Paul Juon
* 23. Februar 1872
† 21. August 1940
Litaniae. Tondichtung [Trio Nr.4], cis-moll, op.70
| Komponiert: | Berlin, 1918, Neufassung 1929 | 
| Widmung: | Fräulein Ida Schwarz-Schlumberger | 
| Uraufführung: | 1. (verschollene) Fassung:  Berlin, Saal der Sing-Akademie, 31. Mai 1919 Georg Schumann (1866-1952), Klavier Willy Hess (1859-1939), Violine Hugo Dechert (1860-1923), Violoncello 2. Fassung: Dresden, Festsaal der Harmonie, 18. November 1929 Anny von Lange, Klavier Gottfried Hofmann-Stirl, Violine Arthur Zenker, Violoncello | 
| Erstausgabe: | F. E. C. Leuckart, Leipzig, 1929 | 
Paul Juon wurde als Sohn eines nach Rußland ausgewanderten  schweizerischen Versicherungsbeamten in Moskau geboren. Die Familie des  Vaters stammt aus Masein in Graubünden und hat eine ganze Reihe von  Musikern und Malern hervorgebracht; Pauls jüngerer Bruder Konstantin  (1875-1958) war einer der populärsten Maler Rußlands im 20. Jahrhundert.  Mit siebzehn Jahren wurde Paul Juon Schüler des Moskauer  Konservatoriums, wo er zunächst bei Jan Hrimaly (1844-1915) Geige  studierte ( – der gebürtige Tscheche war der Hauptrepräsentant der  Moskauer Geigenschule der Jahrhundertwende und als solcher der  angesehenste Konkurrent des in St. Petersburg wirkenden Leopold Auer –  ). Etwas später begann Juon bei Anton Arenskij und Sergej Taneev sein  Kompositionsstudium, das er schließlich als Schüler Woldemar Bargiels  (des Halbbruders von Clara Schumann) an der Berliner Musikhochschule  abschloß. In dieser ersten Berliner Zeit (1894/95) wurde Juon mit dem  begehrten Mendelssohn-Preis ausgezeichnet. Nach einem kurzen  Zwischenspiel als Violin- und Theorielehrer am Konservatorium in Baku  (Aserbeidschan) kehrte er 1897 wieder nach Berlin zurück, das bis kurz  nach der nationalsozialistischen Machtergreifung seine Heimat bleiben  sollte. Von 1901 bis 1903 war er Franz-Liszt-Stipendiat der Stadt  Berlin. Joseph Joachim holte ihn 1905 als Lehrer an die Berliner  Musikhochschule; 1911 wurde er dort Professor für Komposition, eine  Stellung, die er erst 1934 aufgab. In den Jahren der Weimarer Republik  gehörte er zu den angesehensten Kompositionslehrern Deutschlands. Zu  seinen Schülern zählen Philipp Jarnach, Heinrich Kaminski, Pantscho  Wladigeroff, Stephan Wolpe u. v. a. 1919 wurde er Mitglied der Berliner  Akademie der Künste, 1929 erhielt er für sein Gesamtwerk den  Beethoven-Preis. 
 
    Schon seit 1925 hatte er die Sommermonate meist in der Heimat seiner  zweiten Frau, Marie Hegner-Günthert, in Vevey am Genfer See, verbracht  (Juons erste Frau, Ekaterina Schachalova, war 1911 gestorben). Die  politische Entwicklung in Deutschland bewog ihn 1934 dazu, endgültig  nach Vevey zu übersiedeln, wo er 1940 starb. 
 
