Shostakovitch: Trio Nr.2, e-moll, op.67 (1944)

Dmitrij Shostakovitch

* 12. September 1906
† 09. August 1975

Trio Nr.2, e-moll, op.67 (1944)

Komponiert:Moskva – Ivanovo, 12./15. Februar 1944 – 13. August 1944
Widmung:dem Andenken von Iwan Iwanowitsch Sollertinskij
Uraufführung:St. Petersburg („Leningrad”),
Großer Saal der Philharmonie, 14. November 1944
Dmitrij Schostakowitsch, Klavier
Dmitrij Cyganov(1903 – 1993), Violine
Sergej Schirinskij (1903 – 1974), Violoncello
Erstausgabe:Muzgiz (Staatlicher Musikverlag), Moskva, 1945

Am 5. Februar 1944 beendete Schostakowitsch eine traurige Arbeit: die Ausarbeitung und Instrumentierung der unvollendet gebliebenen Oper seines zu Beginn des Krieges gefallenen Schülers Benjamin Fleischmann (1907-1941). „Rothschilds Geige”, nach einer Erzählung von Anton Tschechow, kreist um Bilder, die Schostakowitsch in diesem Jahr nicht mehr loslassen sollten: da ist die Musik des Schtetl, der Totengräber Jakov, der für seine noch lebende Frau schon das Grab schaufelt, ein makabrer Tanz am Flußufer… : eine beklemmende Vision, ein von James Ensor übermalter Chagall.

Am selben Tag war in Novosibirsk Schostakowitschs wenige Monate vorher vollendete Achte Symphonie aufgeführt worden; sein Freund Iwan Sollertinskij hatte die einführenden Worte gesprochen. Kurz darauf, in der Nacht vom 10. auf den 11. Februar, starb der einundvierzigjährige Sollertinskij völlig unerwartet. Was er für den Komponisten bedeutet hatte, können wir beim Lesen der Zeilen erahnen, die der verbal meist nüchterne Schostakowitsch an Sollertinskijs Witwe richtete:

„Liebe Olga Pantelejmonovna!
Das Unglück, das mich traf, als ich vom Tode Iwan Iwanowitschs erfuhr, kann ich nicht in Worte fassen. Er war mein nächster und teuerster Freund. Meine ganze Entwicklung verdanke ich ihm. Ohne ihn zu leben wird mir unerträglich schwerfallen…”

(15. Februar 1944)

In den letzten Jahren vor Sollertinskijs Tod hatten die Freunde nicht oft Gelegenheit gehabt, einander zu treffen: Sollertinskij war 1941 zusammen mit der Leningrader Philharmonie, für die er als Lektor tätig war, nach Novosibirsk evakuiert worden. Die letzte Begegnung mit Schostakowitsch hatte in Moskau stattgefunden, wo Sollertinskij am 14. November 1943 einen über das Radio in die ganze Sowjetunion übertragenen Festvortrag zu Tschaikovskijs fünfzigstem Todestag gehalten hatte („Tschaikovskij und die russische Kultur”; das Manuskript dieser Festrede ist verschollen.). Zwar hatte er es nur drei Tage lang bei Schostakowitsch ausgehalten (- „zuviel Musik, ständig kamen Schüler und verschiedene Komponisten zu ihm, um ihm ihre Werke zu zeigen; außerdem hat man keine Ruhe vor den Kindern, die sehr ungezogen sind, ständig lärmen und einem Tag und Nacht keine Pause gönnen…” -), aber auch in den verbleibenden Wochen hatten die Freunde einander oft und lange getroffen. Bei einem dieser Treffen, kurz vor Sollertinskijs Abreise am 6. Dezember, soll Schostakowitsch vom Plan eines Trios gesprochen haben, das er in diesen Tagen zu skizzieren begonnen hatte. Vielleicht war schon für diesen ersten Entwurf der Gedanke an Tschaikovskij und den im März verstorbenen Rachmaninov auslösend gewesen, die ja beide ihre innigsten Totenklagen in die Form von Klaviertrios gegossen hatten – Tschaikovskijs op. 50 ist dem Andenken Nikolaj Rubinsteins, Rachmaninovs op. 9 dem Andenken Tschaikovskijs gewidmet. Jedenfalls scheint Schostakowitsch, als ihn zwei Monate später die Todesnachricht aus Novosibirsk erreichte, keinen Augenblick geschwankt zu haben, in welcher Weise er das Andenken seines Freundes ehren würde: schon am Tag nach Sollertinskijs Begräbnis – am selben Tag, an dem er seinen Brief an die Witwe absendet – ist der erste Satz des Klaviertrios beendet.

