Castillon: [Premier] Trio pour Piano, Violon et Violoncelle, Si bémol Majeur, op. 4

Alexis de Castillon

* 13. Dezember 1838
† 05. März 1873

[Premier] Trio pour Piano, Violon et Violoncelle, Si bémol Majeur, op. 4

Komponiert:Pau (Châteu des Forges), 1865?
Widmung:Vicomtesse de Truchi née de Castillon
Uraufführung:erste dokumentierte private Aufführung: Paris, Jänner 1868
Alexis de Castillon, Klavier
Friedrich Wilhelm Langhans (1832-1892), Violine
?, Violoncello
erste dokumentierte öffentliche Aufführung:
Paris, Salle Pleyel 14. Jänner 1893
Vincent d´Indy (1851-1931), Klavier
Alberto Geloso (1863-?), Violine
Frederic (Frits) Schneklud (1859-1930), Violoncello
Erstausgabe:Flaxland, Paris 1866

Unter den (abseits der von Castillons Lehrer Victor Massé geforderten Pflichtübungen) in der Mitte der 1860er Jahre entstandenen Kompositionen nimmt die Kammermusik in Alexis de Castillons Schaffen den ersten Platz ein, was sowohl mit seiner ureigensten Berufung als auch mit der praktischen Anregung durch den Cercle de l’Union artistique zu tun hat. Schon im Dezember 1863 beendet Castillon ein allererstes (unveröffentlicht gebliebenes) Klaviertrio in D-Dur; zur selben Zeit arbeitet er an seinem Opus 1, einem ganz im Banne Schumanns geschriebenen Klavierquintett in Es-Dur. Dieses für Castillons Schaffen emblematische Werk ist der Marquise Francoise d’ Angosse gewidmet, auf deren Schloß bei Pau (Château des Forges) sich der Komponist meistens den Winter über aufhielt. Diesem 1864 abgeschlossenen und im nächsten Jahr im Pariser Verlag von Gustav Alexander Flaxland veröffentlichten Werk folgen 1865 mit dem Streichquartett a-Moll op. 3 Nr. 1 und unserem B-Dur-Klaviertrio op. 4 zwei weitere ambitionierte Kammermusikwerke, die gleichfalls bald nach ihrem Entstehen von Flaxland gedruckt werden.
Das Klaviertrio widmete Castillon seiner inzwischen mit dem Vicomte de Truchi verheirateten Schwester. Dem durchaus nicht auf konzertanten Effekt gerichteten, intimen und ungezwungenen Ton des Werkes, scheint diese Widmung gut zu entsprechen; und obwohl es eine Reihe kompositiorischer “Unarten” aufweist, die in Castillons letztem Trio, dem im Todesjahr des Komponisten vollendeten und posthum veröffentlichten D-Moll-Trio op. 17, weitgehend überwunden erscheinen, offenbart es in vielleicht noch reinerer und unschuldigerer Form die Möglichkeiten und Besonderheiten von Castillons nicht alltäglichem Talent.

Der erste Satz ist mit Prélude et Andante überschrieben: einer den Organisten Castillon erraten lassenden rhapsodischen Introduktion folgt ein von rezitativischen Zügen geprägtes und keinem festgefügten Formschema verpflichtetes Andante, das nahtlos in den zweiten Satz Scherzo. Allegro, d-Moll) überleitet. Hier wird der tänzerische Topos der traditionellen Gigue- und Tarantella-Vorbilder auf originelle Weise unterlaufen: unerwartete Synkopierungen und Temporückungen brechen den Fluß, und als “Trio” begegnet uns gar ein veritables Fugato im Zweivierteltakt (D-Dur). Die gemäß den Beethovenschen Modellen voll ausgeführte fünfteilige Form endet in einer hymnischen Vergrößerung einer Durvariante des Scherzothemas – und wenn zuletzt ein Mollschatten die Euphorie in Frage stellt, so scheint auch ein berührender Selbstzweifel des Komponisten mitzuklingen.
Die folgende Romance (g-Moll), in der ein ganz sakral gestimmtes Klavier (hinter dem man wieder unschwer die Orgel vernehmen kann) den elegisch-emfindsamen Streichern gegenübergestellt wird, würde bei einem Hörtest mit einiger Sicherheit einem russischen Komponisten zugeordnet werden – bis hin in die melismatischen Verästelungen der dekorativen Nebenstimmen läßt sich diese Wahlverwandtschaft ausmachen, und der Satz könnte recht gut als Bilderbuchillustration der musikhistorisch so gut dokumentierten Affinität zwischen russischer und französischer Musik dienen. Das Dur-Moll-Spiel vom Ende des Scherzos wiederholt sich auch hier in analoger Weise, bevor das unmittelbar anschließende Finale (Allegro lusingando) die Szene verwandelt. Dieser kapriziöse und widersprüchliche Satz muß mit seinen harmonischen und formalen Extravaganzen einen dogmatischen Lehrer wie Victor Massé zur Verzweiflung gebracht haben. In der Tat entspräche die hier von Castillon gewählte Form weit eher einem Scherzo als einem Finalsatz – ein Umstand, den der Komponist mit der für die beiden Episoden gewählten Bezeichnung “Quasi Trio primo” und “Quasi Trio secondo” noch mutwillig unterstreicht. Daß sich in diesem Schlußsatz Elemente aus allen vorangegangenen Sätzen amalgamiert finden, könnte ein Indiz für Castillons Bekanntschaft mit den Formexperimenten der Neudeutschen Schule sein; umgekehrt scheint manches in der Harmonik des Satzes schon Max Reger vorwegzunehmen – eine auch für die avancierteste französische Musik dieser Zeit nicht eben naheliegende Assoziation. Den leichtsinnigen Übermut des Ritornells unterbricht die erste der Episoden mit einem bukolisch-burlesken Interludium – tonartlich aber mit einem Rückgriff auf das D-Dur aus dem Trio des zweiten Satzes. (Die unauflösliche Ehe zwischen B-Dur und D-Dur ist nur eine der unzähligen Spuren, die das hingebungsvolle Studium Beethovens im Werk Castillons hinterlassen hat!) Die zweite Episode nimmt hingegen das schlichte thematische Material des dritten Satzes wieder auf, das nun in phantasievoller Weise und in eigenwilliger Textur weitergesponnen wird. Dieser zunächst verschleierte Rückgriff wird ganz am Ende des Satzes mit einem wörtlichen Zitat offengelegt, bevor das kecke Ritornell den Satz lakonisch beschließt.

© by Claus-Christian Schuster