Dvořák: Zweites Quartett für Pianoforte, Violine, Viola und Violoncell, Es-Dur, op.87 [B 162]

Antonín Dvořák

* 08. September 1841
† 01. Mai 1904

Zweites Quartett für Pianoforte, Violine, Viola und Violoncell, Es-Dur, op.87 [B 162]

Komponiert:Vysoká u Príbrami, 10. Juli – 19. August 1889
Uraufführung:München, Kammermusikvereinigung, 3. November 1890
Heinrich Schwartz (1861-1924), Klavier
Karl Hieber, Violine
Penzl, Viola
Friedrich Hilpert (1841-1896), Violoncello

Prag, Umelecká beseda, 23. November 1890
Hanuš Trnecek (1858-1914), Klavier
Ferdinand Lachner (1856-1910), Violine
Petr Mareš , Viola
Hanuš Wihan (1855-1920), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1890

Fritz Simrock, der es verabsäumt hatte, sich das erste Klavierquartett rechtzeitig zu sichern, hatte schon mehrere Jahre hindurch vergeblich versucht, Dvorák zur Komposition eines neuen Werkes dieser Gattung zu bewegen. Nach mehreren erfolglosen Vorstößen schreibt er im Sommer 1888 aus Berlin nach Vysoká:

„Ein Klavier-Quartett von Ihnen hätte ich immer gerne – und Sie haben mir´s lange versprochen! Wie ist es damit?? Nur Partiturenwerke drucken, das ist eine zu teure Sache, dabei kann man unmöglich bestehen.“
(27. Juli 1888)

Das waren nun eben nicht gerade die Argumente, die Dvoráks Inspiration anregen konnten – die Klage des Kaufmanns Simrock über die aufwendigen Orchesterpartituren hatte er in den letzten Jahren schon allzuoft zu hören bekommen. Wenn er dann freilich einfacher zu druckende Werke, etwa Klavierstücke oder Lieder, anzubieten hatte, durfte er fast sicher sein, über den Preis wochenlang feilschen zu müssen (wobei er sich allerdings immer als eben so zäher wie selbstbewußter Geschäftspartner erwies). Einige Monate später führten solche Verhandlungen fast zum Eclat – Dvorák forderte zuletzt sein Manuskript (die Písné Milostné/Liebeslieder, op.83/B 160) energisch zurück; das Postscriptum dieses Schreibens ist nicht nur für die versöhnliche und umgängliche Art des Meisters bezeichnend, es ist auch der erste Vorbote unseres Quartetts:

Ein Klavierquartett oder sonst was Ähnliches will ich bald anfangen. Auch hätte ich Lust, eine oder zwei „Slawische Rhapsodien“ zu schreiben, aber noch mehr lustig und recht brillant. Was meinen Sie?
(21. Dezember 1888)

Der Liebeslieder-Streit wurde shcließlich doch noch gütlich geregelt; es dauerte dann aber immerhin noch ein gutes halbes Jahr, bis Dvorák sich wirklich an die Komposition des Quartetts machte – und man darf wohl annehmen, daß er damit weniger dem Drängen seines Verlegers nachgab, als einfach einer inneren Notwendigkeit folgte.

