Schönberg: Sonett CCXVII von Petrarca (op.24/IV, arr. von Felix Greissle)

Arnold Schönberg

* 13. September 1874
† 13. Juli 1951

Sonett CCXVII von Petrarca (op.24/IV, arr. von Felix Greissle)

Komponiert:Mödling (Bernhardgasse 6), vor dem 8.Oktober 1922 bis 29. März 1923
Uraufführung:Original:
privat: Wien (Krugerstraße 17), 2. Mai 1924
öffentlich: Donaueschingen, Musikfest der IGNM, 20. Juni 1924

Bearbeitung:
nicht dokumentiert
Erstausgabe:Wilhelm Hansen, Kobenhavn, 1925 (Original und Bearbeitung)

Sonett CCVVII von Petrarca
(IV. Satz aus der Serenade für Klarinette, Baßklarinette, Mandoline, Gitarre, Geige, Bratsche, Violoncell und eine tiefe Männerstimme;
autorisierte Übertragung für Violoncell solo, Geige und Klavier von Felix Greissle)


Am kompositorischen Weg Schönbergs ist die Serenade op.24 ein Meilenstein, und innerhalb dieses siebensätzigen Werkes kommt wieder dem Sonett ganz besondere Bedeutung zu: Es nimmt nicht nur formal die Mitte des Werkganzen ein, sondern ist auch inhaltlich dessen „Herzstück“, ein Umstand, der nicht zuletzt durch die Instrumentation (das Erscheinen der Singstimme) zur Geltung gebracht wird. Schönberg hat diesen Satz oft als Paradigma seiner kompositorischen Prinzipien zitiert und auf die außergewöhnliche Stellung dieser Komposition innerhalb seines Lebenswerkes hingewiesen. Eines dieser Selbstzeugnisse ist besonders gut geeignet, uns in die Problematik des Sonetts einzuführen:

„Dieser Satz ist spätestens 1920 komponiert, ich glaube aber, er dürfte 1919 konzipiert sein. Er ist eines der ersten Stücke, in denen sich die 12 Ton-Technik als x-Technik ankündigt. Hier handelt es sich um 14 Töne. Die Arbeitsweise aber ist die der 12 Ton-Technik. Das Interessante an diesem Stück sind nur die Zahlenverhältnisse, die hier durchaus bewußt als Konstruktion zugrundegelegt wurden.“
(Arnold Schönberg, September 1928)

Dieser letzte Satz, der ganz offensichtlich „romantische“ Opposition provozieren möchte, stellt eine Verbindung zwischen dem Sonett und einer aus dessen Entstehungszeit stammenden Prosaskizze Schönbergs her, die den Titel Kunst-Golem trägt:

„…Würde ein Denker (ohne Zuhilfenahme der Phantasie) ein gedanklich wirklich gut erdachtes Tonstück herstellen, das alle aus einer richtigen Erkenntnis der künstlerischen Bedingungen sich ergebenden Gesetze gut berücksichtigt, so müßten sich in uns dafür die Gefühle ebenso finden, wie für solche Gebilde, die auf dem rein gefühlsmäßigen Wege der Phantasie hergestellt werden. Es ist unwahrscheinlich, daß ein solcher Kunst-Golem herstellbar ist; wäre er es aber, so wäre gegen seine künstliche, gedanklich-trockene Herkunft kein Einwand stichhältig.”
(Arnold Schönberg, Traunkirchen 15. August 1922.)

