Schubert: Klavierquintett A-Dur op.posth.114 (D 667, „Forellen-Quintett“)

Franz Schubert

* 31. Jänner 1797
† 19. November 1828

Klavierquintett A-Dur op.posth.114 (D 667, „Forellen-Quintett“)

Komponiert:Steyr (Stadtplatz 34; Entwurf?) / Wien (Wipplingerstraße 2), Sommer – Herbst 1819
Widmung:Sylvester Paumgartner (1763?-1841)
Uraufführung:privat wahrscheinlich Steyr, Ende 1819, bei Sylvester Paumgartner (Stadtplatz 16)
Erstausgabe:Czerny, Wien, Mai 1829

Im Sommer 1819 unternahm Schubert mit Johann Michael Vogl eine Reise nach dessen Geburtsstadt Steyr; Vogl hatte zur Finanzierung dieser Reise bei der Direktion des Kärntnertor-Theaters einen Vorschuß auf das Honorar für Schuberts Singspiel „Die Zwillingsbrüder“ (D 647) erwirken können. Die beiden in Steyr verlebten Monate müssen wohl, trotz des anfangs schlechten Wetters, recht nach Schuberts Geschmack gewesen sein. Er logierte bei seinem ehemaligen Konviktskollegen Albert Stadler (1794-1888) im Hause von dessen Onkel Dr. Albert Schellmann, in dem auch noch eine Familie Weilnböck wohnte. Die vier noch unverheirateten Töchter Dr. Schellmanns, Stadlers Schwester sowie die drei Weilnböck-Mädchen (von denen eine etwas später Mme. Stadler wurde) dürften erfolgreich mit den Reizen der Landschaft konkurriert haben, denn in einem Brief Schuberts an seinen Bruder Ferdinand findet sich noch vor dem obligaten Lob der „über allen Begriff schönen“ Gegend der Satz:

„ In dem Hause, wo ich wohne, befinden sich 8 Mädchen, beynahe alle hübsch. Du siehst, daß man zu thun hat. Die Tochter des Herrn v. K[oller], bei dem ich und Vogl täglich speisen, ist sehr hübsch, spielt brav Klavier, und wird verschiedene meiner Lieder singen…“

Für das „sehr hübsche“ und „brav Klavier“ spielende Mädchen Josephine Koller komponierte Schubert während seines Aufenthaltes die Klaviersonate A-Dur op.120/D 664 – es scheint, der ganze Sommer war in A-Dur gestimmt…

Ob das „Forellen-Quintett“, Schuberts wahrscheinlich allerpopulärste Kammermusikkomposition, nun wirklich in Steyr entstanden ist, wie dort eine Gedenktafel behauptet, oder nach Schuberts Rückkehr erst in Wien niedergeschrieben wurde – fest steht jedenfalls, daß das Werk eine Frucht dieser glücklichen Sommermonate ist. (Schubert wohnte übrigens auch in Wien bei einem gebürtigen Steyrer, dem Dichter Johann Mayrhofer). Die unmittelbare Anregung zur Komposition ging von Sylvester Paumgartner (1763-1841), einem Steyrer „Melomanen“ und wohlhabenden Amateurcellisten aus, der in seinem geräumigen Haus regelmäßig Kammermusiksoireen veranstaltete. In einem Brief an den verdienstvollen (und unbedankt vergessenen) Schubert-Forscher Ferdinand Luib schreibt Albert Stadler fast vierzig Jahre später:

„Schuberts Quintuor für Pianoforte, Violine, Viola, Cello und Kontrabaß mit den Variationen über seine „Forelle“ ist Ihnen wahrscheinlich bekannt. Er schrieb es auf besonderes Ersuchen meines Freundes Sylvester Paumgartner, der über das köstliche Liedchen ganz entzückt war. Das Quintuor hatte nach seinem Wunsche die Gliederung und Instrumentierung des damals noch neuen Hummelschen Quintettes, recte Septuors, zu erhalten. Schubert war damit bald fertig, die Sparte behielt er selbst…“

Das „Hummelsche Quintett, recte Septuor“, auf das hier hingewiesen wird, ist Johann Nepomuk Hummels 1816 erschienenes Septett für Klavier, Flöte, Oboe, Horn, Viola, Violoncello und Kontrabaß op.74, d-moll, eines der letzten vor Hummels Weggang nach Stuttgart in Wien entstandenen Werke; dieses Werk erfreute sich in der Tat großer Popularität und wurde bald nach seinem Erscheinen auch in einer vom Komponisten herrührenden Quintettbearbeitung veröffentlicht. Der Hinweis auf diese Bearbeitung drängt sich angesichts der Extravaganz der Besetzung förmlich auf. Es ist allerdings gar nicht zu erkennen, daß, über die Instrumentierung hinaus, irgendwelche weiterreichenden Querbezüge (in „Gliederung“ etc.) zwischen den beiden Werken bestünden. Hummel hat freilich, etwa gleichzeitig mit Schuberts Quintett, schon in Weimar ein bedeutenderes (und daher weniger bekannt gewordenes) Originalwerk in der Besetzung des Schubertschen „Forellenquintetts“ geschrieben (op.87, es-moll); auch dieses Werk wurde, lange vor Schuberts Quintett, 1821 in Wien gedruckt.

Sylvester Paumgartners Wunsch nach einem Werk in dieser eigenwilligen Instrumentation hat vielleicht mit seinem Cellospiel zu tun; allzuoft hatte das Cello in der Kammermusikliteratur der Zeit noch grundierenden Frondienst zu leisten, also etwa Klavierbässe zu verdoppeln. Durch die Hinzuziehung eines Kontrabasses, der diese stützende und dienende Funktion übernahm, konnte das Cello für Haupt- und Mittelstimmenaufgaben freigesetzt werden. Dieser „Raumgewinn“, durch den das Cello auch seinen timbralen Reichtum besser entfalten kann, scheint Schubert überzeugt zu haben: in seinem kammermusikalischen Testament, dem Streichquintett C-Dur D.956, greift er diese Idee in veränderter und vervollkommneter Form noch einmal auf – der Nachteil der relativen Unbeweglichkeit Kontrabasses ist dort durch die Verwendung eines zweiten Cellos eliminiert, und das „freie“, erste Cello ergreift noch entschiedener Besitz von den hohen Registern.
Eine andere instrumentatorische Besonderheit ist die Behandlung des Klaviers. Weit eindeutiger als etwa in den Klaviertrios wird es nahezu ausschließlich als Melodieinstrument behandelt; über weite Partien werden die Hände im Einklang geführt, während der „orchestrale“, füllige Akkordklang sehr sparsam verwendet wird.

Der populäre Name „Forellenquintett“ lenkt unsere Aufmerksamkeit von Anfang an auf die Variationen (4.Satz) über das bekannte Lied (D.550) auf den Text von Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791); damit stellt er das Werk plakativ in den größeren Zusammenhang der unmittelbar liedinspirierten Instrumentalmusik Schuberts, deren daneben berühmteste Beispiele die C-Dur-Klavierphantasie („Wanderer-Phantasie“ , D.760) und das d-moll-Streichquartett („Der Tod und das Mädchen“, D.810) sind. (Die in diesen drei Fällen zugrunde liegenden Lieder sind übrigens alle um die Jahreswende 1816/17 entstanden). Diese Assoziation ist sicher berechtigt, da sowohl das thematische Material als auch die formale Gestaltung in allen fünf Sätzen deutlich liedhafte Züge haben; andererseits suggeriert der Name „Forellenquintett“ darüber hinaus eine Zentralstellung des Variatonssatzes, die diesem durchaus nicht zukommt: anders als in den beiden anderen zitierten Werken, wo das Liedzitat auch die gedankliche Mitte und gleichsam den Ursprung des Werkganzen darstellt, ist es hier eine Erweiterung, ein Zusatz – den wir freilich unter keinen Umständen missen wollen. Man könnte die ungewöhnliche Fünfsätzigkeit des Werkes sehr leicht auch aus diesem Blickwinkel heraus begründen, denn um einen „normalen“ viersätzigen Zyklus zu erhalten, müßte man nur die Variationen streichen.