Erst im Sommer kann Schostakowitsch die Arbeit an dem begonnenen Werk fortsetzen. Wieder hat er sich, wie schon im vorangegangenen Jahr für die Niederschrift der Achten Symphonie, für die Sommermonate nach Ivanovo zurückgezogen. Ivanovo, gegen Ende des XIX. Jahrhunderts gerne „das russische Manchester” genannt, ist alles andere als ein ländliches Idyll. Etwa vierhundert Kilometer nordöstlich von Moskau im Hügelland zwischen Wolga und Kljasma gelegen, hatte dieses Zentrum der russischen Textilindustrie schon damals rund dreihunderttausend Einwohner. Aber in den Kriegsjahren konnte die Stadt als vergleichsweise ruhig und sicher gelten. Der sowjetische Komponistenbund besaß in der Stadt ein altes Herrenhaus, das jeden Sommer viele Gäste anzog: Aram Chatschaturjan, Reinhold Glière, Wano Muradeli und Nikolaj Pejko sind Schostakowitschs Nachbarn. Die Konzeption des Werkes muß schon sehr weit gediehen sein, denn Schostakowitsch benötigt zur Niederschrift von Scherzo, Passacaglia und Finale nur wenig mehr als zwei Wochen. Kaum hat er das Klaviertrio beendet, findet er sich schon an der Arbeit zu seinem Zweiten Streichquartett (A-Dur, op.68). Das Arbeitstempo scheint ihn selbst zu verblüffen, denn im September, nach Beendigung des Quartetts, schreibt er aus Ivanovo an seinen Freund Vissarion Schebalin, den Widmungsträger des neuen Werkes:

„Die Windeseile, in der ich komponiere, beunruhigt mich. Das ist sicher schlecht. Man sollte nicht so schnell komponieren wie ich. Schließlich ist das eine ernste Sache, und man sollte deshalb »nicht galoppieren« (wie eine bekannte Ballerina zu sagen pflegte). Ich schreibe höllisch schnell und kann mich einfach nicht bremsen…”

Die beiden neuen Kammermusikwerke wurden am 14. November 1944 – genau ein Jahr nach Sollertinskijs denkwürdiger Tschaikovskij-Rede – gemeinsam uraufgeführt; Schostakowitsch hatte dem Drängen von Lev Oborin, David Ojstrach und Svjatoslav Knuschevitzkij, ihnen die Uraufführung des neuen Trios zu überlassen, nicht nachgegeben und hob das Werk selbst mit seinen Freunden vom Beethoven-Quartett, denen er auch die Premieren aller seiner Streichquartette (mit Ausnahme des ersten und des letzten) anvertraute, aus der Taufe. (David Ojstrach entschädigte er später großzügig mit dem ihm gewidmeten Ersten Violinkonzert, a-moll, op.77, das übrigens auffällig viele Parallelen zu unserem Klaviertrio aufweist.) Die Jahrzehnte seither haben den einzigartigen Rang des Werkes und die außergewöhnliche Faszination, die von ihm ausgeht, tausendfach bestätigt.

Wo Musik Bekenntnis und Vermächtnis wird, wächst die Schwierigkeit, über sie zu sprechen, ins Unermeßliche. Dennoch erscheint es mir notwendig, hier einige musikalische Details dieser außergewöhnlichen Partitur zu erwähnen. Wie jedes Kunstwerk läßt sich natürlich auch dieses Klaviertrio auf sehr verschiedene Weise lesen. Wenn man es als Lösung einer Aufgabe – nämlich der Auseinandersetzung mit der Tradition eines gewachsenen Genres – betrachtet, wird man zuerst auf die Tatsache stoßen, daß Schostakowitschs Werk einige unübersehbare Parallelen zu jenem Trio aufweist, das zu Recht als das Schlüsselwerk dieser Gattung in unserem Jahrhundert gilt, nämlich zu Ravels Klaviertrio von 1914. Hier wie dort folgen auf einen überwiegend kontemplativen und verhaltenen Eröffnungssatz ein motorisches Scherzo und eine kryptische Passacaglia, bevor das Werk zu einem Finale mit tänzerischen Zügen findet. Diese äußerliche Parallelität ist aber nur deswegen bemerkenswert, weil dieser dramaturgische Umriß sich deutlich von den klassischen Leitbildern des Genres entfernt; denn jenseits dieser groben Übereinstimmung werden die zwischen den beiden Werken bestehenden eklatanten Unterschiede in Haltung, Aussage und Charakter nur umso deutlicher.

