Joseph Haydn
* 31. März 1732
† 31. Mai 1809
Trio Es-Dur Hob.XV:30
Komponiert: | Wien, beendet vor dem 9. November 1796 |
Uraufführung: | nicht dokumentiert |
Erstausgabe: | Artaria, Wien, Oktober 1797 |
Schon am 16. April 1796 kündigt Haydn seinem Verleger Christoph Gottlob Breitkopf – „nur noch ein wenig geduld, Sie werden Geld und Music erhalten“ – die Übersendung dieses Werkes an, das er aber dann doch erst am 9. November 1796 abschicken kann. Die „versprochene Claviersonate“ ist Haydns letztes Klaviertrio und ein würdiger Abschluß für diese in der Geschichte unseres Genres einzigartige Werkreihe; sie ist darüber hinaus auch Haydns letzte Komposition für Klavier – alle weiteren Pläne sind über das Entwurfstadium nicht hinausgediehen. An Weite der Anlage und harmonischem Reichtum übertrifft dieses Trio fast alle seine Vorgänger, unter denen es allerdings einige gibt, die formal und idiomatisch noch weiter in bis dahin unerforschtes Neuland vordringen.
Der erste Satz (Allegro moderato) entfaltet einen sogar für Haydn ungewöhnlichen Ideenreichtum. Man hat in etlichen Details ebenso wie in der Gesamtanlage dieses prächtigen Satzes den Nachklang mozartischer Modelle zu hören gemeint; mir scheint aber eher, daß Haydn hier in größter Abrundung und Vollendung die Quintessenz seiner ureigensten Errungenschaften und Erfahrungen vorlegt – und nur in dieser Brechung ist natürlich auch der Schatten Mozarts gegenwärtig. Die Exposition quillt förmlich über von thematischem Material, das auf subtilste Weise miteinander verknüpft wird. Eben diese Verknüpfung ist es, in der Haydn seine ganze Meisterschaft erweist. Ein unscheinbares Motiv, das im ersten Takt als Begleitung versteckt auftritt, dient in den verschiedensten Metamorphosen als Klammer zwischen den einzelnen Formteilen. Zwei voll entwickelte Hauptthemen werden vor uns ausgebreitet, bevor uns eine Variation des ersten gleichsam durch einen Nebeneingang zum Seitensatz führt. Bei dieser Gelegenheit tritt ein zweites, in der Tat ganz mozartisch anmutendes Klammermotiv (eine Achtelkette von „Sospiri“) auf, das sich zuvor an unscheinbarer Stelle im zweiten Hauptthema verborgen hatte und erst nun seine Wandlungsfähigkeit erweisen kann. Bemerkenswert und außergewöhnlich ist die Wahl der Molldominante als Tonart für das zweite Seitenthema – einer Tonart, die im Idiom der Wiener Klassik meist ein Vorbote außergewöhnlicher Komplikationen ist, zumal wenn sie an so prominenter Stelle auftritt. Hier kündigt sie aber nur die erstaunliche Erweiterung des harmonischen Horizontes an, die uns in der Durchführung erwartet. Dabei erweist sich wieder einmal, daß auch entfernteste Tonarten nicht willkürlich, einer Genielaune folgend, sondern nur in Erfüllung einer inneren organischen Notwendigkeit aufgesucht werden. So erstaunt es uns nicht, gleich am Eingang der Durchführung nacheinander jene Trabantentonarten von Es-Dur zu finden, die uns schon aus anderem Zusammenhang vertraut sind (vgl. Hob.XV:29 und Hob.XV:31): Das erste Hauptthema erscheint in Ces(H)-Dur, während uns das zweite unmittelbar darauf in einer es-moll-Verkleidung entgegentritt. Von hier aus führt uns Haydn gleichsam auf einem Saumpfad über Des-Dur, es-moll, f-moll und c-moll zurück zur Tonika, von der die nach all diesen Abenteuern unerwartet regelmäßige Reprise ihren Ausgang nimmt.
Auch der zweite Satz (Andante con moto, C-Dur) verrät in jedem Takt den reifen Meister. Der für einen langsamen Satz eher ungebräuchliche Dreiachteltakt (von Haydn in keinem seiner anderen Trios in dieser Funktion verwendet) sorgt für einen leichten Fluß, der uns scheinbar schwerelos über das chromatisch blühende Terrain trägt. Der rastlosen Modulatorik der Ecksätze steht hier eine unerschütterliche Stabilität gegenüber – die Grundtonart C-Dur herrscht uneingeschränkt über den ganzen Satz. Allerdings ist diese Tonart selbst (Variante der Mollparallele) schon eine kleine Kostbarkeit: Haydn scheint eine besondere Vorliebe für diese nicht sehr naheliegende Verwandtschaft besessen zu haben – in seinen späten Trios kommt sie gleich viermal vor (Hob.XV:20, Hob XV:25, Hob.XV:27, Hob.XV:30) -, und Beethoven hat diese Neigung vielleicht von seinem Lehrmeister geerbt, wie sich etwa aus seinen aus eben dieser Zeit stammenden Werken op.1/Nr.2 (Klaviertrio G-Dur) und op.7 (Klaviersonate Es-Dur) schließen ließe. (Übrigens werden wir Beethoven noch ein gutes Jahrzehnt später diesem Erbe treu finden – und zwar wieder in einem in Es-Dur stehenden Schlüsselwerk der Klaviertrioliteratur: op.70/Nr.2). – Die Form des Satzes ist die „gewöhnliche“ dreiteilige Liedform – aber mit welchem Raffinement und welcher Freiheit gehandhabt! Durch dezent eingesetzte Asymmetrie versteht Haydn es, dem ganzen Satz einen Anschein improvisatorischer Freiheit zu geben. Vor allem aber gelingt ihm das seltene Kunststück, die Wiederholung des Hauptteils durch Angleichung der Textur und Vertauschen einzelner Abschnitte so innig mit dem Mittelteil zu verschmelzen, daß das (üblicherweise in langsamen Sätzen durchaus erwünschte) statische Element dieser Bauart völlig aufgehoben erscheint.
Nicht einmal für die Überleitung zum attacca anschließenden Presto wird die Grundtonart des zweiten Satzes verlassen. Direkt von der Dominante G-Dur aus werden wir in den ungebändigten Übermut dieses entfesselten „Deutschen Tanzes“ entlassen. Hier erklärt sich auch rückblickend, warum dem Komponisten so sehr an der Aufrechterhaltung des Flusses und der Dynamisierung der Form im Andante gelegen war. Er hat nämlich auch für diesen Schlußsatz die dreiteilige Form gewählt, wobei der Tanzcharakter eine „genaue“, unverschleierte Reprise wünschenswert erscheinen ließ. Durch die so grundsätzlich andere Handhabung des gleichen Formschemas im vorhergehenden Satz vermeidet er auch den leisesten Anflug von Stereotypie. Im Mittelteil finden wir wieder unsere alten Bekannten es-moll und H-Dur in fulminanter Aktion – diesmal in kroatischer Bauerntracht. Eine geistreiche und brillante Coda setzt einen lapidaren Schlußpunkt unter Haydns letztes Klaviertrio.
© by Claus-Christian Schuster