Petr Iljitsch Tschaikovskij
* 07. Mai 1840
† 06. November 1893
Trio a-moll op.50
Komponiert: | Rom (Hôtel Costanzi), 10. Dezember 1881 -9. Februar 1882 |
Widmung: | “A la mémoire d’ un grand artiste” (Nikolaj Grigorjevic Rubinstejn, ) |
Uraufführung: | Moskau, Konservatorium 11. (23.) März 1882 (geschlossene Veranstaltung) 18. (30.) Oktober 1882 (öffentlich) Sergej Ivanovic Taneev (1856-1915), Klavier Jan Hrimaly (Ivan Vojtehovic Grzimali, 1844-1915), Violine Karl Friedrich Wilhelm Fitzenhagen (Vasilij Fedorovic Fitcenhagen, 1848-1890), Violoncello |
Erstausgabe: | Jürgenson, Moskva, September 1882 |
Die Vorgeschichte der Entstehung des Opus 50
Anfang Oktober 1880 war Tschaikovskijs Gönnerin Nadeschda von Meck auf ihrer alljährlichen Europareise in ihrer Villa in Florenz eingetroffen. Der Troß ihres Hofstaates war wie immer beeindruckend groß: In diesem Jahr hatte sie zu ihrer musikalischen Unterhaltung zeitweise ein ganzes Klaviertrio zur Verfügung. Der Geiger Vladislav Pachulskij, Kompositionsschüler von Tschaikovskij, und der Cellist Pëtr Daniltschenko hatten eben ihre Studien am Moskauer Konservatorium beendet, den Pianisten, einen gerade achtzehnjährigen Studenten, hatte man Frau von Meck aus Paris empfohlen: sein Name war Claude Debussy, und er hatte sich als wahre Trouvaille erwiesen.
Die häusliche Triomusik machte der Hausherrin unendliches Vergnügen. An Tschaikovskij schreibt sie fast flehentlich:
“Warum haben Sie kein Klaviertrio geschrieben? Jeden Tag bedauere ich das, weil wir hier so oft Trio spielen, und ich seufze, daß es von Ihnen keines gibt.”
Tschaikovskij hätte allen Grund gehabt, eine so unmißverständliche Bitte umgehend zu erfüllen; warum er es nicht tat, und weshalb er sich für denkbar ungeeignet hielt, ein solches Projekt auch nur ins Auge zu fassen, erklärt er seiner Freundin in einem von Verehrern und Verächtern des Genres Klaviertrio seither immer wieder – je nach Standpunkt mit Entrüstung oder Zustimmung – zitierten Brief:
“Sie fragen mich, warum ich kein Trio komponiere? Verzeihen Sie, liebe Freundin, so gerne würde ich ihren Wunsch erfüllen, doch das übersteigt meine Kräfte. Die Sache ist die, daß ich wegen der Veranlagung meines Gehörs die Verbindung von Klavier mit Geige oder Violoncello solo überhaupt nicht vertrage. Diese Klangfarben scheinen mir einander abzustoßen, und ich versichere Ihnen, daß es für mich eine reine Tortur bedeutet, irgendein Trio oder eine Sonate mit Geige oder Violoncello anzuhören. Zu erklären vermag ich diese physiologische Tatsache nicht und stelle sie nur fest. Eine ganz andere Sache ist Klavier mit Orchester: Auch da gibt es keine Vereinigung der Klangfarben, das Klavier kann sich ja mit gar nichts vereinigen, weil es einen elastischen Klang hat, der von jeder anderen Klangmasse gewissermaßen abprallt, aber da gibt es zwei gleichwertige Kräfte, nämlich das mächtige, an Farben unerschöpflich reiche Orchester, das ein kleiner, unscheinbarer, aber unerschrockener Herausforderer bekämpft und (wenn er talentiert ist) besiegt. In diesem Kampf steckt viel Poesie und für den Komponisten eine unendliche Menge verlockender Kombinationen. Doch was ist dagegen die unnatürliche Verbindung dreier solcher Instrumente wie Geige, Violoncello und Klavier? Hier gehen die Vorzüge jedes einzelnen der drei verloren. Der gesangliche und von einem so wundervollen Timbre durchwärmte Klang von Geige und Violoncello erscheint als nur sehr einseitiger Vorzug neben dem Zaren der Instrumente, und dieser letztere versucht mühsam zu beweisen, daß auch er so singen kann, wie seine Konkurrenten. Meiner Meinung nach kann das Klavier nur in drei Fällen Verwendung finden: erstens allein; zweitens im Kampf mit dem Orchester; und drittens als Begleitung, das heißt im Hintergrund eines Bildes. Aber ein Trio setzt ja Gleichberechtigung und Gleichartigkeit voraus, und wo kann es denn eine solche zwischen Solostreichinstrumenten einerseits und dem Klavier andererseits geben? Es gibt sie nicht. Und deshalb haben Klaviertrios stets etwas Gekünsteltes, und jeder der drei spielt andauernd nicht das, was seinem Instrument wirklich eigentümlich ist, sondern was ihm vom Autor aufgezwungen wurde, weil dieser ständig vor dem Problem steht, wie er die Stimmen und Bestandteile seines musikalischen Gedankens auf die Instrumente verteilen soll. Ich lasse dabei der großen Kunst und dem genialen Vermögen, diese Schwierigkeiten zu besiegen, das Komponisten wie Beethoven, Schumann und Mendelssohn besessen haben, volle Gerechtigkeit widerfahren. Ich weiß, daß es eine Vielzahl von Trios mit hervorragend qualitätvoller Musik gibt, aber als Form liebe ich das Trio nicht und kann darum für diese Klangkombination nichts schreiben, das von aufrichtigem Gefühl durchwärmt wäre. […] Schon allein die Erinnerung an den Klang eines Trios verursacht mir einfach physisches Unbehagen.”
