Sergej Vasil´evic Rachmaninov
* 01. April 1873
† 28. März 1943
Trio élégiaque [Nr.2], d-moll, op.9
Komponiert: | Moskau, 25. Oktober – 15. Dezember 1893 |
Widmung: | “A la mémoire d’ un grand artiste” (Petr Iljic Cajkovskij) |
Uraufführung: | Urfassung: Moskau, Blagorodnoe Sobranie, 31. Jänner 1894 Sergej Vasil´evic Rachmaninov, Klavier Ulij Eduardovic Konús (Jules Conus, 1869-1942), Violine Anatolij Andreevic Brandukov (1856-1930), Violoncello 2. Fassung: Moskau, 12. Februar 1907 Aleksandr Borisovic Gol´denvejzer (1875-1961), Klavier Karl Karlovic Grigorovic (1868-1921), Violine Anatolij Andreevic Brandukov, Violoncello |
Erstausgabe: | Gutheil, Moskau, 1897 |
Nur in seinem ersten Schaffensjahrzehnt hat Rachmaninov Kammermusik geschrieben – das letzte Werk dieser Gattung ist seine Cellosonate op.19, die er mit 28 Jahren komponierte. Nach einem allerersten kammermusikalischen Versuch, einem Streichquartett, hatte Rachmaninov in nur vier Tagen im Jänner 1892 ein einsätziges “Elegisches Trio” in g-moll geschrieben. Die folgenden anderthalb Jahre brachten ihm nicht zuletzt dank der Anteilnahme und Freundschaft Tschaikovskijs die volle Entfaltung seines kompositorischen Könnens und einen ersten Triumph: im April 1893 wurde seine Oper “Aleko” am Bolschoi-Theater uraufgeführt; wenige Tage später, gerade an Tschaikovskijs Geburtstag, erhielt er zum Abschluß seines Kompositionsstudiums am Moskauer Konservatorium als Jahrgangsbester zusammen mit Aleksandr Skrjabin die Große Goldmedaille.
Im Oktober 1893 wurde “Aleko” in Kiew aufgeführt, Rachmaninov selbst dirigierte die ersten beiden Aufführungen – es war sein Debut als Dirigent. Am Tag nach seiner Rückkehr nach Moskau erhielt er die Nachricht vom Tode Tschaikovskijs. Noch am selben Abend, am 25. Oktober (6. November) 1893, begann er die Niederschrift eines Klaviertrios, über das er, wie Tschaikovskij in seinem Opus 50, die Worte “A la mémoire d’ un grand artiste” setzte.
Fast zwei Monate lang galt Rachmaninov unter seinen Freunden als verschollen: keine Briefe, keine Besuche, keine Konzerte. In der Einsamkeit seiner ärmlichen Wohnung auf der Vozdvischenka und auf endlosen Irrwanderungen durch den tiefverschneiten Sokolniki-Park trug Rachmaninov seine Dankesschuld vor dem großen Freund ab. Am 15. Dezember 1893 vollendete er das Werk; zwei Tage später berichtet er seiner Freundin Natalija Skalon (der Cousine seiner späteren Frau):
“… Ich habe Ihnen lange nicht geschrieben, sehr lange… Nur aus einem einzigen Grunde: ich habe gearbeitet, intensiv, verbissen und beharrlich gearbeitet. Diese Arbeit war ein Werk auf den Tod eines großen Künstlers. Sie ist jetzt vollendet, so daß ich wieder mit Ihnen sprechen kann; denn während ich sie schrieb, gehörten alle meine Gedanken, Gefühle und Kräfte allein ihr. Ich habe mich, wie es in einem meiner Lieder heißt, unaufhörlich gequält und war krank an der Seele. Über jeder Phrase habe ich gezittert, manchmal absolut alles wieder verworfen und von neuem nachgedacht und nachgedacht. Diese Zeit ist nun vorüber, ich kann jetzt wieder ruhig sprechen. Ich habe niemandem geschrieben, nicht einmal der Familie Skalon, die ich doch aufrichtig liebe…”
In der ursprünglichen Fassung, die am 31. Jänner 1894 zusammen mit anderen neuen Werken Rachmaninovs uraufgeführt wurde, wird das Thema des Variationensatzes vom Pianisten auf einem Harmonium vorgetragen. 1907 überarbeitete Rachmaninov das Werk gründlich, wobei auch diese Extravaganz seiner Kritik zum Opfer fiel. In einer zweiten (geringfügigen) Revision, die Rachmaninov 1917 vornahm, erhielt das Werk dann seine endgültige Gestalt.
