Shostakovitch: Sonate für Violoncello und Klavier, d-moll, op.40

Dmitrij Shostakovitch

* 12. September 1906
† 09. August 1975

Sonate für Violoncello und Klavier, d-moll, op.40

Komponiert:Moskva – Sankt-Peterburg, 14. August – 19. September 1934
Widmung:Viktor L´vovic Kubackij (1891-1970)
Uraufführung:Sankt-Peterburg („Leningrad“), Kleiner Saal der Philharmonie, 25. Dezember 1934
Dmitrij Schostakowitsch, Klavier
Viktor L´vovic Kubackij, Violoncello
Erstausgabe:Triton, Sankt-Peterburg („Leningrad“), 1935

Den Frühsommer 1934 verbrachte Schostakowitsch im Erholungsheim des Bol´shoj Teatr in Polenovo an der Oka. In diesem Ort, der früher Borok hieß, hatte der große russische Maler Vasilij Polenov (1844-1927), einer der Mitstreiter der „Peredvizhniki“, von 1892 bis zu seinem Tode gelebt und gearbeitet; jetzt, nach der Enteignung des Besitzes und der von Stalin angeordneten Deportation von Polenovs Kindern, hatte man hier eine Ferienstation eingerichtet.
Rund einhundertzwanzig Kilometer südlich von Moskau liegt Polenovo mitten in einer dem russischen Herzen besonders teuren Landschaft, etwa auf halbem Weg zwischen Tschechows Wohnort Melichovo und Jasnaja Poljana, dem Landgut Lev Tolstojs. Es gibt in dieser Gegend kaum einen Ort, der nicht in irgendeiner Verbindung mit dem Leben eines großen Malers, Dichters oder Komponisten stünde. Dem unspektakulären, epischen Reiz dieser Landschaft erlag auch Sergej Prokofjev, der ein Jahr später als Schostakowitsch Gast in Polenovo war und hier an „Romeo und Julia“ (op.64) arbeitete und die „Detskaja muzyka“ („Kindermusik“) op.65 schrieb, in der der Zauber dieser ländlichen Idylle unüberhörbar nachklingt.
1934 war unter den Gästen zusammen mit Schostakowitsch auch Viktor L´vovic Kubackij, der bis 1921 Solocellist des Bol´shoj Teatr gewesen war und 1920 eines der ersten sowjetischen Streichquartette, das Stradivarius-Quartett, gegründet hatte. Er war dem Komponisten nicht unbekannt: Schostakowitsch hatte nicht lange zuvor in der Wohnung von Viktors Vater Lev, der ebenfalls lange Jahre als Cellist und Dirigent am Bol´shoj Teatr gewirkt hatte, den Künstlern des Theaters seine im Dezember 1932 beendete Oper „Ledi Makbet Mcenskogo uezda“ („Die Lady Macbeth des Mzensker Kreises“) vorgespielt – und die Direktion hatte daraufhin die Aufführung des Werkes für Anfang 1935 in Aussicht genommen. In Polenovo kamen Viktor Kubackij und Schostakowitsch einander näher, und als Schostakowitsch nach zweimonatigem Aufenthalt im August nach Moskau fuhr, hatte er dem Freund die Komposition einer Cellosonate versprochen. Noch in Moskau nahm er das Werk in Angriff, und schon fünf Wochen später, bald nach seiner Rückkehr nach Sankt-Peterburg, konnte er die Sonate beenden.

Eigentlich hätte der Sommer ja der Komposition einer Opernfarce gewidmet werden sollen; aber die Arbeit daran war schon in Polenovo nach kurzer Zeit ins Stocken geraten. Ein anderes, weit ehrgeizigeres Projekt befand sich damals gerade erst in der Anfangsphase: die Komposition der IV. Symphonie. Daß Schostakowitsch diese Arbeit unterbrach, um die Cellosonate zu schreiben, hat sicher tiefere Gründe als das Kubackij gegebene Versprechen. Die IV. Symphonie sollte das Schmerzenskind des Komponisten werden: Nachdem er das Werk 1936, am Höhepunkt der ersten gegen ihn gerichteten stalinistischen Denunziationscampagne, schließlich beendete, wurde er gezwungen, auf die – schon fixierte und einstudierte – Uraufführung zu verzichten; erst fünfundzwanzig Jahre später durfte Kirill Kondrashin die Symphonie aus der Taufe heben.

Es ist wohl nicht zu bestreiten, daß die frische Erinnerung an Polenovo und die dort – etwa bei der Lektüre der Erzählungen Turgenevs – besonders lebendig heraufbeschworenen Bilder in der Cellosonate Spuren hinterlassen haben; aber den Augen des Komponisten wird wohl nicht entgangen sein, was hinter der scheinbaren Idylle kaum zu verbergen war: und man sollte gewärtig sein, auch die Spuren dieser Einsichten hier wiederzufinden.

Da Schostakowitsch in den Jahren 1933/34, vor allem nach den triumphalen und fast gleichzeitigen Petersburger (22. Jänner 1934) und Moskauer (24. Jänner 1934) Premieren der „Lady Macbeth“, im Zenith seines jungen Ruhmes stand, haben etliche Kommentatoren den gegenüber den Kühnheiten dieser Oper deutlich veränderten Ton der Werke dieser Zeit – der Präludien op.34, des Klavierkonzertes op.35 und unserer Sonate – als Ausdruck vorauseilenden Gehorsams betrachtet: Schostakowitsch habe sich mit einer „gemäßigten“, „allgemeinverständlichen“, ja „konservativen“ Tonsprache den Positionen der staatlich verordneten Ästhetik angenähert. Der rasche Erfolg der Sonate, um deren Aufführung die russischen Cellisten beim Komponisten Schlange standen, und die sofort auch im Ausland von Stars wie Pjatigorskij und Fournier ins Repertoire genommen wurde, hat ein übriges dazu beigetragen, daß dieses Werk bis heute weithin als unproblematisch und nicht besonders tiefschürfend gilt.

Wie grundfalsch diese Einschätzung ist, wird jeder erfahren können, der sich etwas eingehender mit dieser Partitur beschäftigt. Wer den provokanten, bissigen Schostakowitsch der Oper „Nos“ („Die Nase“, op.15, 1927/28) sucht, wird hier freilich nicht fündig. Der Komponist hat seine alles andere als konventionelle Aussage in eine Ebene verlegt, deren Erfassung genaues Hinhören voraussetzt. Einem Zuhörer, der diese Herausforderung annimmt, wird sich der erste Satz des Werkes (Allegro non troppo, im Autograph: Moderato) nicht als das balladesk-sentimentale Stück darstellen, für das es oft genommen wird. Er wird hinter dem, was einer nach formalen Schemata lechzenden Musikwissenschaft mit Kennermiene „Spiegelreprise“ zu benennen gefällt (die spiegelbildliche Umkehr der Abfolge von Haupt- und Nebensatz in der Reprise), etwas völlig anderes erkennen: nämlich die erbarmungslose Deformation und unumkehrbare Entseelung des Hauptthemas. Denn was von diesem Hauptthema, das gewiß eine der eingängigsten Trouvaillen des Melodikers Schostakowitsch ist, am Schluß des Satzes in der Leichenstarre des Largo übrigbleibt, ist wirklich nur mehr eine verlassene Hülle. Vor diesem Hintergrund gewinnt dann auch das Seitenthema, das dem Unbeteiligten süßlich und gefällig erscheinen mag, eine Dimension der Klage, die es der Region des Rührseligen ein für allemal entrückt. Das abschließende Ostinato kündigt schon von ferne den Starrkrampf des Englischhorns am Ende des zyklopischen ersten Satzes der IV. Symphonie an – ein Indiz mehr gegen die behauptete „Harmlosigkeit“ dieser Musik. (Mehr als vierzig Jahre später wird übrigens ein solches Quarten-Ostinato, als letztes Ereignis in der sein Œuvre beschließenden Bratschensonate op.147, Schostakowitschs letztes Wort sein.)