Nach der Vollendung des Klavierquintetts (op.81/B 155; 3. Oktober 1887) hatte Dvorák mehr als ein Jahr an seiner Oper Jakobín (op.84/B 159; 10. November 1887 – 15. November 1888) gefeilt, die am 12. Februar 1889 im Prager Nationaltheater mit großem Erfolg uraufgeführt worden war. In dieser außerhalb des tschechischen Sprachraumes noch immer so gut wie unbekannten Meisteroper hatten Dvorák und seine erprobte Librettistin Marie Cervinková-Riegrová (1854-1895) mit der köstlichen Figur des Regenschori Benda nicht nur dem gleichnamigen Komponisten, sondern vor allem Dvoráks erstem wichtigen Förderer, Anton Liehmann, bei dem der halbwüchsige Fleischhauerlehrling von 1854 bis 1856 in Zlonice Deutsch- und Musikunterricht erhalten hatte, ein liebenswertes Denkmal gesetzt; und es ist offensichtlich, daß die Arbeit an dieser Oper, deren ganzes Ambiente den Komponisten in die Welt seiner Kindheit und Jugend zurückversetzte, ein retrospektives Element, das sich schon seit einiger Zeit in seinem Schaffen manifestiert hatte, verstärkte. Bereits das Klavierquintett war ja durch die Rückbesinnung auf ein Jugendwerk angeregt worden, und außerdem hatte in der Produktion der Jahre 1887 und 1888 die Überarbeitung älterer Kompositionen eine ungewöhnlich wichtige Rolle gespielt. Wie man am Beispiel des Klavierquintetts sehen kann, standen mitunter auch Neukompositionen in engem gedanklichen Zusammenhang mit längst abgeschlossenen Werken. Es ist also recht gut denkbar, daß auch das neue Klavierquartett nicht nur, wie offensichtlich, eine Fortsetzung und Vertiefung der bei der Komposition des Klavierquintetts gemachten Erfahrungen, sondern in mancher Hinsicht auch ein dialektischer Kommentar zum ersten Werk dieser Gattung ist.

Wenige Wochen nach der Uraufführung des Jakobín reiste Dvorák nach Dresden, um dort seine V. Symphonie (F-Dur, op.76/B 54 – das Nachbarwerk des ersten Klavierquartetts) zu dirigieren. Unmittelbar danach, am ersten Sonntag im April 1889, stattete er nach langer Zeit wieder einmal seinem Geburtsort Nelahozeves (den K.u.K.-Behörden aus unerfindlichen Gründen auch unter dem deutschen Namen „Mühlhausen“ bekannt) Besuch ab. Im herrschaftlichen Schloß der Fürsten Lobkowitz, das den unscheinbaren Ort an der Moldau überragt, war jetzt ein Mädcheninternat untergebracht, das Dvorák am Nachmittag besuchte. Die ganze Szenerie, die man ohne wesentliche Retouchen als Bühnenbild für den Jakobín verwenden hätte können, inspirierte Dvorák dazu, vor den Elevinnen am Klavier lange über Motive aus seiner Oper zu phantasieren. Wahrscheinlich war dieser an der Stätte seiner frühesten Erinnerungen verträumte Tag die Geburtsstunde von Dvoráks erfolgreichstem Solo-Klavierwerk, den Poetické nálady (Poetische Stimmungsbilder, op.85/B 161), deren erstes in Prag am 17. April 1889 niedergeschrieben wurde. Das dreizehnte und letzte Stück der Sammlung wurde am 6. Juni schon in Vysoká, dem Landhaus und Sommerdomizil des Komponisten, beendet. Dieser Zyklus bildet eine ideale Brücke zwischen den Charakteren des Jakobín und der Vorstellungswelt des kurz darauf in Angriff genommenen zweiten Klavierquartetts: Der Zusammenhang zwischen den beiden Werken wird an einer Vielzahl von Details, angefangen von typischen harmonischen Wendungen und tonalen Beziehungen bis hin zu unverwechselbaren Besonderheiten der Klaviertextur, sicht- und hörbar; im dritten Stück (Na starém hrade/Auf der alten Burg) scheint sogar schon der tonale Grundplan unseres Quartetts skizziert zu sein.
Wenige Tage nach Abschluß der Poetické nálady erreichte Dvorák die Nachricht, daß ihm Seine Kaiserliche Majestät den „Orden der Eisernen Krone III. Klasse“ verliehen hatte, worüber sich der Ausgezeichnete fast ebenso sehr freute, wie über die launige Gratulation seines Schickslasgenossen Johannes Brahms, der sich nun als „Ritter des Leopoldsordens“ gerieren durfte. (Ob Dvorák die Haltung seines Freundes – „Orden sind mir wurscht – haben will ich sie!“ – teilte, ist nicht überliefert.)