Das eröffnende Allegro vivace ist der einzige unter den fünf Sätzen des Werkes, dessen thematisches Material einem Durchführungsprozeß ausgesetzt wird. Folgerichtig ist es auch der einzige Satz, indem wir auch gleichsam der Entstehung des Hauptthemas beiwohnen, so daß die „Komplikation“ der Durchführung durch die das Hauptthema entwickelnde Einleitung bedingt und hervorgerufen erscheint. Mit einiger Phantasie kann man im Seitenthema einen „Vorausschatten“ des Forellenthemas hören. Jedenfalls wecken alle verwendete Themen unwillkürlich Liedassoziationen, ein Umstand der sehr wesentlich zur Etablierung des bestimmenden Grundtones für das ganze Werk beiträgt.
Der zweite Satz (Andante, F-Dur) fasziniert unter anderem durch eine recht ungewöhnliche Besonderheit: einem sehr schlichten und eingängigen Formschema (ABC – ABC) wird ein ganz eigenwilliger harmonischer Ablauf unterlegt: F-fis-G / As-a-F. Wie man sieht, wird durch die chromatischen Modulationen (die eigentlich mehr den Charakter von Rückungen tragen) der Weg von der Satztonart zur Werktonart buchstäblich Schritt für Schritt durchmessen – ein raffinierter Kunstgriff, durch den die relativ große Entfernung zwischen diesen beiden Tonarten scheinbar mühelos überbrückt wird. Der Ideen- und Melodienreichtum des Satzes läßt einen aber diese „technische“ Subtilität gar nicht wirklich wahrnehmen – man ist vor allem dankbar dafür, daß man, ganz ohne Umschweife und Verirrungen, alles zweimal hören darf.
Im dritten Satz (Scherzo. Presto) stellt Schubert die beiden Spielarten des Klaviers sehr charakteristisch einander gegnüber – im federnd-energischen Hauptteil die bisher ausgesparte akkordische Verve, im bukolischen Trio, das übrigens die Tonart des Folgesatzes vorwegnimmt, die melodische Linearität.
Trotz der, wie oben angedeutet, vergleichsweise „akzidentellen“ Stellung des vierten Satzes (Andantino, D-Dur) im Werkganzen, sind diese wundervoll schlichten Variationen für viele Zuhörer das Herzstück des Werkes. Der sonnige und konfliktlose Charakter des ganzen Quintetts wird unter anderem dadurch betont, daß Schubert die dramatische Trübung der dritten Liedstrophe („Doch endlich ward dem Diebe die Zeit zu lang…“) sowohl im Thema als auch in den Variationen übergeht, sodaß „nur die muntere, launische Forelle im Quintett ihr Spiel treibt, nicht die betrogene, dem Tode geweihte (im Quartett wird umgekehrt nicht das Mädchen, sondern der Tod zitiert).“ (Walther Vetter).
Das Finale (Allegro giusto) läßt in den oberösterreichischen Sommer von 1819 Echos des „ungarischen“ Sommers von 1818 hinüberklingen – magyarische und österreichische Folklore verbinden sich zu einem bunten und wiederholungsseligen Tongemälde, das keine fortschreitende Entwicklung und kein Schicksal, sondern nur endloses Kreisen kennt: eigentlich dürfte dieser Satz keinen Schluß haben, und wir sind Schubert ein ganz wenig böse, daß er sich dem Diktat der Tradition beugen und doch zu einem Ende finden mußte – aber wir spüren recht deutlich, daß es auch ihm selbst leid getan haben muß.

© by Claus-Christian Schuster

Schönberg: Kammersymphonie Nr.1, E-Dur, op.9 (arr. von Anton von Webern)

Arnold Schönberg

* 13. September 1874
† 13. Juli 1951

Kammersymphonie Nr.1, E-Dur, op.9 (arr. von Anton von Webern)

Komponiert:Wien – Rottach-Egern am Tegernsee, April – 25. Juli 1906
Uraufführung:Originalfassung:
Wien, Großer Musikvereins-Saal, 8. Februar 1907
(Rosé-Quartett und Bläservereinigung des Wiener Hofopernorchesters)

Bearbeitung:
Barcelona, 29. April 1925
(Pierrot-Ensemble unter der Leitung Arnold Schönbergs)
Erstausgabe:Original: Universal Edition, Wien, 1913; Bearbeitung: Universal Edition, Wien, 1968

„Das ist ja nicht ein Werk wie ein anderes.
Das ist ein Markstein der Musik,
genug für eine ganze Generation.“
(Alban Berg an Arnold Schönberg, 8. Oktober 1914)

„Die Kammersymphonie ist das letzte Werk meiner ersten Periode. Sie besteht nur aus einem einzigen Satz. […] Wodurch sie sich von den früheren Werken unterscheidet, ist ihre Dauer. […] Die Länge meiner früheren Kompositionen war eines der Charakteristika, die mich mit dem Stil meiner Vorgänger – Bruckner und Mahler – verbanden. […] Ich bin dessen müde geworden – weniger als Zuhörer sondern als Komponist, der Musik von solcher Länge schreibt.“

Daß Schönberg in diesem Selbstzeugnis den Aspekt der Gedrängtheit als wesentlichstes Charakteristikum seiner ersten Kammersymphonie ins Zentrum rückt, mag angesichts einer Aufführungsdauer von rund zwanzig Minuten verblüffen – wenn wir an Kürze denken, gelten uns wohl die Werke ihres Bearbeiters Anton von Webern als radikalstes und konsequentestes Paradigma, und gemessen daran wirkt die Kammersymphonie geradezu episch breit. Was aber Schönberg im Sinne hatte, war eben nicht die aphoristische Knappheit jener expresssionistischer Skizzen hart am Rande das Verstummens, sondern die äußerste Raffung und Verdichtung der in der spätromantischen Symphonik entwickelten formalen und motivischen Abläufe. Und unter diesem Gesichtspunkt ist ihm tatsächlich ein epochales Werk geglückt, das Alban Bergs Urteil in jeder Hinsicht rechtfertigt.