Im darauffolgenden Scherzo (Allegretto, im Autograph: Moderato con moto, a-moll) scheint diese Tragödie keine Spuren hinterlassen zu haben, oder vielmehr: Dieses Scherzo kennt gar keine andere Aufgabe, als jede Spur dieses Geschehens für immer zu verwischen. Das funebre Quartmotiv, mit dem das Hauptthema des ersten Satzes zu Grabe getragen wurde, wird hier (trotz der anderen Tonart notenident!) in atemlos bemühter Geschäftigkeit zu Skalenfragmenten umgekehrt, über denen sich ein holzschnittartiges „folkloristisches“ Tanzthema austobt. Das von Flageolett-Glissandi und Arpeggi begleitete Trio (D-Dur) versucht, aus diesen manischen Skalenfragmenten eine bukolische Idylle hervorzuzaubern, durch die eine Zinnsoldatenparade und für einen Augenblick auch eine Sennerin als schattenhafte Irrläufer geistern (auch tonartlich – As-Dur vor dem D-Dur-Hintergrund – durch den charakteristischen Tritonusabstand als solche gebrandmarkt). In der ganz gerafften und völlig unvermittelten Coda erscheint dann dieses „bukolische“ Thema plötzlich bis auf die Zähne bewaffnet. (Die Schlußgeste, wieder eine abrupte und willkürliche Tritonusrückung, diesmal von Es-moll nach A-moll, wird Schostakowitsch am Schluß des analogen, aber ungleich radikaleren Satzes der Violinsonate spiegelbildlich wiederholen.)

Doch alle Mühen der Verdrängung erweisen sich als vergeblich: Mit dem Largo (h-moll) wird nicht nur äußerlich die Gangart der Beisetzung des ersten Satzes wieder aufgenommen. Bemerkenswert ist allein schon die gezielte Anwendung des H-moll-Topos als eines elegischen Archetyps. Das klagende Recitativ, mit dem der Satz beginnt, wird zweimal wiederholt, das erste Mal wieder um das aussagekräftige Intervall eines Tritonus, das zweite Mal um eine kleine Terz nach unten transponiert. Dazwischen tritt ein achttaktiges Thema, das – über einem die Skalenfragmente des Scherzos in unendlich gedehnte, schleppende Schritte verwandelnden Baß – um ein punktiertes Dreitonmotiv kreist. Dieses Motiv gliedert auch die Fortsetzung des Gesanges in das Thema paraphrasierende „Variationen“ (drei davon vor der ersten, zwei vor der zweiten Wiederholung des Recitativs). Diese eigenwillige statische Form entspricht vollkommen dem Inhalt des Satzes, dessen Sinn sich nur im Rückblick auf das Geschehen des Kopfsatzes erschließt.

Das Finale des Werkes (Allegro, im Autograph: Allegretto) scheint, befreit von dessen manischen Zügen, die burleske Stimmung des Scherzos weiterführen zu wollen. Es präsentiert sich als ein Kettenrondo der Gestalt ABACADA-Coda. Die frühklassische Modelle parodierende Textur des Ritornells (A), der spöttische Ton der hier unangefochten dominierenden Marschelemente sowie schließlich die einen vulgären Foxtrot evozierende zweite Episode (C) – all das schafft eine Atmosphäre spielerischer Distanz und artifizieller Stilisierung. Gestört wird diese Eindimensionalität durch die wirkungsvoll placierten Eckepisoden (B, D), die dieser fast rokokohaften Nonchalance Bilder von roher Kraft entgegensetzen; vor allem die letzte dieser Episoden (D) wirkt entschieden wie ein Fremdkörper und enthält in nuce ein wenig von der barbarischen Frenetik, auf der die unwiderstehliche Wirkung des berühmten Presto-Fugatos im ersten Satz der IV. Symphonie beruht.

Wie der Komponist selbst sein Werk einschätzte, erhellt vielleicht am besten aus der Tatsache, daß er es – zusammen mit der Violinsonate und der damals erst zu schreibenden Bratschensonate, die sein letztes Werk wurde (op.147) – im Mai 1975 für den zur Eröffnung der folgenden Saison der Petersburger Philharmonie geplanten Autorenabend auswählte, den er selbst nicht mehr erleben sollte.

© by Claus-Christian Schuster

Reger: Sonate [Nr.4] (a moll) für Violoncello und Klavier. Op. 116.

Max Reger

* 19. März 1873
† 11. Mai 1916

Sonate [Nr.4] (a moll) für Violoncello und Klavier. Op. 116.

Komponiert:Oberaudorf, August – Anfang September 1910
Widmung:Julius Klengel (1859-1933)
Uraufführung:Hamburg, 18. Jänner 1911
Jakob Sakom (1877-?), Violoncello
James Kwast (1852-1927), Klavier
Erstausgabe:Peters, Leipzig, 1911

Die am 23. September 1910 in Leipzig beendete vierte und letzte Cellosonate Max Regers ist heute nur recht selten zu hören. Doch in den Jahren nach ihrer Entstehung galt sie geradezu als ein emblematisches Werk der musikalischen Avantgarde. So gehörte sie etwa in Arnold Schönbergs Wiener „Verein für musikalische Privataufführungen“ (1918-1921) zu den meistgespielten Stücken. Das Interesse der Interpreten für das anspruchsvolle und kühne Werk war so groß, daß Julius Klengel, dem es gewidmet ist, die Uraufführung einem Konkurrenten überlassen mußte: Am 18. Jänner 1911 hoben Jakob Sakom (Violoncello) und James Kwast (Klavier) die Sonate in Hamburg aus der Taufe. Die spätere Vernachlässigung des Werkes (und von Regers Schaffen im allgemeinen) hat wohl mit der Entwicklung eines noch „radikaleren“ neuen musikalischen Idioms zu tun, vor dem die Sprache Regers plötzlich als „spätromantisch“ erscheinen konnte. Während also die Verfechter der Moderne sich dem jeweils Neuesten zuwandten, zog die Mehrzahl der „konservativen“ Hörer und Interpreten ihre imaginäre Demarkationslinie bei Johannes Brahms und ließ Max Reger neben diesem „Schmied“ höchstens noch als „Schmiedl“ gelten. Während man in diesem Lager die frei assoziative Harmonik des Meisters als willkürlich und gesucht kritisierte, stieß man sich in jenem an den als stereotyp empfundenen Regerschen Formschemata. Vielleicht ist jetzt, nach dem Ende dieses kontroversenreichen Jahrhunderts, doch endlich die Zeit gekommen, dieses beeindruckende Werk unbeeinflußt von ästhetischen und ideologischen Grabenkämpfen neu zu entdecken und zu würdigen.

© by Claus-Christian Schuster

Pfitzner: Sonate für Pianoforte und Violoncell, fis-moll, op.1

Hans Pfitzner

* 05. Mai 1869
† 22. Mai 1949

Sonate für Pianoforte und Violoncell, fis-moll, op.1

Komponiert:Frankfurt am Main, 1890
Widmung:Heinrich Kiefer (1867-1922)
Uraufführung:Frankfurt/Main, Saal der Loge Carl, 21. Jänner 1891
Heinrich Kiefer, Violoncello
Hans Pfitzner, Klavier

Pfitzners Studien am Frankfurter „Hoch´schen Conservatorium“, wo er von 1886 bis 1890 einen Freiplatz hatte, endeten ganz ohne Glanz und Gloria:

„Der administrative Direktor der Anstalt, der aus dem selben Holz wie Scholz geschnitzt war, ließ mich eines Tages zu sich kommen und sprach in der Oberlehrerweis´ also zu mir: „Herr Pfitzner, Ihre Freistelle ist in dem kommenden Monat abgelaufen; haben Sie schon einmal darüber nachgedacht?“ Nein, darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. Ich pflegte über andere Dinge nachzudenken. Aber ich wollte fort.
Und ich ging auch.“