Am 10. Juli 1889 begann der ausgezeichnete Komponist, den ersten Satz des Klavierquartetts zu skizzieren. Der sommerliche Aufenthalt in Dvoráks geliebtem Vysoká war diesmal von besorgniserregenden Krankheiten und einem Todesfall in der Familie überschattet. Trotzdem schritt die Arbeit so rasch voran, daß er schon einen Monat später seinem lieben Freund Alois Göbl (- eine der wichtigsten Bezugspersonen Dvoráks, dem zu Ehren er seine jüngste Tochter Aloisia [*4. April 1888] taufen ließ -) berichten kann:

Sie wollen wissen, was ich mache? Mir ist der Kopf so voll von Einfällen, wenn nur ein Mensch das alles aufschreiben könnte! Aber was nützt es, ich muß schreiben, wie die Hand es eben kann, und das übrige möge Gott geben. Jetzt habe ich schon drei Sätze eines neuen Klavierquartetts geschrieben, und mit dem Finale werde ich in einigen Tagen fertig sein. Es geht über Erwarten gut, und die Melodien laufen mir nur so zu. Gott sei´s gedankt!
(10. August 1889)

Daß dem glücklichen Komponisten die Melodien wirklich nur so zulaufen und -fliegen, kann man auf jeder Seite dieser Partitur nachprüfen, und dafür mag man sich getrost Dvoráks bescheidenem Dank an eine noch über Seiner Kaiserlichen Majestät stehende Instanz anschließen; daß aber das Werk in dieser Überfülle von Ideen nicht ertrinkt, sondern sich in monumentaler Klarheit entfaltet, dafür wird der Meister sich unsere unmittelbarere Bewunderung wohl gefallen lassen müssen.

Der Zusammenhalt der vier Sätze des Werkes mit ihrem erstaunlichen Reichtum an Motiven und Entwicklungslinien wird in erster Linie durch ein gemeinsames tonales Beziehungsschema gewährleistet. Die „äußere“ Tonartenfolge (Es-Dur – Ges-Dur – Es-Dur – es-moll/Es-Dur) läßt dieses Konstruktionsprinzip nur erahnen. Um so deutlicher zeigen sich aber die Verbindungslinien im Inneren der Sätze: Das ganze Werk hindurch sind die Variante (Es-moll), die Submediante (Ces-Dur bzw. H-Dur) und deren Dominante (Ges-Dur) als tonale Zentren mit einem ausgeprägten Hang zur Tonikalisierung wirksam; die nominale Haupttonika (Es-Dur) wird dagegen auffällig sparsam eingesetzt, behält aber gerade deshalb bis zum Schluß ungewöhnliche farbliche Frische und dramaturgische Kraft. Der Strategie ist nicht völlig neu (schon Beethoven hat in ähnlicher Richtung experimentiert), wurde aber selten mit so großer Konsequenz und so befriedigendem Resultat durchgehalten.

