Kubelik: Trio concertante (1988)

Rafael Kubelik

* 29. Juni 1914
† 11. August 1996

Trio concertante (1988)

Komponiert:La Quinta (Kalifornien), beendet am 21. Februar 1988
Uraufführung:Köln, Philharmonie, 2. Juni 1989
András Schiff (*1953), Klavier
Yuuko Shiokawa, Violine
Boris Pergamenschikow (*1948), Violoncello
Erstausgabe:Manuskript

Rafael Jeroným Kubelík wurde als sechstes von acht Kindern des tschechischen Violinvirtuosen und Komponisten Jan Kubelík (1880-1940) und der ungarischen Gräfin Marianne Szell geboren. Sein Vater war als Wunderkind 1892 Schüler des damals eben aus Kiev nach Prag zurückgekehrten Otakar Sevcik geworden, hatte 1898 in Wien debütiert und sich anschließend für einige Jahre hier niedergelassen. Ausgedehnte Tourneen führten ihn ab 1902 durch die ganze Welt; etwa zur Zeit von Rafaels Geburt begann er noch ein Kompositionsstudium bei Josef Bohuslav Foerster (1859-1951). Der kleine Rafael empfing schon im Prager Elternhaus vielfältige Anregungen: Seine Mutter förderte seine Empfänglichkeit für die bildende Kunst und die Literatur, sein Vater überwachte die musikalische Ausbildung. Ein wesentlicher Teil dieser Ausbildung war das gemeinsame Musizieren: Der Vater, die fünf älteren Schwestern (von denen die ältesten, die Zwillinge Anita und Mary, später eine professionelle Karriere als Geigenduo machten) und Rafael bildeten ein respektables Familienensemble. Diese Praxis verschaffte Rafael schon als Kind eine intime Kenntnis der Kammermusikliteratur – und zwar gleichermaßen als Pianist und Geiger. Der Kammermusik sollte später auch die ganz besondere Liebe des Komponisten Rafael Kubelík gelten. Daß aber darüber auch die symphonische Literatur nicht vernachlässigt wurde, dafür sorgte Onkel Frantisek, der mit seinem Neffen stundenlang die vierhändigen Klavierauszüge aller bedeutenden Symphonien durchackerte und so den Boden für Rafaels künftige Berufslaufbahn bereitete.

Am Prager Tschechischen Konservatorium studierte Rafael Kubelík zwischen 1928 und 1934 Violine, Klavier, Komposition und Dirigieren. Sein Kompositionslehrer war dort der Novák-Schüler Otakar Sín (1881-1943), dessen eigenes Schaffen ebenfalls in der Kammermusik seinen Schwerpunkt hatte.