Wendet man sich aber dem ersten Teil der Aussage von 1928 zu, so entdeckt man zwei ganz erstaunliche Ungenauigkeiten. Zunächst das Kompositionsdatum: Die erste Spur der Arbeit am Sonett, die dreitaktige Keimzelle der zugrundeliegenden Reihe, findet sich in einem Arbeitsheft (Kleines Skizzenbuch IV, Skizze 811) zwischen Eintragungen vom 31. Mai und vom 8. Oktober 1922. Dieses letztere Datum trägt auch die geänderte Endfassung der Reihe auf einem Einzelblatt (Nr. 860 a/b). (Auf die zeitliche Nähe zu den Kunst-Golem-Gedanken sei hier noch einmal hingewiesen.) Die Erstniederschrift des ganzen Satzes in Particellform entstand einige Monate danach (16.-29. März 1923), und die Reinschrift trägt das Schlußdatum 19. April 1923. Aufgrund dieser Quellenlage läßt sich unschwer ableiten, daß Schönbergs Datierung von 1928 schlicht unrichtig ist. Sollte es sich nicht einfach um einen Gedächtnisfehler des Komponisten handeln, so könnte der – 1928 schon lange an die Öffentlichkeit gedrungene – unselige „Wiener Prioritätsstreit“ um die „Erfindung“ der Zwöftontechnik zwischen Arnold Schönberg und Josef Matthias Hauer eine Erklärung für die Fehldatierung bieten. Auch das Auftauchen der ominösen Jahreszahl „1919“ ließe sich mit dieser Hypothese recht leicht in Einklang bringen: 1919 ist das Entstehungsjahr von Hauers Klavierstück Nomos op.19 (25.-29. August 1919), in dem dessen „Zwölftonregel“ das erste Mal in Erscheinung tritt.
Ließe sich also diese erste Ungenauigkeit noch einigermaßen schlüssig erklären, so ist die zweite schon weit kryptischer: Schönberg spricht 1928 von „14 Tönen“, obwohl schon die oberflächlichste Betrachtung des Satzes klarstellt, daß es sich tatsächlich um 12 Töne handelt. Ob es sich hier um einen Flüchtigkeitsfehler (etwa in Zusammenhang mit den 14 Verszeilen des Sonetts) oder aber um eine absichtsvolle Mystifikation handelt, wird nicht leicht zu entscheiden sein.
Auf die konstruktiven Zahlenverhältnisse, die der Architektur des Stücks zugrundeliegen, kommt Schönberg auch in einem Brief an Josef Matthias Hauer zu sprechen, dessen kollegialer Ton übrigens zeigt, daß Schönberg in Hauer noch 1925 weder einen Rivalen noch einen Plagiator sah:

„Ich wollte gerne über manches mit Ihnen sprechen. Z. Bsp. über ein Buch von Wilhelm Werker […] »Studien über die Symmetrie der Bachfugen«. Mich interessiert das Buch sehr. […] Ich glaube, wir arbeiten am selben Gegenstand: ich meine, Sie, er und ich, und er dürfte in gewisser Hinsicht – in der Anschauungsart – in der Mitte zwischen uns beiden stehen. […] Auch ich habe bereits in ähnlicher Richtung gedacht und gesucht. Auch gefunden. Aber anderes. Z. B. habe ich auch in meinen eigenen Werken bereits Zahlensymmetrien betrachtet. Etwa im I. Quartett, wo sovieles durch 5 teilbares unbewußt vorkommt. Oder in der Serenade, wo in den Variationen 2 x 14 Töne in 11 Takten das Thema bilden und der ganze Satz – bewußt 77 Takte lang ist. […] Oder im Sonnet mit seinen 14 elftaktigen [recte: elfsilbigen] Verszeilen. Vielleicht haben Sie einmal Zeit, mich zu besuchen.“
(Arnold Schönberg an Josef Matthias Hauer, Mödling, 5. Jänner 1925)