Gleich die Eröffnung des Kopfsatzes (Allegro con fuoco) demonstriert die gewählte Vorgangsweise paradigmatisch: Ganze fünfundzwanzig Takte lang dauert es, bis sich die Grundtonart das erste Mal unverschleiert zu erkennen gibt – der Umweg, auf den uns ein die majestätische Monumentalität des Hauptgedankens mit zupackender Rhythmik ergänzendes Trabantenmotiv zwingt, führt auf kühner Route über Ges-Dur, B-moll/B-Dur, Ces-Dur, E-moll und F-moll durch eine dramatische Hochgebirgsszenerie. Sogar das heroische Hauptthema muß sich den Notwendigkeiten dieser abenteuerlichen Taktik fügen: Schon im ersten Takt ersetzt ein rätselhaftes H (=Ces), dessen programmatische Bedeutung sich erst nach und nach enthüllen wird, den Dominantton B. Das schließlich triumphal in seiner „wahren“ Gestalt präsentierte Thema kann sich dann nur ganze vier Takte lang im Licht des endlich erreichten Es-Dur sonnen; schon die erste Abspaltung entführt uns wieder über Es-moll nach Ges/Fis-Dur, das sich aber diesmal nur als eine Zwischenstation auf dem Weg zum Seitensatz erweist. Hier wird in effektvoller Erweiterung des bisher abgesteckten tonalen Rahmens die Mediante G-Dur etabliert, in der sich das entwaffnend schlichte Seitenthema entfaltet. Dieses entbehrt genauso wie das erste Hauptthema markanter rhythmischer Merkmale – sein Kontrast zu jenem manifestiert sich in Melodie und Metrik: Melodisch ist es eine Art (sehr freier) Umkehrung des ersten Themas, und metrisch ersetzt es dessen männliche Verse durch trochäische, wie sie als Folge der tschechischen Prosodie auch im Volkslied häufig vorkommen. Während das kämpferische Hauptthema in seinem harmonisch zerklüfteten Ambiente ständig von Zersetzung und Aufsplitterung bedroht war, darf sich das unschuldige Seitenthema in dieser G-Dur-Enklave nach Lust aussingen, was es auch in immer üppiger werdender Verzierung tut, bis sich über den Schlußtrochäen plötzlich das Hauptthema wieder energisch zu Wort meldet. Dieser unvorhergesehene Konflikt führt zu einer beklemmenden (und sehr opernhaft anmutenden) Unterbrechung, aus der sich die entschlossene Wiederkehr des Satzanfangs mit siegessicherer Geste erhebt.
Doch diesmal ist gar keine Kraftanwendung nötig, um das selbstbewußte Hauptthema vom Weg abzudrängen: Die fragende Wiederholung seiner Schlußwendung führt – mit einer einprägsamen Rückung – über Es-moll nach H-Dur. An diesem Punkt, der den eigentlichen Beginn der Durchführung markiert, ist die angriffslustige Rastlosigkeit des Trabantenmotivs zu kleinlauter Ratlosigkeit geworden, und das von den vier Instrumenten nacheinander durch vier Oktaven getragene Eingeständnis der Ohnmacht zeigt eindrucksvoll die Handschrift des Musikdramatikers Dvorák. Damit ist der Nadir des Satzes erreicht. Von hier drängt die Wiederaufnahme der Schlußwendung des Hauptthemas über einen knappen chromatischen Modulationszug zu einer alle „kammermusikalische“ Rücksicht hinter sich lassenden Entwicklung: In viermaligem Anlauf verbinden sich das pathetisch deklamierte (und deformierte) Hauptthema und sein kämpferischer Trabant über schrill dissonanten Akkordflächen zu einer Steigerung von unerhörter dramatischer Intensität. Die scheinbare Stabilität, die von den großräumigen Orgelpunkten in dieser sechzehntaktigen Kulmination ausgeht, verstärkt nur die Wucht der hier gebannten Spannung. Die angestaute Energie entlädt sich schließlich in einer den Themenkopf abwechselnd verkleinernden und vergrößernden Passage, an deren Ende eine rhapsodisch erweiterte und veränderte Rekapitulation des Hauptthemas steht. Erst die Fortsetzung macht klar, daß wir uns damit schon auf dem Boden der Reprise befinden – die Molldominante (B-moll), mit der wir diesen wichtigen Punkt erreichen, läßt aber keinen Zweifel darüber, daß hier keine „regelmäßige“ Wiederholung des Expositionsgeschehens folgen