(24. Oktober 1880)
Als er das schrieb, steckte Tschaikovskij in Kamenka, dem südlich von Kiev gelegenen Landgut seines Schwagers, mitten in der Arbeit an zwei seiner bis heute populärsten Orchesterwerke – der Streicherserenade C-Dur (op.48) und der für die Einweihung der (inzwischen abgerissenen und wieder aufgebauten) Moskauer Erlöserkathedrale bestimmten Ouverture solenelle 1812 (op.49); daneben hatte er für die Premiere des Evgenij Onegin am Bolshoj Teatr (- die Uraufführung hatte 1879 am Malyj Teatr stattgefunden -) noch Korrekturen vorzunehmen, und dabei stand schon die nächste Oper, Orleanskaja deva (Die Jungfrau von Orléans), kurz vor ihrer Uraufführung. Aber die Überzeugung, die Tschaikovskij in dem zitierten Brief äußert, ist durchaus nicht damit zu erklären, daß sein Schaffen und Denken eben gerade um andere Dinge kreiste. Es ist eine Überzeugung, die sich schon in seinen ersten Studienjahren unmißverständlich manifestiert hatte, und der er – mit der uns hier beschäftigenden bemerkenswerten Ausnahme – sein ganzes künstlerisches Leben hindurch treu bleiben sollte. Außer dem Trio op.50 gibt es tatsächlich in Tschaikovskijs Œuvre nur noch zwei Werke, in denen Solostreicher und Klavier aufeinander treffen, und diese Werke sind im Sinne des Briefes an Nadeschda von Meck durchaus keine Ausnahmen, sondern können ganz gut als Bestätigung und Illustration der dort aufgestellten Thesen dienen: Die als Opus 42 unter dem Titel Souvenir d´un lieu cher (1878) veröffentlichten drei Stücke für Violine und Klavier sind lyrische Skizzen, in denen der Komponist Schloß Brailov, dem Landsitz seiner Mäzenin, ein reizendes Denkmal gesetzt hat; der Klavierpart erfüllt hier genau jene Begleitfunktion, von der Tschaikovskij in seinem Brief als der einzigen ihm zulässig erscheinenden Form des solistischen Zusammentreffens der beiden Instrumente spricht. Das zweite Werk, eine Konservatoriumsarbeit aus den Jahren 1863/64, ist ein Allegro in C-moll für Klavier und Streichquintett (mit Kontrabaß) – und man kann schon an dieser Instrumentationswahl unschwer erkennen, daß es sich dabei ganz einfach um das schülerhafte Surrogat eines Klavierkonzertes handelt. Tschaikovskijs so leidenschaftlich geäußerte Ablehnung der Klavierkammermusik ist also alles andere als eine ephemere Marotte oder Laune, sondern ein ernstzunehmendes Credo – und das macht die rätselhafte Erscheinung des Klaviertrios, das sich in der homogenen Landschaft dieses Œuvres wie ein monumentaler Findling ausnimmt, nur noch bemerkenswerter.
Sofort nach der Petersburger Premiere der Jungfrau von Orléans (13./25. Februar 1881) verließ Tschaikovskij Rußland fast fluchtartig. Über Wien (wo er in Dvoráks Stammhotel “Zum Goldenen Lamm”, Wiedner Hauptstraße 7, abstieg, und in der Oper eine prächtige Aufführung von Webers Oberon erlebte), Florenz und Rom, seine ewige Liebe, kam er nach Neapel. Erst hier erreichte ihn die Nachricht von der Ermordung des Zaren Alexander II., die ihn tief erschütterte – er ahnte, daß dieses Attentat der entscheidende Schritt auf einem Weg war, an dessen Ende die Vernichtung seiner geistigen Heimat stehen würde. Von Neapel brach er nach Nizza auf, wo er mit Nikolaj Rubinstein zusammentreffen wollte. Der war von seinen Moskauer Ärzten, die sich im Kampf gegen seine rasch fortschreitende Tuberkulose keinen anderen Rat mehr wußten, in den Süden geschickt worden.