Obwohl Pfitzner – wie auch dieser Passus aus den zwischen 1946 und 1949 niedergeschriebenen „Eindrücken und Bildern meines Lebens“ erkennen läßt – die Studienzeit unter dem tyrannischen und erzkonservativen Direktor Bernhard Scholz (dessen eigene Sturm- und Drangzeit an der Seite von Schumann und Brahms wohl schon allzu weit zurück lag) zeitlebens in denkbar schlechter Erinnerung behielt, waren diese Jahre für ihn doch in vieler Hinsicht sehr fruchtbar. Die damals noch sehr junge Anstalt (gegründet 1878) hatte ambitionierte und unverbrauchte Lehrer: Pfitzners Kompositionslehrer, Iwan Knorr (1853-1916), den Brahms seinem Freund Scholz empfohlen hatte, in Pfitzners Worten „ein Anhänger der »Mäßigkeitsschule«“, ließ den ebenso jungen wie ungestümen und aufrührerischen Komponisten mit amüsierter Gelassenheit gewähren – was für eine Persönlichkeit wie die Pfitzners wohl das beste war, was ihm widerfahren konnte. Im Hause seines Klavierlehrers James Kwast (1852-1927), der mit der schauspielerisch begabten Tochter Ferdinand Hillers verheiratet war, erhielt er vielfältige Anregungen; daß die bei Pfitzners Studienbeginn eben siebenjährige Tochter des Hauses 1899 seine Frau werden sollte, konnten damals freilich weder Schüler noch Lehrer ahnen.
Doch weit wichtiger als die Lehrer waren die Freunde. Schon 1878, beim Eintritt in die Sexta der Frankfurter Klingerschule, hatte er seinen „Urfreund“ gefunden: Paul Nikolaus Cossmann (1869-1942), Sohn des berühmten Cellisten Bernhard Cossmann (1822-1910), der unter den frühen Interpreten des Schumannschen Cellokonzertes wohl der wichtigste und kompetenteste gewesen war und den die Gründung des „Hoch´schen Conservatoriums“ nach Frankfurt geführt hatte, wo er als gesuchter Lehrer bald einer der Hauptanziehungspunkte dieser Anstalt wurde. Die beiden schienen füreinander vorherbestimmt: Beide waren in Moskau geboren, wo schon ihre Väter einander kennengelernt hatten (Bernhard Cossmann als Lehrer am Konservatorium, Karl Robert Pfitzner, der in seiner Jugend der sechste Schüler des von Mendelssohn gegründeten Leipziger Konservatoriums gewesen war, als Geiger des Opernorchesters). Die Intensität dieser Freundschaft, die ihren Niederschlag in einem faszinierend inhaltsreichen und nahezu unüberschaubaren Briefwechsel findet, hebt sie über alle anderen vergleichbaren Beziehungen Pfitzners hinaus. Dann war da der Klarinettist Carl Dienstbach, in dessen malerisch im Taunus gelegenen Heimatstädtchen Usingen die Pfitzner-Freunde mit Carls fünf Geschwistern viele vergnügte Stunden verbrachten. Und eines Tages tauchte am Hoch´schen Conservatorium ein neuer Zögling auf, der sofort die Aufmerksamkeit des Komponisten erweckte: „Groß, schlank, blond, mit viel zu engen schwarzen Hosen, und einem Schlapphut mit Riesenrand, nach allen Seiten höflich grüßend“ betrat Heinrich Kiefer die Bühne von Pfitzners Leben.

„Wir zwei schlossen sehr bald Freundschaft; wann und bei welchem Anlaß die erste Annäherung stattfand, weiß ich nicht mehr. Wir mußten wohl gegenseitig von unserer Begabung und unserem Streben mehr gehalten haben als zum Beispiel unser Direktor Bernhard Scholz, der eine unüberwindliche Abneigung gegen alles Talentvolle hatte. So waren wir beide an dieser Stelle nicht sehr gut angeschrieben und dadurch Sympathiegefährten; als Freischüler außerdem zur Bescheidenheit angehalten.“
(Hans Pfitzner, Zum Gedächtnis Heinrich Kiefers, 1926)

Das Schicksal hatte da zwei ungleiche Freunde zusammengeführt – schon rein äußerlich war ein größerer Gegensatz zu dem schmächtigen, fast kindlich wirkenden Pfitzner mit seinen 1,64 m kaum denkbar:

Ein blondlockiger Künstler, ein echter Bayer von herkulischer Kraft, der während seines ausdauernden, stundenlangen Übens eher das Essen als das Trinken vergaß. Wie oft habe ich ihn schon am frühen Vormittag, nur notdürftig bekleidet mit Hemd und Hose, im Schweiße seines Angesichts beim Studium überrascht, umgeben von seinen Bierflaschen und eingehüllt in schneidenden, atemberaubenden Tabakdunst.
(Hermann Hock, Ein Leben mit der Geige, Frankfurt/Main, 1950)

„Der Neue“ wurde der brillanteste Schüler Bernhard Cossmanns. Seine manuelle Virtuosität und sein fast zwanghafter Übungsfleiß waren bald sprichwörtlich, und so scheint es nur natürlich, daß die erste Frucht dieser Künstlerfreundschaft ein ausgesucht schwieriges Cellokonzert (a-moll, 1888) war, das Pfitzner für Heinrich Kiefer schrieb:

„Das Werk, von meinem Lehrer Iwan Knorr für ein Prüfungskonzert empfohlen, erregte die Begeisterung Kiefers und das wohlwollende Interesse seines Meisters, des berühmten Cellisten und Nestors der Konservatoriumsprofessoren Bernhard Cossmann. Kiefer machte sich die schwierige Cellopartie erstaunlich schnell zu eigen. Das Konzert mußte die Zensur der Ohren des Herrn Direktors passieren. Mit vollendeter Virtuosität wurde es in Gegenwart Professor Cossmanns, unter meiner Begleitung, dem Gewaltigen vorgeführt. Schon dieser Vortrag hätte verdient, daß das Werk auf dem Prüfungskonzert erklungen wäre; es wäre ein Höhepunkt der Vorführungen gewesen, und den jungen, strebenden Künstlern ein Ansporn und eine Wonne. Statt dessen war ein Wutausbruch Scholzens die Wirkung. Da, wie ich fürchte, einige übermäßige Drwiklänge darin vorkamen, fand er es „verwagnert“(die schlimmste Ketzerei für ihn); aber am meisten erregte seinen Zorn die skandalöse Tatsache der Anwendung von drei Posaunen. „Drei Posaunen in einem Cellokonzert!!“ Mit diesem Entrüstungsruf verließ er, fernabdonnernd, das Lokal. Das Konzert, als Schülerkomposition eine starke Talentprobe, wurde nie aufgeführt; zwei junge Menschen waren um eine Bitternis reicher[,] und eine Ungerechtigkeit mehr war in der Welt.“
(ibidem)

Nun mögen, wie Peter Cahn in seiner detailreichen Geschichte des „Hoch´schen Conservatoriums“ (Frankfurt/Main 1978) nahelegt, durchaus auch andere Gründe für die brüske Reaktion des gestrengen Direktors in Betracht kommen – Pfitzner und Kiefer hatten mit dem Geiger Heinrich Diehl erst kurz zuvor das Klaviertrio op.26 von Bernhard Scholz aufgeführt; war das etwa nur eine plumpe captatio benevolentiae gewesen? -, jedenfalls konnte und wollte Pfitzner nicht zulassen, daß diese Niederlage den Endpunkt seiner Zusammenarbeit mit Kiefer bilden sollte. Und so finden wir ihn 1890, zur selben Zeit, als sein „Freischüler“-Dasein endet, an der Komposition eines neuen Werkes für den Freund: der „Sonate für Pianoforte und Violoncell“, die sein Opus 1 werden sollte.

Der Zufall wollte es, daß in Wiesbaden, also in Pfitzners unmittelbarer Nachbarschaft, der um vier Jahre jüngere Max Reger gerade zur selben Zeit auch an seinem programmatischen Opus 1 arbeitete, einer „Sonate für Pianoforte und Violine“ in d-moll. (Reger war zu dieser Zeit Schüler Hugo Riemanns, bei dem auch Pfitzner später kurze Zeit Unterricht nahm.) Die fundamental unterschiedliche Produktionsweise der beiden jugendlichen Meister läßt sich schon am Werkkatalog ablesen: Reger, der sich gewissermaßen „vegetativ“ in seine Werke hineinschrieb, ließ dieser ersten Violinsonate schon einige Monate später eine zweite folgen – insgesamt brachte er es in seinen dreiundvierzig Lebensjahren auf neun Violin- und vier Cellosonaten (und ein Gesamtwerk von 146 Opusnummern); Pfitzner, dem sich jedes Werk als innere Schau gestaltet haben mußte, bevor er es zu Papier bringen konnte, hat (wenn man die unvollendeten und verlorenen Studienarbeiten beiseite läßt) in einem achtzigjährigen Leben nur je eine Violin- und Cellosonate geschrieben. (Zu den 57 Opusnummern des Pfitznerschen Werkes muß man freilich die ohne Opuszahl erschienenen großen musikdramatischen Werke hinzuzählen, die in Regers Œuvre ganz fehlen.)

