Joseph Haydn
* 31. März 1732
† 31. Mai 1809
Trio Es-Dur Hob.XV:29 (op.75 Nr.3)
| Komponiert: | London, 1795 (oder Wien, 1795/96?) | 
| Widmung: | Theresa Bartolozzi, geb. Jansen | 
| Uraufführung: | nicht dokumentiert | 
| Erstausgabe: | Longman & Broderip, London, April 1797 | 
In seinem ersten Londoner Notizbuch von 1791 erwähnt Haydn unter den  hervorragenden Musikern der Stadt eine damals 21jährige, aus Aachen  stammende Pianistin: Theresa Jansen. Sie war Schülerin von Muzio  Clementi und scheint Haydn mit ihrem Spiel so beeindruckt zu haben, daß  er ihr den anspruchsvollsten Teil seines klavieristischen Spätwerkes  widmete: die letzten drei Klaviersonaten (Hob.XVI:50-52) und die letzte  Dreiergruppe von Klaviertrios (Hob:XV:27-29). Wahrscheinlich sind alle  sechs Werke während Haydns zweitem Londoner Aufenthalt (4. Februar 1794  bis 15. August 1795) entstanden. Die Klaviersonaten sind noch Miss  Jansen gewidmet, sind also jedenfalls vor ihrer Hochzeit mit dem  Kunsthändler Gaetano Bartolozzi (16. Mai 1795) geschrieben, bei der  Haydn Trauzeuge war. Es wäre denkbar, daß die Trios Haydns  Hochzeitsgeschenk waren, aber da die Widmungsträgerin sie erst Anfang  1797 zum Druck gab, ist auch ein späteres Entstehungsdatum und Wien als  Entstehungsort nicht unmöglich. 
 
 Wenn man die musikalischen und pianistischen Fähigkeiten der so reich  Beschenkten nach der Eigenart dieser Werke beurteilen darf, so muß sie  wirklich eine außergewöhnliche Erscheinung gewesen sein. Selbst in dem  an genialischen Überraschungen wahrlich nicht armen Oeuvre Haydns  verblüffen sie sowohl durch instrumental ungewöhnliche Formulierungen  als auch durch harmonische Kühnheit und metrischen Einfallsreichtum.  Auffällig ist die Vorliebe für „romantische“, „irrationale“ Tonarten der  Mittelsätze: In der Es-Dur-Sonate (Hob.XVI:52) nimmt das E-Dur-Adagio  schon etwas von dem Zauber vorweg, den Brahms fast ein ganzes  Jahrhundert später in seiner zweiten Sonate für Klavier und Violoncello  op.99 einer analogen Tonartenbeziehung entlocken wird; im ersten der  drei Trios (C-Dur, Hob.XV:27) überrascht Haydn uns mit einem  A-Dur-Andante, das innerhalb der Triade gleichsam die Brücke zum  nachfolgenden E-Dur-Trio (Hob.XV:28) schlägt; und in unserem Es-Dur-Trio  steht der Mittelsatz in der weit entfernten Tonart H-Dur, die sich auf  wunderbare Weise schon in der zentralen es-moll-Episode des Kopfsatzes  angekündigt hat (hier freilich in der enharmonischen Verkleidung von  Ces-Dur). 
 
 Eigenwillig sind auch die Proportionen des Werkes: Das eröffnende Poco  allegretto (Es-Dur) ist für sich allein erheblich länger als die beiden  folgenden Sätze. Es ist vielleicht der tiefsinnigste und genialste  Triosatz, den Haydn geschrieben hat. Über all die offen daliegenden und  versteckten Schönheiten des Satzes ließe sich wohl endlos fabulieren,  ohne daß man seinem Geheimnis auch nur einen wesentlichen Schritt  näherkäme: Da könnte man sich zum Beispiel in das erstaunliche Spiel mit  vierzehntaktigen Gruppen (die Haydn zunächst aus einer sequenzierenden  Erweiterung einer „normalen“ Achttaktgruppe gewinnt) versenken und  feststellen, daß die verborgene Allgegenwart dieser Baueinheit nicht nur  den auffälligen – eben vierzehntaktigen – „Stillstand“ in der Coda des  Satzes (also gerade in jenem Moment, in dem dieses Konstruktionsprinzip  aufgegeben zu sein scheint) „erklärt“, sondern sich über alle Freiheiten  hinweg auch in den Gesamtdimensionen des Satzes manifestiert, der  nämlich einschließlich der selbstverständlich völlig unentbehrlichen  Wiederholungen (19 x 14 =) 266 Takte umfaßt – aber wirklich erklärt wäre  damit freilich gar nichts. Obwohl es sich hier nicht im formalen Sinn  um einen Variationensatz handelt, ist doch die Variation das  Grundelement der musikalischen Organisation des Satzes. Haydn löst  dabei, sozusagen en passant, ein gestalterisches Problem, über das sich  sechzig Jahre später auch Brahms den Kopf zerbrach (mit welch herrlichen  Resultaten ist in den Haydn-Variationen nachzuhören): 
 
