Schubert: Trio Es-Dur op.100/D 929

Franz Schubert

* 31. Jänner 1797
† 19. November 1828

Trio Es-Dur op.100/D 929

Komponiert:Wien (I., Tuchlauben 14), November 1827
Uraufführung:26. Dezember 1827, Wien, Musikverein (I., Tuchlauben 12)
Carl Maria von Bocklet (1801-1881), Klavier
Ignaz Schuppanzigh (1776-1830), Violine
Joseph Linke (1783-1837), Violoncello
Erstausgabe:Probst, Leipzig, Oktober/November 1828

Dieses Trio ist so sehr Allgemeingut aller Kammermusikliebhaber, daß es überflüssig erscheint, an dieser Stelle noch einmal Satz für Satz des Werkes zu besprechen. Aber eine “Detailfrage”, die dennoch prinzipielle Bedeutung hat, drängt sich bei der Aufführung dieses Werkes immer wieder auf: die nach der “gültigen” Fassung des letzten Satzes. Wenn hier, abweichend vom Herkommen, der Raum einer “Werkeinführung” zur Diskussion einer solchen Frage verwendet wird, ist das, wie ich hoffe, dadurch gerechtfertigt, daß bei dieser Gelegenheit allgemeine Probleme der komplexen Beziehung Autor/Werk/Interpret berührt werden, die weder dem Hörer noch dem Ausführenden gleichgültig sein dürften. Vor allem soll aber unsere einsame Entscheidung für den ungekürzten Text unter Respektierung aller ursprünglich von Schubert vorgesehenen Wiederholungen begründet werden. Daß wir uns damit gegen eine allgemein respektierte Tradition stellen, beunruhigt uns wenig. Denn Gustav Mahlers zorniger Ausruf: “Was ihr euere Tradition nennt, das ist nichts anderes als euere Bequemlichkeit und Schlamperei!” hat, trotz aller “Urtextausgaben”, noch immer traurige Gültigkeit.

Schubert, gegen ihn selbst verteidigt

Schuberts Es-Dur-Trio ist wohl das monumentalste Werk der gesamten Klaviertrioliteratur – nicht nur in Hinblick auf seine Ausdehnung, die wahrhaft symphonische Maße erreicht, sondern auch in Bezug auf die Vielschichtigkeit und den Reichtum des darin ausgebreiteten thematischen und gedanklichen Materials. Doch es scheint das Schicksal solcher Monumente zu sein, von Zerstörung und Entstellung in höherem Maße bedroht zu sein als Werke bescheideneren Zuschnitts. Wenn aber in fast allen vergleichbaren Fällen die störenden Eingriffe und Veränderungen dem Unverständnis nachfolgender Generationen oder der Widrigkeit historischer Umstände zuzuschreiben sind, so finden wir hier, mit respektvollem Staunen, an der Wurzel des Übels den Autor selbst. Nun ist zwar der Schöpfer als Bedrohung für das von ihm geschaffene Werk keine Neuheit – wieviele geniale Entwürfe und Pläne wurden nicht von ihren Vätern zutode “verbessert” ( – Balzacs Meister Frenhofer bleibt das wahrscheinlich einprägsamste Paradigma dieser Tragödie). Hier liegt jedoch der Fall etwas anders: Nicht in der Absicht, sein Werk zu verbessern, hat Schubert sich an ihm versündigt – sondern, ganz schlicht, aus Nachgiebigkeit und Gefälligkeit gegenüber seinen Freunden und Rücksicht auf “das Publikum”. Daß seine Freunde ihn wohl in der allerbesten Absicht so schlecht beraten haben mögen, macht das Unheil nicht kleiner; und auch daß Schubert durch die hier bewiesene joviale Umgänglichkeit uns als Mensch vielleicht noch sympathischer wird, entschädigt uns nur sehr unvollkommen. Um Schuberts Vorgangsweise zu verstehen, ist es hilfreich, sich den hürdenreichen Weg von der Komposition bis zur Drucklegung des Werkes vor Augen zu halten. Es handelt sich um das einzige zu Schuberts Lebzeiten außerhalb Österreichs gedruckte Werk.