Die Überfülle des hier vorliegenden thematischen Materials mit all seinen motivischen Verästelungen in ein so kompaktes Gebilde zu zwingen, war sicher die bis dahin größte Herausforderung in Arnold Schönbergs kompositorischem Lebensweg – und die Bewältigung dieser Aufgabe sollte zum alles entscheidenden Prüfstein für seinen weiteren Entwicklungsgang werden. Diese eminent persönliche Dimension des Werkes drückt sich „buchstäblich“, nämlich monogrammatisch, schon in den ersten Noten der Partitur aus: ein auf viertaktigem Umwegen über harmonische terra incognita schließlich als Terzton eines F-moll-Dreiklangs gedeutetes AS eröffnet das Werk, und mit seiner unmittelbar darauf folgenden „Auflösung“ nach A(als Terz von F-Dur) korrespondiert sofort eS als Zielton des (den schon im zweiten Takt etablierten Quartenakkord thematisierenden) ersten Hauptgedankens, des wohl berühmtesten und emblematischsten aller Themen der Zweiten Wiener Schule – eines in fünf entschlossenen Quartschritten emporstürmenden Kampfrufes. Der sich nun in gedrängter Fülle entfaltende Reichtum an thematischen Gedanken, die alle auf ebenso geheimnisvolle wie organische Weise zueinander in engster Beziehung stehen, verbietet jeden auf konkrete Notenbeispiele verzichtenden Kommentar; überhaupt ist mit der detaillierten Analyse der formalen und thematischen Abläufe für den Interpreten recht viel, für den Zuhörer aber gar nichts gewonnen. (Seit der um 1920 erschienenen thematischen Analyse Alban Bergs ist das Werk immer wieder und unter immer wieder neuen Gesichtspunkten untersucht worden – mit jener Divergenz der Detailergebnisse, wie sie dem jeweils individuellen Hörerlebnis eines so persönlichen Werkes wohl angemessen ist.) Die Großgliederung ist dabei ebenso klar wie unmittelbar sinnfällig: Der Aufbruchstimmung des Kopfsatzes folgt mit dem Scherzo (Sehr rasch, T.160 ff.) ein bedrückendes Abbild „entfremdeter Gegenwart“. Barbara Meier hat in ihrer dem Werk gewidmeten Studie (1992) auf die unüberhörbaren Beziehungen dieses Satzes zur gleichzeitig entstehenden frühexpressionistischen Großstadtlyrik hingewiesen – der beflügelte Lebensmut des ersten Teiles trifft hier auf eine seelenlose Mechanik, die jede Gefühlsregung in kalter Feindseligkeit erstickt. Die Verwendung des Terminus „Durchführung“ für den folgenden Abschnitt (T.279 ff.) erscheint vor diesem hermeneutischen Hintergrund noch unbeholfener und unpassender als sonst: Die Umkehrungen der Themen, denen wir in dieser zerklüfteten Landschaft begegnen, sind eben nicht als satztechnischer Kunstgriff zu verstehen, sondern spiegeln (wie freilich in jeder genialen Musik) ein seelisches Drama wider, dem gegenüber Worte versagen. Die gleichsam „entrückte“ Wiederauferstehung des ersten Hauptgedankens in seiner ursprünglichen Gestalt (T.368 ff.) leitet den langsamen Satz ein, der hier der Ort der Verinnerlichung und Selbstbegegnung ist: Der gequälte und bedrängte, auf sich selbst zurückgeworfene Mensch wird in der vereinsamten Klage endlich seiner wahren Bestimmung inne. Daß der Übergang von hier zu dem, was man technisch die „Reprise“ nennen müßte (T. 435 ff.), allmählich und fließend ist, versteht sich nach dem Gesagten wohl von selbst – es handelt sich hier wohl um den einzigen formalen Schnittpunkt des Werkes, der nicht ohne weiteres hörend zu erfahren ist. Diese „Reprise“ ist übrigens von unerhörter Kürze (nur etwas mehr als ein Drittel der Ausdehnung des Kopfsatzes) und geht hörbar, aber nahtlos in eine ausgedehnte Coda (T.497 ff.) über, in die allerdings noch „Reprisenreste“ integriert erscheinen. Die knappe Stretta, in der die beiden einander das ganze Stück hindurch feindlich gegenüberstehenden tonalen Zentren F und E ein letztes Mal aufeinandertreffen endet in einer fast zwanghaft anmutenden, emphatischen Beschwörung des siegreichen E-Dur-Akkords, der zuletzt nicht weniger als elf Mal bekräftigt wird – ist es nur die musikhistorische Post festum-Perspektive, die aus diesem Schluß einen alles andere als leichtfertigen Abschied von der Tonalität macht?

Unmittelbar nach Abschluß der Komposition des Werkes, die sich von April bis Juli 1906 erstreckt hatte, wandte sich Schönberg wegen einer Aufführung der Kammersymphonie brieflich an Ferdinand Löwe, den Leiter des Wiener Konzertvereines, der sich sogleich die Partitur zur Einsicht erbat, um aber den Komponisten schon bald darauf wissen zu lassen:

„Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, daß mir Ihr Werk nach aufmerksamer Lektüre der Partitur bis jetzt unverständlich geblieben ist. Dies soll keineswegs ein Urtheil, sondern blos ein Geständnis sein.“
(13. September 1906)

Auch Richard Strauss winkte ab. Es war schließlich dem Wagemut von Arnold Rosé zu danken, daß die Uraufführung des ensemblistisch überaus anspruchsvollen Werkes schon am 8. Februar 1907 stattfinden konnte. Die folgende Rezension jener denkwürdigen Aufführung im Großen Musikvereins-Saal vermittelt einen bedrückenden Einblick in die Hexenküche, in der in jenen Jahren auch die „Ästhetik“ von Adolf Schickelgruber zusammengebraut wurde:

„Viele stahlen sich vor Schluß dieses Stückes lachend aus dem Bund, viele zischten und pfiffen, viele applaudierten. Schließlich kam Herr S. selber und schüttelte den 15 Mitwirkenden gerührt die Hand. In einer Loge stand bleich und mit verkniffenen Lippen der Herr Hofoperndirector Gustav Mahler, der das hohe Protectorat über entartete Musik schon seit längerer Zeit führt. Festzustellen wäre nur das Eine: Herr S. ereignet sich in Wien. In der Hauptstadt ewiger und unvergeßlicher Musik. Tuts niemandem mehr weh, daß gerade hier die pöbelhaftesten Manieren, Lärm zu machen, heimisch geworden sind? Er macht wilde, ungepflegte Demokratengeräusche, die kein vornehmer Mensch mit Musik verwechseln kann. Aber der Spuk wird vorübergehen; er hat keine Zukunft, kennt keine Vergangenheit, er erfreut sich nur einer sehr äußerlichen und armseligen Gegenwart.“
(Illustriertes Wiener Extra-Blatt, 9. Februar 1907)

Gegen diese Abart der Kritik war nichts zu unternehmen. Aber Schönberg war sich sehr wohl auch der Tatsache bewußt, daß die Unzulänglichkeiten der Aufführung, die sich aus den völlig ungewohnten Schwierigkeiten des Werkes und aus seiner experimentellen Besetzung fast zwangsläufig ergeben mußten, sogar dem willigen Hörer erhebliche Hindernisse für das Verständnis in den Weg legten.

„Die Aufführung der Kammersymphonie war der bis dahin größte Skandal. Nachher kam ein wohlgesinnter Kritiker, mein Jugendfreund Dr. B[ach], zu mir, lieh sich die Partitur aus, kam, nachdem er sie studiert hatte, wieder zu mir, ließ sich von mir die Details der Arbeit erklären, hörte all meine Polemik gegen die erhobenen Angriffe an und sagte als Resultat meiner Überredungskunst: »Ja weißt du, alles, was du da sagst, ist ja ganz schön und interessant und wahrscheinlich auch richtig: Aber was nützt das alles? Ein Werk muß für sich selbst sprechen, und ich habe einfach gar keinen Eindruck gehabt.« So sprach ein Wohlwollender.
(Skandale, 1928)

In einem Ensemble von fünfzehn Orchestermusikern jene kammermusikalische Präzision und Flexibilität zu erzielen, die der beziehungsvollen Vielschichtigkeit des musikalischen Materials allein gerecht werden könnte, mußte bei der Neuartigkeit des hier verwendeten Idioms fast als Utopie erscheinen. Außerdem birgt die Instrumentation des Werkes allein schon auf Grund der akustischen Kräfteverhältnisse – fünf Streichern stehen zehn Bläser gegenüber – die Gefahr der Verdunkelung motivischer Bezüge in sich. Vielleicht ist das einer das Gründe dafür, daß Schönberg schon am 13. Februar 1907, also wenige Tage nach der Uraufführung des Werkes , eine Bearbeitung des Werkes für Klavierquintett in Angriff nahm, die freilich nicht über die ersten 16 Takte hinaus gedieh.