  Im ersten Drittel unseres Jahrhunderts ist Juons Name sehr häufig auf  den Konzertprogrammen zu finden. Eine zählebige Sorte von  Musikkritikern, die selten ein falsches Schlagwort verfehlen, brachte  für ihn das Etikett vom „russischen Brahms“ auf, und zu einer Zeit, als  das für viele noch einer Beschimpfung gleichkam, verstiegen sich etliche  von ihnen bei der Besprechung seiner Werke zu Vergleichen mit  Stravinskij. Aber weder diese marktschreierischen Fehlgriffe der  Kritiker noch auch die unbestreitbaren Qualitäten der Juonschen Musik  konnten das Überleben seines Werkes sichern: Juon gehört heute sicher zu  den unbekanntesten unter den relevanten Komponisten seiner Zeit. Über  sein Werk fällt wie über sein Leben der Schatten der Unbehaustheit: kein  Schweizer, kein Russe, kein Deutscher; kein Romantiker, kein Neutöner,  kein Folklorist – aber doch ein klein wenig von all dem, und jenseits  davon noch eine auf gewinnende Weise aufrichtige und menschlich  beeindruckende Persönlichkeit. Ein geistreicher Kommentator hat Juon  unlängst humorvoll „das missing link zwischen Tschaikovskij und  Stravinskij“ genannt. Obwohl Charakterisierungen dieser Art durchaus  geeignet sind, das Interesse der „Musikpaläontologie“ an Juon zu wecken,  haben sich ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod seine Spuren fast  völlig verwischt – außer kurzen Werkbesprechungen und knappen  enzyklopädischen Verweisen gibt es keinerlei Literatur über sein Leben  und Werk. Daß das Altenberg Trio vor kurzem erstmals Juons sämtliche  Klaviertrios auf zwei CDs vorgelegt hat, ist aber trotzdem mehr als ein  Akt musealer Pietät: Wir meinen, daß Juons Musik einige ganz eigene  Zwischentöne bewahrt, die für das Erscheinungsbild seiner Epoche nicht  überflüssig sind. 
 
 Das Erlebnis des Infernos des Weltkrieges und des Zusammenbruches der  „alten Welt“ teilt auch das Werk Juons deutlich in ein „Vorher“ und  „Nachher“ – auch wenn die Spannung zwischen diesen beiden Hälften seines  Schaffens bei weitem nicht so groß ist wie etwa bei dem nur wenig  jüngeren Frank Bridge. Die nach dem Krieg geschriebenen letzten beiden  großen Triokompositionen des Meisters, Litaniae, op. 70, und Legende,  op. 83 ( – die Suite op.89 darf man von diesem Standpunkt aus ohne  weiteres als ein außerhalb dieser Entwicklungslinie stehendes  abschließendes Satyrspiel betrachten – ), tragen tiefe Spuren dieser  Erfahrung. Juon hat für diese beiden Werke deshalb auch eine Gestalt  gewählt, die sich deutlich von der seiner bisherigen Triokompositionen  unterscheidet. Er fand sie in einem seit der Jahrhundertwende zunehmend  in Gebrauch gekommenen formalen Konzept, in dem die traditionellen Teile  einer viersätzigen symphonischen Form in einen einzigen Satz  zusammengefaßt werden, dessen Architektur durch weiträumige thematische  und motivische Querverbindungen zusammengehalten wird. Daß diese Form  den Weg von der symphonischen in die Kammermusik gefunden hat, ist nicht  zuletzt auf das propagandistische Wirken des englischen Mäzens Walter  Willson Cobbett (1847-1937) zurückzuführen. Die von ihm initiierten  Kompositionswettbewerbe veranlaßten nämlich die Entstehung einer ganzen  Reihe von „Phantasie-Quartetten“ und „Phantasie-Trios“, die diesem  Gestaltungsschema folgen. Juon hat diese vorhandene Form in seinen  beiden großen Kammermusikdichtungen mit einem beeindruckend persönlichen  Inhalt erfüllt. Sie stellen ohne Zweifel den Höhepunkt seines  kammermusikalischen Schaffens dar. 
 