Während seiner Studienjahre begleitete Rafael Kubelík immer häufiger auch seinen Vater als Pianist auf dessen Konzertreisen durch ganz Europa, aber auch nach Amerika und Australien. Noch vor Abschluß seines Studiums debutierte er 1933 mit großem Erfolg als Dirigent; zwischen 1936 und 1939 leitete er die Tschechische Philharmonie als ständiger Gastdirigent. Besonders erfolgreich war die Tournee, auf der er das Orchester in der Saison 1937/38 nach Großbritannien und Belgien führte. Zu Beginn des 2. Weltkrieges wechselte er an das Brünner Nationaltheater, war aber daneben weiterhin als Klavierpartner seines Vaters aktiv: In dessen letztem Lebensjahr absolvierte er mit ihm in Prag noch einen monumentalen Konzertzyklus, in dem – nach dem Vorbild der legendären Rubinsteinschen „Historischen Konzerte“ – ein Überblick über die Entwicklung der Violinmusik von den alten Italienern bis hin zur Moderne geboten wurde. Nach dem Tode des Vaters, dessen er in seinem ersten großangelegten Chor-Orchesterwerk ( Requiem pro memoria patris) gedachte, kehrte er 1941, jetzt aber als Chefdirigent, wieder zur Tschechischen Philharmonie nach Prag zurück. Im darauffolgenden Jahr heiratete er die Geigerin Ludmila Bertlová. Nach der Befreiung seiner Heimat führte er das Orchester 1946/47 mit triumphalem Erfolg nach Paris, Genf und Zürich. Diese Zeit war auch in seiner kompositorischen Entwicklung besonders fruchtbar: 1945 hatte er seine großzügig konzipierte II. Symphonie (Pejte písen novou, für Soli, Chor und Orchester) beendet, und 1946 entstanden die beiden Opern Cisarovy nové saty (Des Kaisers neue Kleider) und Kvetinky malé Idy (Die Blümchen der kleinen Ida) sowie das zweite und dritte Streichquartett. 1947 wurde in Brünn die schon 1943/44 entstandene Oper Veronika (über das biblische Sujet) uraufgeführt. Doch der kommunistische Putsch vom Februar 1948 zerstörte Kubelíks Hoffnungen auf eine freie und gedeihliche Weiterentwicklung; seine tiefverwurzelte Aversion gegen jede Art des Totalitarismus verbot ihm jene abwartende Haltung, die viele seiner Schicksalsgenossen in diesen Jahren einnahmen – noch im Jahr des Umsturzes nützte er eine Konzertverpflichtung in Edinburgh, um sich mit seiner Familie ins Ausland abzusetzen. Als gefragter Gastdirigent, vor allem des BBC Orchesters, konzertierte er in der Folgezeit unter anderem auch bei den Musikfestspielen von Venedig und Luzern, wo er nicht lange danach seine zweite Heimat finden sollte, und unternahm Tourneen bis nach Australien, Nord- und Südamerika und sogar in die Sowjetunion. 1950 wurde er als musikalischer Leiter des Symphonieorchesters nach Chicago berufen, blieb aber daneben weiterhin auch ständiger Gast bei den wichtigsten europäischen Orchestern. Eine besondere Beziehung verband ihn dem Amsterdamer Concertgebouw-Orchester. Ein Konzert mit den Wiener Philharmonikern in der Züricher Tonhalle im Herbst 1953 bedeutete ihm die Erfüllung eines Jugendtraumes. Aus familiären Gründen entschloß er sich in diesem Jahr, seine amerikanische Stellung aufzugeben, und sich ganz auf das europäische Musikleben zu konzentrieren. In den folgenden Jahren teilte er seine Zeit zwischen Luzern, wo er seinen Wohnsitz genommen hatte, und London, wo er seit 1953 als Gastdirigent und von 1955 bis 1958 als musikalischer Direktor der Covent Garden Opera wirkte. In diese Zeit fällt auch die Intensivierung seiner Zusammenarbeit mit den Wiener Philharmonikern. Es waren die Jahre, in denen allmählich der „Mythos Kubelík“ entstand: Aufgrund einiger äußerer Ähnlichkeiten (hochgewachsene, leicht vornüber geneigte Gestalt, Gesichtsschnitt, unorthodoxe Schlagtechnik), aber vor allem wegen seiner mitreißenden Impulsivität und Gefühlsbetontheit sahen in ihm viele eine Art „Reinkarnation“ Wilhelm Furtwänglers.

