Haydn: Trio D-Dur Hob.XV:24 (op.73 Nr.1)

Joseph Haydn

* 31. März 1732
† 31. Mai 1809

Trio D-Dur Hob.XV:24 (op.73 Nr.1)

Komponiert:London, 1795
Widmung:Rebecca Schroeter
Uraufführung:nicht dokumentiert
Erstausgabe:Longman & Broderip, London, Oktober 1795

Unter den vier Triobänden, die Haydn zwischen November 1794 und April 1797 in London erscheinen ließ, ist der dritte, der am 9. Oktober 1795 angekündigt und kurz darauf unter dem Titel “Trois Sonates pour le Piano Forte avec accompagnement de Violon & Violoncelle… op.73” veröffentlicht wurde, wahrscheinlich der intimste und persönlichste. Das hat seinen guten Grund: keine der anderen Adressatinnen stand Haydn so nahe, wie die Widmungsträgerin dieser Werke.

Rebecca Schroeter war die Witwe des deutschen Pianisten Johann Samuel Schröter (1752-1788), der als origineller Komponist das Interesse Mozarts erweckt hatte. Schröter (dessen Schwester Corona übrigens als Goethes erste Iphigenie unsterblich wurde) war mit zwanzig Jahren nach London gekommen, wo er in den Bach-Abel-Konzerten reüssiert hatte und schließlich 1782 Johann Christian Bachs Nachfolger als Music Master der Königin Charlotte geworden war. Die heimliche Heirat Schröters mit seiner Schülerin Rebecca – ganz stilgerecht in Schottland – zog einen Skandal nach sich, der die öffentliche Karriere des jungen Komponisten jäh beendete. Die letzten Jahre seines Lebens lebte er mit seiner Frau zurückgezogen in seinem Haus in Pimlico, wo er nach wie vor unterrichtete (der allen Klaviereleven bestens vertraute Johann Baptist Cramer war sein berühmtester Schüler), genoß aber nach wie vor die Protektion des Prince of Wales (des späteren George IV.), der als Amateurcellist ihn immer wieder zu musikalischen Privatunterhaltungen beizog. Schröter starb mit sechsunddreißig Jahren an Kehlkopfkrebs. Seine Witwe ist für Musikwissenschaftler und allzu wißbegierige Haydnverehrer so etwas wie eine Sphinx. Haydn selbst hat seinen Biographen A. C. Dies auf seine Beziehung zu Rebecca Schroeter hingewiesen. Bei einem von dessen Besuchen im Juni 1806 zeigte Haydn ihm sein zweites Londoner Notizbuch, in das er zweiundzwanzig an ihn gerichtete Briefe Rebeccas aus den Jahren 1791/92 übertragen hatte:

“…Haydn lächelte und sagte: »Briefe von einer englischen Wittwe in London, die mich liebte; aber sie war, ob sie gleich schon 60 Jahre zählte, noch eine schöne und liebenswürdige Frau, die ich, wenn ich damahls ledig gewesen wäre, sehr leicht geheirathet hätte.«
…Haydn genoß in der Gesellschaft der Wittwe sehr angenehme Stunden; wenn er sonst nirgends eingeladen war, speiste er gewöhnlich bey ihr.”

Wenn Dies korrekt berichtet, dann müßte Rebecca rund zwanzig Jahre älter als ihr Lehrer und späterer Ehemann gewesen sein, der sie zur Heirat nach Schottland entführte… Wie wahrscheinlich das ist, bleibe dahingestellt: Jedenfalls weiß die 1819/20 erschienene Cyclopedia von Rees über Schröter zu berichten, er habe eine junge und reiche Schülerin geheiratet. Möglich wäre wohl, daß Dies eine Angabe, die sich auf Haydns eigenes Alter bezog, mißverstanden und bei der späteren Niederschrift des Gespräches den Satz in die zitierte Form gebracht hätte.

Wie viel diese Beziehung für Haydn selbst bedeutete, können wir aus dem Umstand erahnen, daß diese Liebesbriefe die einzigen sind, die er in seinem langen und an Liebesaffairen nicht armen Leben für aufbewahrenswert hielt. Die überlieferte Korrespondenz (Haydns Briefe an Rebecca Schroeter sind verschollen) ist auf den ersten Londonbesuch des Meisters beschränkt; wahrscheinlich hat Rebecca selbst für Haydns zweiten Londoner Aufenthalt das Domizil ausgesucht – Bury Street, wo Haydn von Februar 1794 bis August 1795 hauste, war nahe genug an Mrs Schroeters Wohnung, um brieflichen Verkehr überflüssig zu machen.