Jedenfalls stellt das Sonett einen Sonderfall der „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ dar. Schönberg verzichtet hier auf die Verwendung von Modi (Krebs, Umkehrung, Krebsumkehrung) und Transpositionen. Das 12-tönige Thema erscheint in der Singstimme (die Greissle in der Bearbeitung dem Violoncello anvertraut) als Melodie, in den Begleitstimmen motivisch fragmentiert und in vertikaler Schichtung („harmonisch“) als Akkordfolge. Dabei ergibt sich aufgrund der metrischen Konfiguration des Sonetts (14 elfsilbige Verszeilen, gegliedert in je zwei Vier- und Dreizeiler) und der rein syllabischen Vertonung, daß der zwölfte Ton der Singstimme (also der Abschlußton der Zwölftonreihe) mit der ersten Silbe des zweiten Verses zusammenfällt, und auf diese Weise jede Verszeile der Reihe nach mit einem anderen Ton beginnt: die Anfangstöne der Verse 2-13 bilden also akrostichisch den Krebs der Zwöftonfolge. Die aus der gewählten Organisationsform des Ganzen resultierende Dominanz der Reihe in ihrer Urgestalt erfordert, daß die Intervallverhältnisse dieser Reihe besonders ausgewogen seien. Aus diesem Grund hat Schönberg seinen ursprünglichen „Einfall“, in dem nicht weniger als fünf der elf Intervallschritte ident waren, in einem zweiten Arbeitsgang modifiziert:

ursprüngliche Gestalt – E D Es Des C H Fis F A Gis G B
endgültige Gestalt – E D Es Ces C Des As Ges A F G B

In dieser Form bot die Reihe nun jene Flexibilität, die Schönberg für die Umsetzung der exaltierten Rhetorik des Gedichtes in eine entsprechend dramatische musikalische Gestik brauchte. (Daß für den „naiven“, also nicht anhand der Partitur analysierenden Hörer der Unterschied zwischen den beiden Versionen kaum wahrnehmbar wäre, sei nur am Rande vermerkt.)

Felix Greissle (1894-1982), Schüler und seit 1921 Schwiegersohn Schönbergs, dessen Famile damals zusammen mit dem Komponisten das Haus in der Bernhardgasse bewohnte, machte sich unmittelbar nach der Vollendung der Serenade an die Herstellung einer Triofassung, die spätestens im April 1924 abgeschlossen gewesen sein muß; während die anderen Sätze ungedruckt geblieben zu sein scheinen (und als verschollen gelten müssen), wurde die Bearbeitung des Petrarca-Sonetts gleichzeitig mit dem Original veröffentlicht. Da hier das Arrangement durch die erzwungene Weglassung des Textes eine wesentliche Dimension und Wirkungsebene des Werkes vermissen läßt, erscheint es notwendig, auf das zugrundeliegende Gedicht etwas näher einzugehen.

