Johannes Brahms
* 7. Mai 1833
† 3. April 1897
Klavierquartett Nr.3, c-moll, op.60
Komponiert: | Düsseldorf, 1855/56; Wien 1869, 1873/74;, Rüschlikon, Sommer 1874; Ziegelhausen, Sommer 1875 |
Uraufführung: | Wien, Musikverein, 18. November 1875 Johannes Brahms, Klavier Josef Hellmesberger sen. (1828-1893), Violine Sigismund Bachrich (1841-1913), Viola Friedrich Hilpert (1841-1896), Violoncello |
Erstausgabe: | Simrock, Berlin, November 1875 |
Obwohl im Oeuvre von Johannes Brahms langwierige und komplizierte Entstehungsgeschichten durchaus keine Seltenheit sind, stellt die sich über zwanzig Jahre hinziehende Gestaltwerdung des dritten Klavierquartetts einen Sonderfall dar. Die Urfassung des Werkes entstand gleichzeitig mit den ersten Entwürfen zu den ersten beiden Klavierquartetten (op.25 und op.26), nach dem übereinstimmenden Zeugnis der Jugendfreunde Albert Dietrich und Joseph Joachim schon im Jahre 1855. Das Quartett stand damals in cis-moll. Offenbar wurden in dieser ersten Entstehungsphase nur die Ecksätze komponiert, denn am 18. Oktober 1856 vermerkt Clara Schumann in ihrem Tagebuch:
„Johannes hat seinen Concertsatz beendet – wir haben ihn mehrmals auf zwei Clavieren gespielt. Zu seinem Cis-moll-Quartett hat er ein wunderschönes Adagio componirt – tiefinnig.“
Bei dem „Concertsatz“ handelt es sich um die Urfassung des ersten Klavierkonzertes; diese Nachbarschaft ist im Hinblick auf den Bekenntnischarakter beider Werke nicht ohne Bedeutung. (Ob der langsame Satz des Quartetts wirklich jemals ein „Adagio“ war, oder ob es sich, was wahrscheinlicher ist, einfach um einen Irrtum Claras handelt, muß ungeklärt bleiben.)
Wenige Tage später reiste Brahms nach Hamburg, wo er am 22. November zusammen mit Joseph Joachim an einem Gedenkkonzert für Robert Schumann mitwirkte. Bei dieser Gelegenheit probierte man das (jetzt dreisätzige) Werk, offenbar in Eile und unter schlechten Bedingungen: Joachim nennt dieses Durchspiel schlicht „eine Schweinerei“, und Brahms verteidigt eine von seinem Freunde beanstandete Note mit den Worten:
„…vom eis… kann ich gar nicht lassen; wie mir´s im Ohr klingt, klang es am Montag freilich nicht, sie griffen je e und fis mit…“
(An Joachim, November 1856)
Joachim mußte also, um sich ein klareres Bild des neuen Werkes machen zu können, das Manuskript zum Studium mit nach Hannover nehmen, von wo aus er es einige Tage später (29. November) dem Komponisten mit einem schwärmerisch begeisterten, aber durchaus auch konstruktiv kritischen und recht detaillierten Kommentar zurücksendet. Aus diesem Brief wissen wir, daß das Werk damals aus einem „Allegro“, einem „Andante“ und einem „konzisen Finale“ bestand.