Wenn es erlaubt ist, aus der Anrede Schlüsse über die Angesprochene zu ziehen, dann muß Rebecca Schroeter eine sehr bemerkenswerte Frau gewesen sein: Die Trios, die Haydn ihr zugedacht hat, wenden sich offensichtlich an einen besonders feinsinnigen und verständigen Empfänger.

Der ungewöhnlich intime Charakter des ganzen Zyklus läßt sich schon an einigen äußeren Details ablesen. In den anderen drei Werkgruppen sind die jeweils ersten Trios ausgesprochen lichte, affirmative, vereinfachend gesagt: “unproblematische” Stücke, sie beginnen den Zyklus ganz so, wie etwa ein helles und lebendiges Allegro eine Sonate eröffnet. Bei den Trios für Rebecca Schroeter ist das Eröffnungswerk, eben unser D-Dur-Trio Hob.XV:24, hingegen buchstäblich übersät mit Fragezeichen. Am nächsten kommt unserem Werk wohl noch das A-Dur-Trio Hob.XV:18 (erschienen als op.70 Nr.1). Auch dort wirft der erste Satz eine Reihe von tiefsinnigen und schwierigen Fragen auf. Während dort aber die vitale Verve des Schlußsatzes sich dreist und unbekümmert über alle Probleme hinwegsetzt, läßt das Finale unseres Trios mit seiner fast scheuen und versonnenen Gestik, gegen die sich auch die dramatische Metamorphose des Minore-Teiles nicht durchzusetzen vermag, alles offen. Dieses dramaturgische Detail wirkt so stark, daß die Vielzahl weiterer Parallelen zwischen den beiden Werken (Satz-, Tempo-, Metren- und Tonartenfolge) aufgehoben erscheint: kraft der Eigenart dieses Stückes nimmt der ganze Zyklus einen völlig anderen Verlauf.

Auch das Schlußstück der Gruppe (fis-moll, Hob.XV:26) unterscheidet sich ganz wesentlich von den analogen Werken der anderen Zyklen: es ist das einzige Mal, daß Haydn eine Gruppe von Kammermusikwerken mit einem “echten” Mollstück enden läßt. Daß es sich dabei um eines von nur zwei “konsequenten” Molltrios im Gesamtwerk Haydns (das andere ist das frühe Trio in g-moll, Hob.XV:1), und zudem noch um das einzige Trio handelt, das zur Gänze in einer “problematischen” Tonart steht, unterstreicht die Relevanz dieses Details. (In seinen Klaviersonaten hat Haydn allerdings zweimal eine ähnliche Schlußwirkung gesucht: die Sechs Sonaten von 1776 [Hob.XVI:27-32) schließen mit einem unversöhnlichen h-moll-Stück, und an das Ende der 1780 erschienen “Auenbrugger”-Sonaten [Hob.XVI:35-39] setzte er wie einen rätselhaften Findling die einzigartige c-moll-Sonate [Hob.XVI:20].)

Das Zusammenwirken dieser dramaturgischen Akzente bewirkt, daß den “Schroeter”-Trios insgesamt ein herbstlicheres, gedämpfteres Licht eigen ist, als den anderen Zyklen. Hierin nur die Folge des aus praktischen Gründen weniger brillanten und virtuosen Klaviersatzes sehen zu wollen, griffe wohl allzu kurz. Natürlich läßt sich nicht bestreiten, daß Rebecca Schroeter als Pianistin weit unter dem Niveau Therese Jansens stand, und es liegt auf der Hand, daß Haydn auf diesen Umstand Rücksicht nehmen wollte und mußte. Er hat aber, etwa im Finale des zweiten der “Schroeter”-Trios, des zu gefährlicher Popularität gelangten “Zigeunertrios” (G-Dur, Hob.XV:25), eindrucksvoll gezeigt, wie man virtuose pianistische Effekte ganz ohne große technische Anforderungen erzielen kann. Andererseits sind auch die beiden “Esterházy”-Zyklen manuell nicht wesentlich schwieriger zu meistern und realisieren doch ein “konzertanteres”, weniger intimes Gesamtkonzept. Man wird daher die Gründe für die Eigenart der “Schroeter”-Trios auf einer anderen Ebene suchen müssen, und die oben kurz skizzierte Beziehung Haydns zu Rebecca Schroeter bietet dafür eine ganze Reihe von Anhaltspunkten. Abschied und Entsagung, überstrahlt von zärtlicher Innigkeit: all diese so schwer in Worte zu fassenden Empfindungen wird man an unzähligen Stellen dieser Trios in vollkommener Klarheit ausgedrückt hören. Hierin liegt die Einzigartigkeit und Besonderheit dieses Opus, das in der Konzertpraxis leider nur auf das “Zigeunertrio” reduziert erscheint. Die ständig praktizierte Loslösung dieses Mittelstückes aus dem Sinnzusammenhang des Werkganzen ist letztlich auch dem dadurch “popularisierten” Werk abträglich. Jedenfalls würde dieses vielgeliebte und vielgeschmähte Stück erheblich an Bedeutung gewinnen, wenn man sich seiner Stellung in diesem Zyklus erinnerte.

