Kagel: Trio [Nr.1] in drei Sätzen (1984/85)

Mauricio Kagel

* 24. Dezember 1931

Trio [Nr.1] in drei Sätzen (1984/85)

Komponiert:Köln, 1984/85
Uraufführung:Amsterdam, Concertgebouw, 23. Juni 1985
Bruno Canino (*1935), Klavier
Saschko Gawriloff (*1929), Violine
Siegfried Palm (*1927), Violoncello
Erstausgabe:Henry Litolff, Frankfurt/Main, 1988

Mauricio Kagel studierte in seiner Heimatstadt Musik, Literatur und Philosophie, bevor er 1957 nach Deutschland kam, wo er in Köln und Darmstadt seine Hauptwirkungsstätten fand: In Köln arbeitete er zunächst in den Studios für elektronische Musik des WDR, gründete 1959 das “Kölner Ensemble für Neue Musik”, übernahm 1969 die Leitung des Instituts für Neue Musik der Rheinischen Musikschule und wurde 1974 als Professor an die Musikhochschule berufen; in Darmstadt wirkte er seit 1960 als Dozent an den Internationalen Ferienkursen.

Die seltene Kombination von nahezu unerschöpflicher klangsinnlicher Phantasie und einem unermüdlich suchenden kritischen Intellekt macht Kagel zu einer der ganz wenigen unumstrittenen Zentralfiguren unserer musikalischen Avantgarde. Schon seit seiner frühesten Jugend faszinierte ihn die Neue Musik und die sich ihr in Verbindung mit den Medien Radio, Film und Fernsehen eröffnenden Möglichkeiten. Sein Interesse gilt allen kommunikativen Codes, ob sie sich nun musikalischer, verbaler, gestischer oder visueller Mittel bedienen. Die ungewöhnlich große Resonanz, die sein Schaffen gefunden hat, basiert auch auf seiner Fähigkeit, den Rezeptionsprozeß selbst, also die Konsum- und Hörgewohnheiten des Publikums als Phänomen in sein schöpferisches Kalkül miteinzubeziehen. Dieses Interesse und diese Fähigkeit führen Kagel immer wieder zur Auseinandersetzung mit den im Hörverständnis des breiten Publikums zu Ikonen erstarrten “großen Meistern”: Beethoven in Ludwig van (1969), Brahms in Variationen ohne Fuge (1972), Liszt in Unguis incarnatus est (1972), Stravinskij in Fürst Igor (1982), Bach in Sankt-Bach-Passion (1985). Was dem ersten flüchtigen Blick mitunter als radikaler Ikonoklasmus erscheinen mag, ist in Wahrheit eine kritische Bewältigung der musikalischen Vergangenheit, die mit den spielerischen Mitteln von Ironie und Parodie dem sensiblen Zuhörer den Weg zu einer tieferen und innigeren Anteilnahme an den großen Phänomenen der Musik zu eröffnen vermag. In Kagels steter Auseinandersetzung mit allen musikdramatischen Formen dokumentiert sich seine große Affinität zu den Meistern des absurden Theaters wie Samuel Beckett und Eugène Ionesco.

Auch das in den Jahren 1984/85 entstandene Klaviertrio verdankt seine Entstehung, wie der Komponist bei Gelegenheit der Uraufführung selbst erläuterte, einem musikdramatischen Impuls:

“Mit der Komposition eines Klaviertrios habe ich mir einen lang gehegten Wunsch erfüllt. Es ist dies ein Genre, vergleichbar mit der Tradition des Streichquartetts, vor dem jeder Komponist leise Ehrfurcht haben dürfte. Auch ich wartete geduldig, aber beunruhigt, um meinen Obulus zu entrichten. Die Vorgeschichte des Stückes ist mit meinem Musikepos über den Teufel »La Trahison orale« (Der mündliche Verrat) aufs engste verknüpft, das ich 1981-83 schrieb. Bereits bei der Konzeption des Werkes entschied ich mich, Charakterstücke zu komponieren, relativ kurze Nummern mit ausgeprägter Atmosphäre, die im Gestus mit Liedern ohne Worte verglichen werden könnten. Es mag seltsam anmuten, daß man heute wieder Musik mit solch literarischem Hintergrund komponieren kann, aber die Entwicklung der Musikgeschichte zeigt, daß nichts geradlinig, sondern durch den ästhetischen Anspruch aufgerüttelt, verschlungen verläuft.