Die Beziehung zwischen Tschaikovskij und Rubinstein war schon lange nicht mehr ungetrübt, und der Zeitpunkt dieser neuerlichen Annäherung und geplanten Zusammenkunft ist für Tschaikovskij sehr bezeichnend – in ähnlicher Weise wird er Anfang 1885 nach Davos zu seineme ehemaligen Freund Iosif Kotek (1855-1885) reisen, der ihn in Zusammenhang mit dem Violinkonzert so schwer gekränkt hatte, und sich im Sommer 1887 in der „gottverdammten, elenden” Stadt Aachen niederlassen, um die letzten Tage von Nikolaj Kondratjev zu verschönen.
Doch in Nizza findet er statt des Freundes ein Telegramm, das ihn an Nikolaj Rubinsteins Sterbebett nach Paris ruft. Von dort berichtet er zwei Tage nach dessen Tod:
„In Nizza habe ich zuerst aus einem Telegramm von Jürgenson erfahren, daß es Nikolaj Grigorjewitsch sehr schlecht gehe, und danach durch telegraphische Depeschen aus dem Grand Hôtel, 1) daß es keine Hoffnung gebe, und 2) daß er gestorben sei. Am nächsten Tag verließ ich mit Kondratjev und Sascha [Tschaikovskijs Schwester Alexandra] Nizza. Die Fahrt war für mich ein qualvolles moralisches Inferno. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich nicht so sehr unter dem Bewußtsein dieses schrecklichen und unersetzlichen Verlustes litt wie unter der Angst, in Paris, im Hotel, und noch dazu im Grand Hôtel, den von der quälenden Krankheit entstellten Leichnam des armen Rubinstein sehen zu müssen. Ich fürchtete, daß ich diese Erschütterung nicht überstehen würde, und daß mir, trotz aller Willensanstrengungen, diese beschämende Angst zu besiegen, etwas zustoßen werde. Jedenfalls waren meine Befürchtungen wenigstens in dieser Hinsicht grundlos. Heute um sechs Uhr morgens war die Leiche Nikolaj Grigorjewitschs schon in die russische Kirche überführt worden, und im Grand Hôtel traf ich nur E[lena] A[ndreevna] Tretjakova, die die letzten sechs Tage seines Lebens mit Nikolaj Grigorjewitsch verbracht hat. […] Eines ist tröstlich – daß Nikolaj Grigorjewitsch keinerlei Todesgedanken hatte und fast bis zur letzten Minute immerzu nur von seinen Zukunftsplänen sprach. Drei Stunden vor seinem Tod verlor er das Bewußtsein und starb ganz ohne Agonie, so unmerklich, daß E. A. Tretjakova, deren Hand er krampfhaft umschlossen gehalten hatte, lange Zeit nicht wußte, ob er noch am Leben sei…”
(an Modest Tschaikovskij, 25. März 1881)
„Heute war ich in der Kirche bei der Totenmesse, dann fuhr ich zur Gare du Nord und sah zu, wie der Bleisarg in einen solchen aus Holz eingenagelt und in den Gepäckwagen gestellt wurde. Es war furchtbar schmerzlich und unheimlich anzusehen, wie der arme Nikolaj Rubinstein in einem Kasten wie ein Gepäckstück nach Moskau befördert wurde.”
(an Nadeschda von Meck, 25. März 1881)
(Rubinstein wurde im Moskauer Danilovskij-Kloster beigesetzt. Als man dort im Herbst bei einer Seelenmesse Tschaikovskijs Messe op.41 aufführen wollte, wurde das von den kirchlichen Behörden untersagt – diese Musik sei „römisch-katholisch”…)
Tschaikovskij verließ Paris so rasch er konnte und kehrte über Berlin nach St. Petersburg zurück, von wo er nach Moskau weiterreiste. Dort wurde er bestürmt, den durch den Tod Nikolajs freigewordenen Direktorsposten am Konservatorium zu übernehmen. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt schon wußte, daß Frau von Meck am Rande des finanziellen Ruins stand, seine eigene materielle Zukunft also alles andere als gesichert war, lehnte er entschieden ab – seine Freiheit war ihm wichtiger als bürgerliche Sicherheit. Schon zu Ostern war er wieder in Kamenka. Aber sein ukrainisches Tusculum (hier waren in den Jahren davor neben den beiden oben erwähnten Werken auch große Teile der 2., 3. und 4. Symphonie, die 1. Orchestersuite op.43 und das Nikolaj Rubinstein gewidmete 2. Klavierkonzert op.44 entstanden), wo er einen Großteil des Jahres 1881 verbrachte, bot ihm diesmal keine rechte Schaffensmuße: die Schwester Alexandra war ernsthaft erkrankt und mußte schließlich mit ihrem Mann zur Behandlung nach St. Petersburg reisen, so daß Tschaikovskij mit seinen sieben Nichten und Neffen allein zurückblieb. Zudem hatte die älteste, Tatjana, ernsthaften Liebeskummer, an dem Onkel Petja natürlich innigen Anteil nahm. Auch wirtschaftlich standen die Dinge des Schwagers nicht zum besten. Lustlos und nur, um irgend etwas zu tun, übernahm Tschaikovskij auf Bitten seines Verlegers Pëtr Ivanovic Jürgenson die Herausgabe der Gesammelten Werke Dmitrij Bortnjanskijs (1751-1825), was ihn dazu zwang, sich eingehend mit den Traditionen der orthodoxen Kirchenmusik auseinanderzusetzen. Nebenprodukt dieser Arbeit war die im Mai 1881 begonnene (und erst im Dezember 1882 vollendete) Vsenoshchnaya (Vesper) op.52. Seinem Bruder Anatolij berichtet er:
„Ich schreibe einstweilen überhaupt nichts, bereite mich aber darauf vor, eine Vesper als Pendant zu meiner Messe [op.41, 1878] in Angriff zu nehmen. Wenn ich ein Sujet finde, fange ich vielleicht später eine Oper an. Das ist das einzige Genre (außerhalb der Kirchenmusik), das mich anzieht. Seit dem Tod Rubinsteins hab ich das Interesse an symphonischer Musik völlig verloren.”
