Antonín Dvořák
* 08. September 1841
† 01. Mai 1904
Trio Nr.2, g-moll, op.26 [B 56]
Komponiert: | Prag, 4.-20. Jänner 1876 |
Uraufführung: | Turnov (Turnau an der Iser, Nordböhmen), 29. Juni 1879 Antonín Dvorák, Klavier Ferdinand Lachner (1856-1910), Violine Alois Neruda (1837-1899), Violoncello |
Erstausgabe: | Bote & Bock, Berlin, 1879 |
Knappe acht Monate trennen die ersten beiden erhaltenen Klaviertrios Dvoráks voneinander. Nach der Triade der kammermusikalischen Werke des Frühlings 1875 (Klaviertrio Nr.1, Streicherserenade, Klavierquartett Nr.1, B 51 – B 53) hatte der Rest des Jahres ganz den „großen” Genres gehört: Die V. Symphonie (F-Dur, op.76, B 54), die früheste der zu Dvoráks Lebzeiten erschienenen fünf Symphonien, war nach nur fünf Wochen am 23. Juli beendet worden – sie mußte dann allerdings ganze zwölf Jahre auf ihre Veröffentlichung warten. Viel schlimmer noch erging es der Oper, auf die Dvorák die zweite Jahreshälfte verwendete: Die vielleicht als ein Gegenstück zu Smetanas Libussa konzipierte tragische Oper Vanda (op.25, B 55) verschwand schon bald nach ihrer Prager Uraufführung (17. April 1876) endgültig vom Spielplan – ein Schicksal, das wohl zum Großteil auf das an allzu vielen Stellen unfreiwillig komische Libretto zurückzuführen ist, an dem aber die durch das Sujet nahegelegten Meyerbeer- und Wagner-Reminiszenzen der Vertonung sicher nicht schuldlos sind.
Dvoráks Rückkehr zur Kammermusik zu Beginn des Jahres 1876 war daher gewissermaßen auch eine Rückkehr zu sich selbst und stand vielleicht schon deshalb unter einem weit besseren Stern: Die beiden Werke, mit denen er das neue Jahr eröffnet, unser Klaviertrio und das Streichquartett E-Dur (op.80, B 57) gehören ganz ohne Zweifel schon zum Kanon der Dvorákschen Meisterwerke – auch wenn sie in der heutigen Konzertpraxis zu sehr im Schatten ihrer jüngeren Schwestern stehen.
Ein tragischer Grundton, der im G-moll-Trio unüberhörbar vorherrscht, wirft seine Schatten auch auf das E-Dur-Quartett, dessen Komposition gleich am Tage der Vollendung des Trios begonnen wurde. Der Umstand, daß unmittelbar nach diesen beiden Kammermusikwerken das ergreifende Stabat Mater (op.58, B 71, vollendet 1877) skizziert wurde, hat dazu geführt, daß man alle drei Werke mit dem Tod von Dvoráks erster Tochter Josefina in Zusammenhang gebracht hat. Es drängt sich aber der Verdacht auf, daß zumindest im Falle des Klaviertrios hier nur ein simpler Analogieschluß vorliegt: Tonart und einige thematische Details des Werkes erinnern nämlich an Smetanas Klaviertrio op.15 (1855/57), das ein Epitaph für des Komponisten Tochter Bedriska (1853-1855) ist. Dvoráks Tochter Josefina war schon am 21. September 1875, zwei Tage nach ihrer Geburt, gestorben – ein Schicksalsschlag, der bis vor wenigen Generationen auch in Mitteleuropa nur wenigen Familien erspart blieb. (Dvorák hatte zu diesem Zeitpunkt gerade den ersten der fünf Akte seiner unglücklichen Vanda beendet.) Fast auf den Tag genau ein Jahr später, am 18. September 1876, wurde die zweite Tochter, Ruzena, geboren – deren früher Tod, dicht gefolgt von dem des erstgeborenen Sohnes Otakar (1874-1877), dann sicher der unmittelbare Anlaß für die Vollendung des Stabat Mater war. Obwohl es sehr leicht möglich ist, daß ein engerer Zusammenhang zwischen dem Tod Josefinas und der überwiegend dunklen, verhaltenen Stimmung der ersten Werke des Jahres 1876 besteht, sollte man sich jedenfalls davor hüten, unser Klaviertrio nur aus diesem Blickwinkel betrachten zu wollen. Vielleicht wäre, abseits der sich hier stellenden konkreten Frage, auch einmal das Phänomen zu untersuchen, daß – nicht nur bei Komponisten, die dem Publikum schon a priori als „naïv-musikantisch” gelten – fast jeder schmerzliche Unterton in der Musik auf biographisch belegbare Schicksalsschläge zurückgeführt wird, während sich kaum jemand bemüßigt fühlt, den unmittelbaren „Anlaß” musikalischer Freudenausbrüche ergründen zu wollen. Am Schluß aller Überlegungen, die durch solche Fragen ausgelöst werden könnten, steht dann wohl meist die Einsicht, daß wie jedes andere so auch das musikalische Kunstwerk letztlich nur einer in ihm selbst gründenden Logik gehorcht – zu deren Verständnis oder teilweisen Entschlüsselung historische, soziologische, biographische und sogar anekdotische Fakten freilich oft genug beitragen mögen.