 Litaniae entstand (laut Juons eigenhändigem Werkverzeichnis) 1918 und  wurde im darauffolgenden Jahr in Berlin uraufgeführt; 1929 unterzog der  Komponist das Werk einer wahrscheinlich weitgehenden Revision – da die  ursprüngliche Fassung, wie übrigens der Großteil von Juons  handschriftlichem Nachlaß, als verschollen gelten muß, läßt sich Ausmaß  und Art dieser Umarbeitung nicht mehr rekonstruieren. Für die zweite  Uraufführung von Litaniae in ihrer neuen Gestalt hat der Komponist  folgende kurze Einführung geschrieben: 
 
 „Vor vielen Jahren trat ich einmal in die Frauenkirche in München. Es  waren nur wenige Leute drin. Vor einem Seitenaltar sah ich einen Mann  knien – und blieb wie gebannt stehen; in seinem Antlitz spiegelte sich  ein so unendlicher Schmerz wieder! Die angsterfüllten Augen waren starr  nach oben gerichtet, die bebenden Lippen murmelten leidenschaftliche  Gebete. Er sah und hörte nichts von dem, was um ihn war. Immer wieder  reckte er die gefalteten Hände empor, immer wieder wälzte er sich im  Staube. Wieviel Schmerz, wieviel Bitternis muß diese arme Menschenseele  erfahren haben! Schon stundenlang mochte er so auf den Knien gelegen  haben, mit heißen Worten seinen Gott um Gnade anflehend, als er  plötzlich ermattet den Kopf senkte, die Augen schloß und wehmütig  lächelte. War ein lichterer Moment seines Lebens in seiner Erinnerung  aufgetaucht? Durchzuckte ein Hoffnungsstrahl sein Herz? – Da hob der  Gottesdienst an. Die Stimmen der Priester sprachen psalmodierend ihre  Gebete, kühl und leidenschaftslos. Der Mann aber hörte es nicht und sah  es nicht. Von neuem packte ihn der Schmerz. Mit neuer Inbrunst schrie  seine zermarterte Seele ihre Gebete gen Himmel… Vielleicht ist das die  Geschichte meines Stückes, vielleicht ist es auch eine andere…“ 
 
 Der Schlußsatz dieses Textes macht das Dilemma deutlich, in dem sich  fast alle Komponisten befinden, wenn sie sich gezwungen fühlen, die  Programme ihrer Werke offenzulegen. Der verständliche Wunsch, vom  Zuhörer „richtig“ verstanden zu werden, kollidiert mit der berechtigten  Sorge, das „Benennen“ könnte die Wahrnehmung einengen, und die Musik  fände sich zuletzt als eine Dinestmagd wieder, deren Leistung am  Buchstaben des Programms gemessen wird. Alle einschränkenden Warnungen,  die – spätestens seit Beethovens vielzitiertem „Mehr Ausdruck der  Empfindung als Mahlerey“ – solche musikalischen Programme  traditionsgemäß begleiten, zielen deshalb auf die Wahrung der Autonomie  des musikalischen Ausdrucks und Empfindens. Denn obwohl das von Juon  angebotene Programm die Szenen („Sätze“) seines Werkes in einen (fast  zu) plausiblen dramaturgischen Zusammenhang bringt, zeigt die  Gegenüberstellung von anekdotischer Interpretation und unmittelbarer  musikalischer Erfahrung, wie sehr diese jener überlegen ist. 
 
 Wohl an keiner anderen Stelle seines Werkes hat Juon eine gleichzeitig  so dichte und so frei-assoziative Sprache gefunden. Das  Konstruktionsprinzip – alle Themen sind aus knapp einer Handvoll  archetypischer Kleinmotive gewonnen und auf komplizierte Weise  miteinander verknüpft – ist so sehr vom stream of consciousness der  heraufbeschworenen Bilder überflutet, daß es sich der hörenden Erfahrung  nirgendwo aufdrängt, sondern nur wie die Logik des Traumes aus den  Fernen des Unterbewußten wirkt. Und wie im Traum erscheint hier alles  möglich, gleichzeitig und versöhnbar: In der synoptischen musikalischen  Sprache dieses Werkes scheint der Abstand zwischen Perotinus Magnus und  Gustav Mahler kaum größer zu sein als der zwischen Rachmaninov und  Respighi. Der sich hierin manifestierende Eklektizismus Juons ist keine  Schwäche, sondern eine seinem künstlerischen Naturell ideal  entsprechende Ausdrucksweise. 
© by Claus-Christian Schuster