(13./25. Mai 1881)
In dieser Schaffenskrise, die Tschaikovskij hier mit dem Tod seines Freundes in Verbindung bringt, und zu deren Symptomen etwa der große zeitliche Abstand (über zehn Jahre) zwischen der 4. und 5. Symphonie zu zählen ist, liegt wohl auch die Hauptvoraussetzung für das Entstehen des singulären und im Gesamtwerk so auffällig isolierten Klaviertrios.
Rom, Hôtel Costanzi
Wie schon zwei Jahre zuvor will Tschaikovskij den Winter mit seinem Bruder Modest in Rom verbringen. Modest reist in Begleitung seines taubstummen Ziehsohnes, des dreizehnjährigen Kolja (Nikolaj Konradi), und seines Dieners Grischa voraus und bezieht in Tschaikovskijs Stammhotel Costanzi Quartier. Auch das Ehepaar Kondratjev mit seinen drei Kindern, die der Komponist aus Kamenka kennt, hat sich hier einquartiert.
Noch auf der Fahrt schmiedet Tschaikovskij Opernpläne; in der Erzählung „Die durchzechte Nacht” von Dmitrij Averkiev (1836-1905), die L. N. Antropov unter dem Titel „Hausmeister Vanka„ dramatisiert hat, einer idyllisch-humorvollen Verherrlichung des „alten”, patriarchalischen Rußland, glaubt er eine passende Textvorlage gefunden zu haben. Am Morgen des 2. Dezember 1881 trifft er aus Florenz kommend (wo er wieder einmal zwei Tage in unmittelbarer Nähe Nadeschda von Mecks verbracht hat, ohne sie zu sehen) in Rom ein. Seinen Schaffenseifer muß er zunächst bezähmen: Die Suite, die er zum Arbeiten braucht, ist noch von einer englischen Familie belegt, und jeden Tag belästigen ihn die Mitglieder der aristokratischen russischen Schickeria mit Besuchen und Einladungen. Als er nach einer erzwungenermaßen müßigen Woche sein Zimmer beziehen kann, macht er sich zunächst einmal an die Realisierung eines Projektes, das ihn schon seit längerer Zeit beschäftigt: die Vertonung von Puschkins Verserzählung „Poltava” – die 1883 vollendete Oper Mazeppa. Die Arbeit geht nur stockend voran, und Tschaikovskij ist wieder einmal – wie so oft – von der panischen Angst erfüllt, seine Schaffenskraft sei gebrochen.