Während die beiden Schwesterwerke aber zwischen 1859 und 1861 ihre endgültige Gestalt erhielten (und Brahms im Herbst 1862 ein fulminantes Entrée in Wien verschafften), verschwindet das dritte Quartett auf viele Jahre aus unserem Gesichtskreis. Erst 1869 scheint Brahms das Werk wieder vorgenommen zu haben; um diese Zeit dachte er auch schon an eine Veröffentlichung (als „op.54“). Seine endgültige Gestalt erhielt das Werk aber dann doch erst im Winter 1873/74 in Wien. Wahrscheinlich wurde es während des darauffolgenden Sommers, den Brahms in Rüschlikon am Züricher See verbrachte, noch einmal überarbeitet, denn erst am 23. Oktober 1874, einige Wochen nach seiner Rückkehr aus der Schweiz schickt Brahms das Manuskript an Theodor Billroth mit den lakonischen Zeilen:
„Das Quartett wird bloß als Kuriosum mitgeteilt! Etwa eine Illustration zum letzten Kapitel vom Mann im blauen Frack und gelber Weste.“
Dieser Hinweis auf den Goetheschen Werther ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert: erstens gibt Brahms uns so gut wie nie außermusikalische Schlüssel zum Verständnis seiner Werke in die Hand; die musikalischen Charakterisierungen aber, die in seiner Korrespondenz häufig die Ankündigung neuer Werke begleiten, erweisen sich in der Regel als humor- und absichtsvolle Irreführung. Hier jedoch haben wir es offensichtlich mit einer recht wörtlich zu nehmenden Assoziation zu tun, die noch dadurch an Gewicht erhält, daß Brahms über mehrere Jahre hinweg immer wieder zu diesem selben Bilde greift, wenn die Rede auf das Quartett kommt: Hermann Deiters zitiert Brahms mit den Worten: „Nun stellen Sie sich einen Menschen vor, der sich eben totschießen will, und dem nichts anderes mehr übrig bleibt.“ (1868). Seinem Verleger Fritz Simrock schreibt Brahms am 12. August 1875:
„Sie dürfen auf dem Titelblatt ein Bild anbringen, nämlich einen Kopf mit der Pistole davor. Nun können Sie sich einen Begriff von der Musik machen! Ich werde Ihnen zu dem Zweck meine Photographie schicken! Blauen Frack, gelbe Hose und Stulpstiefeln können Sie auch anwenden…“
Der burleske Unterton vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, wie bitter ernst diese Werthersche Parallele zu nehmen ist. Und es bedarf weder übertriebener Phantasie noch journalistischer Indiskretion, um sich mit Blick auf die Düsseldorfer Jahre 1855/56 einen Reim auf diesen Bezug machen zu können.
Letzte Korrekturen und Änderungen nahm Brahms dann im Sommer 1875 während seines Sommeraufenthaltes in Ziegelhausen bei Heidelberg vor. Clara, die ihn dort am 17. Juli auf der Durchreise in die Schweiz besuchte, konnte eine Probe des Quartetts mitanhören, die bei ihr einen zwiespältigen Eindruck hinterließ:
„Über das Quartett habe ich noch viel gedacht, die drei letzten Sätze sind mir tief in´s Gemüth gedrungen, aber, dürfte ich mir erlauben es zu sagen, ich finde den ersten nicht auf gleicher Höhe stehend, es fehlt mir darin der frische Zug…“
(an Brahms, 23. Juli 1875)
Für die nach wie vor ungeklärten Fragen der Entstehungsgeschichte interessant ist ein am selben Tage an Albert Dietrich gerichtetes Schreiben Claras:
„Wir waren auf der Herreise einen Tag in Heidelberg, wo ich wahre Seelenstärkung atmete in Brahms´ neuen Liedern, Duetten und einem wundervollen Quartett in c-moll für Klavier und Streichinstrumente. Die ersten zwei Sätze hatte er schon früher gemacht (der erste ist mir weniger lieb, aber das Scherzo!) , und nun die beiden letzten Sätze, die sind wieder ganz genial, eine Steigerung bis zum Schlusse, daß man ganz hingerissen wird. Merkwürdig ist mir dabei auch die Einheit der Stimmung, obgleich die Sätze zu so verschiedenen Zeiten entstanden sind.“
Hält man zu dieser Aussage einen Satz, den Brahms in seinem oben zitierten Brief an Fritz Simrock (12. August 1875) schrieb – „dies Quartett ist zur Hälfte alt, zur Hälfte neu – es taugt also der ganze Kerl nichts!“ -, so ergibt sich, daß die letzten beiden Sätze des Werkes in der uns bekannten Gestalt wirklich „neu“ waren, daß also das veröffentlichte E-Dur-Andante nicht mit jenem Adagio/Andante identisch sein kann, von dem in den Tagebüchern und Briefen des Jahres 1856 die Rede ist. Die uns durch Max Kalbeck überlieferte Erinnerung Joachims, daß nämlich das Scherzo des Quartetts eine Metamorphose des Scherzos der im Oktober 1853 komponierten F.A.E.-Sonate (WoO 2) sei, ließe eine frühe Entstehung dieses Satzes vermuten, was sich mit den zuletzt angeführten Bemerkungen sehr gut in Einklang bringen ließe. Daß aber das „konzise Finale“, von dem Joachim schreibt, nichts anderes als eben dieses Scherzo gewesen sein sollte, muß (vor allem bei näherer Betrachtung der Joachimschen Detailkritik des Satzes) als äußerst unwahrscheinlich gelten. Man könnte also etwa folgende Satz- und Entstehungsfolge (ohne Berücksichtigung der unterschiedlichen Entwicklungsstadien) annehmen:
1855/56 1856/61 1869/75
Allegro (non troppo)
Scherzo. Allegro
Andante/Adagio Andante
Finale Finale. Allegro comodo
Zweiter und dritter Satz der cis-moll-Urfassung wären demnach gänzlich verworfen worden. Die traditionelle Begründung des „irrationalen“ E-Dur im Andante mit der Grundtonart dieser Frühfassung, wäre damit jedenfalls nicht in der zumeist vorgebrachten Weise stichhaltig.