Für »Trahison Orale« habe ich keine bestimmte Besetzung vorgeschrieben, sondern eine Art Klavierauszug hergestellt, weil mir dies die geeignetste Form erschien, um mein Vorhaben zu verwirklichen. Eine der wesentlichsten Lehren, die wir aus der Romantik ziehen können, ist das Primat der musikalischen Substanz über eine spezifische Klangfarbe: Wenn die Vorstellungskraft einprägsam genug ist, dann kann sie mit austauschbaren Klangmitteln einen ihr gerechten Ausdruck finden. Von Anfang an schwebte mir eine Paraphrase meines Musikepos mit der klassischen Besetzung Geige, Violoncello und Klavier vor. Ich habe dies nun in Form eines dreisätzigen Werkes ausgearbeitet und dessen Ablauf mit dem Hauch eines Rondos umgeben. Man könnte dieses Klaviertrio mit einem polyphonen Gefüge von Charakterstücken vergleichen, in dem ausgeprägte Merkmale immer wieder vorkommen, sich verfolgen, abrupt aufhören, aus dem Hintergrund schnell zur Oberfläche steigen und langsam verschwinden. Es ist dennoch absolute Musik im klassischen Sinne – die wahren Gründe des Absoluten verbergend.”

Wie nicht wenige Werke Kagels verdankt “La trahison orale” seinen im Deutschen etwas esoterisch klingenden Titel einem Wortspiel (“La tradition orale”), das mehr ist als ein simpler Kalauer. Daß Überlieferung ein seine Quellen andauernd verratender Veränderungsprozeß ist, erfährt ja jeder denkende Musiker tagtäglich als gleichzeitig irritierende und befreiende Wahrheit. Für sein Musikepos verwendete Kagel schließlich eine Collage von Texten aus Claude Seignolles 1964 erschienenem Buch “L’évangile du diable selon la croyance populaire”, einer Sammlung von sich auf den Teufel beziehenden Märchen, Sagen, Sprichwörtern und Redensarten aus verschiedenen Teilen Frankreichs. Doch auch schon hier, also in jenem Entwicklungsstadium des Materials, in dem der Komponist die Verbindung seiner Musik mit dem gesprochenen Wort sucht, handelt es sich durchaus nicht um illustrative Programmusik, sondern um einen völlig autonomen musikalischen Organismus. Im Gespräch mit Werner Klüppelholz präzisierte der Komponist:

“In La trahison orale hatte ich mir vorgenommen, Musikstücke für Texte zu schreiben, die ich noch nicht definitiv ausgewählt hatte. Die Thematik jedoch war klar umrissen: Legenden, Fabeln, Erzählungen vom Teufel. Ich wollte durch die Textierung a posteriori die übliche Musikdramaturgie und somit das Verhältnis zur Vorlage umgehen und aus dem Takt bringen. Vor langer Zeit sprach ich einmal vom Fatalismus des Theaters. Das ist beim Musiktheater besonders deutlich; die gewöhnliche Synchronität von Bühnengeschehen und Klangkommentar fußt auf Konvergenz und gegenseitiger Illustration. Diese Verkettung ist der wirkliche rote Faden der Oper, sogar wichtiger als die Handlung selbst. Jede Nichtigkeit, von großer Musik begleitet, läßt die szenische Situation vergessen. Für La trahison orale komponierte ich zunächst Charakterstücke, die die Zustände beim Hören solcher Schauergeschichten widerspiegeln sollten. Diese Musiknummern waren abgeschlossene, fein strukturierte Stücke und zugleich musikdramatischer Rohstoff.”