„Gestern erhielt ich aus Kamenka eine Nachricht, die mich sehr betrübt hat. In der Nähe von Kamenka gibt es ein kleines Wäldchen, Trostjanka genannt, daß das übliche Ziel meiner Wanderungen war. Dort wohnt mitten im Wald eine sehr zahlreiche und nette Köhlerfamilie. Ich habe selten so reizende Kinder wie diese gesehen, aber besonders liebte ich ein kleines, vierjähriges Mädchen, die zuerst große Scheu vor mir hatte, aber sich dann an mich gewöhnte und meine Freundin wurde. Sooft ich kam, lief sie herbei, liebkoste mich und plauderte so herzigen Unsinn – es war wirklich ein Vergnügen, und ich habe diese Kind sehr geliebt Jetzt ist dort Diphterie ausgebrochen, und mein Schwager schreibt mir, daß dieses Mädchen und eines seiner Geschwister daran gestorben sind; die anderen hat er alle in den Ort bringen lassen, aber er fügt hinzu: „Ich fürchte, es ist schon zu spät.“. Unser armes Rußland! So freudlos ist alles, und dann noch diese Geißel, die unsere Kinder zu Tausenden zugrunderichtet.“
(an Nadeschda von Meck, 16. Dezember 1881)
Am 22. Dezember beginnt Tschaikovskij die Niederschrift des Trios. Nicht nur die Trauer um den verlorenen Freund, auch die Klage über das Schicksal Rußlands, die in dem zuletzt zitierten Brief anklingt, wird hier musikalische Gestalt annehmen. Die plötzliche Eingebung, der er mit dieser Komposition folgt, scheint Tschaikovskij selbst überrascht zu haben – jedenfalls hat der Beweggrund, den er in dem folgenden Brief an Nadeschda von Meck anführt, eher den Beigeschmack einer konventionellen Stilisierung:
„Wissen Sie, meine Teure, was ich zu schreiben begonnen habe? Sie werden sehr erstaunt sein! Erinnern Sie sich noch, Sie haben mir einmal geraten, ein Trio für Klavier, Geige und Violoncello zu schreiben, und vielleicht erinnern Sie sich auch meiner Antwort, in der ich offen meine Abneigung gegen diese Besetzung aussprach? Und jetzt habe ich mich plötzlich trotz dieser Abneigung entschlossen, mich in dieser bisher von mir gemiedenen Musikgattung zu versuchen. Den Anfang des Trios habe ich schon niedergeschrieben. Ob ich es auch beenden werde, und ob es mir gelingen wird, das weiß ich nicht, aber ich würde das Begonnene sehr gerne gut zu Ende führen.
Sie werden mir wohl glauben, wenn ich sage, daß der Hauptgrund, oder richtiger: der einzige Grund, weshalb ich mich mit der mir so wenig angenehmen Vereinigung von Klavier und Streichinstrumenten abgefunden habe, der Wunsch ist, Ihnen mit diesem Trio eine Freude zu bereiten. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich mich überwinden muß, meine musikalischen Gedanken in diese neue und ungewonte Form zu gießen. Aber ich möchte als Sieger aus all diesen Schwierigkeiten hervorgehen, und das stete Bewußtsein, daß Sie zufrieden sein werden, ermuntert und inspiriert mich.”
(27. Dezember 1881)
Ein solcher „Hauptgrund” für die Entstehung eines Werkes von so außergewöhnlicher Bedeutung und Dimension mutet seltsam anämisch an. Doch unabhängig davon, wie vollständig oder wie aufrichtig Tschaikovskij seine Briefpartnerin über die Quelle seiner Inspiration unterrichtet haben mag, ist offensichtlich, daß die Entstehung des Klaviertrios wirklich von Anfang an von großen inneren Widerständen und Zweifeln begleitet war. Das Pflichtbewußtsein, mit dem der Komponist diese Schwierigkeiten zu überwinden versucht, verwandelte sich dann aber Schritt für Schritt in das begeisternde Feuer reiner Schaffensfreude. Man vergleiche die folgenden beiden Briefstellen aus der Anfangs- und der Endphase der Komposition:
„Wir stehen um 8 Uhr auf, um halb neun gibt es Tee; danach, während das Zimmer aufgeräumt wird, gehen wir zu Kondratjev (ich im Schlafrock) und wohnen seinem levé bei. Nachher arbeite ich bis 12. Um 12 frühstücke ich mit Nikolaj Dmitrievitsch [Kondratjev], Modest und Kolja später, um halb eins. Dann steht ein Spaziergang auf dem Programm; meistens gehe ich allein aus, aber an Sonntagen nehmen wir Grischa mit und besichtigen die eine oder andere Sehenswürdigkeit. Von 4 bis 6 schreibe ich Briefe und spiele Klavier. Um 6 ist das Essen an der table d´hôte. Wir haben mit den Kondratjevs einen Extratisch. Nach dem Essen gehe ich manchmal noch spazieren, und den Rest des Abends verbringe ich entweder zuhause mit Lektüre, oder wir spielen Karten. Um 12 Uhr gehen wir auseinander, und ich lese gewöhnlich noch eine oder eineinhalb Stunden.”
(an Anatolij Tschaikovskij, 24. Dezember 1881)
In dem Arbeitstempo, das dieser Brief schildert, hätte die Komposition des Trios wohl etliche Monate in Anspruch genommen. Tatsächlich war aber der Rohentwurf in knapp vier Wochen beendet, und auch die Ausarbeitung wird gleich darauf in Rekordzeit bewältigt:
„Ich beende gerade mein Trio und habe beschlossen, unbedingt bis zum morgigen Sonntag fertig zu sein und dann zur Erholung einen großen Spaziergang zu machen. Deshalb bin ich heute von 9 Uhr morgens bis 4 ohne aufzustehen darüber gesessen und habe mit solcher Hingabe gearbeitet, daß ich jetzt keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Diese krankhafte Eile am Ende einer Komposition macht sich in ihr immer unangenehm bemerkbar – aber ich kann meine Natur eben nicht ändern. […] Ich habe mich ganz in mein Trio vertieft. Mich fesselt diese von mir noch nicht erprobte Form. In zwei Tagen werde ich mich an die Abschrift machen, und sowie diese fertig ist, schicke ich sie nach Moskau, und Du bitte dann Taneev, ein Durchspiel zu organisieren.”