Im vorangegangenen Klaviertrio (B-Dur, op. 21, B 51) haben wir Dvorák auf der Suche nach dramaturgischer Stringenz und handwerklicher Ökonomie gesehen. Das G-moll-Trio zeigt in beeindruckender Weise, wie rasch er auf diesem Wege vorankam – oder besser: in welch kurzer Zeit er sein hochgestecktes Ziel erreicht hatte. Denn obwohl die Musikwissenschaft diesem Werk ihre (freilich durchaus verzichtbare) Anerkennung beharrlich verweigert, ist es in des Wortes ursprünglichster Bedeutung ein Meisterstück. In seiner Textur ist bis in die Ornamentik der letzten Nebenstimme hinein alles mit motivischer Bedeutung durchwirkt. Die Form erscheint auf allen Ebenen – vom Periodenbau über die Satztektonik bis hin zur Gesamtarchitektur – als Ausdruck einer organischen Entwicklung.
Der Eindruck organischer, man ist versucht zu sagen: vegetativer Entfaltung der musikalischen Ideen wird im ersten Satz (Allegro moderato) noch durch eine außergewöhnliche Flexibilität des rhythmischen und agogischen Verlaufes verstärkt. So wird etwa das für Begleitfiguren konstitutive „motorische” Element ständig relativiert und modifiziert – das hier immer wiederkehrende Changieren zwischen Sechzehntel- und Achteltriolenbewegung, die einander abwechseln und überlagern, hat fast schon den Charakter eines rhythmischen Leitmotivs, ist aber gleichzeitig auch eine überaus raffinierte und wirkungsvolle Art, „improvisatorische” Rubatoeffekte auszuschreiben. Außerdem verwendet Dvorák in diesem Satz zwei nicht eben kontrastierende, aber doch deutlich unterschiedene Grundtempi, die einerseits auf subtile Weise die Klarheit des formalen Ablaufes erhöhen, andererseits aber auch interpretatorische Ungezwungenheit suggerieren. Das Zusammenwirken all dieser Elemente gibt dem Ganzen jene atmende Freiheit, vor deren Hintergrund die strenge motivische Arbeit und die präzis gezeichnete formale Kontur des Satzes umso wirkungsvoller zur Geltung kommen können.
Melodische Keimzelle des Satzes ist eine diatonisch (in natürlichem Moll) fallende Linie, in der zunächst die Sext ausgespart bleibt. Ihr Fehlen erzeugt eine dynamische und emotionelle Bruchlinie zwischen den beiden entschlossenen Akkorden, die den Satz eröffnen, und der melismatisch klagenden Fortsetzung, die – nach beklemmend langem Verweilen auf der Dominante – zum Ausgangspunkt des „eigentlichen” Hauptthemas wird. Hier schließt sich dann die Kluft zwischen den beiden Themenhälften: der das Incipit beherrschende Konflikt scheint aufgehoben, und die fehlende Sext darf jetzt erscheinen. Die Hierarchie zwischen den beiden Erscheinungsformen des Themas, der reliefhaft skulpierten Satzeröffnung und seiner elegisch schwärmerischen Fortsetzung, wird zwar an den beiden tektonisch entscheidenden Nahtstellen des Satzes (Rückkehr zur Wiederholung der Exposition und Rückführung zur Reprise) eindeutig festgelegt, trotzdem sind beide Varianten für Verlauf und Physiognomie des Satzes gleich wichtig. Der Seitensatz (Poco più mosso) steht in keinem Kontrast zu der vorangegangenen Entwicklung, sondern ist ihr natürliches Resultat. Gerade deshalb ist die hier vorgenommene Temporückung dramaturgisch ein sehr glücklicher Einfall. (Außerdem läßt die Rücknahme dieses Schrittes am Beginn der Wiederholung das Hauptthema in seiner Funktion noch deutlicher hervortreten.)
Die geschwisterliche Nähe von Haupt- und Seitenthema kommt auch in der Durchführung zur Geltung: So verwendet etwa der diesen Abschnitt eröffnende chromatische Modulationszug (fis-moll – g-moll / As-Dur & as-moll – a-moll) nacheinander ein Seitenthemen- und ein Hauptthemen-Modell; auch hier erfolgt die Konturierung mit agogischen Mitteln (Wiedereintritt des Tempo I gleichzeitig mit der Rückkehr des Hauptthemas, unterstrichen durch die eingefügte Durvariante). Der gleiche Vorgang wiederholt sich am Ende der Durchführung, wobei die Halbierung des Tonraumes (Reduktion auf den Modulationsschritt Ges-Dur/fis-moll – g-moll) durch die melodische Vergrößerung des Incipits aufgewogen wird.
