Saint-Saëns: Trio Nr.2, e-moll, op.92

Camille Saint-Saëns

* 09. Oktober 1835
† 16. Dezember 1921

Trio Nr.2, e-moll, op.92

Komponiert:Pointe-Pescade, Saint-Eugène d´Alger (Bab-el-Oued, El Djezaïr), Februar-Mai 1892
Widmung:Anna de Guitaut, geb. Hoskier
Uraufführung:7. Dezember 1892, Paris, Salle Erard
Camille Saint-Saëns, Klavier
Henri Berthelier (1856-1918), Violine
Jules Léopold Loeb (1852-1933), Violoncello
Erstausgabe:Durand, Paris 1892

Daß zwischen den beiden Klaviertrios von Camille Saint-Saëns (1863/64 und 1892) genau der gleiche zeitliche Abstand liegt, der die ersten beiden Klaviertrios von Johannes Brahms (1853/54 und 1880/82) voneinander trennt, ist natürlich nur ein Zufall; aber es ist ein Zufall, der unseren Blick unwillkürlich auf die markanten Divergenzen zwischen den Lebenslinien und Schaffenswegen der beiden Meister lenkt. Brahms ließ seinem Jugendwerk, das er mit „Johannes Kreisler jun.“ signiert hatte, fast drei Jahrzehnte später ein Trio folgen, in dem Überschwang, Exzentrik und Unmaß des Erstlings vollkommen und spurlos überwunden erscheinen – ein Paradigma an gestalterischer Klarheit und Ökonomie; Saint-Saëns hingegen, dem in seinem Opus 18 ein Wunderwerk an kristalliner Eleganz geglückt war, kehrt nach ebenso vielen Jahren als ein Experimentator zum Genre des Klaviertrios zurück: Der fast plakativen „Inhaltslosigkeit“ seines ersten Trios stellt er in Opus 92 einen ganzen Mikrokosmos einander widersprechender Bilder und Stimmungen gegenüber – ein Werk, das der „klassischen“ Perfektion seines Vorgängers bedenkenlos entsagt und in vieler Hinsicht ein Wagnis darstellt.
Am Schicksal, das diesen vier Werken in den Konzertsälen zuteil geworden ist, läßt sich auch die „normative“ Kraft jener Pauschal- und Vorurteile studieren, welche die Rezeption des Gesamtwerkes eines Komponisten weit mehr bestimmen als die Eigenart und Besonderheit jedes einzelnen Werkes: Brahms, der auch heute noch vielen als „Nachklassiker“ gilt, hat selbst – durch die bewußte interpretatorische Vernachlässigung des Werkes und schließlich durch die Komposition einer Neufassung seines Trioerstlings (1889) – dafür gesorgt, daß das beunruhigende Zeugnis romantischer Wirrnis und Maßlosigkeit, jene schicksalsschwere Erstfassung des Opus 8, heute kaum mehr zu hören ist – allein schon die Existenz dieses rätselhaften Findlings in seinem Œuvre ist ja geeignet, alle gängigen Etikettierungen seiner musikhistorischen Position in Frage zu stellen; das C-Dur-Trio aber, in dem das „Typische“ von Brahms´ Kompositionsstil exemplifiziert erscheint, ist im Triorepertoire unverzichtbar und allgegenwärtig. Für Saint-Saëns, der neben seinen vielen beneidenswerten Fähigkeiten und Talenten auch die weniger glückliche Gabe hatte, sich mit unbeirrbarem Eigensinn in allen widerstreitenden ästhetischen, ideologischen, nationalen und politischen Lagern unversöhnliche Feinde zu schaffen, wurde schon bald das Cliché des unverbindlich-formgewandten Kompositionsvirtuosen reserviert, das bis zum heutigen Tag die Sicht auf seine wahren Qualitäten verdeckt. Da sein erstes Trio diesem Bild so viel mehr entspricht als das Opus 92, wurde es bald ein Standardwerk der Trioliteratur, während das jüngere Schwesterwerk am Rande der Unbekanntheit dahindämmert – ein klassisches Beispiel dafür, wie Aufführungspraxis und Cliché einander bedingen.