Wie sehr Schönberg um das Schicksal seines Werkes bangte, dessen Bedeutung und Tragweite ihm selbst sich erst nach und nach erschloß, läßt sich in seinem Briefwechsel nachvollziehen:

„Ich muß vier volle Proben haben. Das Werk ist wirklich sehr schwer und ich möchte nicht einen Erfolg wegen Unklarheit haben, sondern ziehe einen Mißerfolg wegen Klarheit vor. Nein, aber im Ernst: die Leute müssen wissen, was ich meine!! […] Und ich hätte gerne mit der Kammersymphonie Erfolg. Dies ist mein Schmerzenskind: eine meiner allerbesten Sachen, und bis jetzt (wegen schlechter Aufführungen!!) noch recht unverstanden. Ich bin überzeugt, daß sie in einer guten Aufführung sehr wirken muß.“
(an Alexander Siloti, 15. Juni 1914)

Allmählich gelangte er aber zur Überzeugung, daß auch die von ihm gewählte Instrumentation dem Verständnis des Werkes hinderlich sei:

„Ich glaube, das ist doch ein Irrtum, diese Solobesetzung der Streicher gegen soviele Bläser. Es fehlt nämlich eine Möglichkeit: kein einziges Instrument, keine einzige Geige kann im vollen Tutti dominierend über dem Ganzen stehen. Die Musik ist so erfunden, daß das nötig wäre.“
(13. Dezember 1916)

Im Frühling 1918 wurde die Kammersymphonie in Wien in zehn öffentlichen Proben einstudiert, um dem Publikum die Möglichkeit zu geben, „das Herausbringen eines so schwierigen Werkes einmal von allem Anfang an verfolgen zu können.“

Nachdem der Plan, die schon im März 1913 erstmals aufgeführte Fassung für zehn Solobläser und Streichorchester in gründlich überarbeiteter Form zu veröffentlichen, gescheitert war, scheint Schönberg Anton von Webern zur Herstellung einer kammermusikalischen Version ermutigt zu haben. Webern begann am 3. November 1922 mit der Quintettbearbeitung des Werkes, die ihn drei volle Monate in Anspruch nahm. Zemlinsky berichtet er darüber:

„Jetzt arbeite ich an einer Bearbeitung der Schönbergschen Kammersymphonie für das Ensemble des »Pierrot«. Gleichzeitig soll es auch eine für Streichquartett und Klavier werden.“
(24. November 1922)

Schönberg selbst kann er dann zwei Monate später mitteilen:

„Ich bin seit einer Woche mit der Bearbeitung der Kammersymphonie fertig und überarbeite jetzt diesen Entwurf gründlichst. Hoffentlich gelingt es mir, das zu leisten, was Du von mir in dieser Hinsicht erwartest. Jedenfalls strebe ich es mit allen Kräften an.“
(27. Jänner 1923)

Diese Webernsche Bearbeitung ist die letzte von insgesamt sieben, die er zwischen 1918 und 1923 für das Ensemble des Vereines für musikalische Privataufführungen anfertigte. Sie wurde jedoch wegen der Auflösung des Vereines nicht mehr in diesem Rahmen aufgeführt, sondern hatte ihre Premiere erst am 29. April 1925 in Barcelona. Daß freilich das Werk auch in seiner neuen Gestalt nichts von seinen ensemblistischen Schwierigkeiten verloren hatte, ist dem Umstand zu entnehmen, daß Schönberg bei dieser Gelegenheit als Dirigent in Aktion treten mußte.

Erst am 27. Dezember 1936, also mehr als dreißig Jahre nach Beendigung der Komposition des Werkes, konnte Schönberg in Los Angeles eine definitive (als Opus 9b veröffentlichte) Fassung für großes Orchester aus der Taufe heben, worüber er Anton von Webern mit nicht zu überhörender Erleichterung, aber doch auch nicht ohne die obligaten selbstkritischen Untertöne berichtet:

„Die klingt jetzt vollkommen klar und plastisch, vielleicht ein bißchen zu laut, was daran liegt, weil ich mich nicht genug vom Original weggetraut habe…“

© by Claus-Christian Schuster

Haydn: Quintett für Klavier, zwei Hörner, Violine und Violoncello, Es-Dur Hob.XIV:1

Joseph Haydn

* 31. März 1732
† 31. Mai 1809

Quintett für Klavier, zwei Hörner, Violine und Violoncello, Es-Dur Hob.XIV:1

Komponiert:Eisenstadt, um 1765 (oder Dolní Lukavice, Böhmen, um 1760?)
Uraufführung:nicht dokumentiert
Erstausgabe:Hummel, Amsterdam, 1767

Bei der Datierung dieses Werkes sind wir auf Vermutungen angewiesen. Seit 1763 verfügte Haydn in der Esterházyschen Kapelle über nicht weniger als vier Hornisten, und er schöpfte die sich dadurch bietenden Möglichkeiten in der Instrumentation zweier Symphonien in D-Dur (Hob.I:13 und Hob.I:72) auch sofort aus. 1765 werden zwei der Hornisten durch jüngere und fähigere Kräfte ersetzt. Die in diesem Jahr komponierte D-Dur-Symphonie (Hob. I:31, bekannt unter den Beinamen „Mit dem Hornsignal“ oder „Auf dem Anstand“) zeigt eindeutig, daß dem Komponisten nun eine erstklassige Horngruppe zu Gebote stand. Kein Wunder also, daß sich Haydns Vorliebe für dieses Instrument ( – schon 1762 hatte er ein Hornkonzert geschrieben – ) noch steigerte: In den folgenden Jahren schrieb er nicht weniger als zehn Divertimenti, in denen zwei Hörner mit einem Baryton, dem Lieblingsinstrument des Fürsten Nikolaus, und anderen Streichinstrumenten konzertieren. Von all diesen Werken – einem Quartett, zwei Quintetten und sieben Oktetten – sind leider nur zwei vollständig überliefert; in den meisten Fällen ist die Baryton-Stimme verschollen, was einen böswilligen Kommentator auf den Gedanken bringen könne, der fürstliche Dilettant sei mit seinen Noten nicht sehr sorgsam umgegangen.
Die erste Erwähnung unseres Werkes findet sich in einem Verlagskatalog der Leipziger Firma Breitkopf aus dem Jahre 1766. Ein Jahr später gab der deutsch-niederländische Verleger Johann Julius Hummel das Werk in Amsterdam heraus. Sein Interesse gerade an diesem Stück könnte damit zu tun haben, daß er selbst, ebenso wie sein Bruder und Geschäftspartner, ausgebildeter Hornist war. Dennoch scheinen die Brüder gewußt zu haben, daß gute Hornisten nicht überall verfügbar waren, und so gute wie in der Esterházyschen Kapelle vielleicht überhaupt nirgendwo sonst; daher gaben sie ihrer – übrigens von Haydn nicht autorisierten – Ausgabe zwei alternative Bratschenstimmen bei. An der Zusammenstellung der Werke dieser Erstausgabe kann man auch ersehen, daß unser Stück schon von den Zeitgenossen als eine erweiterte Variante des Genres Klaviertrio betrachtet wurde: J. J. Hummel stellte unserem Quintett – immer unter der selben apokryphen Opusnummer IV – fünf Klaviertrios des Meisters voran (Hob. XV:37, Hob. XV:C1, Hob.XIV:6, Hob. XV:39 und Hob.XV:1), von denen freilich zwei recht willkürliche, anonyme Bearbeitungen Haydnscher Klaviersonaten sind.
Gerade diese Nähe zu den Klaviertrios ist es aber, die unsere sich nach all dem bisher Gesagten aufdrängende Vermutung, das Werk sei um 1765 in Eisenstadt komponiert worden, wieder ins Wanken bringt. Auf jeden Fall ist es merkwürdig, daß es sich hier um die einzige uns bekannte Komposition Haydns handelt, in der die Hörner der fürstlichen Kapelle mit dem Cembalo anstelle des vom Fürsten bevorzugten Baryton kombiniert werden. Könnte unser Quintett nicht vielleicht doch – wie H. C. Robbins Landon in seiner fundamentalen (und unerklärlicherweise noch immer nicht ins Deutsche übersetzten) Haydn-Biographie mutmaßt – an einem anderen Hof entstanden sein, nämlich dem des Grafen Morzin, in dessen Dienst Haydn ab 1759 stand? Dann nämlich bestünde für die Verwendung des Cembalos ein sehr nachvollziehbarer Grund: das Spiel der Gräfin Morzin, einer Musikliebhaberin, die den jungen Komponisten sehr beeindruckte, wie wir aus einer uns von Georg August von Griesinger in seinen 1810 erschienenen „Biographischen Notizen über Joseph Haydn“ überlieferten Anekdote wissen. Haydn selbst soll die Geschichte gerne und oft erzählt haben – also dürfen wir uns erlauben, sie hier einzufügen: Bei einer gemeinsamen Probe habe die Gräfin (wohl Wilhelmine, geborene Freiin von Reisky) sich über die Noten gebeugt, wobei ihr Busentuch auseinanderfiel. „Es war das erste Mal, daß mir solch ein Anblick ward; er verwirrte mich, mein Spiel stockte und die Finger blieben auf den Tasten ruhn. »Was ist das, Haydn!« rief die Gräfin. »Was treibt Er da?« – »Aber, gräfliche Gnaden!« versetzte ich. »Wer sollte auch hier nicht aus der Fassung kommen?«“