Die Reprise stellt eine ungewöhnlich weitgehende Reinterpretation des Expositionsablaufes dar. Auf dem jetzt viel beschwerlicheren Weg vom Haupt- zum Seitenthema begegnet uns wieder der die Durchführung begrenzende emblematische Modulationsschritt (fis-moll – g-moll). Auch das Seitenthema selbst hat seinen unbefangenen Fluß verloren und erscheint vielfach gebrochen, wie eine bange und nur halb ausgesprochene Frage. Die immer unabweislicher wiederkehrenden Anfangsakkorde verdichten sich zuletzt zu einer ingrimmig verzweifelten Forderung – ein siebenmal wiederholter Es-moll-Akkord evoziert eine in ohnmächtigem Schmerz geballte Faust. In die elegische Resignation der diesem Ausbruch folgenden Coda klingt ein Unterton wehmütiger Erinnerung; mit bitterem Entschluß beendet dann das – erst hier unverhüllt auftretende – Urmotiv des diatonischen Oktavfalls den Satz.
Das Largo (Es-Dur) geht in der Vereinfachung des Materials noch einen Schritt weiter – Dvorák begnügt sich hier mit einem einzigen Thema. Auch der formale Aufbau ist von lapidarer Knappheit: Auf die Exposition des Themas in Gestalt einer asymmetrischen Periode (10 + 16 Takte) folgt ein die Stelle des Vordersatzes einnehmender Durchführungsabschnitt von dramatischer Intensität, an den sich die Reprise des Nachsatzes anschließt. Eine in ihrer Ausdehnung genau der Expositionsperiode entsprechende Coda beschließt diesen ungewöhnlich lakonischen Satz. Die augenscheinliche Sparsamkeit in Form und Material wird allerdings durch die Dichte und das Gewicht des Inhaltes mehr als aufgewogen. An keiner anderen Stelle des Trios zeigt sich die tragische Größe der ideellen Konzeption unmittelbarer und bestürzender als hier. Die Mediantausweichungen im zweiten und vierten Takt des Themas (G-Dur/Ces-Dur) umgrenzen das enge Terrain, das mit schwerem Herzen und schleppenden Schritten mehrmals durchmessen wird. Erst die Coda eröffnet mit ihren bang hoffenden Synkopen den Blick auf eine ferne Region friedlicher Zuversicht.
An eben diese Geste knüpft nun das folgende Scherzo (Presto, g-moll) an; es ist bei all seiner motorischen Energie kein selbstsicher vorwärtsstürmendes Stück, sondern läßt immer wieder die Nähe einer schwerlastenden Frage spüren, die unter der tänzerischen Eleganz seiner Oberfläche auf Antwort harrt. An einer Stelle – vor der Reprise des Hauptteiles – wird sie dann auch ausgesprochen: Die nervige Bewegung des Dreivierteltaktes wird zur bedächtigen Gangart eines an das vorangehende Largo erinnernden Zweivierteltaktes gedehnt, und in dieser Vergrößerung erscheint das Scherzothema plötzlich als Teil einer schwermütigen Volksliedmelodie. Das Trio (Poco meno mosso, G-Dur) will von all diesen Komplikationen nichts wissen: Mit der vertrauensseligen Einfalt und Zuversicht, die hier zu Wort kommt, scheint ein Kind, ohne es selbst auch nur zu ahnen, Trost und Hoffnung zu schenken.