Wohl selten in der Musikgeschichte hat ein Komponist sich so bewußt, bedingungslos und radikal an einem konkreten Werk eines anderen Meisters orientiert und dabei doch so unangefochten und sicher seine Eigenart bewahrt und entfaltet, wie das Rachmaninov in seinem 2. Elegischen Trio in Anlehnung an Tschaikovskijs Klaviertrio getan hat. In Umkehrung des schönen Rilke-Wortes wäre man versucht zu sagen: “Er übersteigt, indem er gehorcht.” Tatsächlich ist das Werk mit Anspielungen und Bezügen auf sein Vorbild geradezu übersät. Dabei liegen auf einer materiellen Ebene die thematischen, formalen und dramaturgischen Bezüge ganz offen zu Tage; bei näherem Zusehen eröffnet sich aber dahinter ein zusätzliches Beziehungsgeflecht, das symbolische Züge aufweist. Die Duplizität dieser Widerspiegelung läßt sich vielleicht am schönsten am Thema der Variationen aufzeigen: dieses Thema scheint ganz offensichtlich aus der analogen Stelle des Tschaikovskij-Trios entwickelt zu sein – die Verwandtschaft der beiden Themen läßt sich sozusagen Ton für Ton nachvollziehen. Doch gleichzeitig hat die Verwendung gerade dieses Themas noch einen ideell-“anekdotischen” Nebensinn: es handelt sich dabei nämlich um das Hauptthema von Rachmaninovs Orchesterphantasie “Utjos” (“Der Fels”) op.7 vom Sommer 1893 – das letzte Werk Rachmaninovs, das er Tschaikovskij zeigen konnte. Dieser war davon so angetan gewesen, daß er es im Jänner 1894 in St.Petersburg zur Uraufführung bringen wollte. Von hier aus betrachtet sind die Variationen gerade über dieses Thema also auch eine elegische Meditation über die durch den Tod geraubten Stunden gemeinsamer Arbeit.
Der Ton des oben zitierten Briefes an Natalija Skalon läßt aber auch erahnen, welche Befreiung die Vollendung der Arbeit an diesem Trio für Rachmaninov bedeutet haben muß. Hier wurde offensichtlich nicht nur Trauerarbeit geleistet, sondern auch, in Erfüllung eines für die Musikgeschichte des XIX. Jahrhunderts so charakteristischen Topos, der Kampf mit dem Schatten des großen Vorgängers aufgenommen. Das Zwanghafte, das in diesem Ringen liegt, ist wohl imstande, mythische Erinnerungen zu wecken – vorausgesetzt, der Hörer ist bereit, beim Anhören dieser Trio-Dioskuren jene “aufgeklärte” Präpotenz zu überwinden, unter welcher die Rezeption Tschaikovskijs und Rachmaninovs außerhalb Rußlands nur allzuoft leidet.
Der erste Satz (Moderato – Allegro moderato, d-moll) wiederholt zwar im wesentlichen die dramaturgische Anlage des Kopfsatzes von Tschaikovskijs Opus 50, ist aber noch um einiges dunkler und tragischer gefärbt. Hier wie dort sind fast alle Themen aus einer einzigen motivischen Keimzelle abgeleitet, die – in Übereinstimmung mit den musikalischen Archetypen der Klage und Trauer – auf ein fallendes Skalenfragment zurückzuführen ist (kleine Terz bei Rachmaninov, Quint/Sext bei Tschaikovskij). Ebenso wie bei Tschaikovskij wirkt dieses Leitmotiv bis in das Modulationsschema nach (Fortschreitung in kleinen Terzen hier, dort in Quinten). Die Totenglocken des Beginns gehören ebenso wie der Choral am Schluß der zweiten Themengruppe zum Grundbestand der russischen Musik – der estnische Musikwissenschaftler Elmar Arro (1899-1985) ist in einem leider noch immer ungedruckten Werk von diesen Topoi der russischen Musik ausgehend zu einer modellhaften “musikalischen Slawistik” gelangt.
Über die Beziehung des Themas des zweiten Satzes (Quasi variazioni. Andante, F-Dur) zu Tschaikovskij war schon weiter oben die Rede. Der Verlauf der Variationen ist wesentlich “strenger”; als Variationsprinzip dient ein Abspaltungsprozeß, der mit der II. Variation einsetzt und in der IV. Variation seinen Höhepunkt erreicht. Die Umkehr des Vorganges führt uns mit der letzten (VIII.) Variation wieder in die Nähe der Ausgangsgestalt. Dieses “konstruktivistische” Verfahren ist jedoch nicht mehr als ein formales Fundament, über dem sich die Charakterisierung der einzelnen Variationen völlig frei entfaltet. Wesentlich stärker als bie Tschaikovskij sind auch die motivischen Bezüge zum ersten Satz herausgearbeitet. An all diesen Details läßt sich das klare Bestreben Rachmaninovs ablesen, bei aller Anlehnung an das traditionsbrechende Vorbild sich doch wieder der “Normarchitektur” eines Klaviertrios anzunähern – ähnliches gilt übrigens auch für Taneevs Klaviertrio op.22. In diesem Sinne erscheint die Abtrennung der “Schlußvariation und Coda” ( – der letzte Satz ließe sich ohne weiteres unter diesem Aspekt betrachten – ) in einen selbständigen Finalsatz (Allegro risoluto – Moderato) ganz folgerichtig. Der eigentliche Schluß freilich ist bis ins Detail an Tschaikovskij orientiert: die riesenhafte Projektion des Kopfthemas im Streicherunisono über einer massigen Klavierbegleitung führt hier wie dort in eine resignative Geste des Erlöschens. Als neues Element tritt bei Rachmaninov allerdings eine kurz vor den Schluß gestellte, choralartige Phrase auf, die wie ein Segensspruch am offenen Grab wirkt. Auch in diesem Punkt ist Rachmaninov also nicht nur traditionalistischer als Tschaikovskij, sondern auch “realistischer”. Doch unabhängig von allen stilistischen Tendenzen und Moden ist das Denkmal, das Rachmaninov Tschaikovskij hier gesetzt hat, sicher eines der berührendsten Dokumente der Freundschaft zwischen zwei Großen der Musik.
© by Claus-Christian Schuster