November 1827: Komposition des Klaviertrios Es-Dur D 929. Im zweiten Satz verwendet Schubert charakteristische Wendungen aus dem schwedischen Volkslied “Se solen sjunker” (“Sieh’ die Sonne untergehen…”), das er Anfang des Monats von Isaak Albert Berg bei den Schwestern Fröhlich vorgetragen gehört hat, als Grundlage des thematischen Materials.
26. Dezember 1827: Uraufführung des Werkes in einer Soiree des Schuppanzigh-Quartetts im damaligen Saal des Wiener Musikvereins (Tuchlauben 12)(Carl Maria von Bocklet, Klavier, Ignaz Schuppanzigh, Violine, Josef Linke, Violoncello)
9. Februar 1828: Die Verlage Schott/Mainz und Probst/Leipzig bitten (unabhängig voneinander) Schubert, ihnen Werke zur Veröffentlichung zu überlassen.
21. Februar 1828: Schuberts Antwort an Schott. Unter den 10 angebotenen Werken nimmt das Trio die erste Stelle ein.
29. Februar 1828: Schott fordert 8 der offerierten Werke, darunter das Trio an.
26. März 1828: In Schuberts “Privat-Konzert” an Beethovens erstem Todestag wird das Trio wieder mit großem Erfolg im Wiener Musikverein gespielt (Carl Maria von Bocklet, Klavier, Josef Michael Böhm, Violine, Josef Linke, Violoncello)
10. April 1828: In Briefen an Schott und Probst berichtet Schubert vom Erfolg des Trios; er sagt Schott die Überlassung des Werkes zu.
15. April 1828: Probst bittet dringend um die Rechte für das Trio und übersendet gleich das Honorar.
28. April 1828: Schott erklärt sich außerstande, das “wahrscheinlich große” Trio zu übernehmen.
10. Mai 1828: Schubert nimmt das Angebot von Probst an. In seinem Schreiben weist er ausdrücklich auf die inzwischen vorgenommenen Kürzungen hin (und fordert, sie “aufs genaueste zu beobachten”).
18. Juli 1828: Probst bestätigt den Empfang der Druckvorlage und bittet um Zuteilung einer Opus-Nummer und etwaigen Widmung.
1. August 1828: Schubert verfügt: “Das Opus des Trio ist 100. Ich ersuche, daß dieAuflage fehlerlos ist, und sehe derselben mit Sehnsucht entgegen. Dedicirt wird dieses Werk Niemandem außer jenen, die Gefallen daran finden.”
2. Oktober 1828: Schubert fragt Probst nach dem Erscheinen des Trios und bietet ihm gleichzeitig neue Werke (darunter die letzten drei Klaviersonaten und das Streichquintett) an.
6. Oktober 1828: Probst bestätigt, Stich und Korrektur des Trios seien abgeschlossen.
19. November 1828: Tod Schuberts.
11. Dezember 1828: Artaria meldet das Eintreffen des Erstdruckes von op.100 in Wien.



Das die Fakten, soweit sie sich aus den Quellen rekonstruieren lassen. Dahinter steht freilich eine Auseinandersetzung, die den bitteren Ernst des oftzitierten Bonmots von Schuberts “zu langen” Werken und den “zu kurzen” Zuhörern offenlegt. Es sieht ganz so aus, als habe Schubert den überraschenden Rückzieher Schotts (wohl nicht zu Unrecht) auf die ungewohnte Länge des Werkes zurückgeführt und nach dieser schmerzlichen Überraschung, dem Drängen der Freunde nachgebend, den letzten (und längsten) Satz in der bekannten Weise gekürzt: Die Wiederholung der Exposition wurde ebenso gestrichen wie zwei je 50 Takte lange Episoden der Durchführung; der Satz verlor auf diese Weise etwa ein Drittel seiner Ausdehnung.

Nun hätte Schubert wissen können, daß aus einer Kathedrale keine Dorfkirche wird, wenn man die Apsis abbricht. Doch eben dieser Umstand dient vielen Apologeten der Schubertschen Verstümmelung als Argument: wenn Plan und Entwurf des Ganzen auch noch in der gekürzten Fassung erkennbar bleiben, so habe der Eingriff keinen Schaden angerichtet, sondern eben nur “gestrafft”.

Wer sich allerdings auch nur etwas eingehender mit der Anlage des Werkes vertraut macht, wird bald einsehen, daß die Schubert aufgeschwatzten Kürzungen fatal sind: Erst durch sie entsteht der Eindruck von “Längen”, weil Proportion und Ablauf des krönenden und beschließenden Satzes empfindlich gestört sind. Man erinnere sich daran, wie sehr Aussage und Wirkung der berühmten Vatikanischen Laokoon-Gruppe durch die hypothetischen Ergänzungen von Michelangelo und Montorsoli verändert waren, bis man dann erst im 20. Jahrhundert das zugehörige Originalbruchstück wieder auffand. Während aber dort aus einer Notlage heraus beinahe unvermeidlich ein Irrtum unterlief, erwecken die von Schubert vorgenommenen, angeblich straffenden Retouchen schon fast den Eindruck planvoller Sinnverdunkelung.