Die Saat dieser Episode bricht im Finale (Allegro non tanto) endlich aus der Erde. Das Incipit ist ganz unüberhörbar eine Paraphrase des Werkanfangs: Wie dort herrscht auch hier der schroffe Gegensatz zwischen den ersten zupackenden Forteakkorden und einer fast scheuen, fallenden Bewegung, die diesmal aber schon von Anfang an einen versteckten Anflug von Übermut in sich birgt. Und, ganz wie im ersten Satz, mündet auch hier die Wiederholung dieses viertaktigen Modells in ein erstaunliche acht Takte langes Innehalten auf der Dominante, von der aus schließlich das „eigentliche” Hauptthema erreicht wird. Die zögernd tastenden Halbtonschritte dieses Themas suchen den befreienden Ausweg in einen Tanz: Rhythmus und Metrum verraten uns schon, daß es eine Polka werden soll – aber der lange Weg dorthin läßt uns den glatten Modetanz vergessen; vielmehr wird die Erinnerung an Smetanas poetische Polkametamorphosen (etwa das Klavierstück Erinnerung an Böhmen, oder den zweiten Satz des Streichquartetts Aus meinem Leben) geweckt. Erst im zweiten Anlauf – diesmal steht das Eröffnungsmodell schon ganz in vitalem Forte, und der Weg führt jetzt über die Subdominante – wird das erlösende G-Dur und der befreiende Tanz (Poco più mosso) erreicht. Doch schon nach wenigen Takten verebbt der tänzerische Übermut, und unter seinen letzten Ausläufern meldet sich das Einleitungsthema in völlig neuem Gewande als Kontrapunkt. Es fungiert hier zuerst als Seitenthema, aber die motivischen Verflechtungen, die durch sein Erscheinen ausgelöst werden, führen uns geraden Weges in eine Durchführung, in der seine kontrapunktische Disposition bald epidemisch wird. Es bereitet dem Komponisten unüberhörbar Vergnügen, unter den Motiven des Satzes Verwirrung zu stiften – Humor und Poesie dieser ungezwungen originellen Durchführung würden hervorragend in eine nächtliche Intrigen- und Verwechslungsszene einer komischen Oper passen. (Es ist an Stellen wie diesen, daß man besonders lebhaft bedauert, wie unglücklich Dvorák in vielen Fällen bei der Wahl seiner Opernlibretti war.)
Wie im Kopfsatz ist auch hier die Reprise von charakteristischen Veränderungen und weitgehenden Umreihungen gegenüber der Exposition geprägt. Schon das Eröffnungsmodell wird uns jetzt in einer dynamisch-artikulatorischen Variante präsentiert – die Antwort auf die Eröffnungsakkorde ist diesmal diminuendo/legato, was der mittlerweile erreichten, nonchalanten und gelösten Stimmung weit besser entspricht als die beiden Varianten der Exposition. An der Stelle der eigentlichen Polka, die sich Dvorák für die Coda aufspart, steht hier zwischen Haupt- und Seitenthema eine Art zweiter Durchführung, in der sich das schüchterne Hauptthema gar zu einem veritablen Fugato verführen läßt. Die effektvoll erst nach einem Scheinschluß gegen Ende der Coda placierte Polka verliert auch diesmal schon nach wenigen Takten ihre Verve und will in Wehmut enden; aber die janusköpfigen Halbtonschritte des Hauptthemas, die ja den ganzen Satz zwischen Sehnsucht und Übermut in zarter Schwebe gehalten haben, entscheiden sich zuletzt doch für das letztere und bringen das Werk zu einem fröhlich unbeschwerten G-Dur-Ende.
Der mit diesem Werk vollzogenen Entwicklungsschritt ist nicht weniger als ein Durchbruch zur Meisterschaft. Die kleinen (und durch wie viele Schönheiten aufgewogenen!) Schwächen des B-Dur-Trios sind hier alle souverän vermieden. (Ein Vergleich der beiden Finalsätze und ihrer ideellen Verbindung zum Vorangehenden läßt die entscheidenden Elemente dieser Entwicklung besonders deutlich hervortreten.) Ökonomie der thematischen Arbeit und Reichtum der dramaturgischen Konzeption machen dieses Werk zu einem frühen Höhepunkt in Dvoráks Œuvre – nur unsere Kenntnis der beiden nachfolgenden Meistertrios könnte die Vernachlässigung dieses Werkes zur Not erklären, wenn auch nicht rechtfertigen. Völlig unverständlich erscheinen jedenfalls die schulmeisterlich herablassenden Zensuren, die dieses Trio (etwa von dem englischen Dvorák-„Papst” John Clapham) erhalten hat. Symptomatisch für diese – durchaus nicht auf die „hohe” Musikwissenschaft beschränkte, sondern von sehr vielen „Praktikern” geteilte – Einschätzung des Werkes ist Wilhelm Altmanns einschlägiger Artikel in seinem populären Handbuch für Klaviertriospieler (1934). Da kann man innerhalb weniger Zeilen (- ich zitiere nicht aus stilistischer Beckmesserei -) lesen:
„…auf jeden Fall… das am wenigsten starke der Dvorákschen Trios… recht klangschön… recht hübsch… recht anziehend… recht wirkungsvoll…”
Alles, was „recht” ist: Aber vielleicht litt Dvorák doch nicht an getrübtem Urteilsvermögen, als er vor seiner Abreise nach Amerika für seine Abschiedstournee durch Böhmen und Mähren (mit Ferdinand Lachner und Hanus Wihan, Jänner – Mai 1892) auch dieses Trio wählte, obwohl es immerhin schon das für ein novitätenhungriges Publikum bedenkliche Alter von sechzehn Jahren hatte. Ich jedenfalls zöge es auch dann immer noch vor, mit Dvorák zu irren, als mit Clapham und Altmann „recht” zu haben.
© by Claus-Christian Schuster