Paul Hindemith
* 16. November 1895
† 28. Dezember 1963
Sonate [Nr.2] für Violoncello und Klavier, E-Dur (1948)
Komponiert: | New Haven, CT, , Februar – 8. März 1948 |
Erstausgabe: | Schott, Mainz, 1948 |
Neben „seiner“ Bratsche lag Hindemith das Cello ganz besonders am
Herzen: nicht zufällig ist sein erstes großformatiges Werk ein Konzert
für Violoncello und Orchester (op.3, komponiert 1916), dem er später
(1925 und 1940) noch zwei Werke der selben Gattung folgen ließ.
Hindemiths erste veröffentlichte Komposition waren Drei Stücke für
Violoncello und Klavier (op.8, 1917). Das Violoncello war das Instrument
des Bruders und Quartettkollegen Rudolf ebenso wie von Hindemiths Frau
Gertrude. Für sie schrieb der Komponist neben den großen repräsentativen
Cellowerken zwischendurch auch Hausmusikalisches, wie etwa die Drei
leichten Stücke (1938), die Variationen über „A frog he went a courting“
(1941) oder die Kleine Sonate (1942).
Von der Lektüre mit Walt Whitman angeregt hatte Hindemith im Sommer 1919
eine dreisätzige Sonate für Violoncello und Klavier (op.11 Nr.3)
geschrieben, die er zwei Jahre später radikal umarbeitete und in dieser
neuen, zweisätzigen Form 1922 drucken ließ. War 1919 mit der Erstfassung
dieses Werkes in Hindemiths kompositorischer Entwicklung ein Punkt
kritischer Labilität erreicht, so wird nun, fast drei Jahrzehnte später,
mit einem Werk der selben Gattung ein Punkt letzter und reifster
Klarheit markiert. Mit Recht gilt die zweite Cellosonate als das
bedeutendste kammermusikalische Spätwerk des Komponisten.
Der erste Satz läßt uns mit der Bezeichnung Pastorale (in E) ein
lyrisches Vorspiel erwarten. Zunächst scheint diese Erwartung auch
erfüllt zu werden: in freiem Dialog zwischen den beiden Instrumenten
wird eine schier endlose Melodie ausgesponnen, deren Reiz vor allem in
ihrem ungezwungenen Parlando liegt. Von subtilen metrischen Raffinessen
immer weiter gelockt, durchschreiten wir drei Tonräume, die gleichzeitig
thematischen Abschnitten entsprechen und sich über teils real
klingenden, teils auch nur angedeuteten Orgelpunkten (über E, Gis und
Des) entfalten. Das darauffolgende Fugato, in dessen Themenkopf man ein
„amerikanisches“ Zitat, nämlich den Anfang des Spirituals „Oh, when the
Saints…“ hören kann, bringt fast unmerklich eine dynamische Bewegung
in Fluß, die den pastoralen Ausgangscharakter des Stückes bald weit
hinter sich läßt und in der Satzmitte schließlich in einem wuchtigen
Akkord-Duell kulminiert. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung läßt
Hindemith unvermittelt den letzten Abschnitt der Exposition anklingen,
der uns dann in einem jähen Decrescendo zur eigentlichen Reprise
zurückführt. Wie nach diesem Vorgang schon zu erwarten war, erscheinen
nun die einzelnen Formglieder wesentlich verändert und in neuer Reihung.
Besonders originell ist die rhythmische Bereicherung, die der Komponist
aus einer dem ersten Thema neu unterlegten Begleitfigur gewinnt
(Überlagerung von Drei- und Zweihalbentakten). Dazwischen drängt sich
aber immer wieder das Fugatothema vor, das schließlich auch das letzte
Wort behält. Der ganze Satz ist also eine durch die dynamische Verve des
Fugatos monumentalisierte Pastorale, die schon auf die
Schlußpassacaglia hinzuweisen scheint.
Der marschartige Unterton, der sich mit dem Fugatothema in die
melodienselige Grundstimmung des Kopfsatzes eingeschlichen hat, gewinnt
im nun folgenden Satz (Mäßig schnell – Langsam – Tempo I, in Cis) die
Oberhand. Aber natürlich verabsäumt der listenreiche Komponist nicht,
uns immer wieder einmal über eingeschmuggelte Fünfvierteltakte stolpern
zu lassen. Doch auch hier erwarten uns viel wesentlichere
Überraschungen: urplötzlich verebbt die burschikose Heiterkeit des
Satzes – der Stimmungswechsel vollzieht sich über der Umkehrung des
selben, durch Dehnung markierten Tonschrittes (g-as), der im ersten Satz
den Eintritt des Fugatos bezeichnet hatte. Der jetzt folgende
Mittelteil vertritt die Stelle des langsamen Satzes; die Zusammenziehung
der beiden traditionellen Mittelsätze in einen einzigen Satz erfolgt
also spiegelbildlich analog dem im Mittelsatz der letzten Violinsonate
angewandten Verfahren. Reminiszenzen an diesen Satz werden auch in der
verfremdeten Reprise des Scherzoteiles geweckt: diesmal ist es das
Klavier, das mit gespenstisch dahinhuschenden Chromatismen das frische
Ausschreiten des Marschthemas desavouiert.
Als Schlußstein einer großen musikalischen Architektur eignet sich wohl
keine andere Form besser als die Passacaglia; und obwohl Hindemith hier,
anders als Brahms im Finalsatz seiner IV. Symphonie, ja nur ein
individuelles Werk und nicht eine ganze Werkgruppe beschließt, erscheint
die Monumentalität dieser Krönung durchaus gerechtfertigt. Das Thema
dieser Passacaglia (in E) steht zunächst in schroffem Gegensatz zum
Material der vorangegangenen Sätze. Von der Kantabilität der Pastorale
oder der beschwingten Elastizität des Scherzos ist hier nichts zu
spüren: die fast tyrannisch dominierenden Septimsprünge geben ihm ein
erratisch-wuchtiges Aussehen. Den weit-gespannten Intervallen
entsprechen extreme dynamische Kontraste und harsche Dissonanzen.
Vierundzwanzig mal wird dieses siebentaktige Modell variiert, wobei die
Linie des Passacaglienbasses manchmal bis an den Rand der
Unkenntlichkeit in Figurationen aufgelöst erscheint und auch die ganze
Amplitude charakterlicher Veränderungen ausgeschöpft wird. Dann
unterbricht ein kurzes Fugato, in dem sich auch die unregelmäßigen
Metren der vorangegangenen Sätze wieder zu Wort melden, den Ablauf.
Anstelle des erwarteten fugierten Schlusses setzt aber schon nach
wenigen Takten das unerbittliche Passacagliathema sein Recht durch und
treibt das Stück, aufgeheizt durch den motorischen Eigensinn des
Fugatomotivs, zu einem gleichsam mit Ingrimm triumphierenden Ende.
© by Claus-Christian Schuster