Unser D-Dur-Trio, das die Serie eröffnet, zeigt ihre wesentliche Charakteristika mit besonderer Deutlichkeit. Von der Verwandtschaft des ersten Satzes, Allegro, mit dem entsprechenden Satz aus Hob.XV:18 haben wir schon gesprochen. Wie fast immer, wenn Haydn im Begriffe ist, besonders subtile Dinge zu sagen, verwendet er zur Eröffnung einen noise killer, einen lauten Akkord, der nichts anderes will, als die Ruhe im Auditorium herzustellen. Der versonnen-fragende Hauptsatz wird gleich einer Art angedeuteten Durchführung unterzogen, bevor er sich uns in neuem Gewande als Seitensatz präsentieren darf. Die eigentliche Durchführung mutet fast wie ein knappes Kompendium der Modulationskunst an: Wie Haydn sich Tonräume eröffnet, sie leichthin durchmißt und unversehens wieder verläßt, ist zum Glück unbeschreibbar und muß hörend miterlebt werden. Wenn am Ende dieser romantischen Wanderschaft wieder der Heimathafen der Reprise erreicht ist, finden wir unser geliebtes Hauptthema um einiges älter und reifer wieder: der nachdenkliche Zug, der zu Beginn nur angedeutet war, darf sich jetzt deutlich aussprechen – Haydn hat den melancholischen Schatten (II. Stufe: e-moll), der den Beginn des Nachsatzes unterstreicht, hier tiefer gezeichnet und dazu den Nachsatz auf das Zweieinhalbfache seiner ursprünglichen Länge erweitert. Die antizipierte Durchführung, die uns in der Exposition so unvorbereitet überraschte, kann jetzt natürlich wegfallen: unser Fernweh ist schon gestillt.

Bei einem Satz von so wunderbarer lyrischer Weite ist, wie in der großen Lyrik, kein Detail bedeutungslos, und daher dürfen wir hier – stellvertretend für viele ähnliche – eine interpretatorische Gewissensfrage berühren, die auf den ersten Blick sehr banal erscheinen mag: Die Originalausgabe von Longman & Broderip druckt am Beginn der Durchführung Wiederholungszeichen, deren Entsprechung am Ende der Reprise fehlt. An welcher der beiden Stellen der Fehler liegt, ist “philologisch” nicht zu entscheiden – die beiden maßgeblichen Urtextausgaben (Robbins Landon und Becker-Glauch) widersprechen daher einander auch in diesem Punkte. Ob die zweite Wiederholung auszuführen ist oder nicht, bleibt daher (bis eine andere Quellenanlage eintritt) allein dem Ermessen des Interpreten überlassen. Nun nimmt zwar nach unserem Empfinden die Wiederholbarkeit eines musikalischen Ablaufes in dem selben Maße ab, wie seine Unvorhersehbarkeit zunimmt; dieses Empfinden ist aber andererseits auch das Resultat einer zweihundertjährigen musikgeschichtlichen Entwicklung, in der das Streben nach größtmöglicher Originalität und Einmaligkeit die treibende und dominante Kraft war, und es ist sicher kein Zufall, daß Wiederholungszeichen in den musikalischen Texten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts immer seltener anzutreffen sind. Die Entscheidung in diesem strittigen Punkt muß wohl nach zwei Kriterien gefällt werden: Wie ist Haydn in vergleichbaren Fällen mit eindeutiger Quellenlage verfahren? Und: Bin ich imstande, eine Wiederholung dieses spezifischen Ablaufes mit Blick auf das Werkganze mit Sinn zu erfüllen?