kann. Die kadenzierende Bekräftigung dieser problematischen und destabilisierenden Tonart wird auch sogleich mit einer abrupten Terzrückung (B-moll – Fis-Dur) umgangen, die übrigens ein genaues Abbild des die Durchführung einleitenden Modulationsschrittes (Es-moll – H-Dur) ist. Die bewußte Disposition solcher stark wirkenden Details ist ein formales Ordnungsprinzip, auf das Dvorák vor allem dann zurückgreift, wenn die Komplexität eines Ablaufs seine Durchhörbarkeit zu beinträchtigen droht. (Diesen Kunstgriff hatte Dvorák, nicht so prononciert und wohl mit weniger bewußtem Kalkül, schon an ganz analoger Stelle im Klavierquartett op.23 angewendet.) Vollends genial ist aber die Konsequenz, die der Komponist hier aus diesem Detail ableitet: Wir erinnern uns, daß in der „Parallelstelle“ zu Beginn der Durchführung der charakteristischen Rückung als retardierendes Element ein ratloses Innehalten folgte. Ganz analog wird jetzt der letzte Halbtonschritt des Trabantenmotivs gedehnt wiederholt – doch diesmal folgt hier die Reprise des Seitenthemas, und Dvorák läßt, anders als zu Beginn der Durchführung, das Halbtonmotiv nicht verstummen: Er gibt ihm nicht nur eine sublime instrumentale Gestalt (das ostinate Seufzermotiv, mit dem das Violoncello die Wiederkehr des unschuldigen Seitenthemas kommentiert, gehört sicher zu den Eingebungen, die im Englischen treffend haunting genannt werden), sondern er verwendet diesen unbeirrbar wiederholten Tonschritt G-Fis gleichzeitig auch dazu, eine subtile Verbindung zwischen Exposition (G-Dur/Mediante) und Reprise (H-Dur/Submediante) des Seitenthemas herzustellen. Rückblickend erscheint somit die in der Exposition überraschend gewählte Mediante als das Spiegelbild der in der tonalen Gesamtarchitektur des Werkes tragende Funktion erfüllenden Submediante – und damit wird auch schon der Blick auf die „Spiegelachse“, die bisher nahezu aufgesparte Tonika frei. Das Resultat dieser herrlichen Eingebung läßt nicht lange auf sich warten: Schon nach acht Takten wendet sich der Seitensatz, der bei seinem ersten Erscheinen unbeirrbar und naiv in G-Dur verankert war, von H- nach Es-Dur und leitet so endlich (wir stehen immerhin schon an der Schwelle zum letzten Drittel des Satzes!) die für das tonale Gleichgewicht des ganzen Werkes entscheidende Bestätigung der Tonika ein. Und jetzt wird auch klar, warum Haupt- und Seitensatz in der Reprise Platz tauschen mußten: Erst die nachgereihte Wiederkehr des Hauptthemas, das sich jetzt großflächig ausbreiten kann, schafft und nützt den für diese monumentale Bekräftigung der Tonika erforderlichen Raum. (Die emphatische Konzentration auf den Hauptthemenkomplex und die damit Hand in Hand gehende völlige Aussparung des Seitensatzmaterials in der Durchführung, mag man nach Belieben als Grund oder Folge dieses Plans betrachten; daß die Reprisenumreihung sich aber auch aus diesem Blickwinkel rechtfertigt, ist jedenfalls unbestritten.)
Es fügt sich wie von selbst in das bewundernswerte Kalkül dieser Dramaturgie, daß die Tonika nach so großzügiger Stärkung mit den abschließenden Kadenzen wieder weit in den freien Tonraum ausschwingen kann und so den Weg für die folgenden Sätze eröffnet. Und natürlich hat Dvorák für diesen vielversprechenden Ausblick auch wieder eine kongeniale instrumentale Formulierung gefunden: Nachdem das Terrain für die erste erweiterte Kadenz gleichsam im Sturm erobert ist, wird sie verhalten und schattenhaft (Poco sostenuto e tranquillo) mit erschaudernden Streichertremoli und weitgespannten Klavierakkorden wiederholt, bevor die entschlossene Wiederaufnahme des Tempos den Satz beschließt. Wer staunt nach all den Wundern dieses Satzes noch darüber, daß sogar in dieser allerletzten herrischen Abschlußgeste die mächtigen Protagonisten Ces und Ges (als einzige leiterfremde Töne) ihre Stellung behaupten?