Als Indiz für eine Entstehung des Werkes bei Graf Morzin in Dolní Lukavice könnte man vielleicht auch gelten lassen, daß in der Bibliothek des südmährischen Kremsier (Kromeriz) eine sehr frühe Abschrift des Werkes aufgefunden wurde. Wann und für wen auch immer unser Quintett aber geschrieben wurde, es ist jedenfalls schon bester Haydn: die drei kurzen Sätze – Moderato, Menuet und Allegro, alle in Es-Dur – quellen vor Ideen nur so über. Esprit und Noblesse kennzeichnen die Themen und ihre durchwegs originelle Verarbeitung, in der sich übrigens schon vieles von Haydns unerschöpflicher Variationskunst vorausahnen läßt. Einzig das harmonische und formale Gerüst mutet ein wenig bieder an, wenn man die späteren Errungenschaften des Komponisten auf diesen Gebieten im Ohr hat. Über allem aber steht die vitale Ursprünglichkeit, der diese Musik ihre nie verblassende Frische verdankt.

© by Claus-Christian Schuster

Dvořák: Quintett für zwei Violinen, Viola und Cello und Piano [Nr.2] A-Dur op.81 [B 155]

Antonín Dvořák

* 08. September 1841
† 01. Mai 1904

Quintett für zwei Violinen, Viola und Cello und Piano [Nr.2] A-Dur op.81 [B 155]

Komponiert:Vysoká u Pribrami, 18. August – 3. Oktober 1887
Widmung:Bohdan Neureuther
Uraufführung:Praha, Umelecká beseda, 6.1.1888
Karel Kovařovic (1862-1920), Klavier
Karel Ondříček (1863-1943), Violine
Jan Pelikán (Lebensdaten unbekannt), Violine
Petr Mareš (Lebensdaten unbekannt), Viola
Alois Neruda (1837-1899), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1888

Mitte der 1880er Jahre hatte Dvořáks Schaffen einen schon fast beängstigenden Umfang angenommen. Die Kompositionsaufträge und Konzerteinladungen nahmen kein Ende, und Dvořák, dem nichts so sehr am Herzen lag wie ein geruhsames Familienleben und Schaffensmuße, sah sich zunehmend von Termin zu Termin gehetzt. So absolvierte er zwischen März 1884 und November 1886 nicht weniger als fünf ausgedehnte England-Tourneen, die alle mit anstrengenden Dirigaten und großangelegten Kompositionsaufträgen verbunden waren. Natürlich genoß er die Triumphe, die er dabei feiern konnte — aber allmählich nahm doch die Erschöpfung überhand.
Schon vom Honorar seiner ersten Englandreise hatte er 1884 seinem Schwager, dem Grafen Kaunitz, ein kleines Landgut in der Nähe der südlich von Prag gelegenen alten Silberbergwerkstadt Pribram abgekauft und mit dessen tätiger Hilfe instandgesetzt. Auf diese Weise war in Vysoká aus einem alten Schafstall ein ansehnliches Landhaus inmitten eines ausgedehnten Gartens geworden, wo Dvořák in der schönen Jahreszeit jeden freien Tag mit seiner Familie verbrachte. Zwischen zwei Englandreisen berichtet er seinem Verleger Fritz Simrock:

„Ich bin schon seit 6 Wochen hier in Vysoká und weil das Wetter so günstig und die Gegend so herrlich ist, so lebe ich hier besser wie Bismarck in Varzin und bin dabei gar nicht faul. Den ganzen Tag verbringe ich meistens in meinem Garten, den ich so schön pflege und liebe wie die göttliche Kunst und dann bummle ich im Wald…„
(11. Juni 1886)

Dieses Tusculum, welches das Landkind Dvořák bald auch mit einer Kuh, einer Ziege, Hasen und Tauben bevölkerte, war von nun an der eigentliche Mittelpunkt seines Lebens, und es gab kaum eine Verpflichtung, die er nicht gerne abgesagt hätte, um hier einige ruhige Tage lang die Vögel singen zu hören.

Nach der Rückkehr aus England im November 1886 hatte Dvořák sich wieder einmal mit seiner alten Schmerzensoper „Král a uhlír“ beschäftigen müssen. Für die Wiederaufnahme dieser Oper entschloß er sich, die zweite Komposition dieses Librettos noch einmal gründlich zu überarbeiten — wobei sein Freund Václav Juda Novotný auch gleich den Text verbesserte. Diese letzte Fassung der Oper (B 151) hatte am 15. Juni 1887 im Prager Nationaltheater ihre Premiere. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Familie Dvořák schon seit mehreren Wochen ihr Sommerquartier in Vysoká bezogen.

Die Rückkehr zu einem Werk, das Dvořák schon 1871 das erste Mal beschäftigt hatte, löst eine ganze Kettenreaktion aus: Über einen längeren Zeitraum hinweg widmet sich der Meister jetzt der Überarbeitung alter Werke. Fritz Simrock, dem er im April 1887 die schon zehn Jahre zuvor entstandenen Symphonischen Variationen (B 70, op. 78) anbietet, deutet er bei dieser Gelegenheit an:

„Ich habe noch so manches in meinem alten Koffer was schlummert und will das Licht sehen!„
(15. April 1887)

Schon einige Wochen zuvor hat er sich bei seinem damals in Hamburg wohnenden Freund Ludevít Procházka angelegentlich nach einem Manuskript erkundigt, das er in dessen Besitz weiß:

„Lieber Freund!
Erinnern Sie sich noch eines Klavierquintetts (A dur), das vor 14 Jahren dank Ihnen in Prag uraufgeführt wurde? Ich kann meine Partitur nirgendwo finden, aber ich weiß, daß Sie sich jenes Quintett damals sicherlich abschreiben ließen. Wenn das so sein sollte, würde ich Sie bitten, es mir liebenswürdigerweise zu borgen, damit ich es abschreiben kann.
Ich schaue jetzt manchmal gerne auf meine alten Sünden zurück und wäre froh, es nach so langer Zeit wiederzusehen.„
(20. März 1887)