Für mediales Aufsehen sorgte 1961 Kubelíks Solidarisierung mit Otto Klemperer in dessen Streit mit dem Züricher Tonhalleorchester – Kubelík hat dieses Orchester danach nie wieder dirigiert. Überschattet war für ihn dieses Jahr durch den Tod seiner Frau, deren Andenken er das berührende Requiem pro memoria uxoris widmete. Im November des selben Jahres wurde er als Nachfolger Eugen Jochums Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in München. In dieser Stellung verblieb er nicht weniger als 22 Jahre. Wie kein anderer hat er die Eigenart des unter seiner Leitung zu einem weltweit anerkannten Eliteorchester gereiften Klangkörpers geprägt. Auch in dieser Stellung zeichnete sich Kubelík aber nicht nur als feinfühliger Künstler, sondern ebenso als politisch wacher und unbestechlicher Bürger aus: Als die CSU-Mehrheit in Bayern 1972 ein demokratiepolitisch überaus bedenkliches Rundfunkgesetz durchsetzte, machte er mit einer spektakulären Rücktrittsdrohung auf die Gefahr aufmerksam, daß die Anwendung dieses Gesetzes den Bayerischen Rundfunk binnen kurzem zur „Servicewelle der CSU“ degradieren würde. Ebenso kritisch und kompromißlos erwies er sich in künstlerischen und organisatorischen Fragen: Die für ihn gewiß ehrenvolle Berufung zum künstlerischen Leiter der Metropolitan Opera in New York lehnte er nach kurzer Tätigkeit (1973/74) wieder ab, weil die dortigen budgetären Verhältnisse seine Zielvorstellungen unerfüllbar erscheinen ließen; gesundheitliche Gründe – er laborierte seit längerem an Gicht und einer ihn zunehmend quälenden Arthritis – mögen an dieser Entscheidung auch ihren Anteil gehabt haben. Diese medizinischen Rücksichten waren es auch, die ihn dazu bewogen, die Wintermonate von nun an im heißen, trockenen Klima der kalifornischen Colorado-Wüste zu verbringen, wo er sich in La Quinta, wenige Kilometer südöstlich des (österreichischen Musikfreunden als Emigrationsdomizil Ernst Kreneks vertrauten) Ortes Palm Springs, niederließ. Seinen europäischen Wohnsitz hatte Kubelík, der 1963 in zweiter Ehe die australische Sopranistin Elsie Morison geheiratet und 1967 die schweizerische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, nach wie vor in Kastanienbaum bei Luzern. 1979 legte er mit Erreichen des Pensionsalters die Leitung des Orchesters offiziell zurück. Wegen des überraschenden Todes seines designierten Nachfolgers Kiril Kondrashin (1914-1981) verblieb er aber noch bis zur Amtsübernahme durch Sir Colin Davis im September 1983 in seiner bisherigen Stellung. In einem festlichen Abschiedskonzert, das seine Dirigentenlaufbahn beschließen sollte, dirigierte er am 30. Mai 1986 in München noch einmal Mahlers IX. Symphonie. Infolge der politischen Ereignisse des Jahres 1989 ließ er sich dann aber doch bewegen, anläßlich des „Prager Frühlings“ 1990 das erste Mal seit seiner Emigration in der alten Heimatstadt aufzutreten. Die Tschechische Philharmonie, für die diese triumphale Heimkehr ihres ehemaligen Chefdirigenten einen Markstein bedeutete, konnte ihn dann in den Jahren 1990 und 1991 noch für eine Reihe von Konzerten