Wie hoch auch immer die Erwartungen nach einem so eindrucksvollen Kopfsatz gespannt sein mögen – mit dem folgenden Lento (Ges-Dur) erfüllt und übertrifft Dvorák sie alle. Die selbstverständliche Schlichtheit, mit der er ihm das gelingt, erinnert an Schubert, der vielleicht auch bei der formalen Gestaltung des Satzes Vorbild war. Die dramatische Stringenz und der evolutive Reichtum des ersten Satzes waren so groß, daß Dvorák, um dem Lento eigenes Gewicht und Gesicht zu geben, hier radikal auf diese Gestaltungsmittel verzichtet – fast nichts an diesem Satz hat etwas mit dialektischer Entwicklung zu tun. Die gewählte, linear additive Form spiegelt diesen Umstand ganz deutlich wider: Eine Folge von fünf thematischen Gedanken wird zweimal präsentiert und mit einer den letzten Gedanken kadenzierend weiterführenden Coda beschlossen (ABCDE ½ABCDE). Der Umstand, daß die Abschnitte C-E im zweiten Teil des Satzes um eine Quint transponiert erscheinen, läßt es zu, in ihnen eine Art Seitensatz zu sehen, und die Gesamtform als eine durchführungslose „Sonatenform“ zu interpretieren. Diese Sichtweise wird auch durch die zwischen A-B einerseits und C-D-E andererseits bestehenden deutlichen motivischen Zusammenhänge unterstützt. Einzig der Übergang zu Abschnitt D, der ein pathetisch erregtes Element in den ansonsten rein kontemplativen Satz einbringt, greift auf das Entwicklungsprinzip der Abspaltung zurück – alle anderen Gedanken werden einfach wie Perlen aneinander gereiht. Dieser bewußten „Kunstlosigkeit“ des formalen Aufbaus entspricht im tonalen Plan eine großräumige Stabilität, die in denkbar größtem Kontrast zur Komplexität der tonalen Beziehungen innerhalb des ersten Satzes steht: als Grundtonarten der einzelnen Formglieder werden nur Tonika und Dominante sowie (für den Abschnitt D) deren Mollvarianten verwendet.
Eine so kühle Aufzählung der konstruktiven Mittel, mit denen Dvorák die Individualität dieses Satzes gegen seinen übermächtigen Vorgänger verteidigt, sagt freilich über seine beiden wesentlichsten Wirkungsebenen noch gar nichts aus. Wie jeder Einzelsatz eines zyklischen Werkes muß ja auch dieses Lento sowohl eigenwertige Individuation einer nur ihm spezifischen Idee als auch untergeordneter Teil einer übergreifenden Gesamtarchitektur und -dramaturgie sein. Auf der ersten Ebene geht die Wirkung des Satzes von seiner träumerischen Innigkeit und schlichten Unmittelbarkeit aus – also von seinen narrativ-emotionalen, im engsten Sinne „musikalischen“ Qualitäten, die sich verbaler Umschreibung und Bewertung ohnedies entziehen. Was aber die Einordnung in das Gesamtgefüge betrifft, so hat Dvorák hier eindrucksvoll demonstriert, mit welch geringen Mitteln ein Meister große Wirkungen erzielen kann: Die Einbindung des Satzes in den größeren Kontext des ganzen Werkes beruht nämlich im wesentlichen auf nichts anderem als der wohlbedachten Placierung eines Es-Dur-Akkordes in den Mittelpunkt des Abschnittes A. Die tiefere Bedeutung dieser (isoliert betrachtet gar nicht außergewöhnlichen) Wendung wird dadurch unterstrichen, daß, während alle anderen Formteile eingliedrig konzipiert sind, nur dieser Abschnitt aus drei distinkten Phrasen besteht, und sich die Modulation durch das dem zweiten Takt aller drei Phrasen gemeinsame Es-moll nachdrücklich ankündigt. Vor allem vor dem Hintergrund der schon erwähnten großflächigen tonalen Stabilität des Satzes entfaltet dieses eigentlich winzige Detail eine (von seiner analytischen Begründung natürlich völlig unabhängige) Wirkung von elementarer Kraft – sicher nicht der geringste Reiz dieses Stückes, das zu Recht als einer der tiefsten und schönsten Dvorák-Sätze gerühmt wird.