Als Motto stellte Pfitzner seinem Werk den Heine-Vers „Das Lied soll schauern und beben“ voran – sicherlich eine Reverenz an den Dichter und seinen Komponisten (Schumann, Dichterliebe, op.48 Nr.5), viel mehr aber noch eine Chiffre für Pfitzners musikalische Poetik. Die Tonart des Werkes ist übrigens nicht die des Schumannschen Liedes – aber daß das gewählte Fis-moll doch auch ein Schumann-Echo sei, darf man ruhig annehmen: Es ist die Tonart von Schumanns, Clara Wieck gewidmeter, erster Klaviersonate (op.11).
Ein derartig mit programmatischen Anklängen befrachtetes Debutwerk wäre eigentlich prädestiniert dafür, im Epigonalen befangen zu bleiben, oder zumindest von der Entwicklung des Komponisten alsbald überholt zu werden: Beides ist durchaus nicht der Fall. Noch viele Jahre nach der Entstehung der Sonate wählte Pfitzner ihr Incipit als musikalisches Motto seines von Willy Preetorius gezeichneten Exlibris; und wie seine Konzertprogramme belegen, ist er seinem Jugendwerk auch als Interpret treu geblieben

Die beiden Aufführungen, deren kritische Resonanz hier zusammengetragen ist, sind wichtige, aber nicht im praktischen Sinne entscheidende Stationen auf Pfitzners lamgem und beschwerlichem Weg zu seinem Publikum. Die Frankfurter Uraufführung, die das Freundspaar Pfitzner-Kiefer bestritt (21. Jänner 1891) war ein Versuch des sang- und klanglos vom Konservatorium abgegangenen Studenten, sich in seiner Vaterstadt einen Namen zu machen. Die Wahl des Saales – der Saal der Loge Carl wurde immer wieder für Veranstaltungen des Hoch´schen Conservatoriums benützt – zeigt, daß es Pfitzner auch darum ging, sich vor dem Institut, das ihn verkannt hatte, zu behaupten.

Rezensionen der Uraufführung
(Frankfurt/Main, 21. Jänner 1890)

Bei Gelegenheit unserer Besprechung der letzten Prüfungs-Concerte des Dr.Hoch´schen Conservatoriums machten wir schon auf das hervortretende Talent des Herrn Pfitzner aufmerksam. Herr Pfitzner hat seit Kurzem Zwang und Fessel der Schule abgeschüttelt und ist zum ersten Mal vor das Forum der großen Öffentlichkeit getreten. Der kleine nervöse, etwas hastige Musiker ist ganz ungewöhnlich, besonders für die Composition, begabt. Sowohl die Cello-Klaviersonate wie die zwei Sätze des Streichquartettslegten hinreichend Zeugniß für ausgesprochene Befähigung ab. Aber Herr Pfitzner muß noch viel Notenpapier beschreiben, bis sich sein Talent gesetzt, gefestigt und geklärt haben wird. In der musikalischen Ausdrucksweise fehlt ihm noch das Zielbewußte in der Form, noch die Harmonie und nötige Knappheit, im Charakter die Selbständigkeit und das Einheitliche. Dafür bietet der junge Componist schon jetzt originelle Gedanken und Einfälle bei beträchtlicher technisch-compositorischer Beherrschung. In seinem musikalischen Innern summt, schwirrt und saust es kräftig, das ist die Hauptsache. Bei einiger Ruhe und Concentration kann man Herrn Pfitzner eine schöne ntwicklung seines Talents in Aussicht stellen. Als Interpret seiner eigenen Stücke zeigte sich der Concertgeber auch als feinfühlender, sattelfester Pianist. – Herr Heinrich Kiefer, der Herrn Pfitzner bei der Cellosonate bestens unterstützte, dokumentierte […] bedeutende Anlage zur Virtuosität. […] Die Betheiligung seitens des Publikums war sehr lebhaft, der Beifall nach allen Vorträgen überaus herzlich.
(-h im Generalanzeiger vom 23. Jänner 1891))

Hans Pfitzner, der als Zögling des Dr. Hoch´schen Conservatoriums bei Gelegenheit der Schlußprüfungen durch seine Compositionsbegabung und sein Klavierspiel sich rühmend hervorthat, hat sich jetzt auf eigene Füße gestellt und ist gestern zum ersten Male vor eine größerer Öffentlichkeit getreten. In einer Cello-Klaviersonate und zwei Sätzen zu einem Streichquartett dokumentirte Herr Pfitzner wieder entschiedenes nicht gewöhnliches Talent für musikalische Produktion. Bei der großen Jugend des Concertgebers ist es natürlich, daß es jetzt in seiner Strurm- und Drangperiode noch tüchtig gärt. Nach dieser Periode wird gewiß die nöthige Klärung und Verfeinerung nicht ausbleiben[,] und eine sich jetzt schon bemerkbar machende Individualität wird sich sicher noch mehr befestigen. In der Cellosonate, die eigentlich mehr den Charakter einer Klaviersonate trägt, machen der erste und dritte Satz durch originelle Erfindung und geschickte Arbeit einen recht günstigen Eindruck, der zweite und besonders aber der vierte Satz verwischen dieser wieder durch Zerfahrenheit, Unklarheit, die durch aller Art gesuchter Modulationen hervorgerufen werden. – Erwies sich der Concertgeber bei seinen Stücken wieder als technisch entwickelter, sehr musikalischer Pianist, so behauptete sich Herr Heinrich Kiefer wieder als gediegener und virtuoser Cellosoieler. […] Das zahlreich erschienene Publikum nahm alle Leistungen mit lebhaftem Beifall auf.
(R. P. in der Kleinen Presse vom 23. Jänner 1891)

…Das rege Interesse, welches an hiesigem Orte dem talentvollen aufstrebenden Mitbürger entgegen gebracht wird, bekundete sich augenscheinlich in dem außerordentlich starken Besuch des Concertes. […] Das Schlußstück des Concerts, die Sonate in Fis-moll für Klavier und Violoncello […] war die pièce de résistance. Ernstes Streben nach hohen Idealen tritt in jedem Satz des Werkes, in welchem nirgends Allzugewöhnliches oder gar Triviales, dafür aber manches Eigenartige und Stimmungsvolle emporsprießt, deutlich zu Tage. Gleichwohl können wir die Sonate als Ganzes kein wohlgelungenes Kunstwerk nennen. Alle Sätze, mit Ausnahme des Scherzo, das ein ebenso frisches, als in seiner Knappheit wohlabgerundetes Tonstück ist, leiden darunter, daß die rege Phantasie ihres Autors nicht von ausgereifter Kraft des Gestaltens unterstützt wird. Die bezeichneten Sätze sind nicht wie aus einem Guß; die Fäden, welche das Gewebe zusammenhalten, sind zu lose angezogen, die Modulationen sind oft zu weitschweifig und regellos, die Themen sind zum Teil nicht mit der nötigen Klarheit zur Anschauung gebracht. Das Finale, welchem es ohnehin an der charakteristischen Lebhaftigkeit und Leichtigkeit gebricht, leidet unter den angeführten Mängeln am meisten. Alle Sätze fanden lebhaften Beifall, doch den meisten fand mit vollem Recht das Scherzo.
(A. G. im Frankfurter Journal vom 23.(?) Jänner 1891)

… Nicht ganz einheitlich wollte uns die Cello-Sonate erscheinen. Der erste Satz gefällt sich in einer düsteren Stimmung, die nicht immer anmuthen will, auch die Abweichung von der hergebrachten Form, ohne durch etwas Besseres Ersatz zu bieten, möchten wir nicht gutheißen. Hingegen ist der hübsch melodische, langsame Satz und das charakteristische Scherzo von guter Wirkung; in dem letzten Satz verdient die gewandte Arbeit volle Anerkennung.
(Anonymus im Intelligenzblatt vom Jänner 1891)