(an Anatolij Tschaikovskij, 21. Jänner 1882)
Auch die abschließende Reinschrift bereitet dem Komponisten ganz offensichtlich große Freude:
„In letzter Zeit fühle ich mich physisch und moralisch hervorragend. Ich schreibe das in erster Linie dem Umstand zu, daß mir das Trio, das ich jetzt abschreibe, sehr gut gefällt. Vielleicht werde ich ihm später untreu werden und es genauso hassen wie die Mehrzahl aller meiner früheren Kompositionen – aber jetzt bin ich stolz darauf, es befriedigt mich ganz und hebt meine Selbstachtung. Ich hatte ja wirklich schon angefangen zu glauben, daß ich niemehr etwas schreiben werde können…”
(an Anatolij Tschaikovskij, 3. Februar 1882)
Am 9. Februar 1882 ist die Reinschrift abgeschlossen; zwei Tage später ist sie schon auf dem Weg nach Moskau.
Das Werk
Wie sehr dem Komponisten das Werk am Herzen lag, zeigt nicht zuletzt der Umstand, daß er die Uraufführung ausdrücklich in die Hände von drei bedeutenden und ihm persönlich besonders nahestehenden Interpreten legte: Sergej Taneev war als Komponist Schüler Tschaikovskijs und als Pianist Schüler Nikolaj Rubinsteins gewesen, wurde späterhin ein enger Freund Tschaikovskijs und Widmungsträger von dessen symphonischer Dichtung Francesca da Rimini (op.32, 1876); der Tscheche Jan Hrimaly, der seit 1869 in Moskau lebte und lehrte, hatte mit seinem Streichquartett schon die Opera 22 (2. Quartett, F-Dur, 1874) und 30 (3. Quartett, Es-Dur, 1876) aus der Taufe gehoben; und dem aus dem Braunschweigischen stammenden Cellisten Wilhelm Fitzenhagen, der 1870 als Lehrer am Moskauer Konservatorium ebenfalls Kollege Tschaikovskijs und Nikolaj Rubinsteins geworden war, hatte Tschaikovskij 1876 die Rokoko-Variationen op.33 gewidmet (die übrigens leider zumeist in Fitzenhagens „effektvoller”, von Tschaikovskij nachsichtig autorisierter Bearbeitung zu hören sind). Die Wahl gerade dieser Interpreten war dem Komponisten so wichtig und sein Vertrauen in sie so groß, daß er auf der Titelseite des Autographs den Vermerk anbrachte:
„Ich bitte Herrn S. I. Taneev dieses Trio mit den Herren Hrimaly und Fitzenhagen zu spielen und zusammen mit ihnen zu beurteilen, welche Stellen verbesserungsbedürftig sind, sowie diese Verbesserungen vorzunehmen.”
Daß Tschaikovskij in seinen Freunden auch wirklich engagierte Anwälte für das neue Werk fand, möge ein Zitat aus einem Brief Taneevs dokumentieren: „Ich habe Ihr Trio jetzt dreieinhalb Wochen studiert und es täglich sechs Stunden lang gespielt. Ich erinnere mich nicht, jemals einen größeren Genuß beim Studium eines neuen Werkes gehabt zu haben.” (Taneev hat aus seiner Begeisterung für Tschaikovskijs Klaviertrio auch noch fünfundzwanzig Jahre später, als er selbst ein Werk dieser Gattung komponierte, kein Hehl gemacht.)
Die erste Aufführung des Trios fand in Abwesenheit des Komponisten im Rahmen einer Gedenkveranstaltung am 11.(23.) März 1881, dem ersten Jahrestag des Todes von Nikolaj Rubinstein, vor geladenen Gästen im Moskauer Konservatorium statt. Im selben Saal wurde es dann am 18.(30.) Oktober, fast gleichzeitig mit dem Erscheinen der Druckausgabe, von den selben Interpreten beim Eröffnungskonzert der alljährlichen Quartett-Serie der Russischen Musikgesellschaft auch öffentlich uraufgeführt. Zwischen diesen beiden Aufführungen hatte der Komponist das Werk im April 1881 noch einmal gründlich revidiert und in vielen Details verändert.