Wenn es noch eines zusätzlichen Beweises bedurft hätte, wie sehr Dvorák in diesem Werk an der Schaffung eines engmaschigen und tragfähigen tonalen Beziehungsgeflechtes gelegen war, so wäre er mit den Eröffnungstakten des dritten Satzes (Allegro moderato, grazioso, Es-Dur) erbracht: Der entschlossene Mut dieses Anfangs zielt nicht etwa darauf ab, ein die verträumte Stimmung des zweiten Satzes konterkarierendes, angriffslustiges Scherzo anzukündigen, er will nur die Wichtigkeit des in diesen Takten vollzogenen, die beiden Sätze aneinander bindenden Modulationsschrittes (Ges-Dur – Es-moll – Es-Dur) betonen. In der Tat folgt auch kein energiegeladenes Scherzo, sondern ein fragiles, „altmodisches“ Menuett, in dem Anmut und Wehmut einander die Waage halten. In Umkehrung der „traditionellen“ Verhältnisse zwischen Hauptteil und Trio bringt erst dieses (Un pochettino più mosso, H-Dur) ein die Stimmung vom Tänzerischen ins Dramatische belebendes, kräftigendes Element ins Spiel, während jener zwischen rokokohafter Grazie, unschuldigem Fernweh und bukolischer Naivität irisiert. Der Nuancenreichtum des Hauptteils bedingt auch seine gegenüber dem knapp formulierten Trio ausgedehntere fünfteilige Form (ABAB´A-Coda). Der „orientalische“ Zauber, der von der übermäßigen Sekund des zweiten Themas (B) ausgeht, läßt einen unwillkürlich an Borodin denken, könnte aber ebensogut – und in vielleicht größerer Übereinstimmung mit der Rokokogestik des Menuetts – auch mit den naiven Exotismen (Chinoiserie, Alla-Turca-Mode etc.) des XVIII. Jahrhunderts in Zusammenhang gebracht werden. Das „exotische“ Detail ist übrigens aus einer ganz heimatlichen Tanzwendung des ersten Themas (A) abgeleitet und erscheint auch danach (B´) noch einmal in einer – gewissermaßen das räumliche durch ein zeitliches Fernweh ersetzenden – modalen Variante (ohne die übermäßige Sekund).
Dem Grundcharakter des Satzes entsprechend ist hier die Es-Dur-Herrschaft weniger umstritten als in den anderen Sätzen. Die Konstruktionslinien des tonalen Gesamtplanes werden aber nicht nur in den erwähnten Anfangstakten, sondern auch im H-Dur des Trios hörbar, während die beiden Episoden des Hauptteiles (B und B´) in G-moll und Es-Dur/As-Dur stehen.