Bald nach dieser Uraufführung beginnt Pfitzner die Arbeit an seiner ersten Oper, Der arme Heinrich, die ihn über zwei Jahre beschäftigt. Iwan Knorr, der von der Cellosonate sehr angetan ist, vermittelt die Drucklegung des Werkes – selbstverständlich gibt es für den Komponisten weder Honorar noch Tantiemen. Bei einem Hauskonzert, wo Pfitzner mit Kiefer wieder einmal die Sonate spielt, hört ihn der Direktor des Koblenzer Konservatoriums, Konrad Heubner, der ihn sofort als Klavier- und Theorielehrer an sein Institut einlädt. Die Stelle ist nicht attraktiv, aber Pfitzner nimmt sie an – teils, um Ruhe für die Arbeit an seiner Oper zu haben, teils, um dem Elternhaus zu entkommen. Auch in Koblenz (1892/93) präsentiert er seine Cellosonate (mit Ludwig Ebert). Seine Freunde, die besorgt sind, seine Laufbahn werde in provinzieller Enge versanden, planen ein Husarenstück: Für ein Konzert in der Berliner Singakademie (4. Mai 1893) mieten sie die Berliner Philharmoniker. Pfitzner, der noch nie dirigiert hat, bringt sich selbst rasch vor dem Spiegel das Nötigste bei und besteht die Feuertaufe hervorragend. Im kammermusikalischen Teil des Abends spielt Kiefer zusammen mit dem aus Rußland stammenden Ern(e)st Jedliczka (1855-1904), der bald zu den eifrigsten Propagandisten Pfitzners gehören sollte, das Opus 1.

Rezensionen der Berliner Erstaufführung
(Singakademie, 4. Mai 1893)

Die Saison ist zu Ende. Wir sind mit dem Abschluß zufrieden, denn in letzter Stunde hat sich noch ein großes, produktives Talent vorgestellt, auf dessen weitere Entwicklung wir gespannt sein dürfen. […] Das Publikum erkannte mit wunderbarem Instinkt die Bedeutung des Gebotenen[,] und immer lauter wurde der Beifall; selbst die letzten beiden Sätze der Fis-moll-Sonate für Klavier und Cello, ein Opus 1, für das wir nicht unbedingt eintreten wollen, kühlte die Temperatur nicht merklich ab. […] [Pfitzner] darf von dem gestrigen Abende den Beginn einer neuen Aera datiren, nach den trüben Jahren des Ringens und Kämpfens, nach dem Hangen und Bangen in schwebender Pein beginnen – so wünschen und hoffen wir – nunmehr für ihn die sonnigen Tage!
(Wilhelm Tappert im Kleinen Journal vom 5. Mai 1893)

Herr Hans Pfitzner, ein junger Componist aus Frankfurt a. M., erschien gestern mit einer größeren Anzahl eigener Compositionen zum ersten Mal vor dem hiesigen Publikum. Der begabte Künstler läßt ernstes Streben, große Selbständigkeit der Erfindung und eine gediegene musikalische Ausbildung erkennen, befindet sich jedoch zur Zeit noch in seiner Sturm- und Drangperiode […]. Die Vorliebe für Molltonarten zeigte sich auch in der Sonate für Klavier und Cello, deren besondere Schönheiten sich in dem Andante und im Scherzosatz befinden und die von Herrn Dr. Jedliczka und Herrn Kiefer (aus Erfurt) ganz vortrefflich vorgetragen wurde.
(Anonymus im Reichs-Anzeiger vom 5. Mai 1893)

…Voraussichtlich wird der Componistenname Pfitzner in Zukunft nun öfter ein Concertprogramm schmücken. Wenn die andern Kinder seines Geistes den gestrigen ebenbürtig sind, werden er und sie stets willkommen sein.
(O. E[ichberg] im Börsen Courier vom 5. Mai 1893)

Ein junger Mann, Herr Hans Pfitzner, von dem bis dahin kein Mensch etwas gehört, kam plötzlich aus Frankfurt am Main und enthüllte uns in einer ganzen Reihe verschiedenartiger Tondichtungen ein reiches schönes Talent. So etwas ist lange nicht dagewesen. […] Die neudeutsche musikalische Richtung freilich, die im Begrübeln des Düsteren und im Reflektiren auch in der Musik wie in andern Kunstgattungen sich bemerklich macht, ist auf Herrn Pfitzner nicht ohne Einfluß geblieben. Symmetrie in der Form, logisch entwickelte Melodik werden immer mehr hintenangestellt[,] und es wäre sehr zu bedauern, wenn das reiche Talent dieses Komponisten auf solchem Wege beharrte, der am letzten Ende zur Zerflossenheit und zum wirren Durcheinander führen muß. […] Eine Sonate für Cello und Klavier (Fis-moll) trägt die Opuszahl 1. Das mag als mildernder Umsatnd gelten. Die originellen und hübschen Themen sowie die vortreffliche Ausführung durch die Herren Jedliczka und Kiefer waren hier nicht im Stande, bei der phantasieartigen Durcharbeitung ein Bild der Zerfahrenheit zu verhüllen.
(-n in den Neuesten Nachrichten vom 5. Mai 1893)

Als Sohn unserer Zeit hat sich Herr Pfitzner natürlich der modernen Richtung seiner Kunst angeschlossen. In der Sonate un den Liedern folgt er Schumann, Wagner in den übrigen beiden Kompositionen. Mit seiner vollen Jugendlichkeit, mit seinem Träumen, Schmachten, Schwärmen und Überschäumen hat er uns für sich eingenommen. Sein rein musikalisches Talent zeigt sich am stärksten in der Sonate, die zwar mehr Stimmungen als interessante Gedankenarbeit, aber doch viel Eigenart der Erfindung enthält. […] Der erste Satz der Sonate hält sich einigermaßen noch an die Form der Klassiker; eine engere Fühlung mit diesen würde der weiteren Entwicklung des Komponisten sicherlich zum Vortheil gereichen. […] Den meisten Beifall fand das phantastisch-heitere, sehr reizvolle Scherzo […].
(-n in der Vossischen Zeitung vom 5. Mai 1893)

Ein junger Componist, Hans Pfitzner aus Frankfurt a. M. , gab am Donnerstag […] ein Concert, dessen Programm ausschließlich aus eigenen Compositionen bestand. Wir lernten in ihm einen sehr talentvollen Musiker kennen, der etwas tüchtiges gelernt hat und versteht […]. Schade, daß dieses ausgesprochene reiche Talent sich bereits einer Richtung unterworfen hat, die wir entschieden verdammen. Die Ausläufe der sogenannten neudeutschen Schule, in welchen man sich immer mehr von der Form und Melodie, von dem rhythmisch und symmetrisch geordneten Wesen der Musik emancipirt, führen schließlich zur Verwirrung und Auflösung. Besonders zeigte die von den Herren Jedliczka (Klavier) und H. Kiefer (Cello) vortrefflich ausgeführte Fis-moll-Sonate, Op.1, ein überaus zerfahrenes und ergrübeltes Phantasiegebilde, das, wenn es nicht einige hübsche und originelle Themen enthielte, imstande wäre, einen zur Verzweiflung zu bringen. Der zweite Satz verlief in einen geheimnisvollen, ganz hübschen Schluß, der uns aber nicht über die tödliche Langeweile des ganzen hinweg zu setzen vermochte.
(Anonymus in der Staatsbürger-Zeitung vom x. Mai 1893)

Hans Pfitzner, ein junger Komponist ais Frankfurt am Main, machte uns am 4. in der Singakademie mit einer Anzahl seiner Werke bekannt, die von bemerkenswerther Begabung Zeugniß ablegten. […] Eine Sonate für Klavier und Cello op.1, von den Herren Dr. Jedliczka und Heinrich Kiefer aus Erfurt abgerundet gespielt, ist gut gearbeitet, leidet jedoch durch Längen, am meisten sprach der dritte in Tarantellenform gehaltene Satz an.
(Ferdinand Gumbert in der Täglichen Rundschau vom 6. Mai 1893)

…Der Konzertgeber bekundete ein starkes Talent, von dem man, entwickelt er sich stetig weiter, noch einmal etwas Namhaftes wird erwarten dürfen. Er besitzt Sinn für musikalische Gestaltung und dramatisches Leben. Daß er sich an Wagner anlehnt, ist ja natürlich, aber er ist doch auch bestrebt, individuell zu bleiben.
(Anonymus in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 6. Mai 1893)