Procházka hatte tatsächlich von dem Werk (Quintett A-Dur, op. 5, B 28), das Dvořák noch kurz zuvor in einer Liste seiner „verbrannten und zerrissenen Kompositionen„ verzeichnet, anläßlich der Uraufführung am 22. November 1872 eine Abschrift anfertigen lassen, die er jetzt dem Komponisten zur Verfügung stellen kann.
In den nächsten Monaten versucht Dvořák, das Werk für eine eventuelle Herausgabe zu überarbeiten. Das Hauptproblem scheint dabei zunächst nur die Überlänge und Formlosigkeit des Werkes zu sein. Dvořák kürzt gleich den ersten Satz um nicht weniger als 150 Takte; dann macht er sich daran, die formale Disposition des zweiten Satzes grundlegend zu ändern und auch diesen Satz wesentlich zu straffen. Als er aber mit seiner Revisionsarbeit beim Finale des dreisätzigen Werkes angelangt ist, wird ihm klar, daß er nicht gleichzeitig dem Jugendwerk Gerechtigkeit widerfahren lassen und ein ihn selbst wirklich befriedigendes Werk daraus machen kann.

Den Entschluß, die Überarbeitung des alten zugunsten der Komposition eines neuen Quintetts aufzugeben, muß Dvořák ganz plötzlich gefaßt haben: Noch am 16. August 1887 schreibt er seinem Freund Alois Göbl aus Vysoká:

„Ich mache jetzt gar nichts Neues, sondern verbessere nur einige alte Sachen, die ich Simrock schicken will.„

Zwei Tage später beginnt er aber mit der Niederschrift des ersten Satzes eines ganz neuen Klavierquintetts, dem er die Opusnummer 77 zugedacht hat. (Fritz Simrock, der niedrige Opuszahlen fürchtete wie der Teufel das Weihwasser, hat diese Nummer dann dem G-Dur-Streichquintett [B 49] zugeteilt, das zu den Werken aus Dvořáks altem Koffer gehörte, schon 1875 entstanden war und eigentlich die Opusnummer 18 tragen hätte sollen.) Am 28. August ist dieser Satz schon vollendet, und eine Woche später kündigt der Komponist seinem Verleger das neue Werk an, dessen Niederschrift er, wie er im Autograph vermerkt, am „3.10. 1887 in Vysoká, am Kirchweihtag“ fertigstellt.

Die der Komposition unmittelbar vorangehende Auseinandersetzung mit einem Werk seiner „verrückten Periode“ hat unübersehbare Spuren in der Neuschöpfung hinterlassen: die formale Ökonomie, die Treffsicherheit der Formulierung, die Fähigkeit, mehrere Motivstränge zu einem organischen Ganzen zu verflechten, ohne jemals ins Uferlose zu geraten — all das sind Tugenden und Fähigkeiten, die Dvořák in den eineinhalb Jahrzehnten seit der Komposition seines ersten Klavierquintetts erworben hat und die er jetzt exemplarisch vorführt, so als würde er sein eigenes Selbst von 1871 liebevoll tadeln und mitleidig belehren. Die Wahl der selben Tonart für das neue Werk unterstreicht, daß es Dvořák um eine Art „Wiedergeburt“ des unverbesserlichen Jugendwerkes zu tun war — und daß er dabei keinerlei konkrete Anleihen bei diesem machen mußte, beweist nur, wie sicher er war, erst jetzt mit gesteigertem Können und Wissen das innerste Wesen seines Jugendtraumes (Gerard Manley Hopkins hätte gesagt: „the inscape“) endlich ans Licht zu bringen.

Allegro ma non tanto ist die Tempobezeichnung des ersten Satzes, und schon der Beginn läßt uns ahnen, daß das nicht einfach nur eine praktische Spielanweisung, sondern in gewisser Weise schon Programm ist. (Das Allegro ma non troppo des Jugendwerkes hatte mit nicht annähernd so tauglichen Mitteln wohl ein ähnliches Ziel verfolgt.) Die Tradition des Genres — das zu Dvořáks Zeit eigentlich nur in den Klavierquintetten Schumanns (1842) und Brahms´ (1862/64) allgemein anerkannte Bezugswerke besaß — sah für den Kopfsatz ein markantes, „tektonisches“ Incipit vor. Die liedhaft, verträumte Stimmung des Anfangs steht in denkbar größtem Widerspruch zu dieser Erwartung. Der Nachsatz des Hauptthemas weicht unvermittelt in die Mollvariante aus und wird sogleich, so als sei sich das Thema verspätet der auf ihm ruhenden Verantwortung bewußt geworden, zweimal in dramatisch geraffter Gestalt wiederholt — Dvořák verwendet für diese „Monumentalvariante“ des Hauptthemas in Moll ein stenographisches Konzentrat des Liedthemas, das hier auf seine beiden Grundelemente (aufsteigende Quart und diatonischer Oktavfall) reduziert erscheint. Die zweite Wiederholung führt nach C-Dur, in welcher Tonart dann das aus einem unscheinbaren rhythmischen Détail des ersten Gedankens entwickelte zweite Hauptthema des Satzes auftritt. Dieser Entwicklungsschritt wird gleich noch einmal rekapituliert, diesmal aber mit H-Dur als Zieltonart, wodurch ein erstes Mal die für die Reprise bedeutsame Versetzung um einen Halbtonschritt ins Spiel gebracht ist. Die anschließenden Überleitungstakte, die auf die Dominante zuzusteuern scheinen, machen die Täuschung perfekt: Das hier erwartete Seitenthema bleibt aber aus, und an seiner Stelle meldet sich das Klavier mit einer achttaktigen Paraphrase des ersten Hauptthemas, in der alle schwärmerische Sehnsucht dieses Gedankens zusammengedrängt erscheint und die somit die vorangegangene Moll-„Verformung“ des Themas wieder aufhebt. Von hier öffnet sich der Weg zu einer getreuen Wiederholung des ganzen Hauptsatzes, wobei der Mollwendung aber jetzt kein dramatischer, sondern ein explizit spielerischer Charakter zugedacht ist — nicht weniger als vier ostinate rhythmische Muster überlagern sich in dieser Passage, die schließlich mit einer jähen Wendung nach cis-moll zum Seitensatz führt. Dem Seitenthema liegt einer jener ebenso wundervollen wie unspektakulären Einfälle zugrunde, aus denen gleichzeitig die Genialität und Bescheidenheit des Meisters spricht; und es ist vielleicht kein Zufall, daß der Bratscher Dvořák an dieser Stelle zuerst sein Instrument zu Wort kommen läßt. Dem innig bewegten Parlando ist anfangs der für das Tschechische so charakteristische daktylische Rhythmus unterlegt, der schließlich in die Trochäen des Hauptsatzes verebbt. Erst im zweiten Schritt werden die Fünftakter, die das Gefühl des Unausgesprochenen, Nicht-zu-Ende-Gesagten vermitteln, zu zielstrebigeren Viertaktern verdichtet, ja diese Verdichtung führt sogar zu einer Art Durchführung des Seitenthemas, in die sich von Ferne wieder die Mollfassung des Hauptthemas vernehmen läßt, bevor die Rückkehr des Seitenthemas in seiner ursprünglichen Gestalt, jetzt aber in dramatischer Erregung, die Exposition beschließt.
Die vorgeschriebene (und für Dvořák eher atypische) Wiederholung dieser außerordentlich gedankenreichen und entwickelten Exposition wirft für die nachfolgenden Formteile ein nicht zu unterschätzendes Problem auf: Einerseits läßt die dialektische Stringenz des in der Exposition etablierten (und durch die Wiederholung bekräftigten) Ablaufes Änderungen nur schwer zu, andererseits wäre eine nochmalige, nur tonartlich veränderte Wiederholung in der Reprise vom dramaturgischen Standpunkt aus recht problematisch. (Dieses immanente Dilemma der Sonatenform ist auch der Hauptgrund für den gegen Ende des XIX. Jahrhunderts immer mehr zur Norm werdenden Verzicht auf die Wiederholung der Exposition.) Dvořák umgeht diese Schwierigkeit mit gewohnter Souveränität: Er verwebt die Durchführung und den ersten Teil der Reprise so miteinander, daß die neuhinzukommenden Durchführungsabschnitte als erhellende und vertiefende Kommentare des schon aus der Exposition vertrauten Ablaufes wirken. Zusätzlichen Reiz erhält diese Umformung durch die gewählten Transpositionsintervalle. Der erste Gedanke erscheint von A-Dur nach b-moll verfremdet, das zweite Hauptthema tritt in Ces-Dur (statt C-Dur) auf. Der modulatorische Reichtum der durchführenden Teile und die raffinierte Überblendung von neuen und schon bekannten Abschnitten führen dazu, daß die Einmündung in den „normalen“ Reprisenverlauf psychologisch wie der eigentliche Reprisenbeginn wirkt — und somit die an dieser Stelle fällige Wiederholung des Hauptthemas doppelt motiviert erscheint. In der Coda wird dann die Mollvariante des Hauptthemas mit emphatischer Geste nach Dur zurückverwandelt und von den jetzt jubelnden Rhythmen des Seitenthemas zu einem sieghaften Ende begleitet.