Wollte man versuchen, dieses annähernd spiegelbildliche Verhältnis der beiden Werkpaare biographisch zu begründen, so würde man eine ganze Menge verwertbarer Anhaltspunkte finden: In der Tat verläuft auch der äußere Lebensweg der beiden Komponisten fast diametral entgegengesetzt – bei Brahms folgen den sehr bewegten Lehr- und Wanderjahren Jahrzehnte bürgerlicher Beständigkeit, als deren sichtbares Symbol die berühmte Wohnung in der Karlsgasse, Brahms´ Heimathafen für mehr als ein Vierteljahrhundert (1871-1897), gelten mag; Saint-Saëns erhält schon mit dreiundzwanzig Jahren das prestigereiche Organistenamt an der Pariser Église de la Madeleine, das er fast zwanzig Jahre lang (1858-1877) getreulich verwaltet, während er, von seiner Mutter und seiner Großtante umsorgt und gefesselt, in der noblen Rue du Faubourg Saint-Honoré residiert. Das Drama seiner zu spät und unter ungünstigsten Vorbedingungen 1875 geschlossenen Ehe, das im tragischen Tod seiner beiden kleinen Söhne (1878) kulminiert und im Sommer 1881 mit der Flucht vor seiner um einundzwanzig Jahren jüngeren Frau jäh endet, markiert den Wendepunkt in der Biographie des Komponisten. Der Tod seiner dominanten Mutter (1888) löst schließlich die letzten Bande, die ihn an Paris und an die Konventionen einer bürgerlichen Existenz fesseln: Am letzten Tag des Jahres 1888 verläßt Saint-Saëns Paris; im Sommer 1889 kommt er wieder, um seinen Haushalt aufzulösen, und an seinem 54. Geburtstag beginnt er jenes legendäre Vagabundenleben, das ihn in den folgenden fünfzehn Jahren in allen erdenklichen Richtungen über den Erdball führen wird. Erst 1904 wird er wieder eine Wohnung in Paris beziehen, ohne jedoch sein Wanderleben aufzugeben.

Die abenteuerlichen Reisen des Camille Saint Saëns, von denen Louis Laloy sagt, sie wären zeitweise berühmter gewesen als seine Kompositionen, kannten einige wenige Fixpunkte: einer davon war Las Palmas auf Gran Canaria, wo der Komponist schon im Dezember 1889 ein Haus mietete, ein anderer die Umgebung von Algier. Hier, in einer Lanschaft die ihm schon viele Jahre zuvor ans Herz gewachsen war, entstand auch der größte Teil unseres Trios.

Algerien, das gegen den heftigen und hartnäckigen Widerstand seiner Bevölkerung, zwischen 1830 und 1847 von Frankreich gewaltsam annektiert worden war, konnte auch damals nicht einmal nach kolonialistischen Maßstäben als „befriedet“ gelten: Während der Wirren des preußisch-französischen Krieges und der Pariser Commune (1870/71) wurde nahezu das gesamte Territorium von den einheimischen Freiheitskämpfern kontrolliert, und als Saint-Saëns im Oktober 1873 das erste Mal nach Algerien kam, war die Lage der französischen Besatzungsmacht noch immer recht prekär. Für den – nach dem Tod seiner „zweiten Mutter“, der Großtante Charlotte Masson (1872), und einer Reihe schmerzlicher Mißerfolge – sehr angegriffenen Komponisten war aber schon diese erste Begegnung zu einem befreienden und beglückenden Erlebnis geworden: Innerhalb weniger Wochen hatte er hier den dritten Akt seiner Oper Samson et Dalila beendet. Von einer neuerlichen Algerienreise mußte er im Frühling 1883 wegen einer akuten Erkrankung vorzeitig nach Paris zurückkehren. Im Winter 1887/88 zog sich Saint-Saëns zur Komposition seines Ascanio wieder nach Algerien zurück. Schon bald nach dem Tod der Mutter finden wir ihn wieder hier (März bis Mai 1889), und von nun an werden seine Aufenthalte in Nordafrika immer häufiger und länger: Noch kurz vor der Eröffnung des Saint-Saëns-Museums in Dieppe, dem er das Inventar seines aufgelösten Pariser Haushaltes übergeben hat, zieht er sich hierher zurück (Juni 1890), und auch im darauffolgenden Jahr macht er auf der Rückreise von Ceylon hier Station (Mai – Juni 1891). Saint-Saëns längster zusammenhängender Aufenthalt in der Umgebung Algiers dauert dann von November 1891 bis Mai 1892.