Ein junger Komponist, Herr Hans Pfitzner aus Frankfurt a. M., führte am Donnerstag, den 4. Mai, in der Singakademie eine Anzahl seiner Werke auf. An der Hauptsache fehlt es ihm nicht. Das Göttergeschenk der Phantasie ist ihm zu Theil geworden. Nur bewegt er sich auf zu beschränktem Gebiet. Ein schmachtendes und schwärmerisches Verlangen beherrscht als Grundstimmung sein bisheriges Schaffen. Wenn die Blüthe seines Talentes sich ganz erschließen soll, wird er sich aus dem engen Kreis hinauswagen, weitere Umschau in der Welt der Töne halten und Neues auf sich wirken lassen müssen. Denn gerade sein Talent scheint zu denen zu gehören, die Gefahr laufen, sich in sich selbst zu verzehren. In der Sonate für Klavier und Cello in Fis-moll, op.1, tritt das Charakterbild des Komponisten sofort in Erscheinung. Von einem grüblerischen Halbtonmotiv ausgehend entwickelt sich der erste Satz folgerichtig, ohne daß indeß dem Hörer das „Sehr bewegt“ der Überschrift fühlbar wird. Ein Fehler so vieler neuer Komponisten, welche glauben, der Taktstrich genüge zur Fixirung des Tempos. Obgleich das Adagio infolge dessen an der Wirkung des Kontrastes verlieren mußte, machte es doch im Ganzen den größten Eindruck, weil sich hier der Komponist auf seinem eigensten Gebiet einer breiten Stimmungsmalerei selbständig bewegt.. Das Scherzo ist ein nebelschwüler Augenblick, ein hastiges Treten auf derselben Stelle. Im Finale macht sich nicht vorherrschend, aber gelegentlich aufmunternd polyphone Behandlung der Stimmen geltend. […] Die Sonate wurde von den Herren Dr. Jedliczka und H. Kiefer mit liebevollem Verständniß vorgetragen.
(L[udwig] B[ußler] in der National-Zeitung vom 6. Mai 1893)

… Zweifellos haben wir es hier mit einer vielverheißenden Kraft zu thun, die sich weit hinaus über den Rahmen des Alltäglichen erhebt. Wohl haftet seinen, den verschiedensten Gebieten angehörenden Werken noch etwas Unfertiges an. Der Einfluß Wagner´s hat auch auf ihn mit despotischer Gewalt gewirkt. […] Die Herren Max [sic] Kiefer aus Erfurt und Dr. Jedliczka trugen eine Cello-Sonate vor, deren dritter Satz mit seiner prickelnden, humorvollen Form am besten gefiel, wenngleich sich auch hier noch Schlacken zeigen. […] Zweifellos wird Hans Pfitzner noch von sich reden machen; seine Arbeiten zeugen von ernster Auffassung, redlichem Streben und, was die Hauptsache, von hervorragender Begabung.
(-s- in der Berliner Zeitung vom 6. Mai 1893)

… Von vorn herein sei betont, daß Herr Pfitzner, trotz seiner Jugend, das Technische […] meisterhaft beherrscht. Seine musikalische Befähigung hat freilich einstweilen wenig Ursprüngliches aufzuweisen; die Gabe der Assimilirung besitzt er dagegen im hohen Maße: Schumann, Brahms und Wagner sind ihm derartig in Fleisch und Blut übergegangen, daß man oft sie selbst zu hören vermeint. Herr Pfitzner ist mit reicher Phantasie begabt, jedoch leiden seine Gedanken an einer gewissen Kurzathmigkeit – man vermißt den gesunden, kräftigen Zug, was bei der Jugen des Componisten doppelt verwunderlich ist. […] Eines wohlverdienten Beifalls [erfreute sich] eine Sonate, Fis-moll, für Clavier und Cello, ein Werk von edler Erfindung und knapper Form, die ihren durchschlagenden Erfolg nicht am wenigsten der meisterhaften Wiedergabe durch die Herren Dr. Ernst Jedliczka und Heinrich Kiefer verdankt.
(H. in der Börsen-Zeitung vom 6. Mai 1893)

… Seine Begabung für die musikalische Komposition ist unverkennbar eine hochbedeutende, wie er ferner mit einer Sonate für Klavier und Violoncell bewies, deren kurzes, schnelles Scherzo ein wahres Kabinettstückchen genannt zu werden verdient…
(tz in der Volkszeitung vom 6. Mai 1893)

In ihrer Gesamtheit machten diese Kompositionen – um die Hauptsache gleich vorweg zu nehmen – einen recht vorteilhaften Eindruck. Man gewinnt die Überzeugung, daß sie einem hochbegabten, ideenreichen Kopfe entsprungen sind. […] Sein für Klangmischungen offenbar besonders stark entwickelter Sinn zeigt sich auch in der Cellosonate Op.1, die in dieser Hinsicht viele überraschende Wendungen bringt, wogegen die Bedeutsamkeit ihres thematischen Gehaltes ziemlich zurücktritt.
(E. L. in der Deutschen Warte vom 6. Mai 1893)

… Endlich enthielt das Programm noch eine Probe von dem Talent des jungen Komponisten für Kammermusik, eine Sonate für Klavier und Cello, fis-moll, op.1 […]. Vor allem müssen wir der wirkungsvollen Behandlung des Cello neben dem Pianoforte unsere besondere Anerkennung zollen. Freilich war die Handhabung dieses Instrumentes seitens des Spielers auch eine besonders vorzügliche und ihm gegenüber die des Pianisten bezüglich des seinen eine sehr diskrete. Jeder einzelne der vier Sätze gewann sich sowohl durch die Beschaffenheit der Gedanken wie durch ihre tonsetzerische Verarbeitung ein berechtigtes, lebendiges Interesse. Wir können somit dem jungen Komponisten aufgrund seiner Darbietungen nur ein herzliches, ermutigendes „Perge“ zurufen.
(G. W. im Reichsboten vom 7. Mai 1893)

Der gestrige, voraussichtlich letzte größere Concertabend vor der Sommerruhe, war kein verlorener. Ein noch sehr jugendlicher, bisher hier gänzlich unbekannter Componist, Herr Hans Pfitzner aus Frankfurt a. M., veranstaltete in der Singakademie […] eine Aufführung eigener Compositionen, die von dem hervorragenden Talente des Concertgebers sicheres Zeugniß gaben. Auf dem Programm standen das Vorspiel zum ersten und zum dritten Act des Ibsen´schen Dramas „Das Fest auf Solhaug“ und ein Scherzo für Orchester, sowie ein Klaviertrio [sic] in Fis-moll (als op.1 bezeichnet), als Proben reiner Instrumentalmusik; ferner „Dietrich´s Erzählung“ aus einem Musikdrama „Der arme Heinrich“ und die Ballade „Herr Oluf“ aus dem Bereich der dramatischen Musik. Schon aus dieser Auswahl kann man mancherlei ersehen. Zunächst, daß Herr Pfitzner sich bereits auf den verschiedensten Gebieten der Composition versucht hat, dann auch, daß er das Ernst, Bedeutsame, fantastisch Tragische bevorzugt. In der That scheint ihm der Humor nicht gleichermaßen zur Verfügung zu stehen, denn das Finale des Trios [sic], das nach der Satzüberschrift „mit Humor“ gespielt werden soll, war wohl die wenigst gelungene Composition des ganzen Abends. […] In der Cellosonate ist ein meisterhaft gelungener Wurf: das Scherzo. Gegenüber seinem eben besprochenen Artgenossen [dem Scherzo aus „Herr Oluf“] hat es eigentlich den übrigens viel leichter zu ertragenden Fehler zu großer Kürze; aber der in ihm tollende Spuk ist so eigenartig, daß die Wirkung des Satzs außerordentlich ist. Neben ihm muß mit besondern Ehren der erste Satz genannt werden; der zweite (Adagio) schien dem Unterzeichneten zu gedehnt für seinen einfachen Inhalt[,] und vom letzten ist oben schon gesprochen. Dieser letzte Satz war der einzige, der ein tieferes Interesse nicht zu erregen vermochte. Das Cello ist in der Sonate sehr schön behandelt, das Klavier weniger gut, – wahrscheinlich ist der Componist selbst mehr Partiturenspieler, als Pianist.
(Anonymus im Börsen-Courier vom 9. Mai 1893)

Pfitzners Freund und Librettist James Grun hatte die Courage, dem damals im Berliner „Kaiserhof“ residierenden Anton Rubinstein die Noten der Sonate mit der dringenden Bitte um ein Urteil aufzudrängen. Ernst Jedliczka, der als Landsmann und ehemaliger Schüler Nikolaj Rubinsteins auch mit Anton in freundschaftlichem Verkehr stand, wußte später zu berichten, Rubinstein habe die Sonate selbst aufführen wollen, sei aber durch seinen schon schlechten Gesundheitszustand dazu nicht mehr in der Lage gewesen. Rubinstein beendete das Gespräch über die Sonate mit dem Bibelwort „Jetzt kann ich ruhig sterben, denn ich weiß, daß der zukünftige Meister da ist.“

Weit weniger Glück hatte Pfitzner mit einem Komponisten, der an der Last so großer Worte lange genug getragen hatte. In den „Eindrücken und Bildern meines Lebens“ erinnert er sich:
Meine Cello-Sonate op.1 hatte ich im Manuskript an Brahms gesandt – er hat sie nie angesehen, und ich war froh, daß ich meine Noten – auf Reklamation von [James] Kwast – überhaupt zurückerhielt.

