt. Der Abschnitt vor dem Seitensatz ist gegenüber der Exposition um etwa die Hälfte gekürzt, die Bewegung bricht sich immer wieder an kleinräumigen Betonungen. Besonders eklatant ist der Unterschied zur Exposition beim Übergang zum Seitensatz: wo dort sich ein mächtiger Strom ins Meer ergoß, eröffnet sich hier ein unerwarteter Durchblick in die Ferne, aus der man das Cello das jetzt schon vertraute Thema intonieren hört. Von da an überwiegen wieder die Analogien zwischen Exposition und Reprise. Erst die ausgedehnte Coda erweitert das Bild um eine ganz neue und unvergeßliche Perspektive. Die Motorik des Hauptmotivs hält plötzlich lauschend inne, und der ferne pochende Leitrhythmus bleibt alleine hörbar. Durch die verfremdete Landschaft entfernter Tonarten gelangen wir zum Höhepunkt des Satzes: Bei der letzten Wiederkehr des Hauptthemas erklingen Vergrößerung und Originalgestalt gleichzeitig – ein schon zu Beginn des Werkes angedeuteter, aber nicht ausgeführter kontrapunktischer Kunstgriff, der bei Mendelssohn eine Rarität ist. Ein letztes Mal erklingt noch die Frage des in Moll gefangenen Seitenthemas, dann endet der Satz mit einer wildentschlossenen Note trotzigen Mutes.

Mendelssohn zog es vor, einem Satz von so außergewöhnlicher Konzentration und nachhaltiger Wirkung bescheidener dimensionierte und leichter gearbeitete Mittelsätze folgen zu lassen, und die Lösung der im Kopfsatz aufgeworfenen Fragen für das Finale aufzusparen. Daß ihm das gelang, ohne die Stringenz des Ablaufs zu gefährden, beweist seine souveräne Meisterschaft.
Durch die Schaffung tonaler und formaler Analogien zwischen den beiden Mittelsätzen wird der Gefahr des Proportionsverlustes entgegengewirkt; trotz ihrer großen charakterlichen Gegensätzlichkeit stützen und stärken die Sätze einander und entgehen so gemeinsam der Verharmlosung durch die mächtigeren Nachbarn. Beide Sätze sind dreiteilig und tonal nach dem Prinzip des Variantenwechsels (Es-Dur – es-moll – Es-Dur im zweiten, g-moll – G-Dur – g-moll im dritten Satz) gebaut.

Das Andante con moto (Es-Dur) im Neunachteltakt ist ein Lied ohne Worte wie es inniger und schlichter kaum zu denken ist – als Klavierstück würde es sicher einen Ehrenplatz unter den acht Heften der Mendelssohnschen Stücke dieses Titels einnehmen; und daher scheint es legitim sich der Worte zu erinnern, mit denen Schumann das Erscheinen der ersten dieser Kompositionen begrüßte:

„Wer hätte nicht einmal in der Dämmerungsstunde am Klavier gesessen (ein Flügel scheint zu hoftonmäßig) und mitten im Phantasieren sich unbewußt eine leise Melodie dazu gesungen? Kann man nun zufällig die Begleitung mit der Melodie in den Händen allein verbinden, und ist man hauptsächlich ein Mendelssohn, so entstehen daraus die schönsten Lieder ohne Worte.“

Der Dur-Hauptteil hat das naive Parlando eines kindlichen Gebetes, während sich im Minore dunklere und flehentlichere Töne vernehmen lassen, die in der Coda des Durteils zu einem unerwartet heftigen Ausbruch (as-moll) führen. (Die Verschränkung und teilweise Durchdringung der beiden Formteile in der Reprise stellt übrigens eine zusätzliche Parallele zwischen den beiden Mittelsätzen dar.)

Daß Mendelssohn in den Scherzi in seinem ureigensten Element ist, wurde schon allzu oft wiederholt. In diesem Satz (Scherzo. Molto allegro quasi presto, g-moll) kann man aber wirklich, wie ein Kritiker das getan hat, die perfekte „Synthese zwischen Feenzauber und Fugentechnik“ sehen – vorausgesetzt, man nimmt den Begriff „Fugentechnik“ nicht zu wörtlich; denn eigentlich begnügt sich Mendelssohn mit angedeuteten Imitationen, vornehmlich zwischen den Streichern. Der fast schon zu einem Markenzeichen des Komponisten gewordene Topos des Feen- oder Elfenreigens wird von einem Trio alla zingarese (das sicher die zustimmende Anerkennung der Kollegen Haydn und Brahms findet) unterbrochen, ohne daß der Fluß des Satzes dadurch auch nur im geringsten gestört würde. Die Leichtigkeit, mit der Mendelssohn zwischen den beiden Polen dieses Satzes vermittelt, beschert uns in der drastisch verkürzten Reprise dann noch ein besonderes Kunststück: Auch hier usurpiert das vorlaute Maggiore ein Territorium, das von Rechts wegen ganz dem Moll-Hauptteil zustünde – und trotzdem bleibt der nächtlichen Choreographie das eigentlich zu erwartende Chaos erspart.

Mit dem Finale (Allegro appassionato) kehren wir in den Fragenkreis des ersten Satzes zurück. Die ziemlich weitgehende Ähnlichkeit des Kopfmotivs mit dem Scherzo aus Brahms´ dritter Klaviersonate (f-moll, op.5) wurde wiederholt konstatiert. Wahrscheinlich hätte Brahms diese Feststellung ebenso bärbeißig quittiert, wie den Hinweis auf die Verwandtschaft zwischen dem Incipit unseres Trios und dem Beginn des Finales seines (in der selben Tonart stehenden) Klavierquartetts op.60. Allerdings ist es sehr leicht möglich, daß dieser doppelte Anklang doch nicht ganz von ungefähr kommt: die analogen Choral-Enklaven im Schlußsatz des Brahmsschen Quartetts und in unserem Finale könnten ein zusätzliches Indiz für eine besondere Wirkung sein, die Mendelssohns Trio auf den jungen Brahms ausgeübt haben mag. Wie auch immer: die oben kurz berührten Einwände der erlauchten Musikwissenschaft gegen diesen Satz gehen vor allem deswegen ins Leere, weil sie seine Abhängigkeit vom Kopfsatz nur ungenügend in Rechnung stellen. Die formale Eigenwilligkeit des Satzes (durchführungslose Zweiteiligkeit mit Einschub eines Choralthemas mitten in die Reprise des Hauptthemas, nachhaltig betonte Wiederaufnahme dieses „regelwidrigen“ Einschubs in der ausgedehnten Coda) und die hermeneutischen Implikationen, die sie bedingen, sind losgelöst von der Ideen- und Motivwelt des ersten Satzes gar nicht zu verstehen. Der vieldiskutierte Choral steht in direkter Abhängigkeit vom „eigentlichen“ Seitenthema des Satzes, das selbst wiederum nichts anderes als eine sehr verwandelte, aber noch immer als solche erkennbare Wiedergeburt des Seitenthemas aus dem ersten Satz ist. Diese Querbeziehungen sind wohl viel aussagekräftiger als die genaue Zuordnung der Choralmelodie selbst. (Als Quellen für den Choral werden genannt: „Vor Deinen Thron tret´ ich hiemit“, „Herr Gott, Dich loben alle wir“ und „Ihr Knechte Gottes allzugleich“; am nächsten steht wohl Bachs auf einer Genfer Psalmenausgabe von 1551 basierenden Choralsatz „Herr Gott, Dich loben alle wir“, BWV 326. Gegenüber dieser Quelle verändert Mendelssohn das Metrum, tauscht Haupt- gegen Mittelstimmen und bringt einige melodische Modifikationen an.) Der leidenschaftliche Trotz des Hauptthemas, das von seiner (partiellen) vergrößerten Umkehrung im Baß begleitet wird, strahlt einen kämpferischen Lebenswillen aus, zu dem die „Non confundar in aeternum“-Stimmung des Seitenthemas zwar in Spannung, aber nicht in Widerspruch steht. Daß sich Lebenswillen und Gottvertrauen im Lobgesang vereinen, ist bei einem tief religiösen Menschen wie Mendelssohn ganz sicher keine rhetorische Pose. Die Pose entsteht erst im Angesicht der Masse; aber das „Suchet, so werdet Ihr finden!“ Mendelssohns wendet sich nicht an eine anonyme Masse. Der innere Adel, der Mendelssohn für so unterschiedliche Temperamente wie Louis Spohr und Robert Schumann zur höchsten Autorität machte (Schumann: „Sein Lob galt mir immer das höchste – die höchste letzte Instanz war er.“) und der wohl auch der tiefere Grund für den pathologischen Mendelssohn-Komplex Richard Wagners ist, wurde von einer nachfolgenden Zeit als klassizistische oder historistische Glätte und Unverbindlichkeit gedeutet. Wer die Botschaft dieses Trios zu hören versteht, wird keinen Augenblick mehr daran zweifeln, daß Mendelssohn nicht einfach der Autor eines genialen Violinkonzertes und einer vielseitig verwendbaren Bühnenmusik ist, sondern zu den ganz Großen unserer Musik zählt.

© by Claus-Christian Schuster

Mendelssohn: Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell [Nr.1], d-moll, op.49

Felix Mendelssohn

* 03. Februar 1809
† 04. November 1847

Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell [Nr.1], d-moll, op.49

Komponiert:Leipzig und Frankfurt am Main, Februar bis September 1839
Uraufführung:Leipzig, Gewandhaus, 1. Februar 1840
(Zweite Musikalische Abendunterhaltung)
Felix Mendelssohn, Klavier
Ferdinand David (1810-1873), Violine
Carl Wittmann (1810-1860), Violoncello
Erstausgabe:Breitkopf & Härtel, Leipzig, April 1840

Ganz zu Beginn und ganz am Ende des Planes und der Ausführung von Mendelssohns erstem Klaviertrio (dem schon 1820 ein bis 1970 ungedruckt gebliebenes Trio für Klavier, Violine und Viola vorausgegangen war) finden wir Mendelssohns Freund Ferdinand Hiller (1811-1885). Von Hiller waren schon 1836 drei Klaviertrios (op.6 – 8) erschienen, die Schumann auf sehr launige Weise rezensiert hatte. Im August 1838 schreibt Mendelssohn seinem in Italien weilenden Freund en passant von seiner Absicht, „nächstens ein paar Trios zu schreiben“. Der Plan wurde weder so rasch noch auch in diesem Umfang ausgeführt – aber am 23. September 1839 beendet Mendelssohn in Leipzig die erste Reinschrift des zum Großteil im Sommer in Frankfurt komponierten Werkes. Im Dezember kommt Hiller nach dem Tod seiner Mutter auf Felix´ Einladung nach Leipzig, wo er zunächst zwei Wochen lang Gast im Hause Mendelssohn ist, um dann in der ehemaligen Junggesellenwohnung seines Freundes „in Reichel´s Garten“ Quartier zu beziehen. Über diesen Aufenthalt berichtet Hiller in seinen 1874 erschienenen Mendelssohn-Erinnerungen unter anderem:

Mendelssohn hatte gerade sein großes Trio in D-moll beendigt; er ließ es mich hören. Gewaltig impressionirte mich das Feuer und Leben, der Fluß, die Meisterschaft in einem Wort, die sich in jedem Tact geltend macht. Doch hatte ich ein kleines Bedenken. Gewisse Clavierfiguren, namentlich die auf gebrochenen Accorden beruhenden, erschienen mir – etwas altmodisch, um es gerade heraus zu sagen. Ich hatte mehrere Jahre in Paris mit Liszt, fast täglich mit Chopin verkehrt und der pianistische Erfindungsreichthum der neueren Zeit war mir zur Gewohnheit geworden. Als ich Mendelssohn in diesem Sinne einige Bemerkungen machte, einige Änderungen vorschlug, wollte er anfänglich nichts davon wissen. „Glaubst Du, daß die Sache dadurch irgend besser werde“, sagte er, „das Stück bleibe was es ist und so mag es auch bleiben wie es ist.“ – „Du hast mir ja oft gesagt und durch die That bewiesen,“ erwiederte ich, „daß der kleinste Pinselstrich nicht verschmäht werden dürfe, der zur Vollendung des Ganzen beiträgt. Wenn eine ungewöhnliche Form eines Arpeggio´s die Harmonie nicht verbessert, so verschlechtert sie auch nichts – und für den Pianisten, als solchen, wird´s interessanter.“ Wir beriethen, probirten am Clavier hin und wieder und ich hatte den kleinen Triumph, Mendelssohn für meine Ansicht schließlich zu gewinnen. Ernst und gewissenhaft, wie er Alles nahm, was er einmal erfaßt, unterzog er sich der langwierigen, um nicht zu sagen langweiligen Arbeit, die ganze Clavierstimme noch einmal aufzuschreiben. Als ich ihn eines Tages daran arbeitend fand, spielte er mir eine Stelle vor, die er in der Weise, wie ich sie ihm am Clavier vorgeschlagen, aufgenommen. „Die soll zur Erinnerung an Dich bleiben,“ rief er aus. Und als er später das Werk in einer Kammermusik mit seinem unvergleichlichen Feuer gespielt und das Publicum damit hingerissen hatte, sagte er: „Ich habe meinen Spaß an dem Stück; es ist ordentliche Musik und die Pianisten werden es gern spielen, weil sie doch auch damit zeigen können.“ Und so geschah´s.

