Brahms: Sonate Nr.3, d-moll, op.108

Johannes Brahms

* 7. Mai 1833
† 3. April 1897

Sonate Nr.3, d-moll, op.108

Komponiert:Thun, Sommer 1886
Widmung:Hans von Bülow (1830-1894)
Uraufführung:Budapest, 21. Dezember 1888
Johannes Brahms, Klavier
Jenö Hubay (1858-1937), Violine
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1889

KOMPONIEREN NACH BEETHOVEN
DIE DREI SONATEN FÜR KLAVIER UND VIOLINE VON JOHANNES BRAHMS

Die drei Violinsonaten von Johannes Brahms (1833-1897) gehören so sehr zum Allgemeingut der Kammermusikgemeinde der ganzen Welt, daß nichts überflüssiger erscheint, als sie im üblichen Sinne „vorzustellen“. Sie regen aber in besonderer Weise zum Nachdenken über den musikgeschichtlichen Prozeß, in dem sie entstanden sind, an. Freilich ist das Feld, das sich hier auftut, für den hier gebotenen Rahmen viel zu weit. Daher bitte ich Sie, mit den folgenden Gedankenskizzen vorliebzunehmen.
Wie in fast allen Genres der Musik läßt sich auch an der Gattung „Sonate für Violine und Klavier“ (die bis an das Ende des XIX. Jahrhunderts fast immer unter der Bezeichnung „Sonate für Klavier und Violine“ figurierte) über den Zeitraum der letzten zweihundert Jahre hinweg eine stetige quantitative Abnahme der Produktion feststellen. So stehen den insgesamt 38 Violinsonaten Mozarts (von denen immerhin 19 in den gängigen Ausgaben berücksichtigt werden) und 10 Werken von Beethoven nur mehr je drei Sonaten von Schumann und Brahms gegenüber, während die meisten bedeutenden Komponisten unseres Jahrhunderts überhaupt nur ein bis zwei Kompositionen dieser Art hinterlassen haben (Ravel, Bartòk, Prokofiev, Shostakovitch usw.). Es ist bezeichnend, daß die Ausnahmen (etwa Max Reger mit seinen 9 Violinsonaten) sofort in den Verdacht geraten, „Vielschreiber“ zu sein, und im Konzertleben zu einem Schattendasein verurteilt werden.
Natürlich spiegelt sich in diesem Phänomen nicht etwa ein Versiegen menschlicher Kreativität wider – wenn auch zugestanden werden muß, daß die technisch-industrielle Revolution einen nicht unbedeutenden Teil des schöpferischen Potentials der Menschheit in anderen Schaffensgebieten gebunden hat. Doch die indirekten Folgen dieser Revolution erwiesen sich für die musikalische Produktion als viel folgenschwerer: Einerseits entwuchs die Musik ihrem sozialen Selbstverständnis als „Gebrauchsmusik“, deren gedachter Wirkungshorizont kaum mehr als einige Jahre betrug, und emanzipierte sich als eine autonome Kunstleistung, deren Anspruch das hic et nunc weit hinter sich ließ; daraus ergibt sich wiederum die Forderung nach der „Einmaligkeit“ des einzelnen Werkes, durch die sich die früher übliche „Serienproduktion“ sozusagen von selbst verbot. (Charakteristisch in diesem Zusammenhang ist etwa, daß Beethovens op.12 und op.30 noch je drei Sonaten umfaßt und op.23-24 immerhin noch als Diptychon konzipiert ist, während die letzten beiden Sonaten einzeln erschienen – eine Erscheinung, die sich im wesentlichen bei allen vergleichbaren Werkkategorien Beethovens wiederfindet.) Andererseits führte die – ebenfalls technisch und wirtschaftlich bedingte – Entwicklung des Musiklebens (Konzertorganisation, Verlagswesen usw.) zu einer allmählichen „Historisierung“ oder „Musealisierung“ der Rezeption, so daß der Komponist der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts viel fühlbarer sup specie aeternitatis komponierte als seine Kollegen der vorangegangenen Generationen: Der Bezugspunkt war nicht mehr das rezente Musikangebot einer überschaubaren Region, sondern das gesamte Musikschaffen innerhalb eines sich kontinuierlich erweiternden historischen und geographischen Horizontes. Analog dem Goetheschen Begriff der „Weltliteratur“ nahm so – eigentlich unausgesprochen – die Idee einer „Weltmusik“ allmählich Gestalt an. Es liegt auf der Hand, daß (parallel der Entwicklung in den anderen Künsten) angesichts der sich so anbahnenden Omnipräsenz alles schon Dagewesenen – eine Entwicklung, die sich in unserer Zeit noch um