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Hindemith: Sonate [Nr.2] für Violoncello und Klavier, E-Dur (1948)

Paul Hindemith

* 16. November 1895
† 28. Dezember 1963

Sonate [Nr.2] für Violoncello und Klavier, E-Dur (1948)

Komponiert:New Haven, CT, , Februar – 8. März 1948
Erstausgabe:Schott, Mainz, 1948

Neben „seiner“ Bratsche lag Hindemith das Cello ganz besonders am Herzen: nicht zufällig ist sein erstes großformatiges Werk ein Konzert für Violoncello und Orchester (op.3, komponiert 1916), dem er später (1925 und 1940) noch zwei Werke der selben Gattung folgen ließ. Hindemiths erste veröffentlichte Komposition waren Drei Stücke für Violoncello und Klavier (op.8, 1917). Das Violoncello war das Instrument des Bruders und Quartettkollegen Rudolf ebenso wie von Hindemiths Frau Gertrude. Für sie schrieb der Komponist neben den großen repräsentativen Cellowerken zwischendurch auch Hausmusikalisches, wie etwa die Drei leichten Stücke (1938), die Variationen über „A frog he went a courting“ (1941) oder die Kleine Sonate (1942).

Von der Lektüre mit Walt Whitman angeregt hatte Hindemith im Sommer 1919 eine dreisätzige Sonate für Violoncello und Klavier (op.11 Nr.3) geschrieben, die er zwei Jahre später radikal umarbeitete und in dieser neuen, zweisätzigen Form 1922 drucken ließ. War 1919 mit der Erstfassung dieses Werkes in Hindemiths kompositorischer Entwicklung ein Punkt kritischer Labilität erreicht, so wird nun, fast drei Jahrzehnte später, mit einem Werk der selben Gattung ein Punkt letzter und reifster Klarheit markiert. Mit Recht gilt die zweite Cellosonate als das bedeutendste kammermusikalische Spätwerk des Komponisten.

Der erste Satz läßt uns mit der Bezeichnung Pastorale (in E) ein lyrisches Vorspiel erwarten. Zunächst scheint diese Erwartung auch erfüllt zu werden: in freiem Dialog zwischen den beiden Instrumenten wird eine schier endlose Melodie ausgesponnen, deren Reiz vor allem in ihrem ungezwungenen Parlando liegt. Von subtilen metrischen Raffinessen immer weiter gelockt, durchschreiten wir drei Tonräume, die gleichzeitig thematischen Abschnitten entsprechen und sich über teils real klingenden, teils auch nur angedeuteten Orgelpunkten (über E, Gis und Des) entfalten. Das darauffolgende Fugato, in dessen Themenkopf man ein „amerikanisches“ Zitat, nämlich den Anfang des Spirituals „Oh, when the Saints…“ hören kann, bringt fast unmerklich eine dynamische Bewegung in Fluß, die den pastoralen Ausgangscharakter des Stückes bald weit hinter sich läßt und in der Satzmitte schließlich in einem wuchtigen Akkord-Duell kulminiert. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung läßt Hindemith unvermittelt den letzten Abschnitt der Exposition anklingen, der uns dann in einem jähen Decrescendo zur eigentlichen Reprise zurückführt. Wie nach diesem Vorgang schon zu erwarten war, erscheinen nun die einzelnen Formglieder wesentlich verändert und in neuer Reihung. Besonders originell ist die rhythmische Bereicherung, die der Komponist aus einer dem ersten Thema neu unterlegten Begleitfigur gewinnt (Überlagerung von Drei- und Zweihalbentakten). Dazwischen drängt sich aber immer wieder das Fugatothema vor, das schließlich auch das letzte Wort behält. Der ganze Satz ist also eine durch die dynamische Verve des Fugatos monumentalisierte Pastorale, die schon auf die Schlußpassacaglia hinzuweisen scheint.

Der marschartige Unterton, der sich mit dem Fugatothema in die melodienselige Grundstimmung des Kopfsatzes eingeschlichen hat, gewinnt im nun folgenden Satz (Mäßig schnell – Langsam – Tempo I, in Cis) die Oberhand. Aber natürlich verabsäumt der listenreiche Komponist nicht, uns immer wieder einmal über eingeschmuggelte Fünfvierteltakte stolpern zu lassen. Doch auch hier erwarten uns viel wesentlichere Überraschungen: urplötzlich verebbt die burschikose Heiterkeit des Satzes – der Stimmungswechsel vollzieht sich über der Umkehrung des selben, durch Dehnung markierten Tonschrittes (g-as), der im ersten Satz den Eintritt des Fugatos bezeichnet hatte. Der jetzt folgende Mittelteil vertritt die Stelle des langsamen Satzes; die Zusammenziehung der beiden traditionellen Mittelsätze in einen einzigen Satz erfolgt also spiegelbildlich analog dem im Mittelsatz der letzten Violinsonate angewandten Verfahren. Reminiszenzen an diesen Satz werden auch in der verfremdeten Reprise des Scherzoteiles geweckt: diesmal ist es das Klavier, das mit gespenstisch dahinhuschenden Chromatismen das frische Ausschreiten des Marschthemas desavouiert.

Als Schlußstein einer großen musikalischen Architektur eignet sich wohl keine andere Form besser als die Passacaglia; und obwohl Hindemith hier, anders als Brahms im Finalsatz seiner IV. Symphonie, ja nur ein individuelles Werk und nicht eine ganze Werkgruppe beschließt, erscheint die Monumentalität dieser Krönung durchaus gerechtfertigt. Das Thema dieser Passacaglia (in E) steht zunächst in schroffem Gegensatz zum Material der vorangegangenen Sätze. Von der Kantabilität der Pastorale oder der beschwingten Elastizität des Scherzos ist hier nichts zu spüren: die fast tyrannisch dominierenden Septimsprünge geben ihm ein erratisch-wuchtiges Aussehen. Den weit-gespannten Intervallen entsprechen extreme dynamische Kontraste und harsche Dissonanzen. Vierundzwanzig mal wird dieses siebentaktige Modell variiert, wobei die Linie des Passacaglienbasses manchmal bis an den Rand der Unkenntlichkeit in Figurationen aufgelöst erscheint und auch die ganze Amplitude charakterlicher Veränderungen ausgeschöpft wird. Dann unterbricht ein kurzes Fugato, in dem sich auch die unregelmäßigen Metren der vorangegangenen Sätze wieder zu Wort melden, den Ablauf. Anstelle des erwarteten fugierten Schlusses setzt aber schon nach wenigen Takten das unerbittliche Passacagliathema sein Recht durch und treibt das Stück, aufgeheizt durch den motorischen Eigensinn des Fugatomotivs, zu einem gleichsam mit Ingrimm triumphierenden Ende.

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Brahms: Zweite Sonate (F dur) für Pianoforte und Violoncell. Op.99

Johannes Brahms

* 7. Mai 1833
† 3. April 1897

Zweite Sonate (F dur) für Pianoforte und Violoncell. Op.99.