Wie in seinem neun Jahre zuvor komponierten und in der selben Tonart stehenden Streichsextett (op. 48, B 80) wählt Dvořák für die Mittelsätze die slavischen Genrebezeichnungen Dumka und Furiant. Während der letztere ein klar definierter Tanztypus ist (den der Komponist freilich für seine Zwecke in charakteristischer Weise abwandelt und veredelt), läßt sich der Begriff Dumka, an dessen Verbreitung Dvořák wesentlichen Anteil hat, nicht ohne weiteres mit einem konkreten typologischen Modell in Verbindung bringen. Die manchmal zu findende Definition der Dumka als eines Stückes mit zwei in Tempo und Charakter kontrastierenden, alternierenden Abschnitten, würde es erlauben, einen nicht unerheblichen Teil der gesamten Musikliteratur nachträglich zur Dumka zu erklären.
Die hier vorliegende Dumka (Andante con moto, fis-moll) zeigt jedenfalls, daß bei Dvořák der Begriff nicht an eine bestimmte Form gebunden ist — die hier gewählte ist (wie übrigens auch im analogen Satz des Streichsextetts) die eines klassischen Rondos. Das rhapsodisch erzählende und wieder einmal der geliebten Bratsche anvertraute Ritornell wird jeweils von einem viertaktigen Motto umrahmt, dessen fallendes Dreiklangmotiv für den elegischen Grundton des Satzes verantwortlich zu sein scheint, bis es sich uns in der Zentralepisode (Vivace) als Keimzelle eines übermütigen Springtanzes zu erkennen gibt. Diese tänzerische Gestalt des Ausgangsmotivs durchpulst dann als hintergründige Begleitfigur auch noch das nachfolgende Ritornell. In den dazwischenliegenden Seitenepisoden (Un pochettino più mosso) macht Dvořák eine seiner beseligendsten thematischen Eingebungen zum Ausgangspunkt einer in immer elegischere Bereiche zurückführenden modulatorischen Wanderschaft. Auch in dieser Episode verwendet er, wie schon im Ritornell, eine das Thema bereichernde komplementäre Gegenstimme, wie man sie ähnlich auch als „Überschlag“ in der Volksmusik finden kann. Der ganze Satz zeichnet sich nicht nur durch besonders einprägsame und inspirierte Themen, sondern auch durch einen nicht alltäglichen Reichtum an koloristischen Effekten und originellen, einander überlagernden rhythmischen Mustern aus. Es ist daher leicht zu verstehen, daß er als ein Paradigma aller Vorzüge der Dvořákschen Kunst ganz besondere Popularität genießt.

Wenn sich auch die Folkloristen über die Heimat des Furiant nicht restlos einigen können — in der Kunstmusik gehört dieser Tanz, dank Smetana und Dvořák, ohne jede Frage den Tschechen. Mit dem spätlateinischen Lehnwort Furiant bezeichnet die tschechische Volkssprache auch einen unberechenbaren, leichtsinnigen Menschen. Im Volkstanz ahmt der Tänzer mit in die Seiten gestemmten Armen pantomimisch einen aufgeblasenen Bauern nach — und dort ist auch die charakteristische Abfolge von drei Zweiviertel- und zwei Dreivierteltakten verbreitet, die Dvořák in das G-moll-Schlußstück der ersten Serie seiner Slavischen Tänze (op.46, B 78) übernommen hat. Für das intimere Reich der Kammermusik hat er sowohl im Streichsextett als auch in unserem Klavierquintett eine stilisiertere und metrisch glattere Abart des Tanzes bevorzugt.
Unser Furiant (Molto vivace) folgt formal dem klassischen Scherzo. Sein Hauptthema ähnelt im Grundtypus sehr demjenigen seines in der selben Tonart stehenden Pendants aus dem Streichsextett — betonte Zweitaktigkeit, Wechsel von durchlaufender Achtel- und markierter Viertelbewegung; während aber dort jeder Zweitakter in einen betonten Schlußtrochäus ausläuft, ist es hier nur jeder vierter, was dem Thema einen viel eleganteren (und weniger volkstümlichen) Zug verleiht. Damit diese Eleganz nicht in etwa sinnlose Raserei ausartet, hat Dvořák nicht nur ein etwas gemäßigteres Tempo vorgeschrieben (Molto vivace anstelle von Presto), sondern außerdem in den beflügelten Aufschwung des Themas im zweiten und dritten Takt kleine melodisch-rhythmische Widerhäkchen eingefügt, die für die einzigartige Physiognomie dieses Stückes ganz entscheidend sind. Das Verbindungsthema des Cellos scheint — gutes, altes Kakanien! — Furiant und Walzer versöhnen zu wollen, aber das Seitenthema hat schon wieder eindeutig den Ductus eines tschechischen Kinderliedes. Das in der Submediante F-Dur stehende Trio (Poco tranquillo) gibt dem beibehaltenen Hauptthema eine neue Bedeutung, indem es ihm einen Cantus firmus in Viertaktgruppen unterlegt, der das inhärente Betonungsschema des Hauptteiles entkräftet. In der Rückführung zur stark verkürzten Reprise bringt Dvořák für einen flüchtigen Moment auch die volkstümlichen Furiant-Hämiolen ins Spiel. Nur schmückendes Beiwerk und doch der tiefere Reichtum dieses leichtgewichtigen Satzes sind die ständig wechselnden und andauernd faszinierenden Begleitfiguren, die Dvořák mit staunenswerter Sorgfalt ausgearbeitet hat.