In diesen Monaten besinnt sich der Komponist einer alten Schuld: Sein Studienfreund und Verleger, Auguste Durand (1830-1909), der schon seit langem bedauerte, daß eines der erfolgreichsten Werke des Komponisten, das Klaviertrio op.18, bei seinem Konkurrenten Julien Hamelle erschienen war, hatte schon mehrere Jahre hindurch um ein neues Werk dieser Gattung gebeten. Obwohl Saint-Saëns schon etliche Male – zuletzt in einem Brief aus Cádiz vom 30. November 1889 – die Komposition dieses erbetenen zweiten Trios angekündigt hatte, war es bisher beim Plan geblieben. Jetzt, in der majestätischen Ruhe einer maurischen Villa am Meer vor den Toren Algiers, findet er endlich die Muße, sein Versprechen einzulösen. Zunächst versucht er sich freilich an einem anderen Werk, das ihm schon seit langem am Herzen liegt: einem Streichquartett. Vor dieser seiner Überzeugung nach „höchsten und schwierigsten Gattung der Kammermusik“ hat Saint-Saëns noch länger gezögert als Brahms – und auch in dieser neuerliche Anlauf sollte im Sande verlaufen; ein Teil des schließlich verworfenen Streichquartetts fand dann seinen Weg in den Schlußsatz des neuen Klaviertrios. (Erst sieben Jahre später wird Saint-Saëns sein erstes Streichquartett beenden – und es wird in der Tonart des zweiten Klaviertrios stehen.)
Anfang März erfährt er aus Paris, daß die Société des Concerts du Conservatoire für ihr Karfreitags-Konzert (15. April 1892) das ursprünglich vorgesehene Deutsche Requiem von Brahms durch seine Messe de Requiem (op.54, 1878) ersetzt habe. Seine Genugtuung darüber kann und will er gar nicht verbergen: „Ein wahres Glück für das Publikum – denn das Requiem von Brahms ist ein Knüppel allerersten Ranges.“, schreibt er am 11. März an Émile Lemoine. Eine andere als diese Haltung gegenüber Brahms wäre sicher der Niederschrift eines Klaviertrios, wie es Saint-Saëns vorschwebte, nur hinderlich gewesen…
Fünf Tage später, am 16. März 1892 teilt Saint-Saëns Auguste Durand mit, daß er die Arbeit an seinem neuen Trio endlich begonnen habe. Als er aber Ende Mai Pointe-Pescade verläßt und nach Europa zurückkehrt, ist das Werk immer noch nicht beendet. Das Finale entsteht schließlich im Juli in Genf; letzte Revisionen und Korrekturen beschäftigen den Komponisten dann noch im September in Paris – Durand wartet unterdessen schon ungeduldig auf die Druckvorlage.

Das noch vor der Uraufführung im Druck erschienene Werk trägt eine Widmung an die Vicomtesse de Guitaut, die Gattin eines ranghohen Militärs. Unter ihrem Mädchennamen Anna Hoskier war sie eine der begabtesten Schülerinnen des Komponisten gewesen; sie war die Tochter von Saint-Saëns´ Bankier, und obwohl sie, den gesellschaftlichen Konventionen der Zeit folgend, als Ehefrau und Mutter nicht mehr öffentlich auftrat, gehörte sie in privatem Rahmen (neben Caroline de Serres) auch weiterhin zu den bevorzugten Duopartnerinnen des Meisters.

Zwei Wochen nach der triumphalen Pariser Premiere von Samson et Dalila (23. November 1892) – fünfzehn Jahre nach der Weimarer Uraufführung der Oper war endlich auch die französische Hauptstadt für das Meisterwerk ihres Sohnes reif geworden – wurde das Trio aus der Taufe gehoben: Henri Berthelier und Jules Loeb, wie Saint-Saëns selbst Mitglieder der 1867 gegründeten Kammermusikgesellschaft „La Trompette“, waren an diesem 7. Dezember 1892 die Mitstreiter des Komponisten. Einen Monat später wurde das Werk in einem Klubkonzert der „Trompette“ wiederholt – diesmal spielten die Saint-Saëns-Freunde Louis Diémer (Widmungsträger der Rapsodie d´Auvergne, später auch des 5. Klavierkonzertes) und Joseph Marsick (Adressat und erster Interpret der von Marcel Proust verherrlichten ersten Violinsonate des Meisters) zusammen mit Jules Loeb. In den Wochen darauf war das Werk dann in verschiedenen Besetzungen in fast allen Pariser Kammermusikgesellschaften und –sälen zu hören: Es war, als hätte die „Flucht“ des Komponisten und seine geheimnisumwitterte Unbehaustheit das Interesse an seinem Werk angefacht. Auch die ebenfalls in Algerien komponierte Oper Phryné hatte – mit Massenets Thaïs, der Kalifornierin Sybil Sanderson in der Titelrolle – bei ihrer Premiere am 24. Mai 1893 ungewöhnlichen Erfolg, ja geriet in den Augen der Saint-Saëns so lange feindlich gesinnten Presse sogar zu einer veritablen „Rache der französischen an der deutschen Musik“: eine dümmere und amusischere Feststellung ist wohl kaum denkbar…