Die formale Physiognomie des Werkes ist zwar sehr eigenwillig, bewegt sich aber – mit einer einzigen, dafür aber umso bezeichnenderen Ausnahme – im Rahmen des traditionellen Formenkanons: Auf einen Sonatenhauptsatz mit langsamer Einleitung und stark verkürzter Reprise folgt ein Kettenrondo (ABACADA), in dessen Coda die ersten beiden Episoden (B und C) noch einmal wiederkehren, während die dritte (D, in G-Dur) dramaturgisch das Gewicht eines Trios hat; dieses „Trio” ist übrigens in Charakter, Motivik und Tonart aus dem Seitenthema des vorangehenden Satzes entwickelt. Die anschließende Chaconne oder Passacaglia geht direkt in den Finalsatz über, der trotz deutlicher Rondozüge formal wohl eher als Sonatensatz zu deuten ist. Hier kommt es nun zu einer auffälligen Anomalie: die Durchführung mündet in die Reprise des Seitensatzes, an deren Ende aber nicht (wie in den meisten Präzedenzfällen solch spiegelbildlicher Reprisen) das Hauptthema wiederkehrt; diese „tektonische Bruchlinie” ermöglicht die wörtliche Rückkehr von thematischem Material der vorangegangenen Sätze als eine Art werkübergreifender Reprise, in die die lokale Wiederaufnahme des ausständigen Hauptthemas nur gleichsam eingebettet erscheint.

Ähnlich wie bei Ravels Trio offenbart die motivische Analyse des Werkes ein dichtes Netz an Querverbindungen zwischen den Sätzen. Das zentrale metrische Motiv ist der Choriambus, der die Ecksätze regiert. In seiner Wiederkehr im Hauptthema (oder Ritornell) des letzten Satzes manifestiert sich schon lange vor dem eigentlichen thematischen Rückgriff auf die Einleitung des Kopfsatzes die zyklische Idee des Werkganzen. Melodische Konstanten wie die engräumige Umkreisung eines Zentraltones oder die Verwendung stereotyper Formeln der ostjüdischen Volksmusik verstärken den inneren Zusammenhalt und geben dem Werk sein unverwechselbares Kolorit. Doch all diese Feststellungen (und hunderte zusätzlicher Details, die man beim Studium dieser Partitur noch entdecken kann) lassen die wesentlichste Ebene, auf der dieses Trio gehört und begriffen werden muß, unberührt.

Von den ersten Takten des Werkes an ist klar, daß es an unnennbare Dinge rühren will und muß. Schostakowitsch hat das mit einem ebenso einfachen wie genialen Mittel verdeutlicht: Im ersten Teil der Eröffnungsepisode (Andante) erscheinen die Instrumente gleichsam ihrer Stimme beraubt – der dreistimmige Kanon (in der Untersext) vereinigt gedämpfte Celloflageoletts und eine ebenfalls sordinierte Geige mit dem dumpfen Klang eines tiefen Klavierunisonos. Nur zögernd und in kleinen Schritten löst sich diese Erstarrung: die Geige gewinnt ein wenig Farbe, das Klavier breitet sich in Akkordflächen aus, und zuletzt verläßt auch das Cello den fahlen Flageolettklang – das ernste Spiel kann beginnen.

Das folgende Hauptthema des Satzes (Moderato) ist zwar in Metrik und Gestik ganz aus dem vorangegangenen Kanon abgeleitet, es zitiert aber in verfremdeter Weise auch ein Lied, das Schostakowitsch 1942 für seinen Freund geschrieben hatte: das Sonett LXVI von Shakespeare (op. 62 Nr.5). Dort heißt es:

Tir’d with all these, for restful death I cry:
As, to behold desert a beggar born

And right perfection wrongfully disgrac’d

And art made tongue-tied by authority

Tir’d with all these, from these would I be gone,
Save that, to die, I leave my love alone.


Boris Pasternak, dessen Übersetzung Schostakowitsch verwendete, hat (wie übrigens auch L. Schücking in seiner deutschen Übertragung) „my love” mit „Freund” wiedergegeben; so ergibt sich ein schwer zu mißdeutender Bezug auf den Anlaß des Zitats, und der Zuhörer, der diesen Hinweis versteht, weiß, daß von hier an die Sprachlosigkeit des Anfangs wortloser Beredtheit gewichen ist.

Der zweite Satz (Allegro con brio, Fis-Dur) hat zu den unterschiedlichsten Deutungen Anlaß gegeben. Während der hier ausbrechende barbarische Übermut viele Zuhörer an eine bitterböse Karikatur denken läßt, weckte das Stück bei Sollertinskijs Schwester Jekaterina ganz andere Erinnerungen:

„Dieser Satz ist ein verblüffend genaues Portrait Iwans, den Schostakowitsch so gut verstand wie sonst keiner. Das ist sein Übermut, seine Polemik, sein Tonfall, seine Art, immer wieder auf ein und denselben Gedanken zurückzukommen und ihn weiter zu entwickeln… Wenn ich diesen Satz des Trios höre, steht mein Bruder leibhaftig vor mir…”