ein Vielfaches beschleunigt hat – Originalität und Neuheit auch in der Musik zu selbständigen und schließlich alle anderen Beurteilungskategorien in den Schatten stellenden Werten wurden. Daß diese Perspektive vieles objektiv Große klein und unbedeutend erschienen ließ, während manche Belanglosigkeit im Schlagschatten dieser Beleuchtung epochale Dimensionen zu besitzen schien, war unvermeidlich. Ohne allen Kulturpessimismus darf man aber darüber hinaus feststellen, daß ganz allgemein die Situation des künstlerisch schöpferischen Menschen im Laufe des XIX. Jahrhunderts zunehmend schwieriger wurde. Das in dieser Form eigentlich neue Phänomen des „Spätbrufenen“ (Theodor Fontane, Conrad Ferdinand Meyer, Anton Bruckner u.v.a.) ist nur eines der vielen Symptome, an denen sich diese Komplikation ablesen läßt. Das Neue und Problematische der Situation haben nur wenige unter den Großen so klar und so schmerzlich erkannt und empfunden wie Johannes Brahms.
Immer wieder wird an die Hypothek erinnert, die Schumanns Artikel „Neue Bahnen“ für den jungen Brahms bedeutet haben muß. Und in der Tat muß man zugeben, daß es für den zwanzigjährigen Komponisten sicher nicht leicht war, sich gewissermaßen als Erben Beethovens proklamiert zu sehen. Doch eigentlich drückt sich in diesem individuellen biographischen „Zufall“ die neue Qualität der allgemeinen Schaffensbedingungen nur in besonders symbolischer Sinnfälligkeit aus. Mit einem Seitenblick auf die weniger problematischen Naturen unter seinen Kollegen schreibt Brahms seinem Verleger einmal: „Für gewöhnlich wundere ich mich stets weniger, daß ich so faul, als daß die anderen so fleißig sein können.“ (an Fritz Simrock, April 1870). Im Schatten des „Riesen“ Beethoven wird er mehr als zwei Jahrzehnte um seine Erste Symphonie ringen müssen, die dann schon die Zeitgenossen als die „Zehnte“ empfanden. Obwohl das Schaffen Brahms´ nur einem sehr oberflächlichen Betrachter konservativ im Sinne von „rückwärtsgewandt“ erscheinen wird, ist doch die verinnerlichte Gegenwart des großen Vorgängers immer wieder deutlich zu spüren.
In ähnlicher Wiese wie in seinen Symphonien bezieht sich Brahms auch in seiner Kammermusik auf dieses Erbe. Wie er in seiner ersten Sonate für Klavier und Violoncello (e-moll, op.38) das in Beethovens letzter Cellosonate (op.102 Nr.2) entwickelte Modell zum Ausgangspunkt nimmt, so knüpft seine erste Violinsonate (G-Dur, op.78) unmittelbar an Beethovens letztes Werk dieser Gattung (G-Dur, op.96) an. Der Bezug ist hier noch um einiges offensichtlicher: Brahms verwendet die selbe Tonartenfolge wie Beethoven (G-Dur – Es-Dur – g-moll – G-Dur), und auch in Aufbau und Textur finden sich einige unüberhörbare Parallelen. Noch auffälliger sind aber die prononcierten Unterschiede zu Beethovens Partitur: das Wegfallen des Scherzos, die konsequente Weiterentwicklung der motivischen Ökonomie und die noch weiter gehende „Poetisierung“ des Textes – der letzte Satz ist sogar ganz explizit eine Meditation über zwei, schon 1873 komponierte Lieder („Regenlied“ op.59 Nr.3, und „Nachklang“ op.59 Nr.4, beide auf Texte von Brahms´ Freund und Landsmann Klaus Groth [1819-1899]), worauf sich der manchmal für das Werk verwendete Name „Regenliedsonate“ bezieht. Das Werk, das übrigens – zusätzliches Indiz für die oben skizzierte Problematik – wahrscheinlich schon den vierten Versuch des Komponisten in diesem Genre darstellt, entstand in den Sommern der Jahre 1878 und 1879 in Pörtschach am Wörthersee und wurde schon am 8. November 1879 in Bonn von dem Ehepaar Marie Heckmann-Hertwig (1843-1890), Klavier, und Robert Heckmann (1848-1891), Violine, uraufgeführt.