Tatsache ist, daß die im September 1839 beendete Reinschrift in Details ganz erheblich von der im April 1840 erschienenen Erstausgabe des Trios abweicht. Das Erscheinen des Werkes begrüßte Schumann mit einer seiner schönsten Rezensionen:

„Es bleibt noch übrig, über Mendelssohns Trio etwas zu sagen – Weniges nur, da es sich gewiß schon in aller Händen befindet. Es ist das Meistertrio der Gegenwart, wie es ihrer Zeit die von Beethoven in B und D, das von Franz Schubert in Es waren; eine gar schöne Komposition, die nach Jahren noch Enkel und Urenkel erfreuen wird. Der Sturm der letzten Jahre fängt allmählich sich zu legen an und, gestehen wir es, hat schon manche Perle ans Ufer geworfen. Mendelssohn, obschon weniger als andere von ihm gepackt, bleibt doch immer auch ein Sohn der Zeit, hat auch ringen müssen, hat es auch oft anhören müssen, das Geschwätz einiger bornierter Schriftsteller: „die eigentliche Blütenzeit der Musik sei hinter uns“, und hat sich emporgerungen, daß wir es wohl sagen dürfen: er ist der Mozart des neunzehnten Jahrhunderts, der hellste Musiker, der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und zuerst versöhnt. Und er wird auch nicht der letzte Künstler sein. Nach Mozart kam ein Beethoven; dem neuen Mozart wird ein neuer Beethoven folgen, ja er ist vielleicht schon geboren. Was soll ich noch über dieses Trio sagen, was sich nicht jeder, der es schon gehört, schon selbst gesagt? Am glücklichsten freilich, die es vom Schöpfer selbst gehört. Denn wenn es auch kühnere Virtuosen geben mag, in so zauberischer Frische weiß kaum ein anderer Mendelssohns Werk wiederzugeben, als er selbst. Es schrecke dies niemanden ab, das Trio auch zu spielen; es hat sogar im Vergleich zu andern, wie z. B. zu den Schuberts, weniger Schwierigkeiten, wie denn diese bei Kunstwerken ersten Ranges mit der Wirkung immer im Verhältnisse stehen, und je größer jene, je gesteigerter diese ist. Daß das Trio übrigens keines für den Klavierspieler allein ist, daß auch die andern lebendig einzugreifen haben und auf Genuß und Dank rechnen können, braucht kaum einer Erwähnung. So wirke denn das neue Werk nach allen Seiten, wie es soll, und sei uns ein neues Zeugnis der Kunstkraft seines Schöpfers, die jetzt beinahe in ihrer höchsten Blüte zu stehen scheint.

Um dieses Echo richtig würdigen zu können, transponiere man – als Gedankenexperiment – einmal die zeitlichen Abstände zwischen Rezensent, rezensiertem Komponisten und den als Vergleichsgrößen herangezogenen Meistern aus dem Jahre 1840 in das Jahr 2001: Da schriebe also heute ein 1971 geborener Komponist (in einer von ihm selbst geleiteten, florierenden Musikzeitschrift) über das soeben erschienene Werk seines um ein Jahr älteren Kollegen; darf ganz ohne Koketterie annehmen, daß die meisten seiner Leser das Werk schon kennen; setzt es in Beziehung zu den von allen gekannten und geliebten Werken fraglos anerkannter Meister der jüngsten Vergangenheit (Jahrgänge 1931 und 1958) – Werken, die in den Jahren 1970, 1977 und 1989 das erste Mal gedruckt wurden; und wagt eine (sich später herrlich bewahrheitende) Prophezeiung über einen kommenden Meister, der heute gerade sieben Jahre alt ist… Fällt es da nicht ein wenig schwer, sich aufrichtig darüber zu freuen, wenn heute einem siebzigjährigen Komponisten durch die Gunst eines ambitionierten Starinterpreten endlich der „Durchbruch“ gelingt – ein Durchbruch, der sich meistens nur in einem konjunkturfördernden Kursanstieg auf dem Konzert- und Medienmarkt, kaum je in verbreiteter und vertiefter Kenntnis des entdeckten Werkes niederschlägt?

Ein halbes Jahr nachdem Mendelssohn Hiller von seinen Trioplänen berichtet hatte, konnte er Moscheles den Beginn der Arbeit melden (Brief vom 27. Februar 1839). Etwa gleichzeitig wurde die Komposition der monumentalen Sinfonie-Cantate „Lobgesang“ (2. Symphonie, B-Dur, op.52) in Angriff genommen. So ist es nicht verwunderlich, daß bei Mendelssohns Abreise nach Frankfurt (24. April) das Klaviertrio noch nicht sehr weit gediehen war.
Der Aufenthalt in Frankfurt ist aber in diesem Jahr besonders angenehm und produktiv:

„…mir ist gar zu wohl, hier im schönen Lande. Diese Sommermonate, die ich jetzt in Frankfurt zubrachte, haben mich wahrhaft erquickt; den Morgen gearbeitet, dann gebadet oder gezeichnet, nachmittags Orgel oder Klavier gespielt, dann in den Wald gegangen und in Gesellschaft oder nach Haus, wo die hübscheste Gesellschaft war – daraus bestand mein lustiges Leben, und zu all dem die prächtigen Sommertage, die in einer ununterbrochenen Reihe folgten…“
(an Karl Klingemann, 1. August 1839)

Bei solchen Arbeistbedingungen überrascht es nicht, daß er schon am 3. Juli seiner Mutter mitteilen kann, das Trio sei beendigt. Daß diese Mitteilung allerdings noch nicht den endgültigen Abschluß der Komposition bedeutete, wissen wir aus dem oben Angeführten.

Das Werk eroberte sich schon bald nach seiner Leipziger Uraufführung einen Ehrenplatz in der Trioliteratur; Mendelssohn selbst führte es in England ein, von wo es rasch seinen Siegeszug bis nach Amerika antrat. Noch heute zählt es zu den meistgespielten (und meist eingespielten) Kompositionen des gesamten Kammermusikrepertoires.

Der Kopfsatz (Molto Allegro agitato) stellt die vielleicht vollkommenste Synthese von klassischer Formbeherrschung und romantischer Diktion dar, die uns die Musikgeschichte zu bieten hat. Hätte es noch eines Beweises bedurft, daß Glätte der Form und Dichte des Inhalts nicht unvereinbar sind, hier liegt er vor uns. Das kristalline Ebenmaß und die ideale Ausgewogenheit dieses Sonatensatzes par excellence behindern nirgends das freie Ausschwingen der von edler Leidenschaft und tiefer Innigkeit geprägten musikalischen Gedanken. Wenn man gewohnt ist, die Geschichte der musikalischen Stile und Idiome als ein dialektisches Kräftespiel widerstreitender Prinzipien zu begreifen, so könnte einen die restlose Vollkommenheit dieses Satzes für einen Augenblick der Illusion erliegen lassen, er sei in einem diesem Kampf entzogenen Raum, außerhalb des Flusses der Musikgeschichte entstanden. (Ein unscheinbares Detail wie die Feststellung, daß Harmoniefolge und melodischer Ductus des Incipits mit jenem des 1832 veröffentlichten Schubert-Lied „Fahrt zum Hades“ [D 526, übrigens ebenfalls in d-moll] übereinstimmen, fällt daneben gar nicht ins Gewicht.)

Als Mendelssohns englischer Verleger den Komponisten – den Bedürfnissen des dortigen Marktes entsprechend, dessen Vorlieben sich seit Haydns Zeiten offenbar nur unwesentlich geändert hatten – um ein Arrangement des Trios mit Flöte statt Geige ersuchte, schlug dieser ihm vor „in dieser Form vorläufig nur das Andante und Scherzo erscheinen zu lassen […], weil mir das erste und letzte Stück zu schwer und zu dick für solch ein Arrangement scheinen.“ (Brief an Ignaz Moscheles, 21. März 1840). In der Tat sind die beiden Mittelsätze des Werkes aus ganz anderem, viel leichterem Material gewebt als die Ecksätze.
Der zweite Satz (Andante con moto tranquillo, B-Dur), der in Textur und Charakter an die Lieder ohne Worte gemahnt (allen voran wohl an das fünf Jahre später geschriebene und Clara Schumann gewidmete in G-Dur, op.62 Nr.1), ist aber deswegen durchaus kein „leichtgewichtiges“ Stück. Auch sprengt die Weite der Anlage mit dem flehentlich inbrünstigen Minore-Mittelteil den in den Liedern ohne Worte gewahrten Rahmen bei weitem. Nur am Rande, und ganz ohne das unter Reminiszenzen-Jägern übliche Halali, sei noch vermerkt, daß der Satz gewissermaßen von hochadliger Abstammung ist: Mendelssohn erinnert sich hier (wahrscheinlich unbewußt) an den langsamen Satz (Adagio cantabile, As-Dur) aus Beethovens C-moll-Violinsonate op.30 Nr.2. Ohne je wörtlich zu zitieren, beschwört er Duktus und Gestik dieses großen Vorbildes – und bleibt doch ganz er selbst.

Einem Gebiet, das vor Mendelssohn kaum jemand betreten hatte, und dessen Herrschaft ihm bis heute auch niemand streitig machen kann, entstammt das Scherzo (Leggiero e vivace, D-Dur). Ob das Intermezzo aus Hillers Klavierquartett op.1, in dem der Autor meinte, den Elfenton das erste Mal angeschlagen zu haben, wirklich unabhängig von den sicher davor entstandenen Werken Mendelssohns niedergeschrieben wurde oder nicht, spielt dabei keine Rolle: Seit der Concert-Ouverture zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ op.21, mit der der siebzehnjährige Felix die Welt verzauberte, wird sein Name (allzu ausschließlich) mit der unnachahmlichen Delikatesse seiner Elfen-Scherzi verbunden. Dabei waren dieser Ouverture schon vier großartige Gestaltungen des selben Topos vorausgegangen – das Rondo capriccioso op.14 und der dritte Satz des Klavierquartetts op.3 (beides 1824), das Capriccio op.5 und der dritte Satz des Oktetts op.20 (beides 1825); unter denen, die ihr folgen sollten, ist das Scherzo unseres Trios aber wohl das vollkommenste. Mendelssohn verzichtet hier – vielleicht mit Blick auf die Dreiteiligkeit des vorangegangenen Satzes – auf die traditionelle dreiteilige Scherzoform und wählt an ihrer Stelle eine zwar miniaturhafte, aber voll ausgeprägte monothematische Sonatenhauptsatzform.