Daß Clara im ersten Satz des Quartetts (Allegro non troppo) den „frischen Zug“ nicht fand, ist viel weniger verwunderlich, als daß sie ihn dort suchen konnte und wollte. Beklemmendere und düsterere Musik ist selten geschrieben worden. Der Kopfsatz des Herzogenbergschen Op.75, das in Metrum und Motivik deutliche (und sicher nicht zufällige) Bezüge zu diesem Satze aufweist, mutet – trotz seines Epitaphcharakters – im Vergleich geradezu gelöst und heiter an. Auch das tröstlich-innige Es-Dur-Seitenthema mit seiner sehnsüchtig pulsierenden Fortsetzung vermag nicht, sich gegen diese Stimmung ausweglos brütender Verzweiflung durchzusetzen, und erscheint in der Reprise fahl und ermattet.
Ganz analog dazu sind im Scherzo (Allegro, c-moll) die schüchternen Einwürfe in den mitleidlos dahinpeitschenden Sturm viel zu schwach, um sich Gehör zu verschaffen – das Trio, das im Scherzo der F.A.E.-Sonate immerhin noch eine, wenn auch sturmumtoste Insel im Aufruhr der Elemente war, ist hier völlig im Ozean der Unrast untergegangen.
In die Zeit der Endausarbeitung des Quartetts fällt Brahms´ Bekanntschaft mit Heinrich von Herzogenberg (29. Jänner 1874 in Leipzig). Vielleicht findet sich das „schlanke Frauenbild in blauem Samt und goldenem Haar“, das er bei dieser Gelegenheit wiedersah, in dem „neuen“ Andante (E-Dur) wieder? Das (heute verschollene) Autograph des Satzes hat Brahms jedenfalls wirklich Elisabet von Herzogenberg zugedacht:
„Zur Versöhnung wollte ich das Andante aus meinem dritten Klavierquartett beilegen, das sich noch vorfand, und das Ihnen ja gefiel. Ob ich es aus Eitelkeit oder aus Zärtlichkeit aufbewahrt habe, weiß ich nicht. Ich bringe es mit.“
(12. Dezember 1877)
Die wahrhaft überirdische Schönheit dieses Satzes ist schon für sich allein genommen berückend: vor dem Hintergrund der ihn umgebenden drei c-moll-Tragödien gewinnt diese Schönheit aber eine schmerzliche Intensität, die an die Grenzen des Menschen Erträglichen reicht.
Der Schlußsatz (Finale. Allegro comodo), von dem Max Kalbeck mit hochachtungsvollem Bedauern feststellt, hier trete die Individualität des Schöpfers doch allzusehr zurück, gehört zu den erschütterndsten und eindrucksvollsten „Verweigerungen“ der Musikgeschichte. Man stelle sich nur den Bruchteil eines Augenblickes lang einen kräftigen, gesunden oder auch nur schlicht normalen Finalsatz an seiner Stelle vor, um zu begreifen, wie unausweichlich das Werk auf diesen „nachkomponierten“ Schluß hin angelegt ist. Beethoven, der (in einer völlig anderen dramaturgischen Situation und mit wesentlich anderen Mitteln) das Finale eines seiner Klaviertrios (c-moll, op.1 Nr.3) ähnlich „scheitern“ läßt, hatte noch die Wahl – ein artistisch freies und spielerisches Element ist jenem Satz über alle Kompromißlosigkeit hinweg noch anzuhören. Hier aber ist die Freiheit einem inneren Zwang geopfert, der dem oberflächlich ironischen Bezug zu Werther einen erschreckend weitreichenden Sinn gibt. Nur der gedankenlosen Dur-Moll-Routine des Musikführer-Unwesens ist es zuzuschreiben, daß irgend jemand im C-Dur- Schluß des Werkes den erlösenden Frieden einer wirklichen Befreiung zu spüren und zu hören vermeinte. Und wer meint, den „hymnischen“ Ton des dritten Themas mit dem Finale der (zeitlich benachbarten) ersten Symphonie in Zusammenhang bringen zu können, wofür sich durchaus gestische und tonartliche Argumente finden ließen, möge auch bedenken, daß nicht überall, wo Hymnen angestimmt werden, eine Auferstehung zu feiern ist.
© by Claus-Christian Schuster