Saint-Saëns´ zweites Klaviertrio wurde schon von den Kritikern der Uraufführung als „monumental“ empfunden – und wahrscheinlich ist dieser Umstand eines der Haupthindernisse für seine Verbreitung gewesen: Von einem Saint-Saëns glaubt der Durchschnittshörer eben, andere Kost erwarten zu dürfen…
Schon die eigenwillige Gesamtarchitektur des Werkes verdient Beachtung. Vielleicht hat der schon seit frühester Kindheit für Altphilologie, Astronomie und Algebra ebenso begabte wie begeisterte Komponist hier einen ganzen Strauß von Symbolen und Chiffren Musik werden lassen – die Hommage an die Fünfzahl, die Ravel mehr als zwei Jahrzehnte später im Finale seines Klaviertrios in konzentrierter Form wiederholen wird, ist nur der offensichtlichste dieser konstruktiv-hermeneutischen Aspekte. (Ravels berühmte, auf sein eigenes Trio bezogene Diagnose „C´est du Saint-Saëns“ spielt also mit Sicherheit nicht nur auf die Durchsichtigkeit und Klarheit der Textur an.)

Der Kopfsatz (Allegro non troppo) trägt so deutliche Spuren seiner Entstehung im Angesicht des Meeres, daß keine Kritik und Besprechung des Werkes ohne das entsprechende maritime Vokabular auskommt. Die Eindringlichkeit dieses Naturbildes ist so stark, daß das thematische Material selbst kaum Beachtung gefunden hat: Nur so läßt sich erklären, daß die ganz auffällige melodische Übereinstimmung des Themenkopfes mit dem Incipit des ersten Satzes des (ein Jahrzehnt früher entstandenen) Trios von Tschaikovskij unbemerkt geblieben ist. Die dem ganzen Werk immanenten Irritationen widerspiegeln sich hier in einigen sehr charakteristischen Unregelmäßigkeiten. Der von Saint-Saëns gewählte Zwölfachteltakt hat mit dem von Brahms mit Vorliebe verwendeten Sechsvierteltakt eine latente metrische Vieldeutigkeit gemeinsam – und Saint-Saëns nützt die sich hier eröffnenden Möglichkeiten ebenso subtil wie konsequent: So suggeriert die Begleitung im Vordersatz des Hauptthemas eine Unterteilung des Langtaktes in jeweils einen Sechsachtel- und einen Dreivierteltakt, ein metrisches Muster, das sich etwa bei Saint-Saëns´ Enkelschüler Isaac Albéniz (Rondena, Almeria) als ein unverzichtbares Gewürz spanischer Musik zu erkennen gibt. (Daß dieses Muster, scheinbar zufällig, genau fünf metrische Impulse pro Langtakt aufweist, sei nur am Rande erwähnt.) Das Hauptthema ist als epische Periode aus zweimal elf Takten gebaut – und diesem ungewöhnlichen architektonischen Maß von 22 Takten begegnen wir gleich darauf in dem von ruhig fließender Achtelbewegung bestimmten pastoralen Nebengedanken wieder. Erst in der Durchführung wächst dieses Motiv zu einem richtigen Seitenthema heran – ohne allerdings die einmal gewählte Proportion (22 Takte) zu sprengen. In der Reprise finden wir die geheimnisvolle, ferne Brandung des Anfangs zu mächtigen Sturmwogen gesteigert; die metrische Gestalt ist in ihr Spiegelbild (Dreiviertel + Sechsachtel) umgeschlagen, und das Ebenmaß des Verhältnisses von Vorder- und Nachsatz ist einer emphatischen Asymmetrie (9+12 statt 11+11 Takte) gewichen. Wer meint, daß solche Variationen belanglos seien und mit der gestalterischen Planung des Komponisten nichts zu tun haben, könnte durch einen Blick auf die Reprise des Nebengedankens eines anderen belehrt werden: hier wird eben dieses neu etablierte „Maß“ (21 Takte) getreulich wiederholt. Erst in der Coda, die einem Zitat aus der Durchführung eine abschließende Hauptthemenreminiszenz gegenüberstellt, wird die „Normalität“ gerader Taktanzahlen wiederhergestellt: Es dürfte nicht leicht sein, in Saint-Saëns´ Schaffen einen Satz zu finden, in dem Leidenschaftlichkeit des Ausdrucks und Klarheit des mathematisch-organisatorischen Kalküls einander so sehr die Waage halten.

