Dmitrij Shostakovitch
* 12. September 1906
† 09. August 1975
Sonate für Violoncello und Klavier, d-moll, op.40
Komponiert: | Moskva – Sankt-Peterburg, 14. August – 19. September 1934 |
Widmung: | Viktor L´vovic Kubackij (1891-1970) |
Uraufführung: | Sankt-Peterburg („Leningrad“), Kleiner Saal der Philharmonie, 25. Dezember 1934 Dmitrij Schostakowitsch, Klavier Viktor L´vovic Kubackij, Violoncello |
Erstausgabe: | Triton, Sankt-Peterburg („Leningrad“), 1935 |
Den Frühsommer 1934 verbrachte Schostakowitsch im Erholungsheim des Bol´shoj Teatr in Polenovo an der Oka. In diesem Ort, der früher Borok hieß, hatte der große russische Maler Vasilij Polenov (1844-1927), einer der Mitstreiter der „Peredvizhniki“, von 1892 bis zu seinem Tode gelebt und gearbeitet; jetzt, nach der Enteignung des Besitzes und der von Stalin angeordneten Deportation von Polenovs Kindern, hatte man hier eine Ferienstation eingerichtet.
Rund einhundertzwanzig Kilometer südlich von Moskau liegt Polenovo mitten in einer dem russischen Herzen besonders teuren Landschaft, etwa auf halbem Weg zwischen Tschechows Wohnort Melichovo und Jasnaja Poljana, dem Landgut Lev Tolstojs. Es gibt in dieser Gegend kaum einen Ort, der nicht in irgendeiner Verbindung mit dem Leben eines großen Malers, Dichters oder Komponisten stünde. Dem unspektakulären, epischen Reiz dieser Landschaft erlag auch Sergej Prokofjev, der ein Jahr später als Schostakowitsch Gast in Polenovo war und hier an „Romeo und Julia“ (op.64) arbeitete und die „Detskaja muzyka“ („Kindermusik“) op.65 schrieb, in der der Zauber dieser ländlichen Idylle unüberhörbar nachklingt.
1934 war unter den Gästen zusammen mit Schostakowitsch auch Viktor L´vovic Kubackij, der bis 1921 Solocellist des Bol´shoj Teatr gewesen war und 1920 eines der ersten sowjetischen Streichquartette, das Stradivarius-Quartett, gegründet hatte. Er war dem Komponisten nicht unbekannt: Schostakowitsch hatte nicht lange zuvor in der Wohnung von Viktors Vater Lev, der ebenfalls lange Jahre als Cellist und Dirigent am Bol´shoj Teatr gewirkt hatte, den Künstlern des Theaters seine im Dezember 1932 beendete Oper „Ledi Makbet Mcenskogo uezda“ („Die Lady Macbeth des Mzensker Kreises“) vorgespielt – und die Direktion hatte daraufhin die Aufführung des Werkes für Anfang 1935 in Aussicht genommen. In Polenovo kamen Viktor Kubackij und Schostakowitsch einander näher, und als Schostakowitsch nach zweimonatigem Aufenthalt im August nach Moskau fuhr, hatte er dem Freund die Komposition einer Cellosonate versprochen. Noch in Moskau nahm er das Werk in Angriff, und schon fünf Wochen später, bald nach seiner Rückkehr nach Sankt-Peterburg, konnte er die Sonate beenden.
Eigentlich hätte der Sommer ja der Komposition einer Opernfarce gewidmet werden sollen; aber die Arbeit daran war schon in Polenovo nach kurzer Zeit ins Stocken geraten. Ein anderes, weit ehrgeizigeres Projekt befand sich damals gerade erst in der Anfangsphase: die Komposition der IV. Symphonie. Daß Schostakowitsch diese Arbeit unterbrach, um die Cellosonate zu schreiben, hat sicher tiefere Gründe als das Kubackij gegebene Versprechen. Die IV. Symphonie sollte das Schmerzenskind des Komponisten werden: Nachdem er das Werk 1936, am Höhepunkt der ersten gegen ihn gerichteten stalinistischen Denunziationscampagne, schließlich beendete, wurde er gezwungen, auf die – schon fixierte und einstudierte – Uraufführung zu verzichten; erst fünfundzwanzig Jahre später durfte Kirill Kondrashin die Symphonie aus der Taufe heben.