Die Beantwortung der ersten Frage bringt zutage, daß in ausnahmslos allen vor unserem D-Dur-Trio geschriebenen Klaviertrios bei den Allegro-Kopfsätzen die zweite Wiederholung obligat vorgeschrieben ist, sie jedoch in zwei unmittelbar nach unserem Werk geschriebenen Trios (Hob.XV: 27 und 28) in den analogen Sätzen fehlt. Es läßt sich also hier, ganz in Übereinstimmung mit dem vorher Gesagten, der Beginn einer Entwicklung erkennen, an deren Ende unwiederholte (weil unwiederholbare) Durchführungen und Reprisen die Norm sein werden. Da wir die zweite Frage verneinen mußten, haben wir, alle hier angedeuteten Argumente resümierend, uns schließlich für die Weglassung der Wiederholung entschieden.

Zweiter und dritter Satz sind, wie auch in Hob.XV:18, miteinander verbunden. Doch sind beide Sätze hier viel knapper fomuliert, und der zweite Satz (Andante, d-moll) erscheint mit solcher Konsequenz verkürzt, daß seine Wirkung, oberflächlich betrachtet, der einer Einleitung zum Finalsatz nahekommt. Umso erstaunlicher ist es, welche Bedeutungstiefe Haydn in diese wenigen Takte gebannt hat. Ich kenne kein anderes Haydnsches Sechsachtel-Andante, das sich so radikal aller tänzerischen Gelöstheit verweigert wie dieses. Erdenschwere und Müdigkeit beherrschen die Stimmung, die von kurzatmigen und fallenden melodischen Linien geprägt ist. Marc Vignal hat diesen Satz mit dem in gleicher Ton- und Taktart stehenden langsamen Satz (Largo e mesto) aus Beethovens Klaviersonate op.10 Nr.3 verglichen – und wie immer man diesen Vergleich bewertet, so sagt er jedenfalls etwas über das Gewicht dieses scheinbar miniaturhaften Stückes aus. Zentrales Ereignis ist eine von langer Hand vorbereitete und dennoch abrupt wirkende Wendung nach e-moll in der Satzmitte. Die unmittelbare darauffolgende Rückkehr zur fragmentarischen Reprise wird durch einen Moment banger Intensität verzögert, in dem die Geige, ganz allein und mit mutlos fragender Geste, das fallende Hauptmotiv umkehrt. Dieser ganze Passus erscheint in so auffälliger Beleuchtung, daß sich sofort die Frage nach seinem tieferen Sinn stellt; dabei erinnern wir uns des e-moll-Schattens im Hauptthema des ersten Satzes und daran, wie Haydn seine Bedeutung in der Reprise gesteigert hat. Aus der Perspektive des zweiten Satzes erscheinen diese Momente nun als sich verdichtende Vorahnung einer erst jetzt Wirklichkeit gewordenen Bedrohung, und dieses Ereignis könnte vielleicht der innerste Kern der Dramaturgie des Werkes sein.

Wenn das so ist, dann hält der Schlußsatz (Allegro, ma dolce) für uns weder siegreiche Überwindung noch lächelnden Trost bereit. Wie sich dieser Satz zu dem mit der gewaltsamen e-moll-Wendung des Andante erreichten Tiefpunkt des Werkes in Beziehung setzt, läßt mich an den Beginn eines Gedichtes von Emily Dickinson denken:

While we were fearing it, it came –
But came with less of fear
Because that fearing it so long
Had almost made it fair –


Die Schönheit dieses Satzes ist nicht erlöst, sondern ergeben; und weil die Erfahrung des Schrecklichen auch in der Schönheit der zweistimmigen Invention, als welche dieser Satz beginnt, gegenwärtig bleibt, bedarf auch die Rückkehr zur Tonart des Andante im Minore keines neuen thematischen Materials – eine für Sätze dieser Bauart äußerst ungewöhnliche Lösung. Im Kontext der reifen Klaviertrios Haydns ist auch der Schluß des Werkes unerhört: es ist eigentlich die Antithese eines Schlusses, ein verebbendes Enden. Von den, in ihrer instrumentalen Gestalt vergleichbaren, nicht konzertanten Schlüssen der Finalmenuette in den frühen Haydn-Trios sind wir hier meilenweit entfernt. Hier ist eine Landschaft skizziert, in der sich das benachbarte “Zigeuner-Trio” nicht mehr wie die Informationsbude eines rührigen Tourismusverbandes ausnehmen wird.

© by Claus-Christian Schuster