Worauf die seit vielen Jahrzehnten durch die einschlägige Literatur geisternde Meinung beruht, das Finale (Allegro assai appassionato) sei ein Rondo, läßt sich wohl nicht mehr feststellen. Wenn man aber einmal davon absieht, daß sich fast jeder entwickelte Sonatenhauptsatz mit einiger Anstrengung auch als „eine Art Rondo“ betrachten läßt, so gibt es hier für eine solche Lesart keine triftigen Gründe ( – es sei denn, die gymnastischen Verrenkungen, die zur Aufrechterhaltung dieser Perspektive notwendig sind, verfolgten einen therapeutischen Zweck). Dieser Satz ist nicht nur ebenso „schwer“ und „dick“ wie der erste, er folgt auch dem selben Formprinzip, nur eben in völlig gegensätzlicher Ausprägung. Alles, was im Kopfsatz Ebenmaß und Symmetrie war, wird hier Irritation und Verschiebung. Ein Musterbeispiel dieser Strategie ist schon das Hauptthema: Es beginnt mit dem Vordersatz einer achttaktigen Periode, der die gewisse Erwartung einer regelmäßigen Fortsetzung weckt; aber der Nachsatz wird durch Verzögerung und Dehnung zunächst von vier auf acht, und dann sogar noch einmal zusätzlich auf sechzehn Takte gedehnt, so daß zuletzt anstelle des klassischen Themas aus 4+4 ein romantisches Phantasiegebilde von 4+24 Takten vor uns steht. Und in dieser Weise geht es weiter: Gegen die sofort einsetzenden Durchführungsstürme vermag sich das Seitenthema (in F-Dur) kaum durchzusetzen, und auch zwischen dieses und die Schlußgruppe drängen sich die Wogen, die dem Hauptthema zusetzen. Da auf diese Weise die Arbeit der Durchführung schon verrichtet ist, bevor die ihr zugedachte Stelle überhaupt erst erreicht ist, ersetzt Mendelssohn sie kurzerhand durch einige stellvertretende Takte, auf die dann sofort der Beginn der Reprise folgt. Hier nun wird der tiefere Sinn der eigenartigen Dehnung des Hauptthemas klar: die letzte dieser Verzögerungen bietet jetzt Raum für ein verspätetes Durchführungsthema in B-Dur (aus der Rondoperspektive betrachtet wäre das wohl die „zweite Episode“), das in Gewicht und Ausführung dem nach allen Anstrengungen kurzatmigen Seitenthema mühelos den Rang abläuft. Die Fortsetzung der Reprise nach dieser willkommenen Unterbrechung bietet noch einige zusätzliche Komplikationen; vor allem hat das entmachtete Seitenthema nicht mehr die Kraft, den Bann der Mollumklammerung zu brechen, so daß schließlich das Durchführungsthema als Sieger einzieht und mit unwiderstehlicher Kraft die befreiende (und von einem Meisterregisseur inszenierte) Schlußmodulation (B-Dur – D-Dur) vollzieht, wonach dem Freudentaumel und Jubel der Stretta nichts mehr im Wege steht.

Selten finden wir den selbstkritischen Meister so wohlgefällig auf sein Werk blicken, wie nach der Vollendung dieses Trios. Noch vor der von Hiller angeregten Überarbeitung schreibt er an Ignaz Moscheles:

„Mein Trio zeigte ich Dir gar zu gern, es ist mir sehr ans Herz gewachsen, und ich bilde mir gewiß ein, Du würdest mit Manchem darin zufrieden sein…“
(Leipzig, 30. November 1839)

Zwei Wochen nach der Uraufführung berichtet er dann seinem Freunde Karl Klingemann nach London:

„Gott, wie gern spielte ich Dir das vor; es würde Dir gewiß Vergnügen machen; und nun wird´s bald erscheinen, und wenn Du´s da, wer weiß wie, wer weiß wo, und wer weiß von wem zum ersten Male hörst, so macht Dir´s vielleicht nicht halb das Pläsir, das gewiß wäre, wenn Du neben mir säßest, in die Partitur gucktest, und ich auch nur die anderen Instrumente brummte…“
(Leipzig, 16. Februar 1840)

Und wer gäbe nicht alle acht- und denkbaren Aufführungen des Trios für das schlichte Pläsir, neben Mendelssohn sitzend ihn selbst spielen und brummen zu hören?

© by Claus-Christian Schuster

Mendelssohn Fanny: Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell, d-moll, op.11

Fanny Mendelssohn

* 14. November 1805
† 14. Mai 1847

Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell, d-moll, op.11

Komponiert:Berlin, Dezember 1846 – März 1847
Uraufführung:Berlin (Leipziger Straße 3), 11. April 1847
Fanny Mendelssohn(-Hensel), Klavier
?, Violine
?, Violoncello
Erstausgabe:Breitkopf & Härtel, Leipzig, 1850 (Nr. 4 der nachgelassenen Werke)

„Ich habe nachgedacht, wie ich eigentlich gar nicht excentrische oder hypersentimentale Person zu der weichlichen Schreibart komme? Ich glaube, es kommt daher, daß wir gerade mit Beethovens letzter Zeit jung waren, u. dessen Art u. Weise, wie billig, sehr in uns aufgenommen haben, u. die ist doch gar zu rührend u. eindringlich. Du hast das durchgelebt u. durchgeschrieben, u. ich bin drin stecken geblieben, aber ohne die Kraft, durch die Weichheit allein bestehn kann u. soll. Daher glaube ich auch, hast Du nicht den rechten Punkt über mich getroffen oder ausgesprochen. Es ist nicht sowohl die Schreibart an der es fehlt, als ein gewisses Lebensprinzip, u. diesem Mangel zufolge sterben meine längern Sachen in ihrer Jugend an Altersschwäche, es fehlt mir die Kraft, die Gedanken gehörig festzuhalten, ihnen die nötige Consistenz zu geben. Daher gelingen mir am besten Lieder, wozu nur allenfalls ein hübscher Einfall ohne viel Kraft der Durchführung gehört…“

Diese illusionslose Selbstkritik findet sich in einem Brief, den Fanny am 17. Februar 1835 ihrem Bruder Felix schrieb – nach der Niederschrift ihrer bis dahin bedeutendsten Kammermusikkomposition, eines Streichquartetts in Es-Dur. Erst zwölf Jahre später sollte sie sich mit ihrer letzten großen Komposition, dem Klaviertrio in d-moll, wieder auf das Gebiet der Kammermusik wagen. Die Schonungslosigkeit dieses allzuoft zitierten Urteils hat der Verkennung der Komponistin Fanny Mendelssohn ebenso Vorschub geleistet, wie sie die Bewunderung für ihre Person gefördert hat. Fannys in mancherlei Hinsicht berechtigter Eigentadel läßt sich schwer entkräften. Daß aber trotz der auf solche hellsichtige Selbstanalyse folgenden Anstrengungen und der daraus resultierenden bemerkenswerten Fortschritte auch das posthum veröffentlichte Klaviertrio die von der Komponistin konstatierten Schwächen noch erkennen läßt, hat zu viele und zu verschieden Gründe, um sie schlag- und stichwortartig abzutun. Ohne Zweifel gehört die Fanny zugedachte (und von ihr durchaus nicht widerstrebend angenommene) Rolle als Ehefrau und Mutter, zu den gewichtigsten dieser Gründe. Aber es hieße doch, die faszinierende Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit eines zutiefst schöpferischen Menschen – und ein solcher war Fanny Mendelssohn ganz gewiß – allzu sehr zu vereinfachen, wenn man in der gesellschaftlich sanktionierten Einengung und Beschränkung der Frau die einzige Erklärung für den offensichtlichen Widerspruch zwischen Möglichem und Erreichtem in ihrem Werk sucht. Das seit einigen Jahren neu erwachte Interesse an Leben und Werk dieser beeindruckenden Persönlichkeit hat bewirkt, daß vor unseren Augen ein vollständigeres und facettenreicheres Bild von Fanny Mendelssohn entsteht, als sich die gönnerhafte Herablassung der männlichen und die militante Bitterkeit der weiblichen Musikgeschichtsschreibung je erträumen hat lassen.

Selbstverständlich spielte in Fannys musikalischer Entwicklung ihre Verhältnis zu ihrem etwas mehr als drei Jahre jüngeren Bruder Felix die zentrale Rolle. Zunächst sein geliebtes Vorbild, wurde sie sehr bald zu seiner glühendsten Bewunderin, blieb aber dabei immer seine einflußreichste Ratgeberin und Kritikerin – und ohne Zweifel die wichtigste Person in seinem Leben. Der Wettstreit zwischen den Geschwistern, etwa bei der Komposition von Klavierquartetten (1821/22), war sicher anspornend und förderlich, er brachte aber auch (und wohl unabhängig von Fannys Benachteiligung durch die Konvention) die Verschiedenartigkeit ihrer Veranlagungen zutage: Einem ersten und unvollendet gebliebenen Versuch von Felix (d-moll, 1821) folgt Fanny mit ihrem Klavierquartett in As-Dur, über dem sie 1822 sieben Monate lang brütet, während Felix, wohl durch die Schwester animiert, sein Opus 1 (c-moll) in etwas mehr als drei Wochen zu Papier bringt (die eigentliche Kompositionsarbeit beansprucht ihn gar nur elf Tage hindurch). Kein Wunder, daß Fannys Selbsteinschätzung bald unverkennbare Züge von vorauseilendem Gehorsam gegenüber den sozialen Spielregeln ihrer Zeit aufweist. Schon der berüchtigte Brief des Vaters an die Fünfzehnjährige („Die Musik wird für ihn [Felix] vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbaß Deines Seins und Thuns werden kann und soll…“, Paris, 16./18. Juli 1820) richtet sich nicht an ein revoltierendes Kind, sondern an eine Tochter, von deren „Einsicht“ und Gehorsam der Schreiber zu Recht überzeugt sein darf.

Vor diesem Hintergrund ist die Beharrlichkeit, mit der Fanny ihrer inneren Berufung treu blieb, umso bewundernswerter. Doch um die resignativen Töne, die den selbstkritischen Brief von 1835 beherrschen, zu vertreiben, bedurfte es eines „Erlebnisses“ – die diplomatisch vieldeutige Chiffre „Lebensprinzip“, die Fanny dort verwendet, meint ja auch und vor allem dieses: die Möglickeit, etwas zu erleben. Es ist – wie oft und wie mitfühlend darf man das in der deutschen Geistesgeschichte sagen! – das Schlüsselerlebnis Italien (1839/40 und 1845), das ihr nicht nur Inspiration schenkt, sondern sie auch Mut und Selbstvertrauen schöpfen läßt. So entschließt sie sich, in ihrem 42. Lebensjahr, ihr Opus 1 drucken zu lassen, wozu ihr der Bruder (wirklich nur „halbherzig“, wie eine argwöhnische zwischen den Zeilen lesende Musikwissenschaftlerin, oder „gequält“, wie deren männlicher Kollege meint?) seinen Segen gibt:

Leipzig, den 12. August 1846
Mein liebster Fenchel, erst heute, kurz vor meiner Abreise, komme ich Rabenbruder dazu, Dir für Deinen lieben Brief zu danken und Dir meinen Handwerkssegen zu geben zu Deinem Entschluß, Dich auch unter unsere Zunft zu begeben. Hiermit erteile ich ihn Dir, Fenchel, und mögest Du Vergnügen und Freude daran haben, daß Du den andern so viele Freude und Genuß bereitest, und mögest Du nur Autor-Pläsiers und gar keine Autor-Misere kennen lernen, und möge das Publikum Dich nur mit Rosen, und niemals mit Sand bewerfen, und möge die Druckerschwärze Dir niemals drückend und schwarz erscheinen, – eigentlich glaube ich, an all dem ist gar kein Zweifel denkbar. Warum wünsche ich Dir´s also erst? Es ist nur so von Zunft wegen, und damit ich auch meinen Segen dazu gegeben haben möge, wie hierdurch geschieht.
Der Tafelschneidergeselle
Felix Mendelssohn-Bartholdy

In rascher Folge erscheinen nun, in den wenigen Fanny verbleibenden Monaten, die Opera 1 – 7, alles Werke, in denen sie sich auf dem ihr nach ihrer Selbsteinschätzung „eigenen“ Terrain bewegt, Lieder und Klavierminiaturen. Daß aber das öffentliche Lob, das ihre publizierten Werke fanden, auch den Wunsch, die früher resignierend akzeptierten Grenzen doch noch zu überschreiten, neu beleben mußte, liegt auf der Hand. Und so finden wir Fanny im Winter 1846/47 über der Komposition eines Klaviertrios. Noch im März 1847 vermerkt sie in ihrem Tagebuch: „Ich bin mit einem Trio beschäftigt, das mir sehr zu schaffen macht.“ Kurz darauf scheint aber das Werk dann beendet (wenn auch nicht im Sinne der Komponistin „fertig“) gewesen zu sein, denn ihrem Bruder Paul kann sie es schon Anfang April vorspielen und findet ihn „so davon eingenommen, wie ich es gar nicht erwartet hatte.“ Zum 36. Geburtstag ihrer Schwester Rebecka, am 11. April 1847, wird das Werk in der ersten Sonntagsmusik des Jahres im Gartensaal des Hauses in der Leipziger Straße aus der Taufe gehoben.
Der Anstrengung folgt die Erschöpfung; Fannys letzte Tagebucheintragung lautet:

„Ich habe jetzt eine verdrießliche Zeit, es will mir nichts Musikalisches gelingen; seit meinem Trio habe ich keinen Takt geschrieben…“

Am 13. Mai 1847 vertont sie noch Eichendorffs Gedicht „Bergeslust“. Am darauffolgenden Tag erleidet sie während der nachmittäglichen Probe zur Sonntagsmusik – Felix´ „Walpurgisnacht“ op.60 stand auf dem Programm – einen Schlaganfall, dem sie am späten Abend erlag. Felix erreicht die Todesnachricht in Frankfurt, wo er auf der Rückreise von England Station macht. Es wird berichtet, er sei beim Vernehmen der Hiobsbotschaft mit einem Aufschrei zusammengebrochen und wie gelähmt liegengeblieben. Er selbst hat kein halbes Jahr mehr zu leben. Das einzige bedeutende Werk, das ihm noch zu schreiben vergönnt ist, das Streichquartett op.80, wird ein Requiem für die geliebte Schwester sein.