Es ist wohl nicht zu bestreiten, daß die frische Erinnerung an Polenovo und die dort – etwa bei der Lektüre der Erzählungen Turgenevs – besonders lebendig heraufbeschworenen Bilder in der Cellosonate Spuren hinterlassen haben; aber den Augen des Komponisten wird wohl nicht entgangen sein, was hinter der scheinbaren Idylle kaum zu verbergen war: und man sollte gewärtig sein, auch die Spuren dieser Einsichten hier wiederzufinden.
Da Schostakowitsch in den Jahren 1933/34, vor allem nach den triumphalen und fast gleichzeitigen Petersburger (22. Jänner 1934) und Moskauer (24. Jänner 1934) Premieren der „Lady Macbeth“, im Zenith seines jungen Ruhmes stand, haben etliche Kommentatoren den gegenüber den Kühnheiten dieser Oper deutlich veränderten Ton der Werke dieser Zeit – der Präludien op.34, des Klavierkonzertes op.35 und unserer Sonate – als Ausdruck vorauseilenden Gehorsams betrachtet: Schostakowitsch habe sich mit einer „gemäßigten“, „allgemeinverständlichen“, ja „konservativen“ Tonsprache den Positionen der staatlich verordneten Ästhetik angenähert. Der rasche Erfolg der Sonate, um deren Aufführung die russischen Cellisten beim Komponisten Schlange standen, und die sofort auch im Ausland von Stars wie Pjatigorskij und Fournier ins Repertoire genommen wurde, hat ein übriges dazu beigetragen, daß dieses Werk bis heute weithin als unproblematisch und nicht besonders tiefschürfend gilt.
Wie grundfalsch diese Einschätzung ist, wird jeder erfahren können, der sich etwas eingehender mit dieser Partitur beschäftigt. Wer den provokanten, bissigen Schostakowitsch der Oper „Nos“ („Die Nase“, op.15, 1927/28) sucht, wird hier freilich nicht fündig. Der Komponist hat seine alles andere als konventionelle Aussage in eine Ebene verlegt, deren Erfassung genaues Hinhören voraussetzt. Einem Zuhörer, der diese Herausforderung annimmt, wird sich der erste Satz des Werkes (Allegro non troppo, im Autograph: Moderato) nicht als das balladesk-sentimentale Stück darstellen, für das es oft genommen wird. Er wird hinter dem, was einer nach formalen Schemata lechzenden Musikwissenschaft mit Kennermiene „Spiegelreprise“ zu benennen gefällt (die spiegelbildliche Umkehr der Abfolge von Haupt- und Nebensatz in der Reprise), etwas völlig anderes erkennen: nämlich die erbarmungslose Deformation und unumkehrbare Entseelung des Hauptthemas. Denn was von diesem Hauptthema, das gewiß eine der eingängigsten Trouvaillen des Melodikers Schostakowitsch ist, am Schluß des Satzes in der Leichenstarre des Largo übrigbleibt, ist wirklich nur mehr eine verlassene Hülle. Vor diesem Hintergrund gewinnt dann auch das Seitenthema, das dem Unbeteiligten süßlich und gefällig erscheinen mag, eine Dimension der Klage, die es der Region des Rührseligen ein für allemal entrückt. Das abschließende Ostinato kündigt schon von ferne den Starrkrampf des Englischhorns am Ende des zyklopischen ersten Satzes der IV. Symphonie an – ein Indiz mehr gegen die behauptete „Harmlosigkeit“ dieser Musik. (Mehr als vierzig Jahre später wird übrigens ein solches Quarten-Ostinato, als letztes Ereignis in der sein Œuvre beschließenden Bratschensonate op.147, Schostakowitschs letztes Wort sein.)