Komponiert:Thun, Sommer 1886
Uraufführung:Wien, Musikverein, Kleiner Saal (Brahms-Saal), 24. November 1886
Johannes Brahms, Klavier
Robert Hausmann (1852-1909), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1877

Aus keinem anderen Sommer seines Lebens brachte Brahms so reiche Ernte heim wie aus jenem des Jahres 1886, dem ersten, den er am Thuner See verbrachte: zwei Violonsonaten, ein Klaviertrio, unsere Cellosonate und der Großteil jener fünfzehn Lieder, die unter den Opusnummern 105 bis 107 zusammengefaßt wurden und die auf vielfache Weise mit den gleichzeitig entstandenen Kammermusikwerken (vor allem mit der zweiten Violinsonate) zusammenhängen, waren in seinem Gepäck, als er nach viermonatiger Sommerfrische Anfang Oktober nach Wien zurückkehrte. Schon wenige Wochen später, am 24. November 1886, fand im Kleinen Musikvereinssaal (heute Brahms-Saal) die öffentliche Uraufführung der neuen Cellosonate statt (Johannes Brahms, Klavier / Robert Hausmann, Violoncello). Das Werk, in dem die „symphonische“ Viersätzigkeit wieder zu ihrem Recht kommt, kann zusammen mit dem dritten Klaviertrio (op.101) als das erste Beispiel des Brahmsschen Spätstils gelten, der in den Klarinettenwerken der letzten Lebensjahre des Meisters zur Vollendung geführt wird: Die Ökonomie und Dichte, mit der Brahms hier zu formulieren und auf suggestive Weise auszusparen weiß, knüpft unmittelbar an die lapidare Meisterschaft der letzten beiden Cellosonaten Beethovens an. In dem auch tonartlich dem rationalen Kontext des musikalischen Ablaufes entrückten Adagio glaubt man, eine späte Metamorphose des bei der Komposition der ersten Cellosonate (op.38) unterdrückten langsamen Satzes aus dem Jahre 1862 sehen zu dürfen. Sollte das wirklich zutreffen, so könnte der unvergleichliche Zauber dieses ganze einundsiebzig Takte langen Juwels uns lehren, daß – ganz im Gegensatz zum weitverbreiteten Glauben an die spontane Kraft der „Eingebung des Augenblicks“ – auch für ein Genie mitunter Geduld und Entsagung die allerbesten Lehrmeister sind.

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Beethoven: Sonate Nr.5, D-Dur, op.102 Nr.2

Ludwig van Beethoven

* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827

Sonate Nr.5, D-Dur, op.102 Nr.2

Komponiert:Wien, 1815
Widmung:Anna Maria von Erdödy
Uraufführung:nicht dokumentiert, privat wahrscheinlich Sommer 1815,
Wien, Jedlesee, Landgut Erdödy (21., Jeneweingasse 17)
Ludwig van Beethoven, Klavier
Joseph Linke (1783-1837), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Bonn, 1817

Während Beethoven in allen anderen bedeutenden Genres seines Werkes geniale Vorgänger hatte, betritt er mit seinen fünf Sonaten für Klavier und Violoncello wirkliches Neuland: diese Sonaten sind die ersten ernstzunehmenden Beiträge zu dieser Kammermusikform. Als entfernten Anknüpfungspunkt könnte man nur vielleicht die drei um 1720 entstandenen Sonaten für Cembalo und Viola da Gamba von J. S. Bach (BWV 1027-1029) nennen, die allerdings sowohl instrumental als auch stilistisch und formal völlig anderen Prinzipien folgen. Somit kann man Beethoven mit Fug und Recht als den Schöpfer dieser in der Folge von fast allen bedeutenden Komponisten mit so gewichtigen Werken bedachten Musizierform betrachten.
Dieser Umstand ist auch der Grund dafür, daß wir zumindest ein Werk dieser Gattung in unseren Zyklus aufnehmen wollten.

Für alle fünf Sonaten ist eine selbst bei Beethoven nicht alltägliche Freiheit im Umgang mit dem überlieferten Formenkanon bezeichnend: in dieser Hinsicht sind sie durchwegs wesentlich „revolutionärer“ als die Schwesterwerke für Klavier und Violine. Gleich die ersten beiden Werke der Serie, die Beethoven im Juni 1796 in Berlin für König Friedrich Wilhelm II und dessen Cellisten Duport schrieb, sind ein Kompendium genialischer „Sturm und Drang“-Ideen – und man täte Beethoven wohl unrecht, wenn man diese Experimentierlust nur dem Wunsch zuschriebe, den königlichen Widmungsträger recht nachhaltig zu beeindrucken. Unangefochtener Gipfelpunkt dieser einzigartigen Werkreihe ist aber trotz allem die letzte Sonate op.102 Nr.2. Es dürfte nicht leicht sein, in der gesamten Kammermusikliteratur ein Werk zu finden, das diesen Geniestreich an Kühnheit, Konzentration und Klarheit, an Empfindungstiefe und Geistesschärfe überträfe.

Das eröffnende Allegro con brio (D-Dur) weckt gleich mit seinem energisch-stolzen Inzipit, das en passant auch schon in den ersten beiden Takten die heilige metrische Ordnung unbkümmert über den Haufen wirft, die Erwartung nach einer fugierenden Antwort, die erst im letzten Satz – aber wie! – erfüllt wird. Dieser kraftvolle Impuls zieht eine Entwicklung nach sich, die auf ganz ungekünstelte und organische Weise das paradoxe Kunststück zustande bringt, gleichzeitig kleingliedrig und großräumig zu sein. Der Motor dieser Entwicklung ist eine atemberaubend kunstvolle motivische Verflechtung über schroffe Charaktergegensätze hinweg. Der ganze Satz ist zudem ein Exzeß an Verknappung, der sicher auch einen Großmeister der Komprimierung wie etwa Anton von Webern mit Bewunderung erfüllt hat – einen solchen Kosmos an Ideen und Stimmungen auf gerade 147 Takten hat es wohl nicht oft in der Musikgeschichte gegeben.

Das „Herzstück“ des Satzes – in der engeren Bedeutung des Wortes – ist das folgende Adagio con molto sentimento d’affetto (d-moll). Gläubige Hingabe und verhaltener Zweifel, schmerzliche Beklommenheit und beseligende Gelöstheit sind hier innigst verwoben und in ein auf unnennbare Weise berührendes Gleichgewicht gebracht. Mit kühnen, aber nahezu absichtslos anmutenden Modulationen öffnet sich der Satz zur unmittelbar anschließenden Schlußfuge (Allegro fugato, D-Dur), die man in Analogie das „Kopfstück“ der Sonate nennen könnte. Über Generationen hinweg hat dieser Satz gleichermaßen bewunderndes wie verständnisloses kopfschütteln ausgelöst – Beethovens Zuversicht, daß die Zeit auch für solch einen Satz einmal reif sein würde, hat sich nur sehr unvollkommen bestätigt. Gewiß, das Ohr des modernen Hörers ist durch ein Stahlbad an Härten gegangen, das es ihm ermöglicht, die Kühnheiten Beethovens ungerührt zu überstehen. Aber Verständnis? Wieviele heutige Hörer würden sich nicht der Meinung des Berliner Beethoven-Apostels Adolf Bernhard Marx anschließen, der 1824 schrieb:

„Eine Fuge wie diese vorliegende aber wird schwerlich Jemandem gefallen können. Sie klingt 1. nicht und 2. erweckt sie keine bestimmte Empfindung. Das Thema ist für eine so ernste Durchführung zu lustig und kontrastirt auch desshalb mit den beiden vorigen Sätzen zu grell. Wie viel lieber hätten wir statt dieser Fuge einen andern Satz, ein Beethovensches Finale gehört!…“

Eine Fuge hat also, wenn sie sich schon unter ein aufgeklärtes Publikum wagt, in feierlicher Staatsrobe zu erscheinen. Die Messalliance zwischen tänzerischem Übermut und kontrapunktischem Scharfsinn ist und bleibt ein Ärgernis – man will doch schließlich wissen, woran man nun wirklich ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Antike Berauschtheit und Erleuchtung in Eines verschmelzen lassen konnte, hat unser kritischer Geist gründlich wegrationalisiert: hie Dionysos, da Apoll. Sollten wir Beethoven nicht dankbar sein dafür, daß er uns im polyphonen Höhenflug dieser wenigen Minuten über die gutbewachten Grenzen unserer wohlgordneten Ästhetik hinwegträgt?

© by Claus-Christian Schuster