 „Ich mache manchmal Betrachtungen über die Variationenform und finde,  sie müßten strenger, reiner gehalten werden. Die Alten behielten  durchweg den Baß des Themas, ihr eigentliches Thema, streng bei. Bei  Beethoven ist die Melodie, Harmonie und der Rhythmus so schön variiert.  Ich muß aber manchmal finden, daß Neuere (wir beide!) mehr (ich weiß  nicht rechte Ausdrücke) über das Thema wühlen. Wir behalten alle die  Melodie ängstlich bei, aber behandeln sie nicht frei, schaffen  eigentlich nichts Neues daraus, sondern beladen sie nur…“ 
 
 
 (an Joseph Joachim, Düsseldorf, Juni 1856)
 
 Hier nun gibt uns Haydn gleichsam als dialektische Ergänzung zu der  Brahmsschen Selbstkritik ein Beispiel, wie man über den Baß hinaus auch  die Melodie über weite Strecken beibehalten darf – wenn man dabei eben  nur nicht ängstlich ist. Die Variationselemente sind mehr angedeutet als  ausgeführt, und schon ahnt man hinter diesen Andeutungen einen Ozean  unerschöpflicher Möglichkeiten. So gelingt es Haydn, einen ungewöhnlich  großzügig dimensionierten Satz aus kleinräumigen monothematischen  Einheiten aufzubauen, ohne die naheliegende Gefahr der Eintönigkeit auch  nur zu streifen. 
 
 In dem mit Andantino ed innocentemente (H-Dur) bezeichneten Mittelsatz  finden wir Haydn auf geradem Wege zu jenem unfaßbaren Wunderwerk, der  Fantasia (1797) aus dem Streichquartett in Es-Dur (op.76  Nr.6/Hob.III:80): die selbe tonale Beziehung, der gleiche melodische  Duktus, wenn auch in völlig anderer Bewegungsart. Hier hat das Thema den  Charakter eines Wiegenliedes, und der sehr knapp formulierte Satz  öffnet sich in seinem Schlußdrittel wieder zur Haupttonart des Trios,  mit der das Finale unmittelbar anschließt. (Beethoven werden wir bei der  Verbindung der beiden analogen Sätze in seinem 5. Klavierkonzert (1809)  auf ähnlichen Wegen sehen.) 
 
 In diesem Finale (Presto assai, Es-Dur), das in der englischen  Erstausgabe noch den Zusatz „in the German style“ trägt, löst sich die  verhaltene Innigkeit der vorhergehenden Sätze in pure Lebenslust auf. Es  ist, in leichter (aber nicht unüberbrückbarer) Abweichung von den  ersten Assoziationen, die Tempo-bezeichnung und Untertitel wecken mögen,  ein österreichischer Ländler, in dem auch genüßlich hingeworfene  rhythmische Bosheiten nicht fehlen dürfen; und damit die Beine der  weinbeseligten Tänzer auch wirklich ins Stolpern kommen, findet sich in  der Erstausgabe eine bieder-umständliche Erklärung dieser  Komplikationen. So schließt das Ganze mit der unbeschwerten Fröhlichkeit  eines Erntedankfestes – und zu Dank für diese reiche Ernte besteht auch  wirklich jeder Grund. 
© by Claus-Christian Schuster