Der erste Eingriff, die Streichung der Wiederholung, führt dazu, daß die Klarheit der Großform verloren geht: Fast jeder unbelastete Hörer der gekürzten Fassung vermutet, es handle sich bei diesem Satz um ein kompliziert strukturiertes Sonaten-Rondo – in Wirklichkeit ist es ein

“klassischer” Sonatenhauptsatz par excellence. Der zweite Eingriff (Streichung der Takte 358 bis 407) macht das Bauprinzip der Durchführung und damit die sinnfälligste architektonische Perspektive des ganzen Werkes unkenntlich: Der schneidende verminderte Septakkord, der sich schon in der Exposition zweimal dem Eintritt der sieghaften Schlußgruppe in den Weg gestellt hat und im Ozean der Durchführung recht eigentlich zur Haupttreibkraft der Entwicklung wird, ist nur verständlich, wenn man miterleben kann, wie – in dramatischer Steigerung und Dehnung des an der entsprechenden Stelle des ersten Satzes angewandten Prinzips – die vier Töne des verminderten Septakkordes auf H der Reihe nach zu “autonomen” Tonstufen (h-moll – d-moll – f-moll – As-Dur) umgedeutet werden. Durch die Kürzung fällt die zweite Hälfte dieses großen Bogens einfach weg, und sozusagen en passant wird auch jener Moment übergangen, wo der uns wahnhaft verfolgende schrille Aufschrei dieses Schlüsselakkordes endlich durch einen affirmativen Durakkord ersetzt wird: wenn nämlich am Schluß dieser Entwicklung As-Dur erreicht ist.

Aber der letzte Streich, in des Wortes bösester Bedeutung, ist bei weitem der schlimmste: Die Streichung der Takte 463 bis 514 (Schluß der Durchführung) unterminiert die Stellung des das ganze Werk dräuend umziehenden h-moll (als einer Gegenwelt zur “lichten” Grundtonart Es-Dur). Durch das Wegfallen jener wahrhaft mystischen Stelle, wo alle thematischen Protagonisten im fahlen Licht von h-moll aufeinander treffen, wird aus einem bedeutungsschweren Grundzug des Werkes ein nicht recht verständliches Detail – und die schicksalshaft um “H” kreisenden Knotenpunkte der ersten beiden Sätze werden durch nichts mehr aufgewogen; die ganze Entwicklungslinie zielt gleichsam ins Leere. Es ist, als habe man in einem Drama dem dunklen Drahtzieher, der an der Wurzel aller Verwicklungen steht, den entscheidenden Monolog weggenommen, in dem er seine Motive erklärt.

Zum Glück ist Schuberts Autograph mit dem vollständigen, ursprünglichen Notentext erhalten geblieben, so daß wir zumindest in diesem Punkt den Autor vor sich selbst schützen können – soviel unwillentliches Unrecht wir ihm auch an anderer Stelle antun mögen.

Während die Neue Schubert-Ausgabe, wie übrigens auch schon ihre Vorgängerin, akademisch korrekt beide Varianten nebeneinander anbietet, hat man sich in der (in fast allen anderen Punkten informativeren und zuverlässigeren) Urtext-Ausgabe des Henle-Verlages erstaunlicherweise nur für die Variante des Erstdrucks entschieden. Man begründet das im Vorwort in einem Absatz, dessen Flüchtigkeit sich auch in einer Reihe sachlicher Ungenauigkeiten niederschlägt, damit, daß die gestrichenen Abschnitte nur das “Material der vorhergehenden Takte” sowie das Zitat aus dem 2.Satz enthalten, “das aber ohnehin im Finale zweimal erscheint”. Vor der Stichhaltigkeit so fundierter ästhetischer Argumentation muß freilich jeder Zweifel verstummen.

Zu fragen (und unbeantwortbar) bleibt allerdings, wie es kommt, daß das Genie, das all diese Herrlichkeiten erfinden konnte, gleichzeitig so blind für die Verletzlichkeit seines Werkes war. Hier stehen wir – wieder einmal – vor dem ewigen Mysterium des Schöpfertums, das zwar die Bezirke bewußten Formens natürlich einschließt, sie aber so weit überschreitet, daß auch für den Schöpfer das Geschaffene letztlich ein Rätsel bleiben muß.

Sehr viel leichter zu beantworten ist die Frage, warum in den mehr als hundert Jahren, in denen der Originaltext nun schon gedruckt zugänglich ist, sich die vollständige Fassung so gar nicht durchgesetzt hat. Neben der schwer zu bekämpfenden Kraft einer (wie immer auch falschen) “Tradition” hat sicher die verständliche Vorliebe von Interpreten und Publikum für das Handliche und Überschaubare hier den Ausschlag zugunsten der kürzeren Version gegeben. Erst die Gegenüberstellung der beiden Fassungen zeigt, daß Kürze und Klarheit nicht notwendigerweise Hand in Hand gehen, und daß Herkommen und Brauch in diesem Fall einen unverständlichen Irrtum perpetuieren.

© by Claus-Christian Schuster