Es ist nicht verwunderlich, daß dieses urpersönliche Lebensdokument zu einem epischen Bild russischen Lebens geriet, das den Vergleich mit den gleichzeitigen Meisterwerken russischer Erzählkunst nahelegt. (Man darf an dieser Stelle anmerken, daß Tschaikovskij ein glühender Verehrer der Kunst Tolstojs war, Dostojevskij gegenüber aber eine ausgeprägte Antipathie empfand, obwohl er dessen Genialität durchaus anerkannte.) Hier wie dort bleibt zu bewundern, wie es den russischen Meistern gegeben ist, das „wirkliche Leben„ ohne alle Einengung und artifizielle Stilisierung Kunst werden zu lassen, so daß es noch als Kunst die ganze, den Nicht-Russen oft bestürzende Weite dieses Lebens atmet, die Höchstes und Tiefstes, Mystisches und Triviales nebeneinander bestehen läßt. Die Weisheit dieser slavischen Kunst liegt in der Erkenntnis, daß Elegie und Mazurka, mystische Apotheose und leichtsinnige Walzerseligkeit einander gleichermaßen vertiefen und dichterisch erhöhen. Dieses „Zusammenklingen” der Seinsgegensätze verlangt naturgemäß nach „symphonischer” Darstellung. Die dadurch bedingte musikalische Dramaturgie erforderte Lösungen, die der Kammermusik bis dahin fremd waren; und bei Tschaikovskijs Hochachtung für seine großen Vorgänger ist es nur allzu verständlich, daß er sich beim Betreten dieses Neulandes unsicher fühlte und von Skrupeln geplagt wurde. Nur so, nicht etwa als Resümee eines instrumentatorischen Fehlschlags, ist Tschaikovskijs Geständnis in einem unmittelbar nach der Vollendung des Klaviertrios an Nadeschda von Meck gerichteten Brief zu verstehen:
„Ich fürchte nur, daß mir, da ich mich dieser neuen Form der Kammermusik so spät zugewandt und sonst mein Leben lang Orchesterwerke komponiert habe, einige Sünden bei der Instrumentierung unterlaufen sind. Mit einem Wort, ich befürchte, daß es sich um symphonische Musik handelt, die für Klaviertrio arrangiert wurde, aber nicht auf dieses Genre berechnet ist. Ich habe mir zwar alle Mühe gegeben, das zu vermeiden, aber ich weiß nicht, was daraus geworden ist!”
(25. Jänner 1881)
Schon die äußere Form des Trios zeigt, wie sehr Tschaikovskij sich dem formalen Kanon des Genres verweigert: die monumentale Zweisätzigkeit des Werkes steht ebenso sehr im Widerspruch mit der „klassischen” Tradition, die damals schon vielerorts als „akademisch” oder „klassizistisch” kritisiert wurde, wie auch mit den „fortschrittlichen” Alternativen dazu, etwa der rhapsodischen einsätzigen Variante, wie sie später von den „Neudeutschen„ und ihren Nachfolgern gepflegt wurde. Es liegt auch – wie sich ja schon an den äußeren Dimensionen des Werkes unschwer erkennen läßt – durchaus kein Rückgriff auf frühklassische zweisätzige Modelle vor; die zwei Sätze sind nicht kontrastierend, sondern linear konzipiert, und die gesamte dramaturgische Anlage legt den schon oben angestellten Vergleich mit der russischen Erzählkunst nahe – alles in allem haben wir es also mit einem außerhalb jeder kontinuierlichen Tradition stehenden, einzig aus den Notwendigkeiten der angestrebten Aussage entwickelten Organismus zu tun. Der Eindruck, den das Werk auf die Zeitgenossen machte war allerdings so groß, daß es seinerseits Ausgangspunkt einer vor allem in Rußland noch bis heute lebendigen Sonderform des Genres Klaviertrio wurde, die von den unter dem unmittelbaren Eindruck Tschaikovskijs geschriebenen Werken Rachmaninovs (op.9) und Taneevs (op.22) bis zu zweisätzigen Trios der jüngsten Vergangenheit (z.B. Grigorij Korchmar, 1991; Alfred Schnittke, 1992) reicht.
Der erste Satz (Pezzo elegiaco. Moderato assai – Allegro giusto) zeigt exemplarisch den nich eben revolutionären, aber völlig eigenständigen Umgang mit den formalen Traditionen: durchaus aus dem Geist der Sonatenhauptsatzform entwickelt, verweigert sich der Satz doch der normierenden Analyse. Alles thematische Material ist aus dem klagenden Gesang des Hauptthemas entwickelt: Seiner melodischen Gestalt liegt mit einem diatonischen Quintfall so ziemlich das lapidarste und lakonischste aller denkbaren Motive zugrunde – und zu erleben, wie dieses asketisch-dürre Grundgerüst mit einigen wenigen melismatischen Strichen und im emphatischen Widerstreit mit seiner Umkehrung zu innigstem Leben erweckt wird, erheischt Bewunderung. Dem zweiten Thema, das die fallende Gestik ins Heroische und Enthusiastische wandelt, folgt ein recht knapp gehaltener Durchführungsteil, der schließlich mit einer traumhaft innigen Wendung (es-moll – H-Dur) in ein drittes Thema mündet. (Manche der schon von Brahms so gehaßten „musikalischen Souvenirjäger” wollen in diesem Einfall die Keimzelle einer Stelle in Richard Strauss´ „Salome” sehen.) Die Reprise wiederholt mit einigen bedeutsamen Modifikationen und selbstverständlich unter Weglassung des Durchführungsteils diese Abfolge der drei Themenblöcke, an die sich zum Abschluß eine ergreifend schlichte Coda schließt, in der das verblühte Anfangsmotiv zu Grabe getragen wird.