Daß diesem monumentalen Kopfsatz gleich drei Binnensätze folgen, unter denen sich noch dazu weder ein „richtiges Scherzo“ noch ein „richtiger langsamer Satz“ findet, hat Zeitgenossen wie nachgeborene Kritiker nachhaltig irritiert. Der – Saint-Saëns übrigens sehr verehrende – russisch-schweizerische Organist und Musikwissenschaftler Jacques Samuel Handschin (1889-1955) ging sogar so weit, den Interpreten die Auslassung des dritten und vierten Satzes nahezulegen. Die Gnade, die er gegenüber dem zweiten Satz (Allegretto, E-Dur) walten läßt, kommt nicht von ungefähr: Schon seit der Uraufführung des Werkes erfreut sich dieses Stück ganz besonderen Interesses. Wenn in einem fünfsätzigen Werk ein Satz aufscheint, dessen fünf Abschnitte abwechselnd im Fünfachtel- und im Fünfvierteltakt stehen, dann liegt der Verdacht kabbalistischer Hintergedanken nicht ferne – auch bevor man entdeckt hat, daß seine Taktanzahl (wie könnte es anders sein) durch fünf teilbar ist. Jedenfalls hat schon allein die Tatsache der Verwendung des zur Zeit der Entstehung als ungewöhnlich und „piquant“ empfundenen Metrums für Aufsehen gesorgt. Anders als jene metrischen Experimente, die sich etwa in den Kompositionen des lange in Paris wirkenden Tschechen Antonín Rejcha (1770-1836) finden, ist hier die noch ungewohnte Taktart mit überzeugender Natürlichkeit und ganz ungesucht eingesetzt. (Ohne Zweifel war die Zeit reif für diese Erweiterung des metrischen Repertoires: Brahms hatte diesen Weg 1886 im dritten Satz des Klaviertrios op.101 beschritten, Hugo Wolf 1888 mit Mörikes Jägerlied [„Zierlich ist des Vogels Tritt im Schnee…“] gezeigt, wie leicht sich der Fünfertakt den klassischen Versmodellen anpassen läßt, und Tschaikovskij sollte nur wenige Monate nach der Entstehung von Saint-Saëns´ Klaviertrio im zweiten Satz der Symphonie pathétique das bis heute unübertroffene Beispiel eines jenseits aller Piquanterie und Folkloristik ganz selbstverständlichen Fünfvierteltaktes liefern.) Ob man die Rhythmik des Satzes eher als „prickelnd“ oder als „nonchalant“ empfindet, ist wohl eine Temperaments- und Interpretationsfrage. Bemerkenswert ist, daß der Mittelteil (Allegro) bei seinem ersten Auftreten in der Mollmediante gis-moll, bei seiner Wiederkehr aber in der Mollsubdominante a-moll steht – um einen Halbton versetzte Reprisen spielen in der Tonartendramaturgie der Spätromantik, vor allem bei Reger, eine wichtige Rolle; ein kleines, aber nicht unbedeutendes Indiz dafür, daß Saint-Saëns alles andere als ein „Reaktionär“ war.

Das folgende Andante con moto (As-Dur), der bei weitem kürzeste Satz des Werkes, weckt unweigerlich Schumann-Reminiszenzen, die freilich sehr oberflächlich sind. Es ist eine monothematische Miniatur von schlichtestem Aufbau und exemplarisch ausgewogener Instrumentation; außerdem belegt dieser Satz sehr überzeugend, daß Saint-Saëns weder idiomatische noch stilistische Berührungsängste kannte.