in Prag sowie auf einer Japantournee des Orchesters gewinnen. Allen tschechischen Musikfreunden unvergeßlich ist die denkwürdige Aufführung von Smetanas Má vlast am Tage der ersten freien Wahlen nach dem Sturz des kommunistischen Regimes geblieben, bei der Kubelík auch die mit der Tschechischen Philharmonie vereinigten Philharmonischen Orchester von Brünn und Preßburg leitete. Mit diesen Konzerten an der Spitze der Tschechischen Philharmonie beschloß Kubelík seine Dirigentenlaufbahn am selben Pult, an dem er sie begonnen hatte.

Obwohl das kompositorische Schaffen Kubelíks im Gedächtnis des Publikums bei weitem nicht so präsent ist wie seine Leistungen als Dirigent, war er alles andere als einer jener Sonntagskomponisten und komponierenden Kapellmeister, an denen unser zu Ende gehendes Jahrhundert wirklich keinen Mangel gelitten hat. Schon ein Blick auf die zugänglichen bibliographischen Daten zu seinem kompositorischen Schaffen (- leider gibt es bisher noch kein vollständiges Werkverzeichnis -) zeigt, welch zentrale Bedeutung das Eigenschöpferische in seinem künstlerischen Selbstverständnis gehabt haben muß; die Entstehung eines so umfangreichen und vielgestaltigen Œuvres wäre sonst neben einer so überaus erfolgreichen Dirigentenkarriere gar nicht denkbar gewesen. Die kompositorischen Anfänge stehen, wie nicht anders zu erwarten, in enger Verbindung mit der Zusammenarbeit zwischen Jan und Rafael Kubelík: Für den Vater, der selbst zwischen 1916 und 1932 nicht weniger als sieben Violinkonzerte geschrieben hatte, verfaßt er eine Violinsonate (1931/32), eine Phantasie für Violine und Orchester (1932/33) und das 1. Violinkonzert (1939/40). Gleichzeitig mit seinem Studienabschluß beendet Rafael Kubelík 1934 die Komposition seiner I. Symphonie (der bis 1971 noch zwei weitere folgen werden), 1938 schreibt er das erste seiner insgesamt sechs Streichquartette. In den Jahren vor der Emigration entstehen neben den oben schon erwähnten Werken unter anderem ein Konzert für Flöte und Kammerorchester (1943), ein Cellokonzert (1944), eine ganze Reihe von Klavier- und Kammermusikwerken sowie eine große Anzahl von Liedern. Unter den Hauptwerken der Fünfzigerjahre finden sich ein Klavierkonzert (1950), ein zweites Violinkonzert (1951), zwei Messen (1955 und 1957) und die Oper Tagesanbruch (1958). In der Münchener Zeit setzt Kubelík dann die musikdramatische Arbeit, die ihn in seinen letzten tschechischen Jahren so intensiv beschäftigt hatte, mit einem Werk über das Leben Tizians fort (Tiziano [1966], in einer späteren Fassung unter dem Titel Cornelia Faroli (1966) anläßlich der Olympischen Spiele in München 1972 uraufgeführt.) Neben dem Genre der Kammermusik, das ihn ein Leben lang fesselte, hatte Kubelík eine ganz besondere Vorliebe für den Kinderchor, den er unter anderem in zwei bedeutenden religiösen Werken der Sechzigerjahre (dem schon oben erwähnten Requiem pro memoria uxoris und einem 1963 komponierten Libera nos), aber auch in seinem Alterswerk, so etwa in der 1988 in Luzern uraufgeführten Invocation, überaus wirkungsvoll einsetzte.