(zitiert nach: Ludmila Micheeva, I. I. Sollertinskij, Leningrad 1988)

Wenn man nach dieser erstaunlichen Assoziation geneigt ist, Versuche in musikalischer Hermeneutik überhaupt zu unterlassen, so wird dieser fromme Vorsatz schon beim folgenden Satz ins Wanken gebracht: Dieses Stück ist in seiner Aussage so unmißverständlich, daß es unmöglich erscheint, an ihr vorbeizuhören. Es ist eine Passacaglia (Largo, b-moll), über deren archaisch akkordischem Thema sich in fünf Wiederholungen ein weiträumiger Klagegesang der Streichinstrumente mit unverkennbar chassidischem Tonfall entspinnt. Das Passacaglienthema selbst ist, kaum merklich, in zwei viertaktige Tetrachorde gegliedert, deren erster um b-moll kreist, während der zweite auf ein – nie erreichtes – e-moll hinzustreben scheint. Da B-Dur/b-moll als wichtigste Nebentonart auch in den andern Sätzen allgegenwärtig ist, kann man in dieser sphinxhaften Akkordfolge auch das „harmonische Leitmotiv” des ganzen Werkes sehen. Die zwischen diesen tonartlichen Polen erzeugte Spannung entlädt sich aber nicht in dramatischen Gesten, sondern wird andächtig und innig durchlitten. Die religiöse Dimension dieses Satzes ist unentrinnbar, und es ist unerheblich, ob man ihn nun wirklich einen „Kaddisch” nennen will oder nicht. Ob man in der hieratischen Strenge des Passacaglienthemas nur ein Abbild der Klagemauer oder ein Symbol für die Unerbittlichkeit, Taubheit oder Abwesenheit Gottes sehen will, hängt wohl von den außermusikalischen Erfahrungen und Überzeugungen des Hörers ab – der Komponist ist der Beantwortung solcher Fragen musikalisch und verbal aus dem Weg gegangen.

Die verinnerlichte Spannung dieser Totenklage ist so stark, daß die präsumptive „Dominante”, an der das Passacaglienthema immer wieder strandet, noch sechzehn Takte weit in das anschließende Allegretto (E-Dur) hineinreicht, bis das Violoncello sich endlich in die Tonika befreit. Doch hier von Befreiung zu sprechen, ist gewagt: Der Totentanz, der dieses Finale ohne Zweifel ist, umkreist in den für die ostjüdische Volksmusik charakteristischen kleinen Sekundschritten eben diese Tonika, die keine Erlösung verheißen kann. Da die Komposition der letzten beiden Sätze des Werkes zeitlich mit dem Erscheinen der ersten Berichte über die Befreiung der Konzentrationslager Belzec, Sobibor, Majdanek und Treblinka zusammenfällt, drängt sich der Gedanke an die apokalyptischen Szenen der Shoa auf. Auch wenn Schostakowitsch diesen Bezug nicht kommentiert hat, besteht wohl kaum ein Zweifel daran, daß es diese Bilder des Grauens waren, die hier musikalische Gestalt angenommen haben: die makabren Klangeffekte – allen voran die hohlen und knöchernen Pizzicati -, die die Grenzen der Erträglichkeit immer wieder verletzende Monotonie, die aus Motivzellen Irrenhauszellen macht, all das ist in einer Weise beredt, die jede „programmatische” Erklärung überflüssig macht. Daß ein solcher Inhalt die Form angreifen muß, liegt auf der Hand. Aus dieser Perspektive wird auch die – vergleichsweise – formale „Normalität” der vorangegangenen Sätze begreifbar, denn erst durch sie wird der Riß, der durch dieses Finale (wie durch den Vorhang des Tempels) geht, erhellt und vertieft. In die Bruchstelle ergießt sich das steinerne Passacaglienthema als Strom glühender Lava; und während es zu kalter Figuration erstarrt, durcheilt der Komponist noch einmal den Kanon, mit dem das Werk begonnen hatte, als geraffte und entstellte Todesvision. Doch auch hinter dieser Agonie gibt es keine Erlösung: der Tanz entläßt seine Opfer nicht und treibt sie mit dumpfen Schritten und grellen Gesten immer weiter, bis zu „dem Ausgang der grimmigen Einsicht”. Hier erwartet sie, kalt und stumm, noch einmal das numinose Passacaglienthema, das jetzt endlich die Schwelle zu der nie gewährten Auflösung überschreitet. Aber auch in das Nirwana dieses E-Dur-Akkords hallen die ermatteten und kleinen Schritte des Totentanzes noch nach: Für das, was unsere Augen gesehen und unsere Ohren vernommen haben, gibt es kein Vergessen.

© by Claus-Christian Schuster