Es ist das sechste und letzte Mal, daß Schönberg einen Petrarca-Text als Vorlage wählt. Die fünf unserem Sonett vorangehenden Vertonungen entstanden sämtlich 1904/05: neben den vollendeten drei Sonetten (op.8 Nr.4-6, 1904) haben sich Skizzen zu zwei weiteren erhalten (Nr.116 – Was thust, was denkst du, Geist, 1904; Nr.214 – O süße Blick´, 1905).
Wahrscheinlich gaben die Feiern aus Anlaß von Petrarcas 600. Geburtstag (1904) den unmittelbaren Anstoß zu diesen Kompositionen. Der tiefere Grund für Schönbergs Interesse an Petrarcas Lyrik liegt aber wohl in der ausgeprägten Künstlichkeit des hier zur Hochblüte gebrachten Stils, der einerseits zu raffinierten Mataphern, Chiffren und Abstraktionen neigt und andererseits ein streng rationales, ja geradezu mathematisch prädestiniertes Formschema verwirklicht.
In allen Fällen bediente sich Schönberg der 1818/19 erschienenen Übersetzung von Karl August Förster (1784-1841), eines von Ludwig Tieck besonders geschätzten Lyrikers aus dem Dresdener Kreis, der auch Dante und Tasso formvollendet übertragen hat – und es ist wohl kein Zufall, daß auch Hans Pfitzner in seiner Petrarca-Komposition (op.24 Nr.3, 1909) auf diese Übertragung zurückgreift. An deutschen Nachdichtungen dieser Texte herrschte wahrlich kein Mangel: Das zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts plötzlich wiedererwachende Interesse an Petrarca ist ja vor allem auf die bahnbrechende Übersetzertätigkeit August Wilhelm Schlegels (1767-1845) zurückzuführen, dessen 1804 erschienenen Blumensträuße italienischer, spanischer und portugiesischer Poesie eine Renaissance der romanischen Sonettdichtung einleiteten – Ende 1818 vertonte auch Schubert zwei der von Schlegel übersetzten Petrarca-Sonette (D 628-D 629) zusammen mit einem von Johann Diederich Gries (1775-1842) übertragenen (D 630). Die Petrarca-Begeisterung der Romantik klingt dann auch in den drei Petrarca-Sonetten (R 578) für Gesang und Klavier und für Klavier solo (Années de Pèlerinage II, R 10b) von Franz Liszt nach.
Schönberg steht also mit seiner Vorliebe für Petrarcas Lyrik in einer wohlgegründeten Tradition – und daß der Komponist für seinen entscheidenden Schritt in kompositorisches Neuland sich gerade diesen literarischen Weggefährten erkor, kommt gewiß nicht von ungefähr: denn wie groß auch immer seine Sehnsucht nach den unentdeckten Kontinenten der Musik (und sein Ehrgeiz, als ihr Entdecker in die Geschichte einzugehen) gewesen sein mag, so unmöglich war es ihm, zu vergessen, von welchen Küsten er aufgebrochen war. Symptomatisch für diesen gleichermaßen forschend in die Zukunft wie andächtig in die Vergangenheit gerichteten Blick des Komponisten sind zwei Details aus der für die Ausprägung der dodekaphonen Technik kritischen Schaffensphase des Komponisten: Unmittelbar vor dem Beginn der Arbeit am Sonett vollendete Schönberg die Orchestrierung zweier Bachscher Choralvorspiele („Schmücke dich, o liebe Seele“, BWV 654, und „Komm Gott Schöpfer, heiliger Geist“, BWV 667); und in das Autograph das bald nach der Serenade in Angriff genommenen Bläserquintetts op.26 schreibt er:

„Ich glaube, Goethe müßte ganz zufrieden mit mir sein.“

Francesco Petrarca
(Arezzo 1304 – 1374 Arquà)

aus: Il Canzoniere (Rerum Vulgarium Fragmenta
Nr.256 (Sonetto CCXVII)

Far potess´io vendetta di colei
Che guardando et parlando mi distrugge
Et, per più doglia, poi s´asconde et fugge,
Celando li occhi a me sì dolci et rei!
Così li affitti e stanchi spirti mei
A poco a poco consumando sugge,
E ´n sul cor quasi fiero leon rugge
La notte, allor quand´io posar devrei.
L´alma, cui Morte del suo albergo caccia,
Da me si parte; et di tal nodo sciolta
Vassene pur a lei che la minaccia.
Meravigliomi ben s´alcuna volta,
Mentre le parla et piange et poi l´abbraccia,
Non rompe il sonno suo, s´ella l´ascolta.


Sonett CCXVII
(übersetzt von Karl August Förster)

O, könnt´ ich je der Rach´ an ihr genesen,
Die mich durch Blick und Rede gleich zerstöret,
Und dann zu größerm Leid sich von mir kehret,
Die Augen bergend mir, die süßen, bösen!
So meiner Geister matt bekümmert Wesen
Sauget mir aus allmählich und verzehret
Und brüllend wie ein Leu ans Herz mir fähret
Die Nacht, die ich zur Ruhe mir erlesen!
Die Seele, die sonst nur der Tod verdränget,
Trennt sich von mir, und, ihrer Haft entkommen,
Fliegt sie zu ihr, die drohend sie empfänget.
Wohl hat es manchmal Wunder mich genommen,
Wenn die nun spricht und weint und sie umfänget,
Daß fort sie schläft, wenn solches sie vernommen.

© by Claus-Christian Schuster