Das Finale (Allegro) erfüllt mit seiner tänzerischen Vitalität alle Erwartungen, die der Musikfreund in einen Dvořákschen Kehraus nur setzen mag. Trotzdem zeigt sich gerade an einem solchen „problemlosen“ Satz, mit welch raffinierter Ökonomie Dvořáks vielbeschworener Instinkt den Komponisten ans Werk gehen läßt. Das bezieht sich nicht nur auf die Geschlossenheit des thematischen Materials — hier kann man leicht einen lapidaren diatonischen Quintfall als ursprüngliche Keimzelle fast aller verwendeten Themen ausmachen — oder den (an Brahms erinnernden) unerschöpflichen Erfindungsreichtum bei der organischen Verknüpfung der einzelnen Formteile. Denn vielleicht noch bewundernswerter als all diese Détails ist die Sicherheit, mit der Dvořák der Hauptgefahr eines Tanzfinales — der Monotonie — ausweicht. Anders als im vorangegangenen Scherzo, dessen weit engerer formaler Rahmen die Verwendung typischer (d. h. in der Regel: kleinräumiger) Tanzthemen begünstigt, erweist sich dieser Thementyp bei Ecksätzen in Sonaten- oder Rondoform nämlich oft als wahre Falle.
Dvořák gelingt hier beides: Er läßt dem Tanz sein ureigenstes Recht — sich unbeschwert auszutanzen —, und er erfüllt trotzdem gleichzeitig die höheren und abstrakteren Ansprüche der gewählten Sonatenform. Der Kniff, den er dazu verwendet, zeugt eben nicht nur von seinem „Instinkt“ (ein Begriff, der dem landläufigen Verständnis Dvořáks Genialität ebenso leicht faßlich machen will wie die seines in verharmlosender Anbiederung „Papa Haydn“ genannten Vorgängers), sondern weit mehr noch von zielstrebig zur Reife gebrachter Gestaltungskraft und selbstbewußter Beherrschung der Materie, also genau jenen Voraussetzungen, die Dvořák in seinem verworfenen Jugendwerk vermißte.
Schon der Satzanfang gibt uns ein schönes Beispiel dafür, wie der Komponist seine handwerkliche Meisterschaft in den Dienst übergeordneter dramaturgischer Notwendigkeiten zu stellen weiß: Das viertönige Schlußmotiv des Hauptthemas erscheint als Einleitung in gleichsam miniaturisierter (intervallisch verengter) Gestalt, die sich schrittweise bis fast zur „richtigen“ Größe dehnt; die dadurch erzielte organische Einheit von Einleitung und Hauptthema gibt allen erforderlichen Wiederholungen dieses Formteiles eine Großzügigkeit, die mit dem relativ kurzatmigen „Einfall“ des Tanzthemas allein nicht zu erreichen gewesen wäre. Das so zusammengesetzte Hauptthema wird gleich zweimal exponiert — zunächst in einer „ungeschliffenen“, naturbelassenen Variante (als Periode aus zweimal viereinhalb Takten, deren Nachsatz die für die tschechische Folklore so charakteristische Wendung in die Mollparallele aufweist), dann gleich in stilisiert „klassischem“ Gewand (als regelmäßiger, auf der Tonika verharrender Achttakter). Unmittelbar auf diese doppelte Exposition des Hauptthemas folgt nun ein Durchführungsteil, in dem sich beide Hauptmotive des Themas — die signalhafte Punktierung des Themenkopfes und die sich ausgelassen drehende Sechzehntelbewegung — nach Herzenslust austanzen können. Mit der fast epischen Breite dieses komplexen Hauptsatzes bewirkt Dvořák zweierlei: Zum einen wird dem tänzerischen Impuls des Hauptthemas jener natürliche Spielraum gewährt, den er braucht; zum anderen verschafft sich der Komponist so aber auch Platz für einen ausgedehnten Seitensatz, der freilich ganz anderen Gesetzen gehorcht. Als Gegengewicht zur unermüdlichen Beharrlichkeit des einen Hauptthemas kann Dvořák uns hier jetzt gleich nicht weniger als vier Themen präsentieren: Auf einen volksliedartigen Gedanken, der aus dem Kopfmotiv des Hauptthemas hervorgeht (und mit diesem auch die Wendung in die Mollparallele gemeinsam hat), folgt ein (harmonisch den umgekehrten Weg beschreitendes) zweites Thema, das fast wie eine ins Tschechische übersetzte Fassung des C-Dur-Marschthemas aus dem Andante des Brahmsschen Klavierquartetts op. 25 anmutet. Die folgenden beiden Gedanken sind miteinander verschwistert: Die sehnsüchtigen Synkopierungen des dritten Themas lösen sich im vierten gleich wieder in volksliedhafte Formeln auf.
Von den mit einer solchen Exposition geschaffenen Voraussetzungen ausgehend hätte eine „schulmäßige“ Fortsetzung des Sonatensatzes unweigerlich gigantische Ausmaße angenommen: Eine dialektische Durchführung von Haupt- und Seitensatz hätte sich wohl kaum auf engem Raum befriedigend gestalten lassen, und in der Reprise hätten die sich anbietenden Kürzungsmöglichkeiten (etwa das Weglassen der Hauptthemenwiederholung) zu einem schwer zu korrigierenden Mißverhältnis der Proportionen von Haupt- und Seitensatz geführt. Beide ausständigen Formteile — Durchführung und Reprise — sind aber alles andere als traditionelle Zugeständnisse an formale Konventionen, sie entsprechen vielmehr elementaren Bedürfnissen: dem intellektuellen der Entwicklung und dem emotionalen der Wiederholung. Dvořák stand also vor einem ganz ähnlichen Problem, wie wir es im Kopfsatz beschrieben haben — und er wählte einen durchaus vergleichbaren Ausweg. (An dieser Stelle sei, nur als Marginalie, angemerkt, daß die beiden einander in den inneren Proportionen und den gewählten formalen Strategien so ähnlichen Ecksätze auch — die beiden „leeren“ Einleitungstakte des Kopfsatzes nicht mitgerechnet — exakt die gleiche Taktanzahl aufweisen.) Auch hier kommt es zu einer Verschmelzung von Durchführung und Reprise: Dvořák läßt auf die Exposition des Seitensatzes direkt die Reprise des Hauptthemas folgen; die Stelle der durchführungsartigen Erweiterung der Hauptthemenexposition nimmt aber nun eine regelrechte, durch Rückung in die Mollvariante charakteristisch markierte Durchführung ein. Einem modulierenden Durchführungsmodell, das die Verknüpfung von Einleitung und Hauptthemenkopf betont, folgen ein Abschnitt, in dem dieser Themenkopf mit seiner Vergrößerung kombiniert wird, und schließlich — als Zentrum der Durchführung — ein Fugato über das in Moll verharrende und chromatisch verfremdete Hauptthema. Obwohl Dvořák jetzt direkt zur Reprise des Seitenthemas schreiten könnte, erfüllt er en passant auch noch die Erwartung des Zuhörers nach einer Reprise an der „richtigen“ Stelle: Es ist zwar aus Gründen der Ökonomie nur ein Reprisenfragment, das unter Bezugnahme auf die gewählte Formvariante (— es handelt sich ja eigentlich um den Abschluß der die Durchführung miteinbeziehenden Hauptthemenreprise —) gleichzeitig auch Codacharakter hat, wird aber agogisch durch ein vorangehendes sostenuto unterstrichen. (Die Parallele zu der analogen, largamente bezeichneten Stelle des ersten Satzes ist evident.) Ein Zitat der Mollvariante des Themas, die ja zuvor den Durchführungsprozeß in Gang gesetzt hat, schließt den großen Bogen und führt jetzt endlich zur Seitensatzreprise, die sich — ganz wie im Kopfsatz — treu an den in der Exposition vorgezeichneten Weg hält. Die mehrfach mit poco sostenuto und tranquillo bezeichnete Coda umkreist zuletzt wie träumerisch den Anfang des Hauptthemas, das aber nicht wieder erscheint. Daß Dvořák dem sostenuto für den übermütig sich austobenden Satzschluß kein ausdrückliches a tempo folgen läßt, ist sicher keine Nachlässigkeit, sondern nur Beweis seines — hoffentlich nicht ganz unbegründeten — Vertrauens in den musikalischen Instinkt seiner Interpreten.

© by Claus-Christian Schuster