Am unmittelbarsten kommt die Fernwirkung des im Kopfsatz angelegten Tonartenplanes im Finale (Allegro, ma non troppo, Es-moll/Dur) zur Geltung. Dabei treten auch die direkten Beziehungen zwischen den beiden Ecksätzen besonders deutlich zutage: Ganz wie im ersten Satz kann sich die Durtonika erst im letzten Drittel des Satzes – dann aber umso machtvoller – behaupten; und genau wie in dem analog gebauten Schwesternsatz kommt auch im Finale die Durchführung ohne das Seitenthema aus. In der Großform der beiden Sonatensätze ist der relevanteste Unterschied, daß Dvorák diesmal, dem geradlinig-unbekümmerten Charakter des Schlußsatzes entsprechend, auf die Umreihung von Haupt- und Seitensatz in der Reprise verzichtet. Ganz volkstümlich, im Brahms´schen Sinne „zigeunerisch“ ist die Präsentation des Hauptthemas, das zunächst als siebentaktiges Motto erscheint, um dann zweimal in seiner sechstaktigen „Normalgestalt“ wiederholt zu werden, wobei alle drei, nahezu identen Phrasen unbeirrbar auf der Dominante als Zieltonart beharren. Aber die so zur Schau gestellte monolithische Unveränderlichkeit des auch in Melodik und Rhythmik ganz elementaren Themas kann es doch nicht vor dem übermütig-respektlosen Zugriff der gleich darauf entfesselten Durchführungsprozesse schützen: Eine das Thema in spöttischer Verkleinerung paraphrasierende Variante und eine den trotzigen Themenkopf ins Sehnsüchtige wendende lyrische Nebengestalt führen unseren stolzen Helden, einander ablösend und unter ausgiebigem Einsatz imitatorischer Beredtheit, nach Ges/Fis-Dur, aus dem sich das beseelt schwärmerische H-Dur-Seitenthema löst. Dieser neue Gedanke hat die mit seinem Charakter in tiefem Einklang stehende Form einer asymmetrisch verschränkten, fünfzehntaktigen Periode mit der für solche Themen typischen Umkehr der Harmoniefolge (das in die Ferne schweifende I-V anstelle des domestizierten V-I): Kein Wunder also, daß seine liebevolle Begeisterung auf der erreichten Dominante (Fis-Dur) in einem innigen Epilog ausschwingen muß, wobei aber jetzt ein symmetrischer Sechzehntakter geordnete Verhältnisse schafft – im übrigen ganz ohne der Innigkeit der Empfindung, die sich auch in der exquisiten Süße der Harmonik niederschlägt, Abbruch zu tun. Die Schlußgruppe setzt das durch den Seitensatz unterbrochene Spiel mit erneuter Energie fort. Ein Vergleich mit der Exposition des Kopfsatzes lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die ungleich größere tonale Stabilität im Finale – die Durparallele (Ges/Fis-Dur) tritt hier nahezu als Alleinherrscherin auf, was dem tänzerisch gelösten und befreiten Charakter des Satzes trefflich entspricht. Wie aber die schon vorweg konstatierten Parallelen zwischen den beiden Sätzen vermuten lassen, können die Erschütterungen und Kämpfe des ersten Satzes nicht ohne Nachhall bleiben, und naturgemäß ist die (der Wiederholung der Exposition folgende) Durchführung der Ort, an dem solche Erinnerungen am ehesten beschworen werden können. Sie beginnt mit einer Kette von kühnen harmonischen Rückungen, die das (aus dem Incipit abgeleitete) lyrische Nebenthema aus seiner Sanftmut wecken und es zu kämpferischer Entschlossenheit reizen. Doch – wieder eine der von Dvorák so effektvoll gehandhabten Verzögerungen – der Elan erlahmt jäh, und die energischen Staacatoachteln des Anfangs zerstäuben zu einem beklommenen Ostinato, das den Hintergrund zu einer choralartigen Vergrößerung des Nebenthemas bildet. Mit den Terzmodulationen dieses Chorals (f-As-Ces) kehren auch die Lebensgeister wieder, und schließlich führt eine verkürzte Variante des Hauptthemas den begonnenen Modulationszug in vollem Harnisch zu Ende (h-D). Schließlich muß auch die spöttische Verkleinerung aus der Exposition den Ernst der Lage erkennen: In halsbrecherischen Modulationen wird sie, zuletzt nur noch auf in ungeordneter Flucht dahinhastende chaotische Skalenfragmente reduziert, in die Enge getrieben. Am Fluchtpunkt dieser Passage erscheint das chromatisch verfremdete und drohend vergrößerte Incipit als steinerner Gast – eine dramaturgischer Geniestreich, der nur den kleinen Schönheitsfehler hat, daß er banale irdische Gegebenheiten einfach ignoriert (das für die Wirkung der Stelle entscheidende klangliche Gleichgewicht des Kanons zwischen Klavier und Violoncello ist in der notierten Lage vielleicht einem willigen Zuhörer zu suggerieren, nicht aber wirklich herzustellen). Diese Kulmination vertritt gleichzeitig auch das siebentaktige Anfangsmotto, so daß die unmittelbar anschließende Reprise direkt mit den beiden Sechstaktern beginnen kann. An die Stelle der Modulation nach Ges-Dur tritt jetzt endlich der lang erwartete Durchbruch der Durtonika, auf der die Reprise in genauer Analogie zur Exposition beendet und mit einer knappen, aber kraftstrotzenden Coda bekrönt wird. Und was in der erweiterten Codakadenz des ersten Satzes eine verhaltene, schattenhafte Andeutung war, ist hier in gleißendes Licht getaucht – auch in den strahlenden Es-Dur-Schlußjubel klingt noch einmal die stolze Submediante Ces-Dur: „Du großes Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht die hättest, welchen du leuchtest!“

© by Claus-Christian Schuster