Trotz dieses programmatischen “Prima la musica, poi le parole!” soll die verständliche Neugier der Hörer in Bezug auf die vom Komponisten nachträglich gewählten Texte nicht ganz unbefriedigt bleiben; hier also eine kurze Zusammenfassung der im Trio wiederverwendeten Episoden von “La trahison orale”:

1. Satz:
1 – La Galipote (= Nr.3 der “Trahison orale”): der Teufel erscheint als Henne
2 – Les deux chemins (Nr.5): Satanischer Opferspruch
3 – L’âme des pendus (Nr.11): dem Teufel entwischt die Seele eines Erhängten, weil sie nicht durch den Mund entweichen kann…
4 – Pour chasser les rats (Nr.6): Zauberspruch
5 – Mourioche (Nr.10): ein besonders boshafter Teufel, der einen Hirten um seine Herde und seine Familie bringt
6 – (ohne Titel und Text): das “Leitmotiv” (Nr.1, 9, 17 und 22), das auch in der Triofassung zur Großgliederung verwendet wird (es beschließt auch den letzten Satz).


2. Satz:
1 – (ohne Titel, Nr.14)
2 – (Nr.15): verschiedene Anekdoten und Redensarten über den Teufel
3 – Le bûcheron et le diable (Nr.12): Eine alte Frau bringt den Teufel durch ihre Naivität zum Lachen
4 – Imprecations (Nr.16): Beschwörungsformeln und Sprichwörter über den Teufel
5 – (ohne Titel, Nr.19)
6 – La Chasse Gayère (Nr.26)


3. Satz:
1/2 – Les chasses sauvages (Nr.27/28): verschiedene lokale Namen für die “Wilde Jagd”
3 – Le dragon que l’on envoie dans l’oeil du crapaud (Nr.29): eine Drachenbeschwörung
4/5 – Quelques jurons (Nr.30/31): diverse Fluchformeln
6 – Le diable violoneux (Nr.32): der Teufel geigt eine ganze Dorfgesellschaft in die Hölle
7 – La Montagne Verte (Nr.34): Jean, der durch eine Spielschuld in die Gewalt des Teufels geraten ist, gewinnt dessen Tochter Souvenance zur Frau, die ihm bei der Flucht beisteht; er verliert sie und findet sie erst im Alter wieder (eine sehr originelle Fassung des in ganz Europa verbreiteten Zaubermärchens Aarne-Thompson 313).
8 – Serment (Nr.35): eine Wahrheitsbeteuerung für alles Berichtete.
9 – entsprechend der Schlußformel des ersten Satzes.


In den meisten Fällen verwendet Kagel den Text komplementär und kontrapunktisch zur Musik: Wenn etwa der Teufel die ihm verfallenen Tänzer mit immer wilderen Melodien antreibt, verlangsamt sich die “begleitende” Musik (III/6). Die phantasievollen Namen für die gespenstische “Wilde Jagd” sind einem melancholischen Andantino mit leisen Tango-Anklängen unterlegt (III/1); und wenn der böse Mourioche mit diabolischer Grausamkeit einen armen Kerl drangsaliert, erklingt dazu eine Musik von friedvoller Gelöstheit und himmlischem Wohlklang (I/5). Die für ein musikdramatisches Konzept ganz ungewöhnliche Autonomie der Musik geht aber weit über dieses geistreiche Spiel mit getäuschten Erwartungen hinaus: So verwendet Kagel etwa für eine der zentralen Szenen des Werkes (La Montagne Verte, im Trio III/7) musikalisches Material, das er schon um 1947 als Gymnasiast unter dem Eindruck der Schilderung der Geigensonate von Vinteuil in Prousts “A la Recherche du temps Perdu “entworfen hatte – also angeregt von einer poetischen Chiffre, die mit dem diabolischen Sujet der” Trahison orale” auch nicht das mindeste zu tun hat. Deshalb wird man auch in der das ganze Trio durchziehenden emblematischen Verwendung des Tritonus, der ja dem Mittelalter angeblich als diabolus in musica galt, nicht einfach ein illustratives Versatzstück sehen wollen, umso weniger, als Kagel an anderer Stelle für die Musik unserer Zeit keinem geringeren Intervall als gerade der Oktave dieses teuflische Prädikat verliehen hat. Solcherart gewarnt wollen die Interpreten denn auch weder die “teuflischen Schwierigkeiten” der Partitur noch das “höllische Vergnügen”, das ihr Studium bereitet als programmatische Tautologien verstehen, sondern einfach als das nehmen, was es ganz ohne Zweifel ist: ein Geschenk Kagels.

© by Claus-Christian Schuster