Die anderen beiden Sonaten sind Zwillingsschwestern: Brahms schuf beide Werke in dem so überaus ertragreichen Sommer 1886, den er am Thuner See in der Schweiz verbrachte und der ganz der Instrumententrias Klavier-Violine-Violoncello gehörte. Neben den beiden Violinsonaten entstanden zur gleichen Zeit das 3. Klaviertrio (c-moll, op.101), die zweite Cellosonate (F-Dur, op.99) und das Doppelkonzert für Violine, Cello und Orchester (a-moll, op.102). Die eine der beiden Sonaten, nämlich die zweite Violinsonate (A-Dur, op.100), wurde noch im selben Jahr aus der Taufe gehoben: Der Komponist selbst spielte sie mit Joseph Hellmesberger sen. (1828-1893) am 2. Dezember 1886 im Kleinen Saal (jetzt Brahms-Saal) des Wiener Musikvereins. (Eben dieser Hellmesberger hatte ja schon im November 1862, wenige Wochen nach Brahms´ Ankunft in Wien, die Schumannsche Prophezeiung von 1853 erst auf die griffige Formel „Das ist der Erbe Beethovens!“ gebracht, ein Urteil, das er in späteren Jahren, als er darum bemüht war, im Streit zwischen „Brahmsianern“ und „Wagnerianern“ neutral zu erscheinen, damit zu entschuldigen pflegte, daß er vorher „zu viel kroatischen Wein“ getrunken habe.) Die „Wagnerianer“ bemächtigten sich der neuen Sonate sofort, indem sie ihr den Namen „Meistersinger-Sonate“ anhefteten – mit keiner besseren Begründung als der wirklich läppischen Übereinstimmung der ersten beiden Intervalle mit dem Beginn der Stolzing-Arie „Morgenlich leuchtend“. Brahms selbst hat bei anderer Gelegenheit einem Reminiszenzen-Jäger geantwortet, noch viel merkwürdiger als das „Zitat“ selbst sei doch wohl der Umstand, daß es jedem Esel auffalle. Wer ernsthaftere und erhellendere Bezüge in dem Werk sucht, wird sie in zahlreichen Selbstzitaten des Meisters finden: Da er die Sonate nach dem Zeugnis seines Biographen Max Kalbeck „in Erwartung der Ankunft einer geliebten Freundin“, nämlich der Altistin Hermine Spies (1857-1893) schrieb, könnte man aus den zitierten Liedern so etwas wie einen „Brief in Tönen“ herauslesen; und es ist sicher kein Zufall, daß der Dichter, der Brahms dazu seine Worte leiht, wieder Klaus Groth ist („Wie Melodien zieht es…“ op.105 Nr.1 und „Komm bald!“ op.97 Nr.5).
Mit dem Schwesterwerk, der dritten Violinsonate (d-moll, op.108) ließ der Meister sich mehr Zeit. Erst im Oktober 1888 schickte Brahms das Manuskript den Herzogenbergs nach Berlin. Elisabet von Herzogenberg (1847-1892), deren Briefwechsel mit Brahms zu den berührendsten Dokumenten der deutschen Musikgeschichte zählt, regte den Komponisten dann noch zu einigen Änderungen an. In dieser definitiven Fassung wurde das Werk am 21. Dezember 1888 in Budapest von Brahms mit dem ungarischen Geiger und Joachim-Schüler Jenö Hubay (1858-1937) uraufgeführt. Wie oft bei unmittelbar benachbarten Werken der gleichen Gattung fällt zuallererst die antithetische Stimmung des Sonatenpaares auf: der sonnig-träumerischen Welt der A-Dur-Sonate steht hier eine wildzerklüftete, wetterdurchleuchtete Landschaft gegenüber. Daß die Dramatik dieses Werkes auch einen bestimmten Interpretentyp verlangt, deutete Brahms in der Widmung an – übrigens der einzigen „offiziellen“ Dedikation, die er einer Violinsonate angedeihen ließ: die Sonate ist Hans von Bülow (1830-1894) zugeeignet, der 1854 (nach dem Komponisten) der erste Pianist gewesen war, der ein Brahms-Werk öffentlich aufgeführt hatte.
Auch in dieser Geste manifestiert sich, daß Brahms keine prinzipielle Berührungsscheu gegenüber dem Wagner-Kreis hatte – der „Krieg“ wurde von den Aposteln sehr viel heftiger geführt als von den Meistern selbst. Dennoch sollte man die historische Bedeutung dieses Konfliktes nicht unterschätzen: zum ersten Mal in der Musikgeschichte stehen wir hier zwei fundamental unterschiedlichen Idiomen und Ideologien gegenüber, die sich beide explizit auf das klassische Erbe und im besonderen auf Beethoven berufen. Im Unterschied zu den national, sozial oder persönlich bedingten Konflikten, die bis dahin die ästhetische Diskussion über die Musik weitgehend bestimmt hatten, haben wir es nun mit einem tieferreichenden und folgenschwereren Streit zu tun, von dem man den Ausgang jenes Phänomens herleiten kann, das vielen Menschen unseres Jahrhunderts dann als die „babylonische Sprachenverwirrung“ der Musik erscheinen mußte.

© by Claus-Christian Schuster