Im darauffolgenden Scherzo (Allegretto, im Autograph: Moderato con moto, a-moll) scheint diese Tragödie keine Spuren hinterlassen zu haben, oder vielmehr: Dieses Scherzo kennt gar keine andere Aufgabe, als jede Spur dieses Geschehens für immer zu verwischen. Das funebre Quartmotiv, mit dem das Hauptthema des ersten Satzes zu Grabe getragen wurde, wird hier (trotz der anderen Tonart notenident!) in atemlos bemühter Geschäftigkeit zu Skalenfragmenten umgekehrt, über denen sich ein holzschnittartiges „folkloristisches“ Tanzthema austobt. Das von Flageolett-Glissandi und Arpeggi begleitete Trio (D-Dur) versucht, aus diesen manischen Skalenfragmenten eine bukolische Idylle hervorzuzaubern, durch die eine Zinnsoldatenparade und für einen Augenblick auch eine Sennerin als schattenhafte Irrläufer geistern (auch tonartlich – As-Dur vor dem D-Dur-Hintergrund – durch den charakteristischen Tritonusabstand als solche gebrandmarkt). In der ganz gerafften und völlig unvermittelten Coda erscheint dann dieses „bukolische“ Thema plötzlich bis auf die Zähne bewaffnet. (Die Schlußgeste, wieder eine abrupte und willkürliche Tritonusrückung, diesmal von Es-moll nach A-moll, wird Schostakowitsch am Schluß des analogen, aber ungleich radikaleren Satzes der Violinsonate spiegelbildlich wiederholen.)
Doch alle Mühen der Verdrängung erweisen sich als vergeblich: Mit dem Largo (h-moll) wird nicht nur äußerlich die Gangart der Beisetzung des ersten Satzes wieder aufgenommen. Bemerkenswert ist allein schon die gezielte Anwendung des H-moll-Topos als eines elegischen Archetyps. Das klagende Recitativ, mit dem der Satz beginnt, wird zweimal wiederholt, das erste Mal wieder um das aussagekräftige Intervall eines Tritonus, das zweite Mal um eine kleine Terz nach unten transponiert. Dazwischen tritt ein achttaktiges Thema, das – über einem die Skalenfragmente des Scherzos in unendlich gedehnte, schleppende Schritte verwandelnden Baß – um ein punktiertes Dreitonmotiv kreist. Dieses Motiv gliedert auch die Fortsetzung des Gesanges in das Thema paraphrasierende „Variationen“ (drei davon vor der ersten, zwei vor der zweiten Wiederholung des Recitativs). Diese eigenwillige statische Form entspricht vollkommen dem Inhalt des Satzes, dessen Sinn sich nur im Rückblick auf das Geschehen des Kopfsatzes erschließt.
Das Finale des Werkes (Allegro, im Autograph: Allegretto) scheint, befreit von dessen manischen Zügen, die burleske Stimmung des Scherzos weiterführen zu wollen. Es präsentiert sich als ein Kettenrondo der Gestalt ABACADA-Coda. Die frühklassische Modelle parodierende Textur des Ritornells (A), der spöttische Ton der hier unangefochten dominierenden Marschelemente sowie schließlich die einen vulgären Foxtrot evozierende zweite Episode (C) – all das schafft eine Atmosphäre spielerischer Distanz und artifizieller Stilisierung. Gestört wird diese Eindimensionalität durch die wirkungsvoll placierten Eckepisoden (B, D), die dieser fast rokokohaften Nonchalance Bilder von roher Kraft entgegensetzen; vor allem die letzte dieser Episoden (D) wirkt entschieden wie ein Fremdkörper und enthält in nuce ein wenig von der barbarischen Frenetik, auf der die unwiderstehliche Wirkung des berühmten Presto-Fugatos im ersten Satz der IV. Symphonie beruht.
Wie der Komponist selbst sein Werk einschätzte, erhellt vielleicht am besten aus der Tatsache, daß er es – zusammen mit der Violinsonate und der damals erst zu schreibenden Bratschensonate, die sein letztes Werk wurde (op.147) – im Mai 1975 für den zur Eröffnung der folgenden Saison der Petersburger Philharmonie geplanten Autorenabend auswählte, den er selbst nicht mehr erleben sollte.
© by Claus-Christian Schuster