Schumann: Studien. 6 Stücke in canonischer Form op.56 (arr. Th. Kirchner)

Robert Schumann

* 08. Juni 1810
† 29. Juli 1856

Studien. 6 Stücke in canonischer Form op.56 (arr. Th. Kirchner)

Komponiert:Dresden, zwischen 27. April und 7. Juni 1845
Widmung:Johann Gottfried Kuntsch (1775-1855)
Erstausgabe:Whistling, Leipzig, 1845

Unter dem 23. Jänner 1845 vermerkt Clara in ihrem Tagebuch:

„Heute begannen wir kontrapunktische Studien, was mir trotz der Mühe viel Freude macht, denn ich sah, was ich nie möglich geglaubt, bald eine selbstgemachte Fuge und sah bald mehrere, da wir die Studien regelmäßig alle Tage fortsetzten. Ich kann Robert nicht genug danken für seine Geduld mit mir und freue mich doppelt, wenn mir etwas gelingt, das er dann doch als sein Werk ansehen muß. Er selbst geriet aber auch in eine Fugenpassion, und bei ihm sprudelt es von schönen Themen, deren ich bis jetzt noch nicht eines finden konnte.“

Roberts „Fugenpassion“ hielt das ganze Jahr hindurch an: den Carl Reinecke gewidmeten Vier Fugen für das Piano-Forte op.72 folgten zwischen Februar und November 1845 Sechs Fugen über den Namen BACH für Orgel oder Pianoforte mit Pedal op.60. „Pianoforte mit Pedal“ meint hierbei eine schon im XVIII. Jahrhundert ersonnene und zu Schumanns Zeiten vervollkommnete Konstruktion, die die Ausführung von Orgelwerken auf dem Klavier ermöglichte: ein Klavier mit einer zusätzlichen Pedalklaviatur. Meistens wurde diese Zusatzklaviatur einfach unter das vorhandene Klavier geschoben und mit ihm gekoppelt. Im Zuge der Komposition der Orgelfugen hatte Schumann sich ein solches Instrument von Otto Kade gemietet. Clara schreibt dazu:

„Am 24. April erhielten wir ein Pedal unter den Flügel zur Miete, was uns viel Vergnügen schaffte. Der Zweck war uns hauptsächlich, für das Orgelspiel zu üben. Robert fand aber bald ein höheres Interesse für dies Instrument und komponierte einige Skizzen und Studien für den Pedalflügel, die gewiß großen Anklang als etwas ganz Neues finden werden.“

Während die zuerst entstandenen vier Skizzen (als op. 58 mit einer Widmung an Pauline von Abegg erschienen) nur die erste Freude an der erweiterten Bewegungsfreiheit auf dem Pedalflügel widerspieglen, erkunden die sechs Studien spezifisch die kontrapunktischen Möglichkeiten des Instruments und sind somit eine weitere Frucht von Schumanns „Fugenpassion“ – auch wenn der Komponist sich diesmal mit „Canons“ begnügt. Als Mendelssohn am 25. und 26. August 1845 auf der Durchreise in Dresden Station machte, spielte Clara ihm aus Roberts neuen Kompositionen vor:

„Man konnte ihm wohl deutlich ansehen, welch große Befriedigung er empfand, unter den Kanons gefiel ihm am meisten der so sehr graziöse in H-moll (Nr. 5), was ich mir vorher schon gedacht, denn dieser entspricht am meisten seiner eigenen Individualität.“

Dieses Mendelssohnsche Lieblingsstück wurde in der Folge auch eine der bevorzugten Draufgaben Claras.

Wie leicht und natürlich Schumann die canonische Form von der Hand ging, läßt sich an den unzähligen Belegstellen seines Werkes nachprüfen. Daß die besonderen Juwelen, die ihm in diesen sechs Studien gelangen, keine größere Verbreitung gefunden haben, ist sicher nur auf das Schicksal des verwendeten Instrumentes zurückzuführen. Denn obwohl etwa Philippe Érard noch 1850 mit einem für den Konzertgebrauch bestimmten Pedalflügel Erfolg hatte, war das Schicksal dieser Erfindung doch schon besiegelt: in den Jahren nach der Jahrhundertmitte verschwand das Instrument völlig von der Bildfläche. Um zu verhindern, daß das Schumannsche Werk dieses Schicksal teile, entstanden in der Folgezeit eine Reihe von Bearbeitungen – allein für Klaviertrio gibt es mindestens drei verschiedene Transkriptionen. Unter all diesen Versuchen ragt aber Theodor Kirchners kongeniale Übertragung deutlich hervor: sie bringt durch ihre meisterliche und phantasievolle Instrumentation den ganzen kontrapunktischen Reichtum des Originals zur vollen Entfaltung, ohne irgendetwas von dessen Intimität zu opfern.

Für Schumann selbst hat vielleicht in diesen geschlossenen und bescheidenen, aber überreichen Stücken etwas Heimatliches mitgeschwungen. „Zwickau in Wolken – Ankunft in d[er] Tanne – heimathliche Gefühle“ notiert er, als er am 6. August 1845 wieder einmal in seine Geburtsstadt kommt. Und einige Seiten weiter finden wir unter „Zwickauer Bekannte“ an erster Stelle seinen alten Lehrer, Johann Gottfried Kuntsch, dem der dankbare Schüler die Studien zugeeignet hat

© by Claus-Christian Schuster