Das E-Dur Thema des zweiten Satzes (Tema con variazioni: A. Andante con moto – B. Variazione finale e coda. Allegro risoluto e con fuoco – Andante con moto) soll angeblich die Tschaikovskij und Nikolaj Rubinstein gemeinsame Erinnerung an ein Fest im Jahre 1873 bewahren; es ist jedenfalls ganz im Geist eines Volksliedes erfunden, und die russische Folkloristik konnte eine Reihe von in Einzelheiten mit Tschaikovskijs Thema übereinstimmenden Originalmelodien nachweisen. Aber der Höhepunkt des 20-taktigen Themas ist die Durvariante des Hauptthemas aus dem ersten Satz – und schon mit anhand dieses Details kann man sehen, daß der Komponist sich das Volkslied, das ihn angeregt haben mag, völlig anverwandelt hat. Die anschließenden Variationen sind von wirklich faszinierender Vielfalt und Freiheit. Im Umkreis Tschaikovskijs war die (zum Glück nie näher konkretisierte) Ansicht verbreitet, jede der Variationen spiegle eine Episode im Leben Nikolaj Rubinsteins wider. Tschaikovskij hat es meisterhaft verstanden, diese „regellose” Vielfalt auf subtile Weise formal zu gliedern: Die Variationen I – III sind Figuralvariationen, die sich recht eng an den formalen und melodischen Ablauf des Themas halten; bis zu diesem Punkt könnte man durchaus meinen, es mit ganz „traditionellen” Variationen zu tun zu haben. Mit der IV. Variation, die sich nach cis-moll wendet und in völlig geänderter Weise den „folkloristischen” Ton des Themas wieder aufninmmt, wird aber die enge Bindung an das Thema aufgegeben. An dieser Nahtstelle im Variationenablauf folgt eine „Signalvariation” (V), bei der das Klavier (pianissimo, martellato) eine Spieluhr imitiert – der Mitternachtszauber kann beginnen.
Die folgenden fünf Variationen (VI – X) deklarieren sich auch dort, wo sie nicht näher bezeichnet sind, als „Genrestücke” im allerbesten (und weitesten) Sinn des Wortes (VI – Walzer, VII/VIII – Choral und Fuge, IX – Barcarolle, X – Mazurka). Die in der Mitte dieses Abschnittes stehende Fuge ist – nicht unähnlich dem Fugato im Kopfsatz der Urfassung von Brahms´ op.8 – ein interpretatorischer Stolperstein. Hier wie dort wird immer wieder die „Leere” und „Trockenheit” dieses Abschnittes befremdet gerügt; die naheliegende Idee, daß in beiden Fällen philiströse Wichtigtuerei karikiert werden sollte, wird meist entrüstet zurückgewiesen – dabei spricht bei Tschaikovskij unter anderem auch die (entgegen den beschwörenden Bitten des Komponisten fast nie ernstgenommene) metronomische Bezeichnung ganz deutlich für eine solche Interpretation. (Taneev hat sich noch im September 1891 von Tschaikovskij die Autorisation für eine „Auffüllung” des Klavierparts dieser Variation erbeten.)
Die XI. Variation, die eindeutig Codacharakter hat, ist wie die V. Variation wieder eine „Signalvariation”, die der Gliederung des Ablaufs dient und uns das Thema noch einmal in seiner Urgestalt in Erinnerung ruft. Zur Abgrenzung von dem zusammengehörenden „Traumspiel” der Variationen VI – X dient hier wie dort die großflächige, ostinate Wiederholung eines einzigen Tones.
Die XII. und Final-Variation ist durchaus wie ein unabhängiger Satz in voll entwickelter Sonatenform gestaltet – die in späteren (nicht autorisierten) Ausgaben angeregte „Kürzung”, die besser eine Verstümmelung heißen sollte, gehört ebenso wie die oft praktizierte und ebenfalls die Intentionen des Komponisten entstellende Weglassung der Fuge (Variation VIII) zu jenen haarsträubenden musikalischen Barbareien, mit denen einige besonders ehrgeizige Interpreten im Jahrhundert des Jascha Heifetz wohl beweisen wollten, daß sie es, wenn nicht an Virtuosität, so doch an Dummheit mit ihren gefeierten Vorgängern leicht aufnehmen können. Das versonnene, entfernt an eine Dumka erinnernde Thema, erscheint hier von vitaler rhythmischer Kraft durchpulst.
Erst nach Durchschreiten dieser weiträumigen Tonlandschaft öffnet sich das Tor zum Totenreich, wo uns das ins Monumentale überhöhte Hauptthema des ersten Satzes in Empfang nimmt und zum „Ausgang der grimmigen Einsicht” begleitet.
© by Claus-Christian Schuster