Kubelíks Kompositionsstil läßt sich wohl am ehesten als spätexpressionistisch beschreiben: Die prägenden Eindrücke seiner Prager Jugend – Janacek, Mahler und Zemlinsky – haben in seinem Idiom unüberhörbare Spuren hinterlassen. Obwohl er sich den Anregungen und Errungenschaften der Zweiten Wiener Schule nicht prinzipiell verschloß, blieb seine Musik doch immer der Tonalität verhaftet. Diese Tonalität wird aber sehr frei und assoziativ gehandhabt, sie ist vieldeutig und schwankend – also kein fester Bezugsrahmen, sondern ein komplexes Geflecht tonaler Erinnerungen, die sich uns in stets wechselnder Perspektive darbieten. Das Trio Concertante entstand auf Initiative Franz-Xaver Ohnesorgs als Auftragswerk der Kölner Philharmonie und ist ein eindrucksvolles Beispiel für Kubelíks Spätstil. Es ist – in Fortführung eines in der Spätromantik geprägten Formkonzeptes – als einsätziges Werk von zyklischer Mehrgliedrigkeit gestaltet: Die mit Preludio – Allegro – Interludio – Cantilena – Cadenza – Contradanza und Postludio bezeichneten Teile sind auf vielfältige Weise aufeinander bezogen und miteinander verkettet, vor allem durch eine Art Leitmotiv, das in verschiedensten Gestalten erscheint. Für die Sprache des Trios ist ein unversöhnlich rauher, oft archaisch anmutender Ton bezeichnend. Die Eröffnung des Werkes trägt rituelle Züge: Das Preludio beginnt mit einer dreimal wiederholten Beschwörungsformel, die sich in der Folge als emblematisches Leitmotiv etabliert und hier zunächst von großräumig aus Terzensequenzen geschichteten Akkorden signalhaft markiert wird. Die Aufsplitterung dieser beiden Elemente – die Akkorde werden in nervöse Figurationen aufgebrochen, während die melodische Formel zu ausgedehnten Klangflächen erstarrt – führt zu dem gewissermaßen das Hauptthema der großzyklischen Form darstellenden Allegro risoluto, dessen barbarischer Impetus die mystisch-feierliche Atmosphäre des Anfangs wildentschlossen zerstört. Doch es dauert nicht lange, bis die hieratische Formel ungeschlagen zurückkehrt: Mit jeder Wiederkehr scheint sie an Macht zu gewinnen, um schließlich im Unisono aller Instrumente über den rohen Ansturm zu triumphieren. Das diesen Siegeszug abrupt abbrechende Interludio verfremdet die Anfangsworte der leitmotivischen Formel zu einem gespenstischen Ostinato, über das sich blutleere (senza espressivo) Glissandi legen. Wie schon im Preludio wird das Leitmotiv kadenzartig durch weite Klangflächen geführt, bis es in die Cantilena mündet, welche die Funktion eines Seitensatzes übernimmt. Ihr Thema, in dem man eine radikale Umformung des Leitmotivs sehen kann, wird als zunächst drei-, dann sogar vierstimmiger Kanon durchgeführt. Der Glissando-Septimfall, der im Interludio ein schwereloses Gespinst war, unterbricht – jetzt im Cello um zwei Oktaven auf imposante Größe gedehnt – mit machtvoll Einhalt gebietender Geste dieses Spiel. Im zweiten Teil der Cantilena entwickelt Kubelík eine andere Metamorphose des Leitmotivs als gemessen schreitenden zweistimmigen Kanon über nur langsam in Bewegung geratenden feierlichen Orgelpunkten. Das sich daran anschließende (mit Agitato, tempestuoso bezeichnete) Zwischenglied stürzt dieses beherrschte Thema in Abgründe der Verzweiflung, in denen die barbarischen Kräfte des Allegro lauern. Das Erwachen aus der diesem Sturze folgenden Besinnungslosigkeit ist mit Cadenza überschrieben, stellt in Wahrheit aber die schattenhafte Rekapitulation der ersten beiden Abschnitte des Werkes (Preludio und Allegro) dar – ein Moment von beklemmender Eindringlichkeit, in dem die Bilder antiker Todesmythen heraufbeschworen werden. In mitleidloser Vervollständigung dieses schwarzen Spiegel- und Gegenbildes verhöhnt am Ende dieses Abschnittes der dreimalige Einbruch einer sarkastisch vorgetragenen vulgären Tanzwendung die feierliche Beschwörungsformel des Anfangs. Doch eben diese Wendung öffnet den Weg zu der nun folgenden Contradanza, in der die rohe Barbarei des Allegro tänzerisch gebändigt erscheint. Zwar klingen jetzt – wohl von volksmusikalischen Echos ausgelöst – mitunter sogar fröhliche Töne an, aber diese Fröhlichkeit ist doppelbödig und beständig durchsetzt mit finsterer Häme. Obwohl sich einzelne Wendungen der Contradanza idiomatisch durchaus auf traditionelle tschechische Tänze (wie Polka oder Furiant) beziehen lassen, sind wir hier meilenweit von jeder folkloristischen Entspannung entfernt. Das metrische Gewand dieses Tanzes sind häufig wechselnde asymmetrische Taktarten, unter denen der archetypische 8/8-Takt (aus 3+2+3 Achteln) eine dominante Stellung einnimmt. (Es ist leicht möglich, daß sich der Kammermusiker Kubelík beim Niederschrieben dieser metrischen Formel an ihre Verwendung in Ravels Klaviertrio, das bei Kubelíks Geburt gerade im Entstehen war, erinnert hat – und daß eben diese Reminiszenz dafür verantwortlich ist, wie konträr die hier damit erzielte Wirkung ist.) Der dreifache Widerspruch – zur traditionell simplen und stabilen Metrik des Kontertanzes, zum erwarteten folkloristischen Frohsinn und zur Klangwelt des Trios von Ravel – könnte jedenfalls einen Schlüssel zu der ansonsten etwas kryptisch anmutenden Bezeichnung „Contradanza“ abgeben; dann hätte nämlich die altehrwürdige Verballhornung ( – das französische „Contredanse“ basiert auf dem englischen „Country Dance“ – ) hier nach Jahrhunderten endlich doch noch einen Eigen-Sinn gefunden. Der immer frenetischer werdende Tanz zerschellt schließlich an einer herrischen Formel, in der wir die Umkehrung des Leitmotivs erkennen können. Mit einem ermatteten D-moll-Akkord setzt das Postludio, die Coda des Werkes, ein: ein Klagegesang von so schmerzlicher Tiefe, daß man meint, er beschließe nicht nur ein Werk, sondern trage eine ganze Welt zu Grabe. Der dreimaligen Anrufung des Beginns und ihrer dreimaligen Verspottung in der Werkmitte stehen hier, am „Ausgang der grimmigen Einsicht“, zum Schluß drei unerbittliche D-moll-Akkorde gegenüber, hinter denen nur mehr die große, ewige Stille liegen kann.

© by Claus-Christian Schuster