Der im eingangs zitierten Brief Fanny Mendelssohns beschworene Schatten Beethovens liegt – manchmal bedrohend und entmutigend, manchmal verheißungsvoll und anspornend – über dem Werk der meisten ernstzunehmenden Komponisten zwischen Schubert und Reger, sobald sie sich der ureigensten Domäne Beethovens, der zyklischen Instrumentalkomposition, nähern. Das von Beethoven eröffnete Terrain war verlockend und gefährlich – in keinem anderen Gebiet des musikalischen Globus sind so viele Komponisten gestrandet und verschollen. Doch nicht nur die schöpferischen Kräfte wurden von diesem neuen Kontinent unwiderstehlich angezogen, auch das Nachdenken über Musik kreiste viele Jahrzehnte fast ausschließlich um Beethovens Neuentdeckungen.
In der Heimatstadt der Geschwister Mendelssohn machte sich der Theoretiker Adolf Bernhard Marx (1795-1866), häufiger Gast in der Leipziger Straße, zum Wortführer eines ästhetisch und theoretisch fundierten Beethoven-Kultes, der in der von Marx geleiteten Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung (Anfang 1824 bis Ende 1830) ein einflußreiches Organ hatte – so einflußreich, daß Beethoven vor soviel orthodox-preußischer Verehrung zu grauen beginnen mußte: „…bey dieser Gelegenheit ersuche ich Sie mich bey H. Marx in Berlin zu empfehlen, daß er es ja nicht zu genau mit mir nehme u. mich zuweilen zur Hinterthür hinaus schlüpfen lasse.“ (Beethoven an Maurice Schlesinger, 26. September 1825 – die Sache mit dem Papst und der Päpstlichkeit läßt sich kaum besser illustrieren…).
Marx´ Opus summum, die vierbändige Lehre von der musikalischen Komposition (1837-1847), faßte die Theoreme seiner Ästhetik normativ zusammen und behauptete bis in das erste Viertel unseres Jahrhunderts seine Stellung als Standardwerk. Es ist nicht verwunderlich, daß sich in Fannys Auseinandersetzung mit dem Problem der Sonatenhauptsatzform deutliche Spuren ihrer Beschäftigung mit den Marxschen Theorien finden. Die Abfolge der von ihr komponierten Sonatensätze läßt den Schluß zu, daß sie die fachliche Diskussion dieses Themas genau und kritisch verfolgte.

Der Kopfsatz unseres Klaviertrios (Allegro molto vivace) darf dabei, nicht nur wegen seiner chronologischen Stellung im Œuvre der Komponistin, als der formal und inhaltlich ausgereifteste Beitrag gelten. Es ist ein großformatiger Satz, der wie geschaffen scheint, auch allen theoretischen Anforderungen an die gewählte Form zu genügen. Exposition und Reprise bestehen aus jeweils vier, etwa gleich langen und klar voneinander geschiedenen Abschnitten (Hauptthema – Überleitung – Seitenthema – Schlußgruppe), von denen nur die Hauptthemengruppe der Reprise signifikant verkürzt auftritt.
Schon die Wahl der Haupttonart des Werkes beweist, daß es Fanny sicher nicht darum zu tun war, größtmögliche Unabhängigkeit vom Werk ihres Bruders zu beweisen. So verwundert es auch nicht, wenn wir als Hauptthema des Kopfsatzes eine vom Bekenntnishaften ins Stille gewandelte Variation des Incipits von Felix´ „Reformationssymphonie“ (Symphonie Nr.5, d-moll, op.107) finden. Auch das Seitenthema, das von opernhaften Tremoli begleitet wird, erscheint wie eine sehr freie Paraphrase des Liedthemas aus dem dritten Satz von Felix´ Streichquartett in e-moll op.44 Nr.2 (1837) – die zentrale Bedeutung dieser Reminiszenz für das Werkganze wird durch ihre Sonderstellung in der Durchführung, deren Herzstück sie ausmacht, und durch ihre dramaturgisch betonte Wiederkehr am Ende des letzten Satzes unterstrichen. Die Durchführung umkreist mit fast manischer Ausdauer das Kopfmotiv des Hauptthemas, das in allen denkbaren melodischen und harmonischen Metamorphosen als Motor der modulatorischen Entwicklung dient. Das Ziel dieser Entwicklung ist das fernliegende Fis-Dur, das der unveränderten, aber verkürzten Erscheinung des Seitenthemas vorbehalten ist. Von hier weg treibt die in dramatischem Fugato allmählich sich vervollständigende Gestalt des Hauptthemas zur mächtig hereinbrechenden Reprise, die ohne alle vorbereitenden Haltepunkte das Gesetz des Handelns im Sturm an sich reißt. Die noch unbeantwortet gebliebenen Fragen der Durchführung klingen in der Coda noch einmal an: Hier scheint das musikalische Geschehen an einem kryptischen Violoncellosolo stranden zu wollen (das beim Ansehen und Anhören eher an ein Detail aus einer Schenkerschen Urlinientafel denken läßt als an einen wirklich ausgeführten musikalischen Gedanken), bevor der erneuerte Impetus des Anfangsmotivs den Satz wildentschlossen zu Ende führt.

Die folgenden beiden Sätze, die unmittelbar aneinander anschließen, repräsentieren beispielhaft jenes Genre, in dem Fanny sich am meisten zuhause fühlte. Obwohl nur der dritte Satz auch ausdrücklich als Lied bezeichnet ist, so verleugnet doch auch der zweite (Andante espressivo, A-Dur) seine Herkunft keineswegs: vor allem in der Cantilene des Minore-Mittelteils, die von wohlvertrautem Mandolinengeplätscher begleitet wird, glaubt man schon fast, die ohne Zweifel italienischen Worte zu vernehmen. Es ist bemerkenswert, daß Fanny hier (ebenso wie im letzten Satz) dem sich bei dieser Assoziation fast zwangsläufig aufdrängenden Sechsachteltakt der Barcarolle ausweicht. Diesen Topos der Italianità hatte sie ja selbst ebenso wie Felix schon mehrmals aufgegriffen (etwa in der 1839 in Venedig komponierten Serenata g-moll und in der Serenade (Juni) aus dem zwei Jahre später entstandenen Zyklus Das Jahr).
Das attacca folgende Lied (Allegretto, D-Dur), noch einfacher, knapper und „kunstloser“ gefaßt, nimmt sich demgegenüber wie eine deutsche Schwester der italienischen Canzone aus. Unwillkürlich fühle ich mich bei diesem Satzpaar daher an das berühmte Bild Italia und Germania (1811/28, Neue Pinakothek/München) von Friedrich Overbeck erinnert ( – und will nur hoffen, daß Fanny mir die Assoziation verzeihen würde; sie selbst fand nämlich ein anderes Werk dieses Malers, den sie 1840 in Rom traf, heilig langweilig, stumpf poetisch, schlicht anmaßend.)
Es ist mit gutem Grund bemerkt worden, daß im schlichten Thema dieses Liedes sich die Keimzelle zu fast allen bestimmenden Motiven des Werkes verbirgt. Der Gedanke, daß Fanny hier exemplarisch versucht habe, aus dem Lied als dem ihrem Wesen natürlichsten Ausdruck die „Kraft der Durchführung“ für die Erfüllung größerer Formen zu gewinnen, ist durchaus nicht von der Hand zu weisen. Andererseits liegt aber auch die Vermutung nahe, daß die zentrale Stellung des lyrischen Mittelsatzpaares die Umgehung des Scherzos zum Ziel hat – auch in der Hommage an den bewunderten Bruder kannte Fanny ihre Grenzen.

Das Finale (Allegro moderato) scheint zunächst die verträumt liedhafte Stimmung der Mittelsätze beibehalten zu wollen. Aber der „Gesang auf den Wellen“ wird immer wieder von zwei durchaus anders gelaunten Mitspielern unterbrochen. Im Widerstreit mit dem energisch tänzerischen Element, das hier durchbricht, steigert sich der Gesang zu überraschendem (und ungeniert opernhaften) Pathos. In der siegessicheren Stretta, die das letztlich vitalere Tanzmotiv beherrscht, erscheint noch überraschend und bekrönend die idée fixe des Werkes, das Seitenthema des ersten Satzes, bevor das Werk in rauschendem D-Dur-Jubel endet.
In formaler Hinsicht ist dieser Schlußsatz ein Experiment. Das vereinfachte Dispositionsschema ABCACABAC läßt zwar eine oberflächliche Verwandtschaft mit einem Rondo erkennen, sagt aber kaum etwas über die eigentliche Natur dieses Experimentes aus, in dem sich Einzelzüge von Rondo-, Sonaten- und Strophenliedform zur Darstellung eines elementaren Vorganges verbinden. Das „Ritornell“ (A) erscheint nämlich zunächst zwar als voll ausgeprägtes Thema (in Gestalt einer durch phantasieartige Kadenzen erweiterten asymmetrischen Periode), wird aber in der Folge nur mehr in extremen Verkürzungen zitiert (nacheinander als Schlußfoskel, „Durchführung“ und reprisenhafte Reminiszenz). Von den „Episoden“ (B und C), die einander durch Textur und (rascheres) Tempo verbunden sind, ist nur C (das „Tanzmotiv“) wirklich eigenständig (und als einziges von der Motivwelt des zentralen Liedes unabhängig), während B lediglich den Charakter eines modulatorischen Bindeglieds hat. Insgesamt ergibt sich so das Bild eines Widerstreites zwischen zwei in Charakter, Faktur und Bewegung kontrastierenden Elementen (A und C), bei dem C immer realer und dominanter wird, während A sich zur Erinnerung verflüchtigt. Ist es zu weit hergeholt, wenn man in diesem Vorgang – in Weiterführung des zu den beiden Mittelsätzen Gesagten – sinnbildhaft die Überwindung des Liedes und die Ankündigung eines Aufbruchs zu neuen Ufern hören will?

Trotz aller Skizzenhaftigkeit, die diesem Werk – wie nahezu allen posthum veröffentlichten Kompositionen Fanny Mendelssohns – anhaftet und die einen „Qualitätsvergleich“ mit voll ausgearbeiteten und redigierten Werken anderer Komponisten erschwert, zeigt das Trio die Komponistin am Beginn eines Weges, der sie aus dem Schatten des Bruders und der Selbstbeschränkung einer „Liederkomponistin“ heraus zur späten und vollen Entfaltung ihrer Fähigkeiten hätte führen können.

© by Claus-Christian Schuster

Martin: Trio sur des mélodies populaires irlandaises (1925)

Frank Martin

* 15. September 1890
† 21. November 1974

Trio sur des mélodies populaires irlandaises (1925)

Komponiert:Capbreton (Landes), Sommer 1925
Uraufführung:Paris, April 1926
Frank Martin, Klavier
Joachim Röntgen (?), Violine
Antonio Tusa (?), Violoncello
Erstausgabe:Hug, Zürich, 1930

Obwohl kaum jemand, der sich mit dem Werk Frank Martins beschäftigt, daran zweifeln wird, daß wir es hier mit einem der großen musikalischen Geister unseres Jahrhunderts zu tun haben, hat sein Werk nie jene Verbreitung gefunden, die seiner Bedeutung entsprechen würde. Martin ist ein Musikerkomponist und für das Publikum eine Art Geheimtip geblieben.