Als letztes der drei Intermezzi des Werkes erscheint ein Grazioso, poco allegro (G-Dur), das unverkennbar österreichische Züge trägt. Anfang 1886, auf dem Höhepunkt einer gegen den Komponisten gerichteten Pressecampagne, in deren Verlauf fast alle Deutschlandauftritte Saint-Saëns´ storniert wurden, hatte man ihm in Österreich die Treue gehalten – wohl mit ein Verdienst von Eduard Hanslick, der eine besondere Vorliebe für Saint-Saëns hatte und diesen einige Male sogar gegen seinen Abgott Brahms ausspielte. Und Saint-Saëns´ populärstes Werk, der unverwüstliche Carnaval des animaux, wurde in eben jenem Februar 1886 in Österreich geschrieben. Es erscheint also gar nicht so abwegig, daß Saint-Saëns diesen stilisierten Ländler als eine Hommage an die Heimat Schuberts gedacht hat – auch wenn die originale Metronomisierung des Satzes eine recht unösterreichische Interpretation zu suggerieren scheint. Die Fünfteiligkeit ist hier bei weitem nicht so offensichtlich wie im zweiten Satz, aber genau so wie dort erscheint der Mittelteil auch hier in zwei chromatisch benachbarten Tonarten (Es-Dur und E-Dur).

Ganz wie der erste Satz (und in programmatischem Widerspruch zu der Schlichtheit der Binnensätze) ist auch das Finale (Allegro), in das der Komponist Material des aufgegebenen Streichquartetts integriert hat, ein höchst komplexes Gebilde. Michel Faure hat in seiner großangelegten und ideenreichen Studie zur französischen Musik zwischen 1851 und 1930 darauf hingewiesen, wie nahtlos dieser Satz in eine lange Ahnenreihe von Werken paßt, die ein neues Stadium in der französischen Bachrezeption illustrieren – César Francks Prélude, Choral et Fugue von 1884 gehört genauso hierher wie Vincent d´Indys Tableaux de Voyage (über BACH, op.33, 1888). Saint-Saëns selbst wird kurze Zeit später (1894/95) sechs Préludes et fugues für Orgel schreiben (op.99 und op.109). Gerade der Vergleich mit den oben zitierten Werken von Brahms (op.8 Erstfassung) und Tschaikovskij (op.50) macht deutlich, daß Saint-Saëns dem Fugato durchaus keine hermeneutische Sonderrolle zuweist, sondern es als eine der möglichen „Sprechhaltungen“ in seinen Stil integriert, was die stilgeschichtliche Diagnose Michel Faures bestätigt. Trotzdem ist dieser Satz aber weit mehr als ein Dokument einer konkreten musik- und geistesgeschichtlichen Konstellation.
Das Stück basiert auf der Gegenüberstellung zweier „historisierender“ Themen, die hochgespannte kontrapunktische Erwartungen wecken. Die Suggestion dieser neobarocken Themen ist so stark, daß man kaum merkt, auf welch raffinierte Weise Saint-Saëns an den geweckten Erwartungen vorbei und über sie hinaus komponiert. Der besondere Reiz des Satzes liegt in der Ungezwungenheit, mit der hier verschiedene Sprachebenen vermischt werden: Man fühlt sich an die Unbekümmertheit jener mittelalterlichen Lyrik erinnert, in der lateinische und landessprachliche Verszeilen einander ganz selbstverständlich und kampflos ablösen.
Hat schon der erste Gedanke – ein zwöftaktiges Thema, in dem uns von den zwölf Tönen nur das durtypische Gis vorenthalten wird – seine Fugentauglichkeit ganz demonstrativ zur Schau gestellt, so erscheint gleich in seiner Weiterspinnung der Themenkopf eines zweiten Gedankens, aus dem sich wenig später auch wirklich die Exposition einer vierstimmigen Fuge entwickelt. Die weiteren Ingredienzien einer veritablen Fuge (Engführung, Umkehrung) werden nur spielerisch angedeutet, und der Abschnitt verebbt in einer chromatischen Geste, die vor dem archaisierenden Hintergrund eigentümlich fremd anmutet – um so mehr, als ihr die Reexposition des ersten Themas auf dem Fuße folgt. An diese schließt sich nun, als Knotenpunkt des ganzen Satzes, der Beginn einer Doppelfuge, in der die beiden Hauptthemen aufeinander treffen. Die dramatische Verdichtung, die sich daraus ergibt, währt aber nur kurz und löst sich ganz unerwartet auf: Ein bukolisches E-Dur-Motiv trägt als friedlicher Strom noch einige Fugenfragmente an uns vorüber, und man erwartet, daß das Maskenspiel in einen versöhnlichen Hymnus ausklingt – doch das erste Thema verstellt plötzlich mit herrischer Geste den Weg und beschließt das Werk mit einem Unisono von einer Strenge und unerbittlichen Zielstrebigkeit, die jede noch so ferne Erinnerung an Spiel und Lächeln spurlos auslöschen.

© by Claus-Christian Schuster