Als zehntes und letztes Kind des wohlhabenden Pastors Charles Martin (1843-1934) und dessen Frau Pauline, geb. Duval (1847-1911) in Genf geboren, wuchs Frank Martin in einer gleichermaßen behüteten und anregenden Umgebung auf. Die von einem weitläufigen Park umgebene Villa (67, Route de Malagnou), die der Vater 1893 erbauen hatte lassen, war ein beliebter Treffpunkt des geistigen Genf. Da alle Kinder musizierten, gab es reichlich Gelegenheit zu Kammermusikkonzerten und sogar zu improvisierten Opernaufführungen. Den großen Anteil von Kammermusik und szenischer Musik im Werkkatalog Martins kann man sicher auf diese prägenden Kindheitseindrücke zurückführen.

Genf – das war bis 1918 musikalisch fast eine deutsche Stadt; unter den Komponisten der französischen Kultursphäre, die in Martins Blickfeld traten, finden wir daher bezeichnenderweise an erster Stelle den deutschstämmigen César Franck. Lange bevor er Debussy und Ravel kennenlernte, waren ihm die Werke von Richard Strauss und Gustav Mahler vertraut. Auch Martins einziger Kompositionslehrer, Joseph Lauber, darf als ein Repräsentant dieser Ausrichtung auf den deutschen Sprachraum hin gelten, auch wenn das für Martin keine weiterreichenden Konsequenzen hatte: “Ich habe meine sämtlichen Studien in Genf bei einem Privatlehrer gemacht, der ein sehr guter Techniker, aber nicht sehr künstlerisch veranlagt war. Ich hätte mir nichts besseres wünschen können: er hat mich viel gelehrt, aber wenig beeinflußt.”

Erst als 1918 Ernest Ansermet (1883-1969) das Orchestre de la Suisse Romande gründete, machte Frank Martin Bekanntschaft mit den Großen der zeitgenössischen französischen Musik – Fauré, Debussy, Ravel. Ansermet selbst wurde von da an der wichtigste Anreger und Freund in Martins musikalischer Biographie – man könnte fast sagen: sein musikalisches Gewissen. (Vielleicht hat gerade diese enge Beziehung dazu beigetragen, daß Martin von manchen Apologeten der Neuen Musik mit Argwohn behandelt wird: Ansermets grundlegendes Werk Les fondements de la musique dans la conscience humaine (1962) gilt als die prägnanteste und fundierteste Kritik an Technik und Ästhetik der Zweiten Wiener Schule und an den Glaubenssätzen der Darmstädter Schule, als eine kämpferische Antwort auf Adornos Philosophie der neuen Musik (1949), jenes Werk, das über mehrere Jahrzehnte hinweg als die Bibel der zeitgenössischen Musik betrachtet wurde. Der mit dem Häretiker Ansermet so innig verbundene Martin mußte also jedem orthodoxen Kritiker suspekt erscheinen.)

Nach einem Züricher Intermezzo (1918-1920) lebte Frank Martin ab 1920 mit seiner ersten Frau, Odette Micheli, auf dem Landgut von deren Eltern in Landecy am Stadtrand von Genf. Von hier aus unternahm er 1921/22 eine ausgedehnte Italienreise, deren Hauptstationen Rom und Ravenna waren ( – Martin wurde, ähnlich wie der um fünf Jahre ältere Egon Wellesz, wenn auch nicht mit dessen wissenschaftlicher Ambition, in der Folge ein profunder Kenner der byzantinischen Kultur, der er hier das erste Mal begegnete – ), und von Landecy aus brach er 1924 auch nach Paris auf.

Es ist das Paris Faurés und Ravels, das Paris der Six, die Stadt der sich eben zusammenfindenden École de Paris, in der Emigranten aus allen Teilen Europas aufeinander treffen und einander anregen, die Stadt Stravinskijs und der Ballets Russes, ohne Zweifel (und trotz der Konkurrenz von Berlin, Moskau und Wien) die kulturell bunteste und reichste Weltstadt dieser Jahre, in die der vierunddreißigjährige Komponist hier kommt. Doch Martin ist nicht der Mann, um auf dieses neue Milieu rasch zu reagieren und die sich ihm bietenden Eindrücke mühelos zu assimilieren. Ohnehin ist er nicht der Komponistentyp der leichten Produktion: Während der um zwei Jahre jüngere Darius Milhaud 1924 schon bei Opusnummer 85 angelangt ist, umfaßt Martins Werkkatalog bei seiner Ankunft in Paris gerade neunzehn Werke. Der scheue und introvertierte Komponist führt ein recht zurückgezogenes und isoliertes Leben, das Leben eines abwartenden und suchenden Beobachters. Sein Kontakt mit der Emigrantenszene beschränkt sich im wesentlichen auf die Brotarbeit, die er für das russische Marionettentheater Les petits comédiens de bois von Mme Sazonova im Théâtre du Vieux-Colombier als Arrangeur leistete. Mit den französischen Komponisten seiner Generation hat er nur flüchtigen Kontakt. Sein bester Freund in Paris wird der französische Schriftsteller und Psychologe André Berge, in dessen Heim in der Rue Lincoln er wesentliche Anregungen empfängt; so ist es Berge, der Martins Interesse auf die ostasiatische Musik und den Jazz lenkt.

Eines Tages macht Frank Martin in Paris die Bekanntschaft eines reichen Amerikaners irischer Abstammung. In der Folge bestellt dieser bei Martin ein Klaviertrio über irische Volksweisen. Vielleicht weiß der Auftraggeber vom ausgeprägten Interesse des Komponisten für die Volksmusik – schon eines der ersten Werke Martins, die während seines Kriegsdienstes im Berner Jura niedergeschrieben Symphonie burlesque sur des thèmes savoyards (1915; W 6), ist ein Zeugnis dieser Vorliebe, und auch das Klavierquintett von 1919 (W 9), das bis dahin bedeutendste Kammermusikwerk Martins, verarbeitet im letzten Satz ein Volkslied aus Savoyen. Sicher hegt der gute Mann aber die naive Hoffnung, von Martin ein leicht spielbares Potpourri beliebter “folkloristischer” Melodien zu erhalten. Doch das ist nun eben nicht Martins Art, an eine solche Aufgabenstellung heranzugehen: wochenlang recherchiert er in der Bibliothèque Nationale, wo er schließlich auf eine reichhaltige Sammlung irischer Volkslieder und -tänze stößt. (Seitdem man zu Beginn des XIX. Jahrhunderts mit der Erforschung der bretonischen Folklore begonnen hatte, war in Frankreich auch das Interesse an der Volksmusik der keltischen Völker Irlands und Großbritanniens gewachsen.) Durch seine Beschäftigung mit byzantinischer und fernöstlicher Musik war Frank Martin ein musikalischer Gourmet mit einer dezidierten Vorliebe für das Ungewöhnliche, Asymmetrische und Archaische geworden. Das in seinem Nachlaß aufgefundene Notenheft, in dem er die in der Bibliothèque Nationale entdeckten Melodien mit genauer Quellenangabe und großer Akribie aufzeichnete, zeigt, mit welcher Treffsicherheit er das Spezifische und Originelle aus der Fülle des Materials auszuwählen verstand. Gleichzeitig kann man an diesem einzigartigen Dokument nachvollziehen, wie der Komponist sich schrittweise von der getreuen Wiedergabe seiner Vorlage zu eigenen skizzenhaften Kombinationsversuchen und fragmentarischen Entwürfen der endgültigen Textur in Particellform vortastet. Von den siebzehn Melodien, die der Komponist in die engere Wahl zieht und in sein Skizzenheft überträgt, finden vierzehn schließlich Eingang in das Trio. Während eines Sommeraufenthaltes, den Martin 1925 mit der Familie Berge im atlantischen Badeort Capbreton verbringt, eine knappe Autostunde nördlich von Saint-Jean-de-Luz, wo Ravel elf Jahre zuvor sein Trio niedergeschrieben hat, formt er aus diesem Stoff ein Klaviertrio in drei kurzen Sätzen. Seine Vorgangsweise hat er selbst einige Jahre später so erläutert:

“Bei der Verwendung des reichen musikalischen Gedankengutes der irischen Folklore habe ich versucht, mich so weit wie möglich ihrem spezifischen Charakter zu unterwerfen; ich habe jede Verformung der gewählten Melodien vermieden und sie immer in ihrer Integrität bewahrt, ohne sie mit sinnverändernden Harmonien zu überlasten. Das heißt, man wird in diesem Trio keinerlei Entwicklung im klassischen Sinne des Wortes finden. Im Rhythmus habe ich das Prinzip meiner musikalischen Form gesucht und in den rhythmischen Kombinationen das Mittel, meine Sprache zu bereichern. Der erste Satz basiert zur Gänze auf einer rhythmischen Progression, die durch ein stufenweises Accelerando erreicht wird, indem der Eintritt jedes neuen musikalischen Gedankens ein etwas rascheres Tempo nach sich zieht. In diesem Satz spielt die Wiederkehr der Themen kaum eine Rolle – es ist die rhythmische Wechselbeziehung zwischen den verschiedenen vorgestellten Melodien, die für die Einheit des Satzes sorgt.

Im zweiten Satz wird man dank der Wiederkehr einer dem Violoncello anvertrauten Melodie eine größere thematische Einheit feststellen; diese Melodie erscheint vor einem sich ständig verändernden melodischen und rhythmischen Hintergrund immer in der selben Form, dem selben Register und der selben Tonart.

Der Motor des dritten Satzes, Gigue, ist nicht mehr ein Accelerando, sondern die Bereicherung der rhythmischen Textur durch die Überlagerung verschiedener Motive. Hier wird man die metrische Unabhängigkeit der einzelnen Stimmen des Trios noch besser verfolgen können als in den vorangegangenen Sätzen.

Um es zusammenzufassen: dieses Trio stellt sehr wenig Ansprüche an die Harmonie und an das polyphone Prinzip der Imitation und verlangt alles von Rhythmus und Melodie, die die Grundlage des irischen Gesanges und Tanzes bilden.


(nach: Schweizerische Musikzeitung 1930/11, S.427f.,
mit autorisierten Retouchen)

Der nostalgische Auftraggeber des Werkes freilich sah sich in seinen Hoffnungen getrogen: keine einzige seiner “populären” Lieblingsmelodien hatte dem kritischen Anspruch des Komponisten genügt. Er verweigerte die Annahme des Werkes und die Auszahlung des vereinbarten Honorars. Frank Martin ertrug sein Mißgeschick mit Noblesse: Er antwortete dem enttäuschten Amerikaner, er selbst habe bei der Komposition viel Vergnügen gehabt und wäre ohne den Auftrag wohl schwerlich auf dieses Sujet verfallen, deshalb gebe es keine Schuld zu begleichen. Tatsächlich hatte die Arbeit am Trio den Komponisten so fasziniert, daß er beschloß, die von André Berge empfangenen Anregungen und die während der Arbeit am Trio gewonnenen Einsichten gleich im folgenden Werk vom Kammermusikalischen ins Orchestrale zu übertragen: der Titel, Rythmes (1926, W 21), ist Programm.

Bei seiner Heimkehr nach Genf, 1926, trifft Martin auf einen bemerkenswerten Mann, der dieses Programm besser versteht, als irgendein anderer: Der in Wien geborene Émile Jaques-Dalcroze (1865-1950), Schüler von Fauré in Paris und von Bruckner in Wien, hatte ein pädagogisches Konzept entwickelt, das auf der Umsetzung rhythmischer Strukturen in gestische Impulse beruht. Sein 1910 in Dresden-Hellerau gegründetes Lehrinstitut mußte während des ersten Weltkrieges seine Tätigkeit einstellen und fand gerade im Jahre von Martins Rückkehr in Genf eine neue Heimstätte. Eine Begegnung der beiden Komponisten konnte nicht ausbleiben: 1928 berief Jaques-Dalcroze Frank Martin als Lehrer an sein Institut. Der manchmal geäußerten Vermutung, die rhythmischen Experimente der Pariser Werke Martins seien durch die Ideen von Jaques-Dalcroze angeregt worden, entgegnete Martin also zu Recht:

“Es war nicht der Einfluß von Dalcroze, der meine Untersuchungen auf dem Gebiet der Rhythmik veranlaßt hat, sondern vielmehr das leidenschaftliche Interesse, mit dem ich diese Untersuchungen betrieb, das mich in sein Institut geführt hat.”

Das Trio und die Rythmes bilden den Höhepunkt und Abschluß von Frank Martins erster Schaffensperiode. Die hier gemachten Erfahrungen und erworbenen Fähigkeiten sind, über alle stilistischen Wandlungen hinweg – die ihn wenige Jahre später auch zu Experimenten mit der Dodekaphonie führen sollten – für sein gesamtes Oeuvre relevant: die räumliche Gliederung durch Orgelpunkte, die Verwendung statischer Klangflächen und charakteristischer Ostinati, die agogische Strukturierung ganzer Sätze ( – das formbildende Accelerando des ersten Satzes unseres Trios findet sich etwa im Cembalokonzert von 1952 wieder – ), vor allem aber die bemerkenswerte Freiheit und Erfindungsgabe im Umgang mit der Rhythmik bleiben Grundzüge seiner unverwechselbaren musikalischen Sprache. Noch in einem seiner letzten Werke, in der für Paul Badura-Skoda und auf dessen Anregung geschriebenen Phantasie sur des rythmes flamenco (1973, W 139), wendet er diese seltene Gabe noch einmal auf folkloristisches Material an und bestätigt damit die Konsequenz seines künstlerischen Weges durch ein halbes Jahrhundert Musikgeschichte.

© by Claus-Christian Schuster

Kubelik: Trio concertante (1988)

Rafael Kubelik

* 29. Juni 1914
† 11. August 1996

Trio concertante (1988)

Komponiert:La Quinta (Kalifornien), beendet am 21. Februar 1988
Uraufführung:Köln, Philharmonie, 2. Juni 1989
András Schiff (*1953), Klavier
Yuuko Shiokawa, Violine
Boris Pergamenschikow (*1948), Violoncello
Erstausgabe:Manuskript

Rafael Jeroným Kubelík wurde als sechstes von acht Kindern des tschechischen Violinvirtuosen und Komponisten Jan Kubelík (1880-1940) und der ungarischen Gräfin Marianne Szell geboren. Sein Vater war als Wunderkind 1892 Schüler des damals eben aus Kiev nach Prag zurückgekehrten Otakar Sevcik geworden, hatte 1898 in Wien debütiert und sich anschließend für einige Jahre hier niedergelassen. Ausgedehnte Tourneen führten ihn ab 1902 durch die ganze Welt; etwa zur Zeit von Rafaels Geburt begann er noch ein Kompositionsstudium bei Josef Bohuslav Foerster (1859-1951). Der kleine Rafael empfing schon im Prager Elternhaus vielfältige Anregungen: Seine Mutter förderte seine Empfänglichkeit für die bildende Kunst und die Literatur, sein Vater überwachte die musikalische Ausbildung. Ein wesentlicher Teil dieser Ausbildung war das gemeinsame Musizieren: Der Vater, die fünf älteren Schwestern (von denen die ältesten, die Zwillinge Anita und Mary, später eine professionelle Karriere als Geigenduo machten) und Rafael bildeten ein respektables Familienensemble. Diese Praxis verschaffte Rafael schon als Kind eine intime Kenntnis der Kammermusikliteratur – und zwar gleichermaßen als Pianist und Geiger. Der Kammermusik sollte später auch die ganz besondere Liebe des Komponisten Rafael Kubelík gelten. Daß aber darüber auch die symphonische Literatur nicht vernachlässigt wurde, dafür sorgte Onkel Frantisek, der mit seinem Neffen stundenlang die vierhändigen Klavierauszüge aller bedeutenden Symphonien durchackerte und so den Boden für Rafaels künftige Berufslaufbahn bereitete.

Am Prager Tschechischen Konservatorium studierte Rafael Kubelík zwischen 1928 und 1934 Violine, Klavier, Komposition und Dirigieren. Sein Kompositionslehrer war dort der Novák-Schüler Otakar Sín (1881-1943), dessen eigenes Schaffen ebenfalls in der Kammermusik seinen Schwerpunkt hatte.

Während seiner Studienjahre begleitete Rafael Kubelík immer häufiger auch seinen Vater als Pianist auf dessen Konzertreisen durch ganz Europa, aber auch nach Amerika und Australien. Noch vor Abschluß seines Studiums debutierte er 1933 mit großem Erfolg als Dirigent; zwischen 1936 und 1939 leitete er die Tschechische Philharmonie als ständiger Gastdirigent. Besonders erfolgreich war die Tournee, auf der er das Orchester in der Saison 1937/38 nach Großbritannien und Belgien führte. Zu Beginn des 2. Weltkrieges wechselte er an das Brünner Nationaltheater, war aber daneben weiterhin als Klavierpartner seines Vaters aktiv: In dessen letztem Lebensjahr absolvierte er mit ihm in Prag noch einen monumentalen Konzertzyklus, in dem – nach dem Vorbild der legendären Rubinsteinschen „Historischen Konzerte” – ein Überblick über die Entwicklung der Violinmusik von den alten Italienern bis hin zur Moderne geboten wurde. Nach dem Tode des Vaters, dessen er in seinem ersten großangelegten Chor-Orchesterwerk ( Requiem pro memoria patris) gedachte, kehrte er 1941, jetzt aber als Chefdirigent, wieder zur Tschechischen Philharmonie nach Prag zurück. Im darauffolgenden Jahr heiratete er die Geigerin Ludmila Bertlová. Nach der Befreiung seiner Heimat führte er das Orchester 1946/47 mit triumphalem Erfolg nach Paris, Genf und Zürich. Diese Zeit war auch in seiner kompositorischen Entwicklung besonders fruchtbar: 1945 hatte er seine großzügig konzipierte II. Symphonie (Pejte písen novou, für Soli, Chor und Orchester) beendet, und 1946 entstanden die beiden Opern Cisarovy nové saty (Des Kaisers neue Kleider) und Kvetinky malé Idy (Die Blümchen der kleinen Ida) sowie das zweite und dritte Streichquartett. 1947 wurde in Brünn die schon 1943/44 entstandene Oper Veronika (über das biblische Sujet) uraufgeführt. Doch der kommunistische Putsch vom Februar 1948 zerstörte Kubelíks Hoffnungen auf eine freie und gedeihliche Weiterentwicklung; seine tiefverwurzelte Aversion gegen jede Art des Totalitarismus verbot ihm jene abwartende Haltung, die viele seiner Schicksalsgenossen in diesen Jahren einnahmen – noch im Jahr des Umsturzes nützte er eine Konzertverpflichtung in Edinburgh, um sich mit seiner Familie ins Ausland abzusetzen. Als gefragter Gastdirigent, vor allem des BBC Orchesters, konzertierte er in der Folgezeit unter anderem auch bei den Musikfestspielen von Venedig und Luzern, wo er nicht lange danach seine zweite Heimat finden sollte, und unternahm Tourneen bis nach Australien, Nord- und Südamerika und sogar in die Sowjetunion. 1950 wurde er als musikalischer Leiter des Symphonieorchesters nach Chicago berufen, blieb aber daneben weiterhin auch ständiger Gast bei den wichtigsten europäischen Orchestern. Eine besondere Beziehung verband ihn dem Amsterdamer Concertgebouw-Orchester. Ein Konzert mit den Wiener Philharmonikern in der Züricher Tonhalle im Herbst 1953 bedeutete ihm die Erfüllung eines Jugendtraumes. Aus familiären Gründen entschloß er sich in diesem Jahr, seine amerikanische Stellung aufzugeben, und sich ganz auf das europäische Musikleben zu konzentrieren. In den folgenden Jahren teilte er seine Zeit zwischen Luzern, wo er seinen Wohnsitz genommen hatte, und London, wo er seit 1953 als Gastdirigent und von 1955 bis 1958 als musikalischer Direktor der Covent Garden Opera wirkte. In diese Zeit fällt auch die Intensivierung seiner Zusammenarbeit mit den Wiener Philharmonikern. Es waren die Jahre, in denen allmählich der „Mythos Kubelík” entstand: Aufgrund einiger äußerer Ähnlichkeiten (hochgewachsene, leicht vornüber geneigte Gestalt, Gesichtsschnitt, unorthodoxe Schlagtechnik), aber vor allem wegen seiner mitreißenden Impulsivität und Gefühlsbetontheit sahen in ihm viele eine Art „Reinkarnation” Wilhelm Furtwänglers.

Für mediales Aufsehen sorgte 1961 Kubelíks Solidarisierung mit Otto Klemperer in dessen Streit mit dem Züricher Tonhalleorchester – Kubelík hat dieses Orchester danach nie wieder dirigiert. Überschattet war für ihn dieses Jahr durch den Tod seiner Frau, deren Andenken er das berührende Requiem pro memoria uxoris widmete. Im November des selben Jahres wurde er als Nachfolger Eugen Jochums Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in München. In dieser Stellung verblieb er nicht weniger als 22 Jahre. Wie kein anderer hat er die Eigenart des unter seiner Leitung zu einem weltweit anerkannten Eliteorchester gereiften Klangkörpers geprägt. Auch in dieser Stellung zeichnete sich Kubelík aber nicht nur als feinfühliger Künstler, sondern ebenso als politisch wacher und unbestechlicher Bürger aus: Als die CSU-Mehrheit in Bayern 1972 ein demokratiepolitisch überaus bedenkliches Rundfunkgesetz durchsetzte, machte er mit einer spektakulären Rücktrittsdrohung auf die Gefahr aufmerksam, daß die Anwendung dieses Gesetzes den Bayerischen Rundfunk binnen kurzem zur „Servicewelle der CSU” degradieren würde. Ebenso kritisch und kompromißlos erwies er sich in künstlerischen und organisatorischen Fragen: Die für ihn gewiß ehrenvolle Berufung zum künstlerischen Leiter der Metropolitan Opera in New York lehnte er nach kurzer Tätigkeit (1973/74) wieder ab, weil die dortigen budgetären Verhältnisse seine Zielvorstellungen unerfüllbar erscheinen ließen; gesundheitliche Gründe – er laborierte seit längerem an Gicht und einer ihn zunehmend quälenden Arthritis – mögen an dieser Entscheidung auch ihren Anteil gehabt haben. Diese medizinischen Rücksichten waren es auch, die ihn dazu bewogen, die Wintermonate von nun an im heißen, trockenen Klima der kalifornischen Colorado-Wüste zu verbringen, wo er sich in La Quinta, wenige Kilometer südöstlich des (österreichischen Musikfreunden als Emigrationsdomizil Ernst Kreneks vertrauten) Ortes Palm Springs, niederließ. Seinen europäischen Wohnsitz hatte Kubelík, der 1963 in zweiter Ehe die australische Sopranistin Elsie Morison geheiratet und 1967 die schweizerische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, nach wie vor in Kastanienbaum bei Luzern. 1979 legte er mit Erreichen des Pensionsalters die Leitung des Orchesters offiziell zurück. Wegen des überraschenden Todes seines designierten Nachfolgers Kiril Kondrashin (1914-1981) verblieb er aber noch bis zur Amtsübernahme durch Sir Colin Davis im September 1983 in seiner bisherigen Stellung. In einem festlichen Abschiedskonzert, das seine Dirigentenlaufbahn beschließen sollte, dirigierte er am 30. Mai 1986 in München noch einmal Mahlers IX. Symphonie. Infolge der politischen Ereignisse des Jahres 1989 ließ er sich dann aber doch bewegen, anläßlich des „Prager Frühlings” 1990 das erste Mal seit seiner Emigration in der alten Heimatstadt aufzutreten. Die Tschechische Philharmonie, für die diese triumphale Heimkehr ihres ehemaligen Chefdirigenten einen Markstein bedeutete, konnte ihn dann in den Jahren 1990 und 1991 noch für eine Reihe von Konzerten in Prag sowie auf einer Japantournee des Orchesters gewinnen. Allen tschechischen Musikfreunden unvergeßlich ist die denkwürdige Aufführung von Smetanas Má vlast am Tage der ersten freien Wahlen nach dem Sturz des kommunistischen Regimes geblieben, bei der Kubelík auch die mit der Tschechischen Philharmonie vereinigten Philharmonischen Orchester von Brünn und Preßburg leitete. Mit diesen Konzerten an der Spitze der Tschechischen Philharmonie beschloß Kubelík seine Dirigentenlaufbahn am selben Pult, an dem er sie begonnen hatte.

Obwohl das kompositorische Schaffen Kubelíks im Gedächtnis des Publikums bei weitem nicht so präsent ist wie seine Leistungen als Dirigent, war er alles andere als einer jener Sonntagskomponisten und komponierenden Kapellmeister, an denen unser zu Ende gehendes Jahrhundert wirklich keinen Mangel gelitten hat. Schon ein Blick auf die zugänglichen bibliographischen Daten zu seinem kompositorischen Schaffen (- leider gibt es bisher noch kein vollständiges Werkverzeichnis -) zeigt, welch zentrale Bedeutung das Eigenschöpferische in seinem künstlerischen Selbstverständnis gehabt haben muß; die Entstehung eines so umfangreichen und vielgestaltigen Œuvres wäre sonst neben einer so überaus erfolgreichen Dirigentenkarriere gar nicht denkbar gewesen. Die kompositorischen Anfänge stehen, wie nicht anders zu erwarten, in enger Verbindung mit der Zusammenarbeit zwischen Jan und Rafael Kubelík: Für den Vater, der selbst zwischen 1916 und 1932 nicht weniger als sieben Violinkonzerte geschrieben hatte, verfaßt er eine Violinsonate (1931/32), eine Phantasie für Violine und Orchester (1932/33) und das 1. Violinkonzert (1939/40). Gleichzeitig mit seinem Studienabschluß beendet Rafael Kubelík 1934 die Komposition seiner I. Symphonie (der bis 1971 noch zwei weitere folgen werden), 1938 schreibt er das erste seiner insgesamt sechs Streichquartette. In den Jahren vor der Emigration entstehen neben den oben schon erwähnten Werken unter anderem ein Konzert für Flöte und Kammerorchester (1943), ein Cellokonzert (1944), eine ganze Reihe von Klavier- und Kammermusikwerken sowie eine große Anzahl von Liedern. Unter den Hauptwerken der Fünfzigerjahre finden sich ein Klavierkonzert (1950), ein zweites Violinkonzert (1951), zwei Messen (1955 und 1957) und die Oper Tagesanbruch (1958). In der Münchener Zeit setzt Kubelík dann die musikdramatische Arbeit, die ihn in seinen letzten tschechischen Jahren so intensiv beschäftigt hatte, mit einem Werk über das Leben Tizians fort (Tiziano [1966], in einer späteren Fassung unter dem Titel Cornelia Faroli (1966) anläßlich der Olympischen Spiele in München 1972 uraufgeführt.) Neben dem Genre der Kammermusik, das ihn ein Leben lang fesselte, hatte Kubelík eine ganz besondere Vorliebe für den Kinderchor, den er unter anderem in zwei bedeutenden religiösen Werken der Sechzigerjahre (dem schon oben erwähnten Requiem pro memoria uxoris und einem 1963 komponierten Libera nos), aber auch in seinem Alterswerk, so etwa in der 1988 in Luzern uraufgeführten Invocation, überaus wirkungsvoll einsetzte.

Kubelíks Kompositionsstil läßt sich wohl am ehesten als spätexpressionistisch beschreiben: Die prägenden Eindrücke seiner Prager Jugend – Janacek, Mahler und Zemlinsky – haben in seinem Idiom unüberhörbare Spuren hinterlassen. Obwohl er sich den Anregungen und Errungenschaften der Zweiten Wiener Schule nicht prinzipiell verschloß, blieb seine Musik doch immer der Tonalität verhaftet. Diese Tonalität wird aber sehr frei und assoziativ gehandhabt, sie ist vieldeutig und schwankend – also kein fester Bezugsrahmen, sondern ein komplexes Geflecht tonaler Erinnerungen, die sich uns in stets wechselnder Perspektive darbieten. Das Trio Concertante entstand auf Initiative Franz-Xaver Ohnesorgs als Auftragswerk der Kölner Philharmonie und ist ein eindrucksvolles Beispiel für Kubelíks Spätstil. Es ist – in Fortführung eines in der Spätromantik geprägten Formkonzeptes – als einsätziges Werk von zyklischer Mehrgliedrigkeit gestaltet: Die mit Preludio – Allegro – Interludio – Cantilena – Cadenza – Contradanza und Postludio bezeichneten Teile sind auf vielfältige Weise aufeinander bezogen und miteinander verkettet, vor allem durch eine Art Leitmotiv, das in verschiedensten Gestalten erscheint. Für die Sprache des Trios ist ein unversöhnlich rauher, oft archaisch anmutender Ton bezeichnend. Die Eröffnung des Werkes trägt rituelle Züge: Das Preludio beginnt mit einer dreimal wiederholten Beschwörungsformel, die sich in der Folge als emblematisches Leitmotiv etabliert und hier zunächst von großräumig aus Terzensequenzen geschichteten Akkorden signalhaft markiert wird. Die Aufsplitterung dieser beiden Elemente – die Akkorde werden in nervöse Figurationen aufgebrochen, während die melodische Formel zu ausgedehnten Klangflächen erstarrt – führt zu dem gewissermaßen das Hauptthema der großzyklischen Form darstellenden Allegro risoluto, dessen barbarischer Impetus die mystisch-feierliche Atmosphäre des Anfangs wildentschlossen zerstört. Doch es dauert nicht lange, bis die hieratische Formel ungeschlagen zurückkehrt: Mit jeder Wiederkehr scheint sie an Macht zu gewinnen, um schließlich im Unisono aller Instrumente über den rohen Ansturm zu triumphieren. Das diesen Siegeszug abrupt abbrechende Interludio verfremdet die Anfangsworte der leitmotivischen Formel zu einem gespenstischen Ostinato, über das sich blutleere (senza espressivo) Glissandi legen. Wie schon im Preludio wird das Leitmotiv kadenzartig durch weite Klangflächen geführt, bis es in die Cantilena mündet, welche die Funktion eines Seitensatzes übernimmt. Ihr Thema, in dem man eine radikale Umformung des Leitmotivs sehen kann, wird als zunächst drei-, dann sogar vierstimmiger Kanon durchgeführt. Der Glissando-Septimfall, der im Interludio ein schwereloses Gespinst war, unterbricht – jetzt im Cello um zwei Oktaven auf imposante Größe gedehnt – mit machtvoll Einhalt gebietender Geste dieses Spiel. Im zweiten Teil der Cantilena entwickelt Kubelík eine andere Metamorphose des Leitmotivs als gemessen schreitenden zweistimmigen Kanon über nur langsam in Bewegung geratenden feierlichen Orgelpunkten. Das sich daran anschließende (mit Agitato, tempestuoso bezeichnete) Zwischenglied stürzt dieses beherrschte Thema in Abgründe der Verzweiflung, in denen die barbarischen Kräfte des Allegro lauern. Das Erwachen aus der diesem Sturze folgenden Besinnungslosigkeit ist mit Cadenza überschrieben, stellt in Wahrheit aber die schattenhafte Rekapitulation der ersten beiden Abschnitte des Werkes (Preludio und Allegro) dar – ein Moment von beklemmender Eindringlichkeit, in dem die Bilder antiker Todesmythen heraufbeschworen werden. In mitleidloser Vervollständigung dieses schwarzen Spiegel- und Gegenbildes verhöhnt am Ende dieses Abschnittes der dreimalige Einbruch einer sarkastisch vorgetragenen vulgären Tanzwendung die feierliche Beschwörungsformel des Anfangs. Doch eben diese Wendung öffnet den Weg zu der nun folgenden Contradanza, in der die rohe Barbarei des Allegro tänzerisch gebändigt erscheint. Zwar klingen jetzt – wohl von volksmusikalischen Echos ausgelöst – mitunter sogar fröhliche Töne an, aber diese Fröhlichkeit ist doppelbödig und beständig durchsetzt mit finsterer Häme. Obwohl sich einzelne Wendungen der Contradanza idiomatisch durchaus auf traditionelle tschechische Tänze (wie Polka oder Furiant) beziehen lassen, sind wir hier meilenweit von jeder folkloristischen Entspannung entfernt. Das metrische Gewand dieses Tanzes sind häufig wechselnde asymmetrische Taktarten, unter denen der archetypische 8/8-Takt (aus 3+2+3 Achteln) eine dominante Stellung einnimmt. (Es ist leicht möglich, daß sich der Kammermusiker Kubelík beim Niederschrieben dieser metrischen Formel an ihre Verwendung in Ravels Klaviertrio, das bei Kubelíks Geburt gerade im Entstehen war, erinnert hat – und daß eben diese Reminiszenz dafür verantwortlich ist, wie konträr die hier damit erzielte Wirkung ist.) Der dreifache Widerspruch – zur traditionell simplen und stabilen Metrik des Kontertanzes, zum erwarteten folkloristischen Frohsinn und zur Klangwelt des Trios von Ravel – könnte jedenfalls einen Schlüssel zu der ansonsten etwas kryptisch anmutenden Bezeichnung „Contradanza” abgeben; dann hätte nämlich die altehrwürdige Verballhornung ( – das französische „Contredanse” basiert auf dem englischen „Country Dance” – ) hier nach Jahrhunderten endlich doch noch einen Eigen-Sinn gefunden. Der immer frenetischer werdende Tanz zerschellt schließlich an einer herrischen Formel, in der wir die Umkehrung des Leitmotivs erkennen können. Mit einem ermatteten D-moll-Akkord setzt das Postludio, die Coda des Werkes, ein: ein Klagegesang von so schmerzlicher Tiefe, daß man meint, er beschließe nicht nur ein Werk, sondern trage eine ganze Welt zu Grabe. Der dreimaligen Anrufung des Beginns und ihrer dreimaligen Verspottung in der Werkmitte stehen hier, am „Ausgang der grimmigen Einsicht”, zum Schluß drei unerbittliche D-moll-Akkorde gegenüber, hinter denen nur mehr die große, ewige Stille liegen kann.

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Kagel: Trio [Nr.1] in drei Sätzen (1984/85)

Mauricio Kagel

* 24. Dezember 1931

Trio [Nr.1] in drei Sätzen (1984/85)

Komponiert:Köln, 1984/85
Uraufführung:Amsterdam, Concertgebouw, 23. Juni 1985
Bruno Canino (*1935), Klavier
Saschko Gawriloff (*1929), Violine
Siegfried Palm (*1927), Violoncello
Erstausgabe:Henry Litolff, Frankfurt/Main, 1988

Mauricio Kagel studierte in seiner Heimatstadt Musik, Literatur und Philosophie, bevor er 1957 nach Deutschland kam, wo er in Köln und Darmstadt seine Hauptwirkungsstätten fand: In Köln arbeitete er zunächst in den Studios für elektronische Musik des WDR, gründete 1959 das “Kölner Ensemble für Neue Musik”, übernahm 1969 die Leitung des Instituts für Neue Musik der Rheinischen Musikschule und wurde 1974 als Professor an die Musikhochschule berufen; in Darmstadt wirkte er seit 1960 als Dozent an den Internationalen Ferienkursen.

Die seltene Kombination von nahezu unerschöpflicher klangsinnlicher Phantasie und einem unermüdlich suchenden kritischen Intellekt macht Kagel zu einer der ganz wenigen unumstrittenen Zentralfiguren unserer musikalischen Avantgarde. Schon seit seiner frühesten Jugend faszinierte ihn die Neue Musik und die sich ihr in Verbindung mit den Medien Radio, Film und Fernsehen eröffnenden Möglichkeiten. Sein Interesse gilt allen kommunikativen Codes, ob sie sich nun musikalischer, verbaler, gestischer oder visueller Mittel bedienen. Die ungewöhnlich große Resonanz, die sein Schaffen gefunden hat, basiert auch auf seiner Fähigkeit, den Rezeptionsprozeß selbst, also die Konsum- und Hörgewohnheiten des Publikums als Phänomen in sein schöpferisches Kalkül miteinzubeziehen. Dieses Interesse und diese Fähigkeit führen Kagel immer wieder zur Auseinandersetzung mit den im Hörverständnis des breiten Publikums zu Ikonen erstarrten “großen Meistern”: Beethoven in Ludwig van (1969), Brahms in Variationen ohne Fuge (1972), Liszt in Unguis incarnatus est (1972), Stravinskij in Fürst Igor (1982), Bach in Sankt-Bach-Passion (1985). Was dem ersten flüchtigen Blick mitunter als radikaler Ikonoklasmus erscheinen mag, ist in Wahrheit eine kritische Bewältigung der musikalischen Vergangenheit, die mit den spielerischen Mitteln von Ironie und Parodie dem sensiblen Zuhörer den Weg zu einer tieferen und innigeren Anteilnahme an den großen Phänomenen der Musik zu eröffnen vermag. In Kagels steter Auseinandersetzung mit allen musikdramatischen Formen dokumentiert sich seine große Affinität zu den Meistern des absurden Theaters wie Samuel Beckett und Eugène Ionesco.

Auch das in den Jahren 1984/85 entstandene Klaviertrio verdankt seine Entstehung, wie der Komponist bei Gelegenheit der Uraufführung selbst erläuterte, einem musikdramatischen Impuls:

“Mit der Komposition eines Klaviertrios habe ich mir einen lang gehegten Wunsch erfüllt. Es ist dies ein Genre, vergleichbar mit der Tradition des Streichquartetts, vor dem jeder Komponist leise Ehrfurcht haben dürfte. Auch ich wartete geduldig, aber beunruhigt, um meinen Obulus zu entrichten. Die Vorgeschichte des Stückes ist mit meinem Musikepos über den Teufel »La Trahison orale« (Der mündliche Verrat) aufs engste verknüpft, das ich 1981-83 schrieb. Bereits bei der Konzeption des Werkes entschied ich mich, Charakterstücke zu komponieren, relativ kurze Nummern mit ausgeprägter Atmosphäre, die im Gestus mit Liedern ohne Worte verglichen werden könnten. Es mag seltsam anmuten, daß man heute wieder Musik mit solch literarischem Hintergrund komponieren kann, aber die Entwicklung der Musikgeschichte zeigt, daß nichts geradlinig, sondern durch den ästhetischen Anspruch aufgerüttelt, verschlungen verläuft.

Für »Trahison Orale« habe ich keine bestimmte Besetzung vorgeschrieben, sondern eine Art Klavierauszug hergestellt, weil mir dies die geeignetste Form erschien, um mein Vorhaben zu verwirklichen. Eine der wesentlichsten Lehren, die wir aus der Romantik ziehen können, ist das Primat der musikalischen Substanz über eine spezifische Klangfarbe: Wenn die Vorstellungskraft einprägsam genug ist, dann kann sie mit austauschbaren Klangmitteln einen ihr gerechten Ausdruck finden. Von Anfang an schwebte mir eine Paraphrase meines Musikepos mit der klassischen Besetzung Geige, Violoncello und Klavier vor. Ich habe dies nun in Form eines dreisätzigen Werkes ausgearbeitet und dessen Ablauf mit dem Hauch eines Rondos umgeben. Man könnte dieses Klaviertrio mit einem polyphonen Gefüge von Charakterstücken vergleichen, in dem ausgeprägte Merkmale immer wieder vorkommen, sich verfolgen, abrupt aufhören, aus dem Hintergrund schnell zur Oberfläche steigen und langsam verschwinden. Es ist dennoch absolute Musik im klassischen Sinne – die wahren Gründe des Absoluten verbergend.”

Wie nicht wenige Werke Kagels verdankt “La trahison orale” seinen im Deutschen etwas esoterisch klingenden Titel einem Wortspiel (“La tradition orale”), das mehr ist als ein simpler Kalauer. Daß Überlieferung ein seine Quellen andauernd verratender Veränderungsprozeß ist, erfährt ja jeder denkende Musiker tagtäglich als gleichzeitig irritierende und befreiende Wahrheit. Für sein Musikepos verwendete Kagel schließlich eine Collage von Texten aus Claude Seignolles 1964 erschienenem Buch “L’évangile du diable selon la croyance populaire”, einer Sammlung von sich auf den Teufel beziehenden Märchen, Sagen, Sprichwörtern und Redensarten aus verschiedenen Teilen Frankreichs. Doch auch schon hier, also in jenem Entwicklungsstadium des Materials, in dem der Komponist die Verbindung seiner Musik mit dem gesprochenen Wort sucht, handelt es sich durchaus nicht um illustrative Programmusik, sondern um einen völlig autonomen musikalischen Organismus. Im Gespräch mit Werner Klüppelholz präzisierte der Komponist:

“In La trahison orale hatte ich mir vorgenommen, Musikstücke für Texte zu schreiben, die ich noch nicht definitiv ausgewählt hatte. Die Thematik jedoch war klar umrissen: Legenden, Fabeln, Erzählungen vom Teufel. Ich wollte durch die Textierung a posteriori die übliche Musikdramaturgie und somit das Verhältnis zur Vorlage umgehen und aus dem Takt bringen. Vor langer Zeit sprach ich einmal vom Fatalismus des Theaters. Das ist beim Musiktheater besonders deutlich; die gewöhnliche Synchronität von Bühnengeschehen und Klangkommentar fußt auf Konvergenz und gegenseitiger Illustration. Diese Verkettung ist der wirkliche rote Faden der Oper, sogar wichtiger als die Handlung selbst. Jede Nichtigkeit, von großer Musik begleitet, läßt die szenische Situation vergessen. Für La trahison orale komponierte ich zunächst Charakterstücke, die die Zustände beim Hören solcher Schauergeschichten widerspiegeln sollten. Diese Musiknummern waren abgeschlossene, fein strukturierte Stücke und zugleich musikdramatischer Rohstoff.”

Trotz dieses programmatischen “Prima la musica, poi le parole!” soll die verständliche Neugier der Hörer in Bezug auf die vom Komponisten nachträglich gewählten Texte nicht ganz unbefriedigt bleiben; hier also eine kurze Zusammenfassung der im Trio wiederverwendeten Episoden von “La trahison orale”:

1. Satz:
1 – La Galipote (= Nr.3 der “Trahison orale”): der Teufel erscheint als Henne
2 – Les deux chemins (Nr.5): Satanischer Opferspruch
3 – L’âme des pendus (Nr.11): dem Teufel entwischt die Seele eines Erhängten, weil sie nicht durch den Mund entweichen kann…
4 – Pour chasser les rats (Nr.6): Zauberspruch
5 – Mourioche (Nr.10): ein besonders boshafter Teufel, der einen Hirten um seine Herde und seine Familie bringt
6 – (ohne Titel und Text): das “Leitmotiv” (Nr.1, 9, 17 und 22), das auch in der Triofassung zur Großgliederung verwendet wird (es beschließt auch den letzten Satz).


2. Satz:
1 – (ohne Titel, Nr.14)
2 – (Nr.15): verschiedene Anekdoten und Redensarten über den Teufel
3 – Le bûcheron et le diable (Nr.12): Eine alte Frau bringt den Teufel durch ihre Naivität zum Lachen
4 – Imprecations (Nr.16): Beschwörungsformeln und Sprichwörter über den Teufel
5 – (ohne Titel, Nr.19)
6 – La Chasse Gayère (Nr.26)


3. Satz:
1/2 – Les chasses sauvages (Nr.27/28): verschiedene lokale Namen für die “Wilde Jagd”
3 – Le dragon que l’on envoie dans l’oeil du crapaud (Nr.29): eine Drachenbeschwörung
4/5 – Quelques jurons (Nr.30/31): diverse Fluchformeln
6 – Le diable violoneux (Nr.32): der Teufel geigt eine ganze Dorfgesellschaft in die Hölle
7 – La Montagne Verte (Nr.34): Jean, der durch eine Spielschuld in die Gewalt des Teufels geraten ist, gewinnt dessen Tochter Souvenance zur Frau, die ihm bei der Flucht beisteht; er verliert sie und findet sie erst im Alter wieder (eine sehr originelle Fassung des in ganz Europa verbreiteten Zaubermärchens Aarne-Thompson 313).
8 – Serment (Nr.35): eine Wahrheitsbeteuerung für alles Berichtete.
9 – entsprechend der Schlußformel des ersten Satzes.


In den meisten Fällen verwendet Kagel den Text komplementär und kontrapunktisch zur Musik: Wenn etwa der Teufel die ihm verfallenen Tänzer mit immer wilderen Melodien antreibt, verlangsamt sich die “begleitende” Musik (III/6). Die phantasievollen Namen für die gespenstische “Wilde Jagd” sind einem melancholischen Andantino mit leisen Tango-Anklängen unterlegt (III/1); und wenn der böse Mourioche mit diabolischer Grausamkeit einen armen Kerl drangsaliert, erklingt dazu eine Musik von friedvoller Gelöstheit und himmlischem Wohlklang (I/5). Die für ein musikdramatisches Konzept ganz ungewöhnliche Autonomie der Musik geht aber weit über dieses geistreiche Spiel mit getäuschten Erwartungen hinaus: So verwendet Kagel etwa für eine der zentralen Szenen des Werkes (La Montagne Verte, im Trio III/7) musikalisches Material, das er schon um 1947 als Gymnasiast unter dem Eindruck der Schilderung der Geigensonate von Vinteuil in Prousts “A la Recherche du temps Perdu “entworfen hatte – also angeregt von einer poetischen Chiffre, die mit dem diabolischen Sujet der” Trahison orale” auch nicht das mindeste zu tun hat. Deshalb wird man auch in der das ganze Trio durchziehenden emblematischen Verwendung des Tritonus, der ja dem Mittelalter angeblich als diabolus in musica galt, nicht einfach ein illustratives Versatzstück sehen wollen, umso weniger, als Kagel an anderer Stelle für die Musik unserer Zeit keinem geringeren Intervall als gerade der Oktave dieses teuflische Prädikat verliehen hat. Solcherart gewarnt wollen die Interpreten denn auch weder die “teuflischen Schwierigkeiten” der Partitur noch das “höllische Vergnügen”, das ihr Studium bereitet als programmatische Tautologien verstehen, sondern einfach als das nehmen, was es ganz ohne Zweifel ist: ein Geschenk Kagels.

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Juon: Suite C-Dur op.89

Paul Juon

* 23. Februar 1872
† 21. August 1940

Suite C-Dur op.89

Komponiert:Berlin, 1932
Widmung:Bronislaw von Pozniak (1887-1953)
Erstausgabe:Challier, Berlin, 1932

Auf die äußerste Konzentration von Juons beiden großen Trio-Tondichtungen (Litaniae, op.70, und Legende, op.80) mußte zwangsläufig eine spielerische Entspannung folgen. Und so hat Juon 1932, zwei Jahre nach der Legende und kurz vor seiner “Heimkehr” in die Schweiz, noch ein letztes Werk für Klaviertrio geschrieben, das der großräumigen und dichten Form der vorangegangenen Werke eine lockere Folge pointiert formulierter und mit leichter Hand skizzierter Miniaturen gegenüberstellt. Juon hat den Zyklus dem aus Lemberg stammenden Pianisten Bronislaw von Pozniak (1887-1953) und seinem Trio gewidmet. Man könnte in dieser Suite auch eine Huldigung an den kosmopolitischen Geist der Metropole sehen, die dem Komponisten über fast die ganze Dauer seines schöpferischen Lebensweges Heimat war. So findet sich in diesen fünf Stücken, neben vielen anderen Reminiszenzen, die dem Kulissenfonds eines Varietétheaters entnommen scheinen, auch etwas von dem russischen und skandinavischen Kolorit, das Berlin bis zum Zusammenbruch der Weimarer Republik bewahrte, und zu dem letztlich ja auch die Figur Paul Juons selbst gehörte. Und damit wir auch nicht vergessen, daß dies auch die Stadt von George Grosz war, mischt sich immer wieder der schrille und fiebrige Klang einer Jazzband in die vielstimmige Großstadtmusik.
In Juons eigenhändigem Werkverzeichnis tragen die fünf Sätze der Suite illustrative Titel, die im Druck fehlen – auch das wohl ein Indiz für Juons Zwiespalt im Umgang mit “programmatischen” Etiketten. Das erste Stück (Allegretto, C-Dur), eine diatonisch-impressionistische Miniatur heißt dort schlicht “Melodia”, während das folgende (Giocoso, C-Dur) sehr treffend mit “Marionette” betitelt ist. Der Mittelsatz, (Andantino, d-moll, im Werkverzeichnis “Intermezzo”) evoziert den Ton eines wehmütigen russischen Liedes, dem ein verträumt tänzerisches Trio gegenübergestellt wird. Der vierte Satz (Allegretto, h-moll) ist der längste und kunstvollste der Suite. Er war ursprünglich mit “Odaliske” überschrieben: Daß es sich dabei um eine maurische Szene handelt, wird mit pointiert hispanisierenden Wendungen klargestellt – und daß sich der languid-laszive Grundton des Stückes zwischendurch zu ekstatischer Frenetik steigert, läßt die Unterdrückung des Titels schon aus Jugendschutzgründen als berechtigt erscheinen. Dagegen wäre die vorgesehene Bezeichnung des Schlußstückes (Allegro giusto, C-Dur) als “Barbarentanz” ganz einfach eine Tautologie gewesen: Hier verbindet sich der Nachhall jener heidnischen, “skythischen” Wildheit, die im Rußland der Jahrhundertwende mit solcher Vorliebe beschworen wurde, mit der eine Generation später modischen “Großstadtbarbarei” der “roaring twenties” zu einem effektvoll-ironischen Schlußpunkt unter das ebenso widersprüchliche wie vielschichtige Klaviertrioschaffen